Jenseits der Literatur - Durs Grünbein - E-Book

Jenseits der Literatur E-Book

Durs Grünbein

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Beschreibung

In seinen vier Vorlesungen, die er als Lord Weidenfeld Lectures im Jahr 2019 in Oxford gehalten hat, setzt sich der Dichter Durs Grünbein mit einem Thema auseinander, das ihn seit jenem Augenblick beschäftigt hat, als er die eigene Position in der Geschichte seiner Nation, seiner Sprachgemeinschaft und seiner Familie als historisch wahrzunehmen begann: Wie kann es sein, dass DIE GESCHICHTE, seit Hegel und Marx ein Fetisch der Geisteswissenschaften, die individuelle Vorstellungskraft bis in die privaten Nischen, bis in den Spieltrieb der Dichtung hinein bestimmt? Will nicht anstelle dessen Poesie die Welt mit eigenen, souveränen Augen betrachten?

In Form einer Collage oder »Photosynthese«, in Text und Bild, lässt Grünbein den fundamentalen Gegensatz zwischen dichterischer Freiheit und nahezu übermächtiger Geschichtsgebundenheit exemplarisch aufscheinen: Von der scheinbaren Kleinigkeit einer Briefmarke mit dem Porträt Adolf Hitlers bewegt er sich über das Phänomen der »Straßen des Führers«, also der Autobahnen, hinein in die Hölle des Luftkriegs. Am Schluss aber steht eine erste Erfahrung von Ohnmacht im Schreiben und die daraus erwachsende, bis heute gültige Erkenntnis: »Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt.«

Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit 1993 einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. Zu den früheren Inhabern dieser Professur zählen George Steiner, Umberto Eco, Amos Oz und Mario Vargas Llosa.

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Seitenzahl: 178

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Durs Grünbein

Jenseits der Literatur

Oxford Lectures

Suhrkamp Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1 Die violette Briefmarke

2 Landschaft in Banden

3 Im Luftkrieg der Bilder

4 Für die sterbenden Kälber

Hinweise und Nachweise

Bildnachweis

Dank

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1 Die violette Briefmarke

Denke ich an die Briefmarkensammlung meiner Kindheit, fällt mir zuerst ein Detail ein, das einem Traum entsprungen sein könnte, so aufdringlich sticht es hervor und tanzt mir wieder vor Augen, ein kleiner, viereckiger Schmetterling von der Farbe des Vitriol. Es gab da ein Album, gehütet wie ein verbotener Schatz, in dem waren Marken aus der Zeit des Dritten Reiches gehortet, darunter auch eine Reihe verschiedenfarbiger Köpfe des Mannes, dessen Name sich damals nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen ließ. Was wußte ich als Kind von dem verfluchten Österreicher, dem Mann aus Braunau am Inn, der sich wie kein zweiter in die deutsche Geschichte eingemischt und eingeschrieben hatte?

Die Wertzeichen im gefährlichsten meiner Alben waren alle verkehrt herum einsortiert. Der finster blickende Volksverführer mit dem streng gescheitelten Haar stand darin kopf. Hatte ich das getan und warum? Ich weiß nicht mehr, war es eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, aus Sorge, jemand könnte mein Album entdecken, oder ein Akt der Teufelsaustreibung, diesen Derwisch des Deutschtums so zu enthaupten?

Nur soviel weiß ich: Der Anblick von Briefmarken führt mich zuverlässig in die Paradiese der Erinnerung zurück, in eine Gartenschau auf kleinstem Raum. Vor den Kinderaugen war hinter den Klarsichtstreifen der Sammelalben eine ganze Welt in Miniaturbildern aufbewahrt. Briefmarken sind oftmals der erste Orbis pictus im Leben eines Kindes. In engster Anordnung ergeben sie ein Buch der sichtbaren Welt, nach Art der Bilderfibel des Johann Comenius. Die Reihen der Marken erschienen mir damals wie Blumenbeete, alle wohlgeordnet und doch wild durcheinanderwirbelnd dank ihrer bunten, vielgestaltigen Motive. Da fand sich die Trachtengruppe dicht neben dem Bohrturm, das Eichhörnchen am Baumstamm neben dem Olypmpiasieger im Skispringen – Schätze internationaler Philatelie mit der Farbigkeit von Zirkusplakaten. Es gab die Marken der Malediven in ungewöhnlicher Dreiecksform und gleich daneben die großformatigen aus Brasilien mit den herrlichen Schmetterlingsmotiven.

Dagegen wirkten die Überbleibsel aus der Nazizeit seltsam streng und monoton. Sie waren, auf eine bedrückende Weise, einfallslos, schlicht in ihren Motiven – es gab da nur Adler und Burgen, brutale Stahlhelmmänner, Reiter und nackte Athleten, später auch kämpfende Wehrmacht aller Waffengattungen. Dazwischen aber tauchte der Diktator im Profil auf, als Typus des weitblickenden Staatsmannes. Ich weiß nicht, was in uns gefahren war, aber damals reizte uns diese widerwärtigste Figur des Zeitalters mächtig als finstere Märchengestalt. Er war der Dämon, den ein Bilderverbot, ein allgemeines Tabu von uns fernhalten sollte.

Das Briefmarkensammeln hatte ich irgendwann aufgegeben, die Alben verschwanden, wie vieles andere, auf dem Dachboden. Jahre später aber segelte mir beim Stöbern in ihnen eine Feldpostkarte mit einer violetten Marke entgegen. Es war ihre aufreizende Färbung, das Eisenhutlila, das mich auf Gedankenabwege brachte. Denselben Führerkopf gab es auch in den Varianten Erbsengrün, Kastanienbraun, Blutrot – selbst in harmlosem Orange, in der Farbe der Südfrüchte, trat er einem entgegen. Briefe und Ansichtskarten, die das bedrohliche Konterfei trugen, waren damals in alle Welt hinausgesandt worden. In Expreßzügen wurden sie kreuz und quer durch das erwachende Deutschland gesandt und per Luftpost hinaus bis nach Amerika, China und Australien. Denke ich heute zurück an die kleinen Einheitsmarken, wird mir der Massencharakter des Nationalsozialismus mit einem Mal anschaulich. Ich frage mich, von wie vielen Millionen Menschen Hitler seinerzeit abgeleckt wurde, freiwillig oder widerstrebend, jedenfalls abgeleckt. Die Vorstellung dieser sklavischen Vielzüngigkeit, Doppelzüngigkeit, klebrigen Servilität hat etwas Entsetzliches.

Wenn es nicht das Schwammkissen am Postschalter war, dann mußte eine Menschenzunge ihn auf der Rückseite befeuchtet haben. Ich stelle mir all die Situationen vor, in denen das geschehen war, unbeachtete, intime Momente, und dazu die Anlässe und die verschiedenen Orte auf dem neuen europäischen Kriegsschauplatz. Den strahlenden Julitag am Tisch eines Münchner Biergartens oder einen Spätsommerabend in Wien unter Weinranken beim Heurigen nach dem Gruß an die Lieben daheim. Die Postkarte an die Tante, mit einem kräftigen Faustschlag auf die widerspenstige Marke besiegelt, wenn der Wehrmachtskamerad eben verschwunden war auf die Toilette. Oder beschwingt auf ein Briefchen an die Liebste geklebt, Monate vor der Abkommandierung an eine der Fronten. An einem Winterabend in der Wachstube einer Kaserne im besetzten Polen als Feldpostsendung, nach einem Ausgang durch Warschau, entlang der Barrikadenzäune des neu errichteten Ghettos – und einer schrieb an die Mutter: »Es wimmelt noch von Juden hier.« Oder zum Jubiläum Zwei Jahre Generalgouvernement aus einer Kaserne im besetzten Lublin verschickt. Aus einer Berliner Kaschemme nach durchwachter Nacht, Stunden bevor man den Truppenzug in Richtung Rußland bestieg.

Jedesmal war es der gleiche selbstvergessene Akt gewesen, etwas Affenhaftes wie das Lausen der Felle, das Ablecken eines Stöckchens, an dem Ameisen kleben – ein bedingter Reflex, wie es im modernen, zwangsläufigen Leben nun so viele gab. Wer sich dabei ertappte, war wohl für einen Augenblick beschämt, dachte auch kurz an die Ansteckungsgefahr, vergaß es aber sofort wieder und hatte das nächste Stück Wertzeichen bereits angefeuchtet.

Die violette Briefmarke im Wert von sechs Pfennig mit dem Bild Adolf Hitlers und der Aufschrift Deutsches Reich – wie eine giftige Pflanze, eine Sumpfblüte, klebte sie da auf allen Postkarten jener Zeit. Ich erinnere mich, wie ich sie beim ersten Mal lange betrachtet habe, wohl wissend, daß ich etwas Verbotenes tat. Damals bin ich in dieses kleine Rechteck hinabgestürzt wie die neugierige Alice in den Kaninchenbau – und zwischen die Zeiten und Zeichen geraten. So muß sich ein Bergwanderer fühlen, wenn er im Gebirge unverhofft auf das seltene Edelweiß stößt. 

Später, wenn mir die Marke hier und da wiederbegegnete, zitterte manchmal noch etwas von dem Gefühl des Ungeheuerlichen nach, von der beschämenden Erfahrung, damals durch schwankenden Boden gebrochen zu sein. Durch diese kleine Membran war ich, ohne Vorwarnung, hineingezogen worden in das grauenvollste Kapitel deutscher Geschichte. In Vladimir Nabokovs Erinnerungen Speak, Memory stieß ich später auf eine Stelle, die mir die längst verschollene Markensammlung wieder vor Augen führte. Der Erzähler berichtet von seiner Exilzeit im Berlin der dreißiger Jahre und davon, wie er mit seinem Kind, dem kleinen Dmitri, zum Spielen oftmals die öffentlichen Parkanlagen aufgesucht hatte. »Unser Sohn muß an jenem windigen Tag in Berlin (wo natürlich niemand der Bekanntschaft mit dem allgegenwärtigen Bild des Führers entgehen konnte) fast drei Jahre alt gewesen sein, als wir, er und ich, vor einem Beet mit bläßlichen Stiefmütterchen stehenblieben, deren jedes auf dem nach oben gewandten Gesicht einen schnurrbartartigen Fleck hatte, und auf meine ziemlich alberne Anregung hin Bemerkungen über ihre Ähnlichkeit mit einer Schar nickender kleiner Hitlers machten.«

Es war diese Ähnlichkeit mit etwas scheinbar Naturgegebenem, einem Blumenmuster, eine bloße Farb- und Formimpression, die auch mich mit meinen Briefmarken in Verwirrung gestürzt hatte. Die violette Briefmarke, längst entrückt, plötzlich war sie wieder da, wurde größer und kleiner und oszillierte zwischen einer brutalen Nähe und einer schwindelerregenden Ferne. In dem Fetzen zähnchenumrandeten Papiers war sie greifbar geworden, die Formel vom Einzelnen und der Masse. Die violette Marke mit dem Profilbild des »Führers« war ein Abgrund, der jederzeit aufbrechen konnte. Hier der Einzelne als serielle, graphische Nummer, der Mann aus dem Wiener Männerheim, die inferiore Gestalt, ein Namenloser, einer unter acht Millionen, wie er sich selber in seinem Kampfbuch beschrieben hatte, und da ein Volk aus lauter Habenichtsen und Enttäuschten, die ihn, die gescheiterte Existenz, als einen aus ihrer Mitte an die Spitze gehoben hatten – eine Masse, die ihrerseits aus lauter Millionen Namenloser bestand. Die Briefmarke stand für den zufälligen Einen, den Einzelnen, der sich zum Medium der Vielen gemacht hatte, die ihn schließlich, auf dem Höhepunkt seines kometenhaften Aufstiegs, als Musterfall charismatischer Herrschaft, auf Millionen Wertzeichen, die nun überall durch das Deutsche Reich schwirrten, ertragen und, selber ohnmächtig, beim Aufkleben der Marke anstarren mußten, wie ich ihn damals anstarrte, diesen unbekanntesten aller Bekannten mit dem streng gescheitelten Haar und der markanten Nase, der starr nach rechts schaute, in eine Zukunft, die Gott sei Dank keine war. Nun waren sie alle seinem Bewegungsdrang unterworfen, in ein Massengeschehen verstrickt, und es blieb ihnen nur der Postverkehr, um untereinander Kontakt zu halten, nachdem alles in einen Wirbel geraten war in dieser gründlich aufgewühlten deutschen Nation.

Die Sonderstempel auf all den Marken und dicht daneben – nicht sofort, aber nach und nach später, mit dem erwachenden Sinn für Geschichte, erhielten auch sie ihre Bedeutung. Die immer neuen Tagesbefehle und Durchsagen, die groß inszenierten Kampagnen, mit denen der Absender, ob er wollte oder nicht, sich damals gemein machte: Nürnberger Parteitag! Saarland wird deutsch! Wehrkampftage der SA! Kraft-durch-Freude-Sammlung! Internationale Jagdausstellung! Vorsicht mit Feuer in Wald und Heide! Reiterturnier – Das braune Band! Breslau Deutsches Turn- und Sportfest! München Hauptstadt der Bewegung! Staatstreffen Hitler – Mussolini! Deutsch der Sudentengau! Der Führer in Wien! Leipzig Reichsmessestadt! Und als die Tschechei dann, gegen alle Zusagen, eingenommen war: Wir danken unserm Führer! Leibstandarte SS – Adolf Hitler! Ausstellung Das Sowjet-Paradies! Vollkornbrot: Besser und gesünder! Vermeidet Rundfunkstörungen! Weihnachtssendungen rechtzeitig aufgeben! Dann, der Weltkrieg hatte begonnen, Deutschland war überall auf dem Vormarsch und zugleich vom Rest der Welt isoliert: Winterhilfswerk! Luftschutz tut not! Kriegshilfswerk für das Rote Kreuz! Büchersendung der NSDAP für unsere Wehrmacht! Und plötzlich wurde Europa zum neuen Schlagwort: Europas Einheitsfront gegen den Bolschewismus! Europäischer Jugendverband Gründungstagung! Und nach dem Wendepunkt in Stalingrad: Sie starben für Großdeutschland! Ihr Opfer verpflichtet! Deutschland wird siegen! Als aber alle Felle davonschwammen: Deine Haltung entscheidet! Waffenstillstandskommission!

Zwölf Jahre lang kollektive Gehirnwäsche, Durchhalteparolen, ununterbrochenes Trommelfeuer der Propaganda. Und dazwischen, als ginge alles seinen normalen Gang, der liebliche Kehrreim der Philatelisten, immer wieder, bis zum Ende des Krieges: Tag der Briefmarke! Deutscher Philatelistentag! Es gab die lokale Werbung, den Tourismusstempel: Landshuter Hochzeit! Schaefers Märchenstadt! Stralauer Fischzug Berlin Treptow 1936! Herbstfest Rosenheim! Autoschau Berlin! Garmisch-Partenkirchen Internationale Wintersportwoche 1941! Deutsches Bundeskegeln Frankfurt am Main! Und es gab die überregionale Ansage: Erntedanktag! Kampf dem Kartoffelkäfer! Und an die Chronisten mehr als an die Sammler gerichtet, Jahr für Jahr wieder: Führers Geburtstag!

Vieles davon, werbetechnisch betrachtet, waren Pioniertaten im Rahmen einer postalischen Ästhetik, die bis heute fortwirkt. In den ersten Jahren, und solange der Markenvorrat vorhielt, war auch Hindenburgs Kopf, der alte Preußenschädel des Reichsmarschalls, noch im Spiel. Ein Zeichen vielleicht der heimlichen Opposition, der verlorenen Hoffnung bei den Absendern, von denen viele das Davor noch gut kannten und das Danach allmählich fürchten lernten? Signale der Andersdenkenden, wer kennt den Einzelfall? Noch auf den letzten Feldpostsendungen taucht der Dickschädel des Siegers von Tannenberg regelmäßig auf. Was dachten Wehrmachtsangehörige, wenn sie ihre Briefe und Karten bei der Feldpoststelle einreichten, während zu Hause, wo Mutti und Vati auf Post warteten, die Städte in Schutt und Asche versanken?

Da aber war es längst zu spät. Da war gegen den anderen, den schnurrbärtigen Briefmarkenkönig mit dem bösen Erlöserblick, kein Kraut mehr gewachsen. Sein Portrait war nun allgegenwärtig, überall im Reich präsent. In jeder Amtsstube hing sein Konterfei, in jedem Schulzimmer, jedem Versammlungsraum von Wehrmacht, Partei und Reichsarbeitsdienst, und war nicht mehr wegzudenken. Nur sensible Menschen erleben solche Allgegenwart als persönliche Katastrophe. Die Entwertung der eigenen Gesichtszüge wie die aller anderen in einer Volksgemeinschaft, die so weit mitgelaufen war, daß sie nicht mehr zurückkonnte und in ihren Einzelschicksalen zuletzt in einer einzigen desaströsen Verhängniskette verschmolz.

Aber es gab auch Ausnahmen, natürlich gab es sie, seltsame Lebenswege, die anders verliefen, vollkommen neben der allgemeinen Spur. So wie der des Edmund Kalb, eines Malers aus Dornbirn in Vorarlberg, eines Österreichers, der den Anschluß nie akzeptieren konnte, der Gegen-Hitler per se. Kalb war der Außenseiterkünstler, der kein Künstler sein durfte und darum lebenslang Außenseiter blieb. Ein Maler, wie jener einer war, der in Braunau am Inn geboren wurde und, nachdem er kein Künstler sein konnte, eine Bewegung gestartet hatte, in deren Verlauf er ganz Deutschland zum Gesamtkunstwerk formte mit der totalen Zerstörung des Landes als finsterer Krönung. Edmund Kalb dagegen, elf Jahre nach Hitler geboren, genau am Jahrhundertanfang, hinterließ ein Werk von über tausend Selbstbildnissen. Ein Werk, aus Notwehr entstanden gegen den allgemeinen Gesichtsverlust unterm Diktat dieses einen… »versulzt, verschlackt, ein teigiges Mondgesicht«, wie ein anderer Außenseiter, der Arzt Friedrich Reck-Malleczewen, in seinem Tagebuch eines Verzweifelten schrieb. Kalb ist der exemplarische arme Kerl in einem Volk, das sich der Führung von Verbrechern überließ. Wirtschaftliche Not zwingt ihn, sein Studium an der Akademie der bildenden Künste in München abzubrechen und ins Elternhaus zurückzukehren.  

Niemand in seiner bäuerlichen Umgebung versteht ihn, zeitlebens bleibt er für sie der Sonderling. Nach dem Anschluß Österreichs verschärft sich seine persönliche Lage. Im Januar 1942 wird er zur Wehrmacht eingezogen, wo er fortwährend mit seinen Vorgesetzten in Konflikt gerät. Er verbringt fast die ganze Kriegszeit in Untersuchungsaft, von Militärgefängnis zu Militärgefängnis weitergeschoben. In der psychiatrischen Akte, die über ihn angelegt wird, wird vermerkt, er habe das Anschreien nicht vertragen. Schließlich habe er sich in der Zelle sehr wohl gefühlt und getrachtet, möglichst viel eingesperrt zu sein, damit er in den Genuß der gewünschten Ruhe komme, die er sonst doch nicht gehabt hätte, und damit er über mathematische Probleme nachdenken könne. Während dieser Zeit unterhält er einen regen Postverkehr mit seinem Vater und den Verwandten, wobei er auf den zahlreichen Briefen die Marken mit dem Portrait des Adolf Hitler in zwei Hälften zerschneidet, als magische Handlung, eine Art Schadenzauber. Oder er geht so weit, den Führerkult lächerlich zu machen, indem er die Rückseite der Briefumschläge flächendeckend mit Ein-Pfennig-Marken pflastert, die alle den Hitlerkopf tragen und die er teilweise zu Mustern arrangiert. Die verzweifelten Aktionen eines Humoristen: Anscheinend konnte man diesen Mann nur exorzieren, indem man sein Abbild so vervielfachte, daß es absurd wurde. Vernichten ließ er sich dadurch nicht, satanischerweise hat er gerade im Bild überlebt. Bis heute besitzt er die Gabe aller wahrhaft Untoten und kehrt einfach immer wieder. Hunderte Male im Jahr feiert er auf allen Fernsehkanälen seine Auferstehung in Sendungen wie Hitlers Paladine, Die Frauen um Hitler, Hitlers Blitzkrieg oder Hitler auf dem Obersalzberg (in Farbe).