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Zündkerzen ist eine Sammlung von 83 Gedichten in den unterschiedlichsten Formen, variierend in kurzen und langen Zeilen. Es sind Traumstücke, Redepartikel, Prosagedichte, zerbrochene Sonette, Sequenzen wie aus Unfallprotokollen. Jedes dieser Stücke entzündet sein eigenes Leuchten, seine kleine oder größere Epiphanie. Hier schreibt ein Dichter, der keiner Schule angehört, keiner modischen Strömung – ein Beobachter des Realen, neugierig auf die diesseitigen Dinge, hellwach für ihr Verschwinden.
Zwei Langgedichte ziehen mächtige Stützpfeiler in die Struktur der Sammlung – reine Anschauung einer südlichen Metropole: Das Photopoem, Elegie vom musealen Leben: Die Massive des Schlafs. Es gibt Liebesgedichte, erotisch direkt, ebenso wie Momente der Verlusterfahrung als Demontage der Sonettform. Ein Gedichtzyklus über die Pinie nähert sich reiner Lautmusik und wird zum Verbarium, in dem die Buchstaben tanzen.
Zündkerzen sind Dinge, keine Ideen und erst recht keine Konzepte.
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Seitenzahl: 81
Durs Grünbein
Zündkerzen
Gedichte
Suhrkamp
Für Ellen
Gigantische Agenda, dieses Leben –
Das so ganz anders kam und dann doch so.
Wir sehen uns, wenn wir die Augen schließen,
In einem Fahrstuhl, der die Jahre wie Etagen zählt.
Oft steigt einer mittendrin aus, läuft auf sich zu
Den Flur hinab, sein eigener Doppelgänger.
Die Hälfte ist Stolpern, an falsche Türen Klopfen,
Weil von außen ein Herz aufgemalt ist. Und dann –
Dies Niedersinken vor Müdigkeit, das so gut tut.
Von Tag zu Tag fällt nun ein Blütenblatt
Aus dem irren Blumenstrauß, der die Vase gestern
Beinah zum Explodieren brachte in seiner Pracht.
Blaue Hortensie, wilde Anemone, schwarze Tulpe –
Das klingt alles nach freier Improvisation:
Etüden für ein Spielzeugklavier – haltloser Vers.
Und Haltlosigkeit heißt: Wir sterben
Unmerklich, und plötzlich macht es uns Freude,
So zu leben, als ob wir unsterblich wären,
Während Schrift uns eindämmt, und jedes
Einzelne Wort ist zentral. Nun fang an,
Schreib ein Buch deiner täglichen Schwächen.
Es kamen die Eiszapfendiebe,
Sie brachen den Wörtern die Spitze ab.
Sie waren die Partisanen des Neuen.
Nach ihnen blieben die Fragen.
Was ist denn das Neue, fragten
Mit ernsten Mienen, drei Tage lang,
Die Gelehrten verschiedener Disziplinen
Auf ihrem Kongreß über Serialität.
Autos kamen vom Fließband, Ideen
Frisch aus der platonischen Werkstatt.
Und war nicht ein Menschenleben
Ein Tropfen Öl auf dem heißen Asphalt?
Wie tief ein Gedanke auch war,
Wir hielten uns an sein Volumen.
Unsere Erfindungen, wie rohe Eier
Trugen wir sie durch den Straßenstaub.
Unsere Empfindungen hingen daran.
Das grüne Billardtuch Musik,
Auf dem die Worte, hingestreut,
Wie Diamanten herrlich rollten,
Ist nun ein Mottenfraß, zerfetzt.
So hat sie keiner mehr gehört,
In diesen abgestandenen Räumen,
Die letzte katatonische Kadenz.
Der neue Klang stand in der Tür.
Ein schöner Morgen war das, als
Die Welt sich sonnte in Geräuschen.
Von überall kam und weit her
In den stellaren Terminal der Krach.
Der Himmel überm Glasdach und
Die Lichtflut unten sind nun eins.
Das Ohr glüht im Maschinenchor,
Ein Trichter für die Amériques.
Das grüne Billardtuch Musik
Flattert im Landwind an der Reling.
Ein Ozeanriese ankert da, begrüßt
Von den herbeigeeilten Kindern
Aus der Allee der Enthusiasten.
Wissen wir, wo wir erwachen in einer Nacht,
Tief in der Zukunft? Die Fensterläden sind dicht,
Die fremden Leuchtreklamen defekt.
Die Luft schwirrt von Namen, die wir
Nur mit Mühe aussprechen können.
Wir wissen es nicht.
Man hat uns gewarnt. Er geht wieder um,
Der Gott der Seltsamkeiten, der alles vertauscht,
An dem alles vorüberrauscht: Spielplätze,
Die wir am Lärm erkannten, Blumenstände,
Neue Cafés mit jungen Leuten, stark tätowiert.
Sogar die Sehenswürdigkeiten der Städte
Sind nun verstellt.
Schiffe tauchen zwischen Fabriken auf,
Bunte Flaggen an Wäscheleinen. Es könnte
Ein Isthmus sein, irgendwo zwischen Bosporus
Und Panama, und das Meer ist nah.
Es fängt in der Hotellobby an, am grauen Stuck
Der Rosetten über der schummrigen Bar,
Die noch gestern woanders war.
Wenn Gestern der Ort ist, der Halt verspricht
Im Fluß der Tage und Namen, an die wir uns
Klammern müssen als notorische Sammler.
Aber das tut es nicht. Den Gefallen
Tut es uns Wallfahrern nicht.
Es gibt Tage, da hilft nur das Laufen mitten hinein
In den Menschenstrom, der die Straßen füllt bis zum Rand.
Laufen, Laufen – süchtig, wie du bist nach Gesichtern,
Eine Schneise schlagen durch den dichten Verkehr.
Dann wird die Stadt zur offenen Psychiatrie. Unerkannt
Trägst du, was nur du tragen kannst, das Gewicht
Deiner Psyche. Fühlst dich angenehm leer.
Es gibt dich, es gibt dich nicht – du, mit jedem gemein.
Einsamkeit war die Menge, die jeder teilte,
Und seit der Schulzeit der größte Schwindel: Mathematik.
Eine Übung, sich selbst zum Verschwinden zu bringen,
Grausame Lehre, die jede Vermessenheit heilte.
Die Lösung hieß Laufen, Laufen. Vom Hirn, vom Genick
Ging es aus durch die Stadt in konzentrischen Ringen.
Was für flüchtige Existenzen wir sind. Nach uns
Sind die Stätten unseres Auftritts sofort wieder leer,
Als hätten wir nie gelebt.
Zum Beispiel wir zwei,
Die nach der Liebe das Zimmer verließen, wissen:
Das Bett mit den Flecken vom Monatsblut
Könnte an jeden erinnern. Was muß geschehen,
Vergewaltigung, Mord, ein namenloses Verbrechen –
Bis man das Blut im Labor untersucht, von Polstern
Haut- und Haarproben nimmt,
Und was würde es ändern?
Wir sind nicht mehr da.
Bleib bei mir, hörst du?
Bitte bei mir bleiben. Ich halte es sonst nicht aus:
Das Inferno des täglichen Terrors, den Triumph
Dieser Tauschwirtschaft, die alles trügerisch macht,
Alles in Produkte verwandelt,
Die Orte entleert.
Jeder Mensch ist ein Brillant
Im Rohzustand, einmalig
In seiner verborgenen Art.
Wieviel Selbstdisziplin
Schon ein Lächeln braucht
An der richtigen Stelle
Gesetzt, eine Zuwendung,
Und erst das lösende Wort.
Für immer ein Rätsel bleibt,
Warum das Mädchen im Bus
Uns, ohne genervt zu sein,
Freundlich Auskunft erteilte.
Dabei fuhren wir über Dörfer
Mit hoher Arbeitslosigkeit,
Vielen Migranten, und doch
Gelang dieser Augenblick.
Nichts Schlimmes geschah.
Erst später am Bahnhof
War voll wieder die Härte da.
Stinkende, kalte Ecken,
Müll vor dem Schnellimbiß,
Ein leerer Paßbildautomat.
Die Frau am Kartenschalter
Starrte auf ihre lackierten
Nägel, bevor sie stumm
Das Restgeld herüberschob.
Oder war das ein Traum? Was fiel dir ein,
Ein ganzes Leben auf Worte zu bauen?
Worte, die um die Erscheinungen kreisen
Wie Elektronen in einem Atom-Modell.
Worte, die ihre eigenen Launen haben,
Ihre Ladung, ihr Leuchten, ihr Lexikon,
Eine flüchtige Bleibe in jedem von uns …
Und die doch selten zur Ruhe kommen
An der Peripherie unserer Psychen.
Was, wenn Stille das letzte Wort behält?
War nicht der Körper ein Pantomime
Auf den Straßen, im Alleingang, gehüllt
In sein körpereigenes Schweigen?
Dann war das Gehirn eine Blume,
Die sich auf Knopfdruck öffnen konnte?
Die Horde Spatzen im Straßengraben, beim Sonnenbad
In ihren Staubkuhlen, dichtgedrängt, Flügel zerzaust,
Erinnert daran, wie wir als Kinder, Trolle der Pubertät,
Eigentlich Prinzen, stundenlang auf dem Rücken lagen.
Herumlungern hieß das, von den Nachbarn beunkt,
Ein gefährliches Spiel, das jederzeit umschlagen konnte.
Denn Nichtstun macht närrisch. Man sprang dann auf,
War auf Beutezug, Abenteuer, Zerstörung aus.
Besonders im Sommer, wenn die Mähdrescher rollten
Durch Schwaden Getreidestaubs, stach uns der Hafer.
Weit zurückgelehnt auf den Fahrrädern, sausten wir
Freihändig die Landstraßen bergab, überglücklich
Bis zur letzten Todeskurve.
Die Knie brannten, im Sturz aufgeschürft, und das Blut
Löschte der Staub. Ein scharfer Schmerz stieß uns wach.
Wir hockten auf Feldsteinmauern, unreife Äpfel
Auf Autos schleudernd, johlend bei jedem Aufprall.
Kein Mohnfeld war sicher vor uns. Keine Böschung,
An die wir nicht Feuer legten mit einem Scherben Glas –
Aus bloßer Langweile, im Kopf nur Indianerfilme.
All das war wieder da beim Anblick der Spatzen im Staub.
Manchmal genügt ein Schlüsselbein,
Der Sturz in ein Augenpaar –
Und Schmerz flammt auf
Über allen Verzicht und Verlust
In einem Menschenleben.
Nun zeigt sich: Es ist sehr kurz,
Gleich vorüber die Hauptsaison.
Vergeben die Chancen, Avancen.
»Letzte Runde«, ruft der Kellner
Und klaubt die Servietten auf.
So leicht erreichbar schien vieles.
Aber nun ist es ein Ausverkauf,
Ein Schimmer zwischen Terminen,
Reiseplanung, Zahnprophylaxe
Im Turnus zum Festtagsfinale,
Und es gilt, früh zu buchen.
Ein Blick in die Kontaktanzeigen:
Es geht um Sehnsuchtsdaten,
Haarfarben und Oberweiten.
Die B-Seite des Lebens
Hat angefangen: Zwölftonmusik,
Auch für ungeübtere Ohren.
Immerhin wächst die Rührung
Stündlich. Man wünschte, man fiele
Nicht ganz so tief. Wünschte, man wäre
Wieder das unbeschriebene Blatt.
Es ist so still in der Wohnung, die Wände flimmern.
Die Stahlrohrmöbel brüten ein Geheimnis aus.
Verstummt sind im Regal die Bücher, sie hüten
Die Zeit der Toten, den Kontrapunkt zur Lebenszeit.
Es ist verteufelt still. Nur die Pfingstrosen schreien,
Ihre Blütenblätter – weit aufgerissene Kehlen.
In ihrem Zimmer entdeckt die Teenager-Tochter
Gerade die Liebe. – Durex: Die leere Verpackung
Wird unters Bett gefegt. Sehnsucht,
Das sind im Augenblick ein paar schöne Worte
Wie hauchzart, gefühlsecht.
Knutschflecken
Markieren den Übergang ins Reale, vampirische Male.
Die SMS streicht durchs Haus, weckt Gespenster,
Tauscht sie mit den Lebenden aus, annulliert Ferne –
Macht jede Nähe im Raum virtuell. Es ist so still
In der Wohnung, während die Rosen verenden.
Es war die siebte Welle, die uns niederschlug.
Sie kam von fern, ein alter grauer Brecher,
Verwittert wie der Fels von Gibraltar.
Als ob Altäre stürzten, war das, ganze Kirchen,
Die Straßenzüge bombardierter Innenstädte.
Das Meer begrub uns unter Tonnen Schutt.
Aber das war nicht das Ende. An der Stelle,
Wo sich Himmel und Wasser vermischten,
Hinter den Bojen, tauchten wir wieder auf.
Wie neugeboren, aus Gerinnseln von Schaum.
Das gab es nicht – Liebe,
Nicht als Naturkonstante. Doch was es gab,
War der Gezeitenwechsel in den Psychen,
Waren im Körper intermittierende Kräfte.
War die wandernde Sucht gleichen Namens.
Für Christine Becker
Äpfel im Supermarkt, Pfirsiche, aussortiert
Wegen der Druckstellen, braungefleckte Bananen,
Viel zu lang klebt der Blick an ihnen.
Er kann sich nicht lösen, studiert den Verfall.
Besonders erbarmungslos drücken
Mit ihren Knochenfingern die alten Leute zu.
Verwundete Feigen, Pflaumen, grotesk verbeult,
Man legt sie zurück, angewidert und fasziniert.
Wir sind wie dieses ramponierte Obst, sagt sie,
Durch viele Hände gegangen, beschädigt,
Nur sieht man es nicht. Versteckt unter Kleidern,
Erholt sich die Haut von den Blutergüssen.
Doch an der Kasse leuchten die Augen auf,
Unbestechlich, diesseits der Sterbelinie.
Eine Frau in der Schlange mit nackten Armen
Legt Orangen aufs Band, Kiwis. Sie zeigt