Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius - Bogumil Goltz - E-Book

Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius E-Book

Bogumil Goltz

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Beschreibung

Daß Goltz zum Volkstumsforscher wurde, war nur natürlich; in den von einer deutsch-polnischen Mischbevölkerung bewohnten Gegenden drängen sich die Unterschiede der Nationalitäten ganz von selbst auf. Dazu kamen die ausgedehnten Reisen, die Goltz unternahm, und daß er als ein Mann, der durch und durch voller "Deutschheiten" steckte, der deutschen Heimatssinn, deutsche Kindlichkeit, deutschen Individualismus und Idealismus, deutsche Phantasie u. s. f. in reichem Maße besaß, wenigstens über das deutsche Wesen ein Wort mitreden durfte, versteht sich von selbst. Freilich, zu einer wissenschaftlichen Ergründung von Volkstumsfragen genügt das durchaus nicht: die historischen und psychologischen Untersuchungen anzustellen, die dazu nötig gewesen wären, blieb Goltz seinem ganzen Bildungsgang nach versagt; seine Methode war lediglich die der Selbstbeobachtung und der Vergleichung der Völker untereinander. Inhalt: I. Der deutsche Genius und seine Bedeutung für die Welt. II. Die deutsche Sprache und die deutschen Sprüchwörter. III. Das deutsche Volkslied. IV. Das deutsche Volksmärchen V. Die deutschen Sitten und das Familienleben VI. Deutsches Recht und deutsche Ehre VII. Parallele zwischen deutschen und französischen Frauen. VIII. Das Seelenleben und die Herzensbildung der Deutschen. IX. Das Gemüt und die deutsche Gemütlichkeit. X. Der deutsche Humor. XI. Der deutsche Witz XII. Die Person. XIII. Die deutsche Sentimentalität und transzendente Lebensart. XIV. Expektorationen zur Ehrenrettung der deutschen Romantik und des deutschen Naturgefühls. XV. Die Deutschen und ihre Nationalität. A. Luther. B. Jakob Böhme, der theosophus teutonicus. C.

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Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius

Bogumil Goltz

Inhalt:

Bogumil Goltz – Biografie und Bibliografie

Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius

I. Der deutsche Genius und seine Bedeutung für die Welt.

II. Die deutsche Sprache und die deutschen Sprüchwörter.

III. Das deutsche Volkslied.

IV. Das deutsche Volksmärchen

V. Die deutschen Sitten und das Familienleben

VI. Deutsches Recht und deutsche Ehre

VII. Parallele zwischen deutschen und französischen Frauen.

VIII. Das Seelenleben und die Herzensbildung der Deutschen.

IX. Das Gemüt und die deutsche Gemütlichkeit.

X. Der deutsche Humor.

XI. Der deutsche Witz

XII. Die Person.

XIII. Die deutsche Sentimentalität und transzendente Lebensart.

XIV. Expektorationen zur Ehrenrettung der deutschen Romantik und des deutschen Naturgefühls.

XV. Die Deutschen und ihre Nationalität.

A. Luther.

B. Jakob Böhme, der theosophus teutonicus.

C. Friedrich der Große und Napoleon.

D. Ein Paar Worte über Herder und Lessing, nebst einer Erinnerung an Gellert.

E. Goethe.

F. Schiller und Goethe.

G. Theodor Hippel. Vgl. S. 20, Anm. 3.

XVII. Die deutsche Mystik und die moderne Lichtfreundlichkeit mit Glossen versehen.

XVIII. Die Deutschen und Franzosen in Parallele gestellt.

XIX. Mystifikationen des deutschen Volkes durch literarische Phantasmagorie und Taschenspielerei.

A. Der Deutsche ein Gemütsmensch, d.h. eine wiederkäuende Kreatur.

B. Die überwundenen Standpunkte, die Geschichte und der politische Fortschrittsprozeß.

C. Die Literatur, eine Krankheit der Deutschen.

XX. Deutsche Miseren und Malheurs.

A. Der Deutsche und die Form.

B. Deutsche Pedanterie.

C. Die deutsche Philisterei.

D. Ein Paar Striche zum Schattenriß der deutschen Gelehrsamkeit, Kritik und Literatur

E. Die deutsche Kritik

Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius, Bogumil Goltz

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849617219

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Bogumil Goltz – Biografie und Bibliografie

Humoristischer Schriftsteller, geb. 20. März 1801 in Warschau, gest. 12. Nov. 1870 in Thorn, erhielt seine Bildung in Königsberg und Marienwerder, erlernte 1817–21 in der Nähe von Thorn die Landwirtschaft, hörte darauf an der Universität zu Breslau philosophische und philologische Vorlesungen, war seit 1823 als Landwirt tätig, widmete sich dann zumeist literarischen Arbeiten und ließ sich 1830 in dem Städtchen Gollub nieder, von wo er 1847 nach Thorn übersiedelte. Seine Schriften sind: »Buch der Kindheit« (Frankf. 1847; 4. Aufl., Berl. 1877); »Deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen Lebensart« (Frankf. 1847); »Das Menschendasein in seinen weltewigen Zügen und Zeichen« (das. 1850, 2 Bde.; 2. Aufl., Berl. 1867); »Ein Jugendleben, biographisches Idyll aus Westpreußen« (Leipz. 1852, 3 Bde.; 2. Aufl. 1865, 4 Bde.); »Ein Kleinstädter in Ägypten« (Berl. 1853, 3. Aufl. 1877); »Der Mensch und die Leute« (das. 1858,5 Hefte); »Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen« (das. 1858, 5. Aufl. 1874); »Zur Physiognomie und Charakteristik des Volkes« (das. 1859); »Die Deutschen, ethnographische Studien« (das. 1860, 2 Bde.; 2. Aufl. u. d. T.: »Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius«, 1864); »Typen der Gesellschaft« (das. 1860, 2 Bde.; 4. Aufl. 1867); »Feigenblätter, eine Umgangsphilosophie« (das. 1862–64, 3 Bde.); »Die Bildung und die Gebildeten« (das. 1864, 2. Aufl. 1867); »Die Weltklugheit und die Lebensweisheit mit ihren korrespondierenden Studien« (das. 1869, 2 Bde.); »Vorlesungen« (das. 1869, 2 Bde.). In allen diesen Werken zeigt sich G. als realistischer Sonderling. Wie Rousseau ein Feind der zur Unnatur gesteigerten Kultur, möchte er durch radikale Umgestaltung des Erziehungswesens ein kräftigeres Geschlecht und ein neues geistiges Leben der Menschheit anbahnen. Naturalistisch bis zum Zynischen, leiden seine sprachlich jeanpaulisierend barocken Schriften an künstlerischer Formlosigkeit. In seiner Schilderung virtuoser Kleinmaler, in seiner Beurteilung durchaus moralischer und politischer Rigorist, schwärmt er für patriarchalische Sitte und fühlt sich nur da sympathisch berührt, wo ihm naturwüchsige Kraft und Derbheit entgegentritt. Vgl. Roquette, Siebzig Jahre, Bd. 1 (Darmst. 1894).

Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius

Eine ethnographische Studie

I. Der deutsche Genius und seine Bedeutung für die Welt.

Oken Lorenz Oken (1779–1851), Naturforscher und Begründer der neueren Naturphilosophie. hat die Tiere, nach der hervorstechenden Entwickelung ihrer Sinne, in Augen- und Gehör-, Zungen- und Geruchstiere eingeteilt. In Konsequenz dieser Grundanschauung mag man den Menschen das Gehirn- oder Nerventier nennen, weil in ihm alle Sinne die höchste Potenz gewinnen können, wie dies die Wilden dartun, und weil die Wurzel dieser vollkommenen Sinnentätigkeit das entwickelte Nervenleben ist. Die Physiologen haben demnach zutreffend gesagt, der Mensch sei das Geschöpf par excellence; denn in seinem Organismus sind nicht nur die Fakultäten und Kriterien aller Tierklassen, sondern alle Reiche der Natur zum harmonischen Ganzen versöhnt.

Der Mensch ist nach uralter Vorstellung ein Mikrokosmus, das Maß für alle Dinge, für alle Geschichten und Geschöpfe; die Quintessenz des Staubes, wie es der Witz Shakespeares formuliert. Diese Vorbetrachtung ist notwendig, um von vornherein über die Natur des Deutschen orientiert zu sein. Wie nämlich der Mensch das Geschöpf der Geschöpfe ist, so darf man den Deutschen für den bevorzugten Menschen ansehen, weil er in der Tat die charakteristischen Eigenschaften, die Talente und Tugenden aller Rassen und Nationen in sich zu einem Ganzen vereint. Der deutschen Weltbürgerlichkeit und Universalität wird die Charakterlosigkeit, der Mangel an Nationalität und Nationalehre vorgeworfen; die Deutschen tun aber ganz gescheut, wenn sie im Bewußtsein ihres Genius jene Ausstellung mit der Wahrheit parieren, daß die prätendierte Charakterfestigkeit der andern Nationen (soweit sie sich überhaupt nachweisen läßt) in Einseitigkeit und Starrsinn, daß insbesondere der Nationalstolz in Hochmut, Egoismus und Geistesbeschränktheit, in einem Mangel an objektivem und weltumfassendem Verstande begründet ist.

Der deutsche Charakter hat ungeachtet seiner Universalität und weltbürgerlichen Zerfahrenheit unendlich tiefere Züge als der Charakter der romanischen und slawischen Nationen. Während bei diesen nur die Masse ein Gepräge darlegt und nur die Masse sich als ein Volk fühlt, so zeigt der Deutsche als Individuum eine eigentümliche Geistesphysiognomie, ein Gottesgewissen und ein Gemüt, in welchem sich die Geschichte der Menschheit bewegt und inkarniert. Nach einem Dutzend Franzosen, Russen, Polen und Italienern kann man leichter diese drei Nationen Polen und Russen zusammen als eine gerechnet konstruieren, als man das deutsche Volk begreift, wenn man tausend Deutsche studiert hat. Die Physiognomie eines Landes ist leichter zu fassen als die des Erdballs, und der Charakter der ganzen Schöpfung offenbart sich nur in geweihten Augenblicken dem Genius und Propheten. So wird denn auch der Charakter des Deutschen nur vom deutschen Genius gefaßt. Der deutsche Mensch bedeutet in jedem Individuum eine aparte Welt; er ist am meisten eine Person; er ist im tiefsten Sinne des Worts ein Charaktermensch schon um deswillen, weil er, verglichen mit den Individuen anderer Nationen, eine Person, ein Genie, ein Original, ein Gemütsmensch, weil er kein Figurant, kein soziales oder "politisches Tier" im Sinne der Franzosen ist, die sich in dem Augenblick als die charakter- und gemütlosesten Personagen dekouvrieren, wo man sie nicht mehr als Nation, sondern als Personen ins Auge fassen will. Die Holländer besitzen Nationalstolz und Charaktereigentümlichkeit in den Individuen wie in der Masse des Volkes; sie zeigen willensfeste, gedankenkonsequente, formenkonsequente Menschen, Eisenköpfe, noble Pedanten in Masse auf und sind Deutsche, die sich eben um deswillen Mann für Mann als Personen und Originalcharaktere darstellen, sobald man sie mit andern Nationen vergleicht.

Die Engländer gleichen den Holländern in den angegebenen Grundzügen auf das Frappanteste, und daß diese Gleichheit nicht von der normannischen oder urbritannischen, sondern von der angelsächsischen Wurzel herrührt, beweist ja eben der Charakter des holländischen Brudervolks. Die holländischen Deutschen erzogen einen Nationalstolz und Gemeingeist, weil ihre Verhältnisse dazu angetan waren; aber die Franzosen hatten Gelegenheit, einen Weltverstand, ein Kolonialtalent zu erwerben, und vermochten es keinmal.

Die deutsche Nation kann keinen Charakter im Sinne der andern Nationen haben, da sie sich durch die Literatur, durch Vernunftbildung zu einem Weltvolke generalisiert und geläutert hat, in welchem die ganze Menschheit ihre Lehrer und Erzieher anzuerkennen beginnt. Ja wir sind, wir waren, wir bleiben die Schulmeister, die Philosophen, die Theosophen, die Religionslehrer für Europa und für die ganze Welt. Dies ist unser Genius, unsere ideale Nationaleinheit, Nationalehre und Mission, die wir nicht gegen das Ding oder Phantom austauschen dürfen, was von den Franzosen oder Engländern Nationalität genannt wird. Wir sind und bleiben ein weltbürgerliches, welthistorisches Volk im bevorzugten Sinn und können eben um deswillen kein dummstolzes, nationalstolzes, tierisch zusammengeschartes und verklettetes Volk sein, das ähnlich den wilden Gänsen im römischen großen A fliegt, das sich, den Franzosen und Polen gleich, in jeder Versammlungen einer Proberevolution oder Eintagsrepublik kristallisiert. Wir sind, was wir natürlicher-, welthistorischer- und prädestiniertermaßen sein müssen: wir sind das Volk, in welchem alle andern Völker und Rassen des Erdbodens ihre Wurzeln und ihre Wipfel haben.

Wir sind so mühselig, arbeitsam und kunstfertig wie die Chinesen; wir haben oder hatten ihre Pietät gegen Eltern und alte Leute, ihren Kultus des Ackerbaues und ihre Heilighaltung des Fürsten, ihren Respekt vor der Gelehrsamkeit und dem uralten Gebrauch.

Die Holländer besitzen alle Tugenden der Chinesen, ihre Ehrfurcht vor dem Alter, den Standesunterschieden, dem Zeremoniell, ihre Handelsgewandtheit, leider auch ihre Geldreligion und nichtsdestoweniger die zäheste Tapferkeit und einen Republikanerstolz, der in einem angestammten demokratischen Geiste, in den solidesten Volkstugenden, in Arbeit und Mannhaftigkeit, in Willensstärke und charakterfester Vätersitte gegründet ist. Wir Deutschen zeigen in unserer Gelehrsamkeit und in allen Verhältnissen die jüdisch-talmudistische Spitzfindigkeit und Zergliederungskunst, die jüdische Zähigkeit, Zerbröckelung und Unverwüstlichkeit, die jüdische Unverträglichkeit, Verlästerung, Neiderei und Zänkerei im Privatleben; unbeschadet dessen die jüdische Geselligkeit, Gemütlichkeit und Mitleidenschaft, den zärtlichen Sinn für Familienleben, welcher die Juden noch bis zum heutigen Tage charakterisiert. Wir haben ihren Individualismus geerbt, der in der ganzen Alten Welt (mit Ausnahme anders gearteter Ausgestaltungen in Indien) nicht weiter zu finden ist; und dieser Individualismus, den die deutschen Literaten heute an dem deutschen Volke verwünschen: er war es, der aus dem jüdischen Schoße die Eigenart des Volkes, ihre religiöse und politische Absonderung, den darauf bezüglichen Gesetzeseifer, die Autoritäten, die Richter, die Helden, die Propheten, die Erkenntnis eines persönlichen Gottes und in der Konsequenz das herzige, gemütstiefe, auf die Heiligung und Erlösung der Person berechnete Christentum gebar, welches vor allen Völkern in den Deutschen seine tiefsten Wurzeln geschlagen hat.

Wir besitzen nicht nur Anlagen für den separatistisch-indischen Kastengeist, sondern das entgegengesetzte Extrem: die formlose arabische Märchenphantasie und die grübelnde Mythentheosophie der alten Inder. Ihre ungeheuerliche Göttergenesis spiegelt sich in der nordisch-deutschen Götterlehre zurück. Die indische Grottenbaukunst hat mit der gotischen Baukunst die Abenteuerlichkeit, den subjektiven, phantastischen Charakter und das individualisierende wie idealistische Prinzip gemein. Die sentimentale "Sakuntala" Das berühmte Schauspiel des indischen Dichters Kalidasa (6. Jahrh. n. Chr.). ist durch und durch deutsch. Indische Theosophie und Naturphilosophie können wir bei Jakob Böhme, Der Hauptvertreter der deutschen Mystik des 16. Jahrhunderts, Philosoph und Theosoph (1575–1624). Paracelsus Der Arzt und mystische Philosoph Theophrastus Bombastus Paracelsus von Hohenheim (1493–1541). und Swedenborg Der schwedische Theosoph Emanuel von Swedenborg (1688–1772), Begründer eines phantastischen Rationalismus. studieren; die indischen Gymnosophisten "Nackte Weise", Asketen und Einsiedler. und Fakire fanden und finden nicht nur am deutschen Säulenheiligen Daniel, sondern an zehnmal Zehntausenden von deutschen Asketen und närrischen Heiligen ihre Vollblutnachkommenschaft. Wir sind aber nicht nur indisch, sondern auch speziell ägyptisch geartet und organisiert.

Wir waren das ganze Mittelalter hindurch so hieroglyphisch-sphinxrätselhaft, so symbolisch-mystisch-theokratisch-mumienhaft balsamiert und bandagiert, so labyrinthisch, so traumdeuterisch, so memnonssäulenmäßig, so abgeschlossen, so abgekammert und partikularisiert; wir waren so materialistisch in den Bauch der Erde eingewühlt und dann wieder so pyramidal und obeliskenspitz idealistisch in die Himmelsbläue gewachsen, daß uns zuletzt nichts weiter übrigblieb, als jene ungeheuerlichen Kontraste und Exzentrizitäten auf die Literatur zu übertragen, wo sie vorzugsweise in den politischen und publizistischen Tendenzen figurieren. Wir harren der Versöhnung von dynastischer Autokratie und Demokratie, von Rückwärts und Vorwärts, von Pedanterie und Abenteuerlichkeit, von Schematismus und "Urbrei", von Immanenz und Transzendenz, von Zentrifugal- und Zentripetalkraft, von Autoritäten und Ideen, von Sozialismus und Partikularismus. Außerdem offeriert sich der ägyptische Lebensstil, d. h. der symbolische und idealistische Schematismus, dem kuriosen Liebhaber auch noch in der deutschen Philosophie, Philologie und Theologie; und was die Jurisprudenz betrifft, so weiß man nicht zu sagen, ob sie sich tiefer in die Erde oder in die Wolken hineinwühlt. Keinenfalls können es die ägyptischen Katakomben mit der Abgründlichkeit des historischen Rechtsbodens oder die Pyramiden mit den Rechtsideen, d. h. mit den Montgolfieren, Luftballons. Die Brüder Joseph Michel und Jacques Etienne Montgolfier(1740– 1810 und 1745–1799) waren Erfinder der durch erwärmte Luft emporgehobenen Luftballons (1783). aufnehmen, in denen der professionierte deutsche Rechtsgelehrte die Sphäre von Rechts wegen erreicht, wo ihm Hören und Sehen und alle übrigen Sinne vergehen. Wer endlich kein Dichter, kein Denker und Rechtsgelehrter ist, der kann in allen kleinen Staaten und Städten die ägyptischen Kulturgeschichten repetieren, wenn er ein bißchen symbolischen Verstand und Übersetzertalent in sich verspürt, und an beiden Qualifikationen gebricht es dem Deutschen keineswegs. Nachdem solchergestalt in Ernst und Scherz dargetan ist, wie tief unsere Wahlverwandtschaft mit Chinesen, Indern, Juden und Ägyptern begründet ist, so sind wir der Mühe überhoben, sie auch noch mit Griechen und Römern oder mit den slawischen und den romanischen Nationen darzutun. Wir besitzen die englische Gründlichkeit und Akkuratesse, aber nicht die englische Einseitigkeit, Pedanterie, Bizarrerie und Geschmacklosigkeit, auch nicht die englische Brutalität oder Perfidität. Wir haben die französische Handlichkeit, Anstelligkeit, Gewandtheit und Eleganz in allen technischen Künsten, aber ohne die französische Ostentation, Windbeutelei und Scharlatanerie. Wir verstehen uns auf die Musik und alle schönen Künste tiefer als die Italiener, aber ohne ihre Sinnlichkeit, Phantasterei und Oberflächlichkeit. Wir sind Ackerbauer und Viehzüchter mit Naturliebe und patriarchalischem Gemüt, wie nur die alten Polen und die Ungarn; aber wir sind keinmal so unwissende, halbwilde, gegen jede Grammatik und Vernunft verschworene Grasteufel wie sie. Wir haben mit den Russen und Chinesen das Talent des Nachahmens und des Gehorsams, die Kaiseridee und Kaiserheiligung gemein; aber wir verstehen auch originell, obstinat und, wenn's sein muß, "passiv-rebellisch" zu sein. Wir sind wandersüchtig wie Kirgisen und Tataren und kleben doch an der Scholle. Man hat uns Stuben- und Kammermenschen gescholten und zugleich die Auswanderungslust vorgeworfen; wir sind kurzsichtig und übersichtig; wir sehen als Praktiker den Wald vor lauter Bäumen und dann wieder als Theoretiker die Bäume nicht vor lauter Wald. Wir sind tüpflig, häklig, "endelich" (das Ende der Dinge und Handlungen bedenkend), wir sind schwierig, schiefrig, jeden Punkt erwägend; und dann wieder sind wir idealistisch, schwärmerisch über alle Realitäten und irdischen Anstöße hinweg. Wir lassen uns pedantisch und romantisch, zeremoniell und sackgrob, delikat und unflätig, zartsinnig und ungeschlacht finden. Wir balancieren Eulenspiegels Narrheiten und die Sprichwörterweisheit Salomonis; wir leben von Kartoffeln und Sauerkraut, wir essen in Norwegen Brot mit Birkenrinde und trinken im nördlichen Deutschlande Spiritus und Rum. Wir wissen selbst nicht, ob wir mehr der Frugalität oder der Völlerei und allen andern Extremen ergeben sind. In unsern Köpfen, und namentlich in unsern Dummköpfen, kribbeln und wibbeln alle erdenklichen Gedanken wie in einem Ameisenhaufen so durcheinander, daß uns Arndt "ein Wurmvolk" genannt hat; und dann wieder kommt ein Kepler oder ein deutscher Schuster, wie Jakob Böhme, und erraten noch vor Newton das Gesetz der Schwere; und ein Kopernikus besiegt und rektifiziert den Augenschein und ruft der Sonne ein Halt zu; aber auch die Sonne dreht sich um ihre Achse und um eine tiefste Sonne, deren Ruhe und Bewegung kein Sterblicher begreift.

Wir Deutschen haben konzentrische Grundbewegungen, mit unberechenbaren exzentrischen Paroxismen verbrämt und durchwirkt. Wir sind ein von Charakter menagiertes und doch im Geiste ein ausschweifendes, von Phantasiestücken und Reaktionen leicht alteriertes und im letzten Stadio ein von Reue und Gewissensängsten zerrissenes Volk. Wir haben die Zentrifugal- und -petalkraft unseres Wesens zu einer Ellipse ineinsgebildet, aber es fahren närrische, unreife Kometenphantome quer über das Sonnensystem unserer Schulvernünftigkeit. Das Gesetz unserer Kulturgeschichte zeigt unberechenbare Störungen und Abnormitäten, in welchen sich ein pathologisches Grundwesen manifestiert; die deutsche Pathologie ist aber nicht die sinnlich egoistische Reizbarkeit des Romanen, sondern die weltbürgerliche Sensibilität eines Volkes, in welchem sich die Weltgeschichte eingefleischt, welches die Gottheit vorzugsweise zum Träger des Geistes der Menschheit bestimmt hat.

Es ist in aller Geschichte Ebbe und Flut, ein Wechsel von Einseitigkeiten, von Exzentrizitäten; und doch ändert das "Hin und Her" nicht die Hauptströmung, das Durchgreifen einer leitenden Idee.

Die Geschichte verwendet alle Zeiten und Nationen als Organe der Wahrheit; aber nur gewisse Völker wie Individuen macht sie zu Trägern des ganzen Reichtums ihrer Gedankenprozesse, während die andern Nationen und die Masse der Individuen nur zu Vertretern des einen oder andern Faktors der Wahrheit, zu Organen der Natur oder des Geistes, des Realismus oder des Idealismus ausersehen sind. Gibt es nun ein Volk, von welchem die Weltkultur seit der Völkerwanderung bis auf diesen Tag beherrscht und in allen Faktoren vertreten wird, so ist es das germanische Volk. Es leitete die römische Geschichte in seine Adern, indem es römisches Recht wie römische Sitte assimilierte und durch das Christentum zu einer neuen Potenz erhob, zu einem neuen Organismus entwickelte. Die Longobarden verwandelten die Lombardei fast in ein deutsches Land, und im fränkischen Reich ward zum erstenmal die antike griechische Kultur durch deutschen Geist aufgewuchtet; sie blieb auf Byzanz beschränkt, bis ihr die Kreuzzüge den Rest gaben.

Von den Angelsachsen wurde die keltische Kultur in Britannien absorbiert, und die Engländer, die Erbnehmer deutscher Art, sind es, welche Indien zivilisierten und Nordamerika kolonisierten. Diese Amerikaner aber haben wiederum die sichtbare Mission, ganz Amerika und mit ihren Stammgenossen, den Engländern, die ganze außereuropäische Welt zu beherrschen. So geschieht es, daß sich die Deutschen durch ihre Auswanderungen, ihren Kolonisationsverstand, ihre Wissenschaft und Weltliteratur zu den Erziehern ganzer Weltteile erheben.

Diese Rolle und keine geringere vertritt das deutsche Volk in der Weltgeschichte sichtbarlich und ohne eine Spur des Übermutes, zu welchem alle andern Nationen durch ihr prononciertes Nationalgefühl angetrieben werden.

Aus dem Schoße des deutschen Volkes gingen die bedeutendsten Entdeckungen und Erfindungen hervor. Kolumbus kannte die Reisen des Nürnberger Martin Behaim Geograph und Verfertiger eines großen Erdglobus, der noch jetzt vorhanden ist (um 1459-1506). nach Amerika, von der Küste Afrikas aus. Die "Geographischen Mitteilungen" von Petermann, November 1858, resümieren die Schrift von A. Ziegler: "Kolumbus und Martin Behaim" dahin: "Fassen wir all das in bezug auf Martin Behaim Gesagte zusammen, so läßt sich nicht beweisen, daß Martin Behaim Geograph und Verfertiger eines großen Erdglobus, der noch jetzt vorhanden ist (um 1459-1506). der Vater der westlichen Entdeckungen, der wirkliche Entdecker Amerikas gewesen sei. Das aber läßt sich mit Gewißheit annehmen, und die neuern Untersuchungen haben dies auch unwidersprechlich gelehrt, daß der weit im westlichen Ozean lebende berühmte Kosmograph Martin Behaim aus Nürnberg jedenfalls Kolumbus in seinem Plan, nach Westen zu segeln, bestärkt und wesentlich zur Ausführung des Planes von Kolumbus beigetragen habe. Somit ist Behaim für die Entdeckung Amerikas von wesentlichem Nutzen gewesen, und der deutschen Wissenschaft kommt die Ehre zu, jenen berühmten Seefahrern, Kolumbus, Vespucci, [Amerigo Vespucci, italienischer Seefahrer (1451-1512), nach dessen Namen der neuentdeckte Erdteil auf Vorschlag des deutschen Buchdruckers Waldseemüller Amerika benannt wurde. Vespucci hat vier Fahrten nach Amerika gemacht und sich um dessen Erforschung Verdienste erworben.] Vasco de Gama [Der berühmte portugiesische Seefahrer, der den Seeweg nach Ostindien um die Südspitze Afrikas entdeckte (1469-1524)], u. a. die Möglichkeit an die Hand gegeben zu haben, sich weiter in den Ozean hinaus zu wagen. In dieser Beziehung haben neben den Italienern, Spaniern, Portugiesen, Engländern und Franzosen auch die Deutschen, die armen Aschenbrödel, wenn auch nicht der seefahrenden, doch der seemächtigen Nationen – durch die natürliche hohe Begabung des germanischen Geistes teil an der Ehre, auf die Entdeckung und Entwicklung Amerikas ebenso bedeutend als wohltätig eingewirkt zu haben. Es muß übrigens spätern historischen Forschungen überlassen bleiben, neues Licht über die Behaimsche Frage zu verbreiten, die noch lange nicht als abgeschlossen zu betrachten ist.". Nicht nur Kepler, sondern Jakob Böhme ahnete das Gesetz der Schwere vor Newton, welcher freilich die mathematische Formel gefunden hat. Die Formel heißt: "Die kleinsten Teilchen der Materie ziehen sich an im Verhältnis ihrer Massen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats ihrer Entfernung." Es ist nicht leicht, die ganze Größe und Ausdehnung der Newtonschen Entdeckung zu überschauen, wenn man nicht die rastlosen Bestrebungen von Newtons Vorgängern überblickt. – Erst Kepler lehrte: "Die Planeten bewegen sich in elliptischen Bahnen, in deren gemeinschaftlichem Brennpunkt die Sonne steht." Kopernikus, von deutschen Eltern abstammend und von deutscher Wissenschaft genährt, Die dahin bezüglichen Studien und veröffentlichten Dokumente verdanken wir Leopold Prowe in Thorn. entdeckte das wahre Sonnensystem. Gutenberg erfand die Buchdruckerkunst, und Luther war es, der im Beistande des norddeutschen Volkes durch die Reformation den Einfluß des romanischen Geistes abdämmte und dadurch für die ganze Welt eine neue Glaubens- und Lebensordnung herbeiführte, eine neue Kulturgeschichte beschwor.

Leibniz und Kant, Fichte und Hegel, G. Forster, Georg Forster (1754-94), Reisender und Reiseschriftsteller. Seine klassischen "Ansichten vom Niederrhein" 1791-94 in drei Bänden. Sömmering (aus Thorn), Samuel Thomas von Sömmering (1755-1830), der berühmte Anatom und Physiolog. die Brüder Humboldt, Jakob Grimm ec. sind Deutsche, und nie hat ein Volk mehr und größere Genien in einer und derselben Zeit für Poesie und Wissenschaft zusammenwirken gesehen als zu Ausgang des vorigen und das deutsche Volk zu Anfange dieses Jahrhunderts. Die Träger dieser klassisch-romantischen Sturm- und Drangepoche: die Lessing und Herder, die Klopstock und Wieland, Goethe und Schiller, Hippel, Theodor Gottlieb von Hippel (1741 bis 1796), der Verfasser der "Lebensläufe in aufsteigender Linie". Hamann Johann Georg Hamann(1730-88), der "Magus aus Norden", der durch seine Schriften auf Herder, Goethe und andere Zeitgenossen bedeutend eingewirkt hat. und Jean Paul, bilden noch bis zum heutigen Tage den Kern und zugleich die Peripherie, den Nährstoff, das Problem, den Zankapfel, das Vorbild, das Elend, den Stolz, die Verzweiflung, die Weisheit und Torheit der deutschen Literatur, die mit der englischen alle tieferen Menschen der gebildeten Welt beherrscht. Um die deutsche Literatur zu begreifen, muß man das deutsche Wesen und Sozialleben verstehen.

Der Deutsche orientiert sich mehr wie irgend eine Rasse von der Persönlichkeit zur Form; also auch bildet sich bei ihm der Staat viel tiefer und entschiedener aus dem Familienleben, aus den Sitten und Zuständen der Gesellschaft, wie aus den physischen und geographischen Bedingungen des Landes heraus. Diese Tatsachen bilden eben die deutsche Sozialpolitik. Der Deutsche entwickelt sich naturgemäß aus einem lebendigen Kern und Herzpunkt zu einer Peripherie; er läßt die Form wachsen, während sie in Frankreich gemacht wird. Die Zentralisation in Frankreich ist nur Diagnose des mechanischen und seelenlosen Verstandes, der sich von den Römern auf die romanischen Rassen vererbt hat; denn ihnen war die "Urbs" Lateinisch: die Stadt, d. h. Rom. der Mittelpunkt nicht nur des Reiches, sondern der Welt. Alle Heerstraßen und aller Verkehr aus den angestammten Provinzen wie aus den eroberten Ländern, die zu Provinzen gemacht wurden, führten auf Rom. Es gab nur einen Schwerpunkt in der römischen Welt, und als der zweite in Konstantinopel gefunden war, ging das römische Reich entzwei, weil es von Hause aus nur für einen Gravitationspunkt und aus einem solchen, mehr mechanisch als organisch, herausgestaltet worden war.

Aber weil der Deutsche eben ein naturwüchsiger, ein tiefpersönlicher, auf Seelenbildung und eigentümliche Existenz angewiesener Mensch ist: darum treibt ihn ein richtig sittlicher Instinkt zur Heiligung der Form, des Zeremoniells und der Religion. Eben der Naturalismus braucht zum Gegengewicht Übernatur; Religion wie Sitte bestehen nur in strenger Form. Das Frauenzimmer steht der Natur in jeder Beziehung näher als der Mann, es ist seelenvoller, persönlicher, eigenwilliger und von Natur mehr zum Partikularismus geneigt als der Mann, in welchem der vernünftige Geist und die Schulbildung vertreten wird; aber das Gefühl der sinnlichen Schwäche treibt das Weib mehr wie den Mann zum Zeremoniell, zur strengen Sitte und zur Religion. Das Weib ist zugleich natürlicher und sittlicher, sinnlicher und keuscher, seelenvoller und pedantischer, phantasiereicher und förmlicher, poetischer und profaner als der Mann.

Die Frauen sind delikat und zart, sie individualisieren und partikularisieren, wo sie generalisieren sollen; und dann wieder sind sie mehr zu einem durchgreifenden, tyrannischen und schematischen Verfahren, mehr zu einem Mechanismus geneigt als der Mann.

Der Deutsche steht den andern Nationen gegenüber wie das Weib dem Manne.

Der Deutsche hat mehr Natur, mehr Seele und Persönlichkeit, mehr Phantasterei und Idealismus, mehr Herzensdelikatesse, Mitleidenschaft und Humanität, mehr Gemütseigenschaften, mehr Verleugnung und Hingebung wie irgend eine Nation und zugleich, nach dem ewigen Gesetz der Reaktion, auch mehr förmlichen und skrupulösen Verstand, mehr Zeremoniell, mehr Pedanterie als irgend ein Volk der Welt. Und doch ist der Deutsche um seiner Vernunftüberlegenheit der männliche Mensch; er hat also das Wesenhafteste und Bedeutsamste vom Weibe wie vom Manne; er ist das Genie des Menschengeschlechts. Man wird nie darüber einig: soll man mehr über die deutsche Phantasterei oder über den deutschen Schematismus erstaunen, soll man den Deutschen mehr einen Träumer und Ideologen oder Pedanten schelten oder ihn um seiner Wissenschaftlichkeit und Handgeschicklichkeit bewundern; denn durch beide entgegengesetzte Eigenschaften ist er zugleich der Schulmeister und der Altgeselle des Handwerks für die ganze zivilisierte Welt.

Dieser Deutsche, der die politische Einheit Deutschlands nicht finden kann, der den politischen Staat und das äußere Gleichgewicht mit den andern Staaten so schwer begreift, derselbe hilft Staaten und Städte in fremden Weltteilen gründen, der kolonisiert die ganze Welt, weil er sich am leichtesten zu der Eigentümlichkeit jedes Volkes hinüberlebt, ohne die seinige aufzugeben. So versteht das Weib in der Ehe sich dem Manne zu fügen, während sie ihn zugleich mit ihrer Eigentümlichkeit beherrscht.

Derselbe Deutsche, der scheinbar zu widerwillig und nachlässig ist, um bei jeder kleinen Gelegenheit seine Interessen und Freiheiten zu verteidigen, der sich schwer in einen Kampf auf Tod und Leben einläßt, wird ein Bergstrom, dem nichts widersteht, wenn er einmal zum Kampfe losbricht, weil er aufs äußerste gebracht ist. Das Wesen des Deutschen ist so unergründlich wie die weibliche Natur. Auch das delikate, schämige, empfindsame und passive Weib wird ein Held und Märtyrer, ein Dämon, wenn es sich in seinem tiefsten Gefühl gekränkt sieht, oder wenn seine elementare Natur den Damm der Sitte und Form durchbrochen hat.

Der Franzose stellt sich als einen weibischen Menschen im verächtlichen Sinne dar, weil er die Ostentation, die Wetterwendigkeit, die Laune und Eitelkeiten der Frauenzimmer nicht verleugnen kann, weil er dem Weibe in der Ehe die Souveränität abgetreten hat; der deutsche Christ aber manifestiert in der Kulturgeschichte die weibliche Fruchtbarkeit und Bildkraft, die allseitige Empfängnis, die Verschmelzung des Geistes mit der Seele, mit Liebe, Glaube und Poesie.

Im Weibe haben sich die Rassen, hat sich der römische, der griechische, der altägyptische und der altslawische Typus bis zum heutigen Tage am reinsten konserviert. Ganz so erhalten und entwickeln sich im Deutschen die Rasseeigentümlichkeiten aller der Stämme, aus denen er hervorgegangen ist, und die sich mit ihm vermischt haben.

Der Deutsche ist der Universalmensch, die Mutter der übrigen Nationen, das Weib des Menschengeschlechts, welches nicht nur die Fakultäten und Tugenden aller andern Rassen in seinem Wesen versöhnt, sondern mit demselben die Einseitigkeiten der andern Völker ergänzt, sie erzieht, sie alle mit seinem Geiste ernährt, sich für alle verleugnet, alle pflegt und studiert, mit allen verkehrt, von allen verhöhnt und doch von allen gefürchtet und in seiner Geistesüberlegenheit anerkannt wird.

Es ist keine Not um die deutsche Rasse: sie kann und darf so wenig untergehen, als die Religion, die Vernunft und die Natur!

Gibt es eine Weltökonomie, eine göttliche Vorsicht, einen Fortschritt des Menschengeschlechts, eine wachsende Humanität, so wird es auch eine deutsche Rasse geben bis zum Ende der Welt. Aus ihr entnimmt die Gottheit die Erzieher, die Propheten, die Reformatoren, die Helden, die Philosophen und Dichter des Menschengeschlechts. Eben darum aber muß der Deutsche ein Universalmensch, muß die deutsche Rasse eine universell-persönliche und die Konstruktion dieser Persönlichkeit für den Schulverstand eine unmögliche sein; denn was vom Schulverstande als Dualismus oder Widerspruch begriffen wird, besteht als Weltgeschichte, als Welt, die trotz aller Verstandeswidersprüche diese wirkliche, unverwüstliche, kompakte, ewig weiter prozessierende Wunder- und Gotteswelt bleibt. Gebärt sich das Dasein aus Sein und Nichtsein, ist die Ewigkeit in der Zeit, der Geist in der Materie und das Weltobjekt in den Subjekten gehalten, ist der Anfang aus dem Nichts gekommen oder die Zeit ohne Anfang und von Ewigkeit, so wird auch das deutsche Volk seine deutsche Einheit in seinem deutschen Partikularismus, so wird es seine Geistesherrschaft und Eigentümlichkeit trotz seiner Zerfahrenheit, so wird es seine Nationalität in seiner Weltbürgerlichkeit, so wird es seine primitive Natur in seinen Kulturprozessen, seine Sittlichkeit, d. h. seinen generischen Charakter, in seiner Sondertümlichkeit bewahren; so wird es weder im Idealismus noch im Materialismus untergehen.

Die Schulknaben müssen von ihren Lehrern rektifiziert und gescholten werden und sich gleichwohl nicht an alles kehren, was ihnen die Pädagogenpedanterie in allen Augenblicken am Muten ist. Andernfalls werden sie Duckmäuser und bleiben dumme Jungen bis in die Zeit hinein, wo sie Männer sein sollen. Dumme Streiche und Prügel bilden sonst von Rechts wegen die Reziprozität, die Korrelata der Jugendkultur und Existenz. Was nun das deutsche Volk anbetrifft, so hat es sich um soviel weniger an die Literaturweisheit und Literaturlamentationen derer zu kehren, die ihm aus Gründen seiner politischen Zerfahrenheit und Dickfelligkeit den Untergang prophezeien, als ihm diese Propheten ein für allemal ein ausschließlich souveränes Recht und eine Gottesstimme zuerkannt haben. Publizisten, Sozialisten und überfromme Christen haben das von jeher mit den alten Weibern gemein gehabt, daß sie von Zeit zu Zeit immer wieder Weltuntergang prophezeien, weil sie Sternschnuppen für fallende Sterne und politisches Feuerwerk für Weltbrand ansehen. Das deutsche Volk absolviert unterdes seine weltbürgerliche Lebensart und macht seine sozialen wie politischen dummen Streiche, die sich in letzter Instanz als ebenso viele Gesetze und Freiheiten einer weltewigen Humanität und Kulturgeschichte erweisen.

Eine so universelle Volksindividualität wie die deutsche, in der alle sinnlichen und geistigen Kräfte der Menschennatur, mehr als bei irgend einem andern Volk der Erde, zur harmonischen und gleichwohl potenzierten Entwickelung drängen, ein Volk, von dem man mehr als gleichnisweise sagen darf, es bilde das Zerebral- und Gangliensystem der Natur und Menschenwelt: ein solches Volk kann eben darum unmöglich einen einseitigen und bornierten Nationalcharakter, einen englischen Nationalstolz und einen kommunistischen Sozialismus nach französischer Schablone ausgestalten. Die Deutschen sind eben ihre eigenen Heiligen und Originale trotz dessen, daß nach Hegels Ausspruch "diese Originalität der Satansengel ist, der die Deutschen mit Fäusten schlägt". Die gelehrten Rektifikationen sind dem Volke nicht überflüssig; im ganzen aber beweist es seinen gesunden Instinkt: daß es sich weder durch Literaturlamentationen und Zensuren, noch durch Zeitbedürfnisse, durch brennende Fragen in Kirche und Staat, noch durch Wetterwolken am politischen Horizont in seiner angestammten Natur und welthistorischen Laufbahn irre machen läßt; sintemal der Kultur- und Naturinstinkt des deutschen Volks so berechtigt ist, als die deutsche Gelehrsamkeit und Literatur und aus allen Faktoren zusammen sich die Menschengeschichte herausprozessieren muß.

Seit dem Verschwinden des Paradieses begann die Geschichte der Menschenkultur mit dem Kampfe zwischen Natur und Geist, der sich in den Jahrtausenden zu einem Widerstreit zwischen Herzenssympathien und Pflichtgeboten, zwischen Schulvernünftigkeit und vergeistigter Sinnlichkeit, zwischen Literaturpoesie und Sozialverstand verfeinert, schematisiert und abgeschwächt hat.

Die sinnliche Natur des alten Adam hat sich endlich den Forderungen der Vernunft und Religion wie des Schulverstandes gefügt, welcher die menschliche Tierquälerei mit einer Unmasse von Formen und Methoden vervollständigt hat.

Der gebrochene Eigenwille des Kindes könnte aber gleichwohl nicht den Formalismus der Schule und Sitte in Fleisch und Blut verwandeln, wenn dem armen Schüler und Schacher am Kreuze der Pädagogik, der Grammatik und Konvenienz, nicht das Wunder zu Hilfe käme, auf welches uns bereits der Tierbändiger van Aken Der holländische Menageriebesitzer Van Aken (gest. 1841 im Wahnsinn), der es als Erster wagte, seinen Kopf in den Rachen eines Löwen zu legen. ausdrücklich aufmerksam gemacht hat, und welches darin besteht, daß die anerzogenen Eigenschaften des wilden Tieres (die Dressur) auf sein Junges vererben. Von unsern Jägern und Bereitern wissen wir schon von jeher, daß junge Hunde und Pferde, die von gut dressierten Müttern abstammen, sehr viel leichter als Wildlinge zuzureiten und respektive zur Jagd abzurichten sind.

Wer die dahin bezüglichen Beobachtungen und Tatsachen auf die Menschen in Anwendung bringen will, wird erfahren, daß und warum heute bereits der Literaturstil, die soziale Grammatik, die Nationalökonomie und die enzyklopädische Naturwissenschaft mit der Muttermilch eingesogen werden; was zumal dann nicht ausbleiben kann, wenn die Mutter bereits in höheren Töchterschulen mit der Literaturmilch genährt worden ist.

Die unbändige Adamsnatur hat sich also der Schule, der Kirche, dem Staate, der Sozietät und letztlich den bloßen Konvenienzen, den Kapricen der ewig wechselnden Mode gefügt. Gleichwohl ist noch bis zum heutigen Tage ein Tropfen rebellischen Adamsblutes übriggeblieben, der die absolute Zähmung und den Abschluß der Kulturprozesse zum Heile der Lebenspoesie, des Mutterwitzes, der Liebe und der Glückseligkeit inhibiert. Dieser Blutstropfen prozessiert aber in den slawischen und romanischen Völkern, wegen des absoluten Mangels an Schulvernünftigkeit so stark, daß er alle Kulturerrungenschaften absorbieren würde, wenn die Deutschen nicht mit ihrem Sinn für Vätersitten, für gefestigte und eingelebte Formen das gestörte Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Vernunft, von Natur und Übernatur immer wieder herstellten.

Diese Weltvernunft des Deutschen also, welche dem übersinnlichen Faktor des Menschenlebens ebensoviel Rechnung als dem sinnlichen zu tragen versteht, diese absolute Natur des Deutschen, welche ihn zum Nationalstolz untauglich macht, ist der Grund und die welthistorische Kraft der deutschen Nation!

II. Die deutsche Sprache und die deutschen Sprüchwörter.

a) Die deutsche Sprache.

"Wer seine Muttersprache, wer die süßen, heiligen Töne seiner Kindheit, die mahnende Stimme seiner Heimat nicht liebt, der verdient nicht den Namen Mensch."

Herder.

"Ich frage nicht sowohl: was ist Vernunft, als: was ist Sprache?"

Hamann an Jacobi. Der Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819).

"Welche Sprache darf sich mit der deutschen messen, – welche ist so reich und mächtig, so mutig und anmutig, so schön und so mild als unsre? Sie hat tausend Farben und warme Schatten. Sie hat ein Wort für das kleinste Bedürfnis der Minute und ein Wort für das bodenlose Gefühl, das keine Ewigkeit ausschöpft. Sie ist stark in der Not, geschmeidig in Gefahren, schrecklich, wenn sie zürnt, weich in ihrem Mitleid und beweglich zu jedem Unternehmen. Sie ist die treue Dolmetscherin aller Sprachen, die Himmel und Erde, Luft und Wasser sprechen. – Was der rollende Donner grollt, was die kosende Liebe tändelt, was der lärmende Tag schwatzt und die schweigende Nacht brütet; was das Morgenrot purpurfarben, gold und silbern malt, was der ernste Herrscher auf dem Throne des Gedankens sinnt; was das Mädchen plaudert, die stille Quelle murmelt und die geifernde Schlange pfeift; wenn der muntere Knabe hüpft und jauchzt und der alte Philosoph sein schweres Ich setzt und spricht: Ich bin Ich – alles, alles übersetzt und erklärt sie uns verständlich, jedes anvertraute Wort überbringt sie uns reicher und geschmückter, als es ihr überliefert worden ist. Der Engländer schnarrt, der Franzose schwatzt, der Spanier röchelt, der Italiener dahlt, nur der Deutsche redet.

"Die Sprache ist die Scheide der Tat; – wir erheben das umhüllte Schwert und erringen unblutige Siege." Börne.

Das deutsche Wort ist ein "Logos", Griechisch s.v.w. "Wort" oder "Vernunft". In der Philosophie, der Griechen bezeichnete "Logos" die "Weltvernunft", in der jüdisch-alexandrinischen den Weltgedanken Gottes, den sogen. Sohn Gottes, den Mittler zwischen Gott und Welt; und diesen Begriff hat der Evangelist Johannes benutzt, um Christi Verhältnis zu Gott darzustellen. Hier allgemeiner s.v.w. "geheimnisvolle, wirkende Kraft". der als ein Evangelium der Vernunftbildung in den Kulturgeschichten aller europäischen Völker prozessiert und allen zur geistigen Wiedergeburt hilft.

In der deutschen Sprache atmet die deutsche Seele, die Mitleidenschaft mit aller Kreatur, schlägt das deutsche Herz, zuckt der deutsche Nerv, wird Vergangenheit und Zukunft, Welttiefe und Weltoberfläche, wird Scherz und Todesernst, Vernunft und Torheit ineinsgebildet. Nur in der deutschen Sprache und in den Sprachen ihres Stammes wird das leiseste Gefühl und die Raserei der Leidenschaft, werden Himmel und Hölle, alle bösen und guten Geister, alle Flüsterstimmen der Liebe und Natur, die Mahnungen der Ewigkeit und des Gewissens, wird das leiseste Zucken der Lippen, der Blick des Auges, wird die Hieroglyphensprache der Geschichten, die göttliche Bilderschrift der ganzen Natur zur Rede gestellt! Nur in einer so tief und so reich gebildeten Sprache wie die unsrige erfährt der menschliche Verstand zugleich mit dem Herzen eine Fortbildung, eine Veredlung, eine unablässige Wiedergeburt; und umgekehrt sind es wieder nur die Deutschen und die verschwisterten Engländer, welche ihre Sprachen aus der Phantasie, aus dem Gemüte, dem Gewissen, den Vernunftanschauungen heraus prozessieren. Mundartlich s.v.w. prozedieren, hervorgehen, sich entwickeln lassen.

Au den heiligsten Gerechtsamen und Vorzügen des deutschen Volkes, deren es sich mit Würde und Kraft bewußt ist, gehört das deutsche Wort. Mit ihm zeugt nicht nur die menschliche Vernunft ihre Weltweisheit, die deutsche Liebe und Frömmigkeit ihre Dichtkunst und Theosophie und der deutsche Genius seine Kulturgeschichte: in der deutschen Sprache kommt die europäische Menschheit zum vernünftigen Selbstbewußtsein, verkörpert sich der Heilige Geist der Welt.

Von den Mysterien der Liebe, des Glaubens, der Natur wie der Übernatur spricht zart und würdig, spricht wahrhaftig und in lebendigster Mitleidenschaft nur ein deutsches Herz, ein deutscher Mund und der beseelte Verstand des Deutschen in deutscher Junge!

Nur am deutschen Worte hängt noch der Blutstropfen, mit dem es sich vom Herzen losgerungen hat, und doch fügt es sich zu einer Ordnung, in der sich nicht nur das Naturgesetz widerspiegelt, sondern die göttliche Vernunft! Es ist ein Wunder der Wunder, mit welcher Hörigkeit die deutsche Sprache auch der leisesten Intention des Geistes nachzukommen vermag; mit welcher Ätherflüssigkeit sie sich jeder Stimmung anschmiegt, mit welchem Witz sie das Abstrakte verkörpert und das Körperliche vergeistigt, indem sie es in den Gedanken übersetzt.

Auch den zartesten Ton, den lindesten Hauch, den Geistesduft, jede Bebung im Seelengrunde, jeden Pulsschlag des Herzens, die Kraft und Spannung des Charakters, selbst die Verschlingungen, die Metamorphosen und Nebelbilder der Verhältnisse – und dann wieder ihren komplizierten Mechanismus geben die deutschen Worte und Wendungen symbolisch und buchstäblich wieder. Wir erleben es an unsern Poeten und Philosophen von Wort zu Wort, wie der beseelte Verstand sich von der Sprache einen Geisterleib erbaut.

Dieses Fleischwerden des Genius im Worte, die Selbstzeugung des Geistes im redenden Verstande, auf der brandenden Uferwelle des Lebens, mit dem Sabbat auf der hohen See, in der sich die Sterne spiegeln; das hehre äthergewobene Geistergewand einer keuschen Sprache, die wie Sternenlicht vom Himmel zur Erde fährt, das ist Prophetenstil, das ist eine Schreibart, unsterblicher Wesen würdig; so schreibt und spricht der Deutsche, wenn er dem Genius seiner Wundersprache folgt.

Dem deutschen Vollblutstil der deutschen Sprache unsrer großen Männer in allen Schichten unseres Volkes fühlen wir es an, daß es eine Sprache in der Sprache gibt, und daß sich die Deutschen nicht nur im Verstände, sondern auch in der Seele verständigen. In der Ökonomie der Worte, der Redefiguren, Wendungen und Gedankengruppen; in der sprachlichen Taktik und Strategie, also im deutschen Stil, der bei jedem echt deutschen Dichter und Denker ein individueller ist, wirkt eine wundersame Macht, eine Symbolik, die das Gegenteil von dem andeuten und aussagen kann, was buchstäblichermaßen ausgedrückt ist.

Von allen Menschen in der Welt spricht und liest wohl keiner so sinnig zwischen den Zeilen wie der Deutsche; denn kein anderer besitzt und bildet so viel transzendenten, so viel beseelten, symbolischen und poetischen Verstand. Wer dies Zeugnis nicht aus unsrer Sprache und Literatur, aus unsern Redensarten, Sprichwörtern, Märchen und Liedern entnimmt, der hat eben keinen deutschen Verstand.

Die deutsche Sprache gibt den Maßstab für die Physiognomie des deutschen Verstandes; sie ist philosophisch, symbolisch, poetisch und dialektisch, sie ist ehrlich, seelenvoll, präzise, keusch und wortselig zugleich, hell und dunkel, durchsichtig und mysteriös.

Wie sinnig, wie tiefsinnig und zartsinnig unsre Sprache ist, kann man nur an ganz bestimmten Beispielen zeigen: Unter "Wörtern" verstehen wir Elemente der Sprache in grammatischer Geltung, "Worte" aber sind Wörter mit sittlicher Bedeutung, z. B. "Drei Worte nenne ich euch inhaltsschwer." – "Denk' an deine Worte!" Dagegen heißt's nicht Wortebuch, sondern Wörterbuch. Sagen ist in Übereinstimmung mit Sage ein Sprechen mit sittlicher Bedeutung, z. B. ansagen, absagen, zusagen, versagen, aussagen, besagen, vorsagen ec. ec. Sprechen ist in Übereinstimmung mit Sprache: die Veräußerung der innerlichen Prozesse ohne Rücksicht auf Zeichen und Form, also auch eventualiter die unmittelbare Verlautbarung des Innern, die bloße symbolische Andeutung oder die Ausdeutung der Intentionen der Natur (Natursprache). Reden ist in Übereinstimmung mit Rede das in Worten vermittelte, verständig geordnete, zu einem bestimmten Zweck förmlich eingerichtete Sprechen. Leichnam ist der tote Körper schlechtweg; Leiche ist der Körper, dem unlängst die Seele entfloh (der Schuß machte ihn zur Leiche), der also noch in Beziehung zu den Lebenden, als Gegenstand ihrer Pietät gedacht wird. Die Leiche hat ein Gefolge, bekommt eine Leichenrede; der Leichnam wird aufs Rad geflochten, kommt auf die Anatomie.

Wieviel dem Deutschen eben an seiner Seele gelegen ist, und mit wieviel Nachdrücklichkeit er den Begriff der Seele entwickelt hat, zeigen die nur der deutschen Sprache eigentümlichen Doppelworte: Mühseligkeit, Saumseligkeit, Habseligkeit, Armseligkeit, Holdseligkeit, Redseligkeit, Leutseligkeit, Glückseligkeit, Traumseligkeit ec. Mit wieviel naivem Witz hat der Deutsche in diesen Worten seine Lieblingsschwächen und seine charakteristischen Tugenden mit der "Seele" zusammengereimt, und welch ein himmlischer Witz liegt darin zutage, daß nicht etwa aus dem schulgelahrten Geiste, sondern aus der Seele die Seligkeit produziert wird! Der Verfasser schrieb "Müh seeligkeit" u.s.w. und kommt durch diese Schreibart zur Ableitung von "Seele". Jedoch hat das Eigenschaftswort "selig" sowie die Endung "-selig" mit dem Dingwort "Seele" nichts zu tun. Ersteres bedeutet "beglückt, gesegnet", letzteres dagegen "das Innerste (das innerste Wesen) eines Dinges". Beide Wörter haben verschiedenen Ursprung. Die mit "Mut" zusammengereimten Worte könnten diejenigen, die nicht recht wissen, was sie mit dem Begriff "Gemüt" anfangen sollen, überzeugen, daß der deutsche Mensch von sonst in seiner Wortbildung die Geschichten seiner Seele und seines Geistes niedergelegt hat. Nur ein moderner, abstrakter und säkularisierter Verstandesmensch kann meinen, das in Worten wie Anmut, Unmut, Wehmut, Wankelmut, Demut, Mißmut, Gleichmut, Übermut, Schwermut, Großmut, Hochmut, Langmut, Kleinmut, zumuten, anmuten, vermuten, sein Mütchen kühlen, gut zumute sein, Gemütlichkeit ec. nichts weiter als ein Wortspiel enthalten sei.

Das Studium der Grammatik, der Redensarten, der Sprichwörter und des Wortschatzes, die Geschichte der deutschen Prosa und Poesie zeigt uns mehr wie eine andre Sprache den Dualismus und die Metamorphosen des Menschendaseins; Vergeistigung und Verkörperung, Vermittlung und Lebensunmittelbarkeit, Licht und Schatten, Verhüllung und Enthüllung, ein Symbolisieren und eine Buchstäblichkeit, einen verneinenden und affirmativen, einen bindenden und lösenden, einen schematisierenden und elementaren Geist; Mehrung und Minderung, Ebbe und Flut, Expansion und Kontraktion, Dynamik und Mechanik, Polarisation und Neutralisation; Blüte, Reife und ein Abfallen der Frucht vom Baume des Lebens, der Erkenntnis Gutes und Böses, mit neuem Samen und neuem Gedeihen!

Es ist schwer, zu sagen, ob die Integrität des deutschen Gemüts, ob Scham, Gewissen und Prophetie durch die Sprachentwicklung in Literatur und Weltleben mehr gewonnen oder verloren haben. Man kann anführen, daß jede Kraft und Wesenheit sich in der Verneinung potenziere und am andern zur Selbstanschauung, zur Einkehr in das individuelle Lebensprinzip gelange. Aber an der Masse der deutschen Literaten und Sprachkünstler merkt man mehr die Säkularisation als die Erhöhung und Mehrung des sinnlichen Gemeingefühls, des Mutterwitzes oder des Gemüts. So trösten wir uns denn mit dem Glauben, daß den Segen der Sprachbildung und der Literaturen der Genius des ganzen Volkes profitiert, und daß die Wiedergeburt des Geistes der Menschheit mit der Entwicklung der Sprachen gleichen Schritt behält. Verglichen mit Luthers Sprache in seiner Übersetzung der Heiligen Schrift, hat unser moderne Stil die alte Naivetät und Einfalt, hat er Mannheit, Bildkraft, Treuherzigkeit, Anschaulichkeit, Herzenswitz, treffende Kürze, noble Derbheit und das gesunde Korn eingebüßt.

Unsere Altvordern hatten ein Gewissen von der Heiligkeit und Unheiligkeit des Wortes, das uns entwichen ist; sie achteten auf Segen und Fluch; sie beschworen Geister und Krankheiten mit Zauberworten, und derselbe Schatz, den das rechte Wort sichtbar werden läßt, versinkt tausend Klafter tief bei dem ersten unheiligen und überflüssigen Wort.

Bei den Vorvätern galt ein Wort einen ganzen Mann, und Wort halten, hieß ein Mann sein. Heute halten die Worte einander keinen Augenblick über Wasser, geschweige denn ihren Mann, oder der Mann seine Worte!

Es gab eine Zeit, da war das deutsche Wort ein "Logos", heute ist es eine Logomachie. Griechisch: "Wortkampf" oder "Kampf der Vernunft". Goltz gebraucht es im Folgenden bald in der einen, bald in der anderen Bedeutung. Vgl. auch S. 27, Anmerkung.

Leute von überflüssigem Geiste, ästhetische Naturen, die ein besondres Talent für schriftlichen und mündlichen Ausdruck haben, finden sich durch die Sprache, durch die Phrase, durch den Stil mit allen ihren Schwächen und Sünden ab. Sie sagen sich und andern in schön oder pikant stilisierten Worten die Wahrheit, sie fassen ihre Verschuldungen wie die Miseren der Welt in die angemessensten oder in die witzigsten und frappantesten Formeln und haben damit ihrem Gewissen ein Spielzeug gemacht, mit dem es sich beruhigt. Es gehört zu den Mysterien zur Naturgeschichte des Wortes, daß es so leicht an die Stelle der Gedanken, Prozesse, der Gefühle, der Handlungen, der Erlebnisse, an die Stelle des wirklichen Lebens, des ganzen Menschen tritt. Die geschickten Redner sind nur zu oft die schwächsten Menschen in der Tat! Die Sprache ist ein so behender, leichter Aushelf für Gefühle und Gedanken, und diese Gedankenprozesse sind bereits so unendlich bequemer und unterhaltender als die langsam reifende Werktüchtigkeit, daß den Virtuosen des Worts zuerst die Empfindungen und zuletzt die Willens- und Tatkraft abhanden kommt. Im Bewußtsein dieser Unmacht wird den Sprachkünstlern die Wirklichkeit und Lebenspraxis ein Greuel, wenigstens eine Trivialität und Unbequemlichkeit. Aus diesen inwendigen Geschichten erklären sich die Grundschwächen des "redseligen" Deutschen. Die eminente Begabung für das Wort hat nicht nur den Gelehrten wie den gebildeten Ständen die Tiefe und Wahrheit der Empfindung, das Herz, die Mitleidenschaft geschädigt, sondern zerfrißt auch die Willenskraft, den Mutterwitz und die Werktüchtigkeit.

Die Worte und Redensarten jeder Sprache sind gute und böse Geister, Engelchen und Teufelchen; die Schreib- und Redekunst erfordert also nichts weniger als einen Zauberer, der alle die Geister zu beschwören und zu bannen vermag.

Die deutschen Redensarten sind aber die Lebensarten des Deutschen ganz und gar. Die deutschen Worte sind Herzpulse, Losungen, Lebensakzente, Rhythmen, Worte des Lebens, des Todes, des Tiefsinns, des Unsinns, Elemente der Tollheit, der Weisheit, des Segens, des Unheils, der Gotteslästerung, des Gebets, der Verzweiflung, des Entzückens, des Gewissens, der Reue, des Glaubens, der Religion!

Aus seiner Sprache allein lernt der deutsche Genius, lernt jeder deutsche Mensch Sitte und Gottesfurcht, Theosophie, Metaphysik, Narrheit und Weisheit, Leben und Lieben, Sterben und Verderben.

Aus deutschen Worten saugt das deutsche Menschenkind unmittelbar Gift und Honig, Tugend und Laster, Leben und Tod; denn nur der Deutsche ist mit seiner Sprache so ganz und gar aus einem Geist und einem Stück. Minder durchgeistigten Völkern läuft die Sprache mehr parallel.

Die deutsche Sprache ist der andre Baum des Erkenntnisses: "Gutes und Böses". Ihre Früchte geben das Leben und bringen den Tod. "Ökonomie in Lebens- und Redensarten ist eine Kardinaltugend für alles Volk und alle Zeit", so lehrte Georg Hamann seinen Sohn, und den Deutschen tut diese Lehre mehr not als einer andern Nation!

Der Weise wird immer weiser von dieser deutschen Sprache, immer närrischer der Narr; immer besser und gescheuter der gescheute und gute Mensch; immer leerer und machtloser ein Phrasenmacher, ein Schulfuchs und ein Wicht.

Die deutsche Sprache ist vor allen andern Sprachen wie die Natur selbst: sie gebärt, sie ernährt und verzehrt, sie vergiftet und heilt, sie gibt und nimmt alles. Sie raubt den Rest von Verstand und Mutterwitz, von Seele und Leib demjenigen, der bereits auf den kleinsten Teil davon herabgebracht ist; und sie schüttet das Füllhorn ihrer Gaben über das Haupt und in den Schoß dessen, der von Natur etwas Rechtes ist und hat. Die deutsche Sprache nährt und erhöht allmächtig eine tiefe und kräftige Menschennatur, sie entmannt den unmännlichen, verbildeten und von der Natur abgekommnen Geist; sie verharzt und vertrocknet den Formenmenschen, den Pedanten, und sie belebt, sie hebt den kräftigen Sohn der Natur über sich selbst empor. Sprache ist der Geist selbst, ist der essentiellste Verstand und nicht sein bloßes Bild; somit braucht die Sprache zum Gegengewicht die kräftigste Natur; und nur seiner tiefen Natur wie seinem Gemüt und Gewissen verdankt es der Deutsche, daß er bei seiner angestammten "Redseligkeit" nicht ein aberwitziger Narr und ganz und gar ein Wortmacher und Wortklauber geworden ist.

Am Menschen liegt es, an seinem guten und bösen Genius, ob er durch die Sprache ein Zungennarr, ein Sprechaffe oder ob er ein Redner, ein Prophete, ob er ein Verderber oder ein Erlöser seiner Mitmenschen werden will!

Wer sich auch nur als Dilettant mit Hegels Philosophie beschäftigt hätte, wer dieses Mannes Gegner in allen Grundanschauungen, im Prinzip wie in der Methode wäre, darf, wenn er einmal vom Genius der deutschen Sprache verhandelt, jenen letzten gewaltigen Denker und dessen dämonische Überlegenheit über das Wort und über die mit demselben bis dahin verknüpften Begriffe nicht übergehn. Wenn deutsche Dialektik und Beredsamkeit einer Geisterschlacht verglichen werden kann, so muß noch hinzugefügt werden, daß sie durch die deutsche Sprache zu einer Hunnenschlacht vergeistigt wird, in welcher die Geister der Gefallenen über den Wolken fortkämpfen. Anspielung an die Schlacht auf den katalaunischen Feldern (451) zwischen den Westgoten und den Hunnen unter Attila, in welcher nach Sage und Dichtung die Geister der Erschlagenen in der Luft den Kampf weiterführten.

Wer die Geschichte der Philosophie von Hegel, wer seine Phänomenologie, seine Logik in Angriff nahm und gleichwohl nicht inne wurde, daß er sich im Getümmel einer Geisterschlacht befinde, der lasse sich gesagt sein, daß er kein Philosoph κατ' εξοχήν, Griechisch: "vorzugsweise", "im eigentlichen Sinn des Wortes". daß er kein Metaphysiker, kein für die Mysterien der Sprache bevorzugt organisierter Genius, daß er kein Jünger Hegels ist, der von des Meisters Geiste Zeugnis reden darf.

Man kann mit Grunde von den Härten und Eckigkeiten, von den Schiefrigkeiten, den souveränen Bizarrerien, den tyrannischen Reformen und Kapricen der Hegelschen Ausdrucksweise; man kann von dieses Meisters naiven Ungeschicklichkeiten im Periodenbau, von den ärgerlichen Nachlässigkeiten und Willküren in allerlei mechanisch-stilistischen Präzisionen, in der Gedankengruppierung; man kann von den Fehlern der taktischen Aufstellung, der Verwendung und Betonung einzelner Argumente wie Formeln und über was immer sonst räsonieren: und doch, doch ist diese Hegelsche Sprache und Dialektik ein imponierendes, den Geist überwältigendes, ein unerhörtes, ja fast zu sagen: ein unausdenkbares Wunder von Gedankenevolutionen aus Vernunftanschauungen heraus; von Gedankenprozessen und Formeln, die aus dem Kampfe zwischen der unendlichen Bewegung des übersinnlichen Geistes mit dem sinnlichen Verstande hervorgehn. Von den Verdiensten Goethes, Schillers und Lessings um die deutsche Sprache wird in der Charakteristik dieser Männer die Rede sein.

Diese Sprache Hegels ist unendlich mehr als Rede und Stil; sie ist schlechtweg Metaphysik und reinster Verstand; sie ist eine Geschichte und Genesis, eine Bildkraft des menschlichen Geistes, wie sie in dieser Konzentration und Expansion keine Nation der Welt, von den ältesten bis zu den neuesten Zeiten, aufzuzeigen hat. Sie ist die im Geiste anschaubare Geschichte, wie sich der immanente Geist (der Verstand) mit dem transzendenten Geiste (der primitiven und relativen Vernunft) ins Gleichgewicht zu setzen und zu einem absoluten Geiste (zu der Vernunft κατ' εξοχήν) zu potenzieren versucht.

Diese Sprache Hegels zeigt den Prozeß eines Verstandes, der sich ohne Aufhören zu Vernunftanschauungen rektifiziert, die fort und fort wieder zu Verstandeskristallen, zu endlichen Figurationen anschießen. Die Hegelsche Sprache allein von allen in der Welt gewährt das fabelhafte Schauspiel, wie der Menschengeist den Gedankenprozeß vollkommen mit der Ökonomie von Worten, Redefiguren und Formeln decken, wie er sie durch den Sprachprozeß unmittelbar und reell verwirklichen kann. Hegel ist der erste Sterbliche, welcher das Widerstrebende, das Gemachte und Mechanische, kurz alles Endliche und Nichtseiende mit dem Gegensatze des Unendlichen, des Seienden, des Organischen und Dynamischen in der Weise identifiziert, daß er alle Gegensätze Augenblick um Augenblick ineinander übergehn und doch auseinander gehalten werden läßt.

b) Die deutschen Sprüchwörter und Redensarten.

Wen diese deutschen Sprüchwörter nicht durch und durch erbauen, der hat kein deutsches Gewissen und keinen deutschen Witz.

Was ist das alles rund und reinlich, wie heil verständig aus der Lebensmitte gegriffen und wie gutmütig gesagt; so tief und durchsichtig wie die See an den Bahama-Inseln, wo der Schiffer über einem grünen Abgrunde von tausend Klaftern schwebt.

Und gleich dem Meere werfen auch die deutschen Sprüchwörter Muscheln, Perlen, Bernstein mit eingeschlossenen Insekten, manchmal auch Ungeheuer an den Strand.

Wie fromm ohne Scheinheiligkeit, wie ehrbar und tugendbeflissen ohne Sittlichkeitsziererei, wie gewissenhaft ohne Gewissenszwang sind diese deutschen Lebensregeln! Heilig und in sich selbst begründet wie die Natur, einfältig und doch grundgescheut, klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben; von aller Weltempfindung getragen, sind sie doch immer an ganz bestimmte Gegenstände und Geschichten angeknüpft; das nennt man Theorie und Praxis in einem Puls und auf einen Hieb.

Aus diesen deutschen absoluten Worten, die so wahrhaftig und doch so liebenswürdig, so billig und strenge, so anspruchslos und doch so herausfordernd in voller Manneskraft, so gesetzmäßig und so ungebunden sind, blicken uns die deutschen Augen an mit ihrer ehrlichen Schelmerei, der deutsche Freimut mit seinen treuherzigen und schämigen Gebärden, der deutsche Tiefsinn mit seinem herzigen Spaß, das deutsche Gemüt mit seiner von Zukunft und Vergangenheit bewegten, von Natur und Gott erfüllten Seele. Jedes dieser Worte ist ein deutscher Herzschlag, ein deutscher Handschlag, ein deutscher Mann.

In diesem sprüchwörtlichen Redewitz, der flüssig und feste ist, voll Blutes und aus einem Fleische, das von markigen Knochen zusammengehalten, von einer festen Haut umschlossen wird: da haben die Deutschen der Sprache einen lebendigen Körper gegeben, welchen der deutsche Mutterwitz und das deutsche Weltgefühl beseelt.

In dieser Volksweisheit halten sich Theorie und Praxis, Vernunft und Sinnlichkeit, Welt- und Spießbürgerlichkeit, Geschichte und Gegenwart, Geist und Materie, Zeit und Ewigkeit, Verstand und Einbildungskraft, Scherz und Ernst und alle Lebensgegensätze unzertrennlich umschlungen. Hier ist eine durch und durch heile, eine rundum fertige Bildung und Existenz; hier deckt das Wort die Sache und die Sache das Wort; hier zieht jedes Wort wie eine Schraube, sitzt jedes wie Hieb und Schuß.

Diese deutschen Lebens- und Redensarten treffen überall und in jeglichem Augenblick dem Nagel auf den Kopf, während die leidige Schulweisheit die Dinge nur zu oft auf den Kopf stellt und die halbe Weltgeschichte an einen einzigen Nagel hängt, d. h. an eine Idee!

In den Sprüchwörtern und Redensarten ist nichts geschieden, was Gott zusammengefügt hat.

Der deutsche Tiefsinn und der kerngesunde Menschenverstand sind in diesen Volksworten so wohnlich und zu Hause wie die Seele in ihrem Leibe und der Leib in seiner Haut.

Das Wort ist in diesen Sprüchwörtern so schmuck und schön wie ein Bräutigam, es schickt sich zu seiner Sache so ganz und gar wie der Mann zum Weibe. So gedeiht denn die Wahrheit zwischen beiden lustig und zeugungskräftig, wie Umarmung und Kuß, wie Rede und Geist, so ehrbar und getreu wie Mann und Frau. Von diesem Sprüchwörterstil gibt's also eine Nachkommenschaft und einen Segen im Verstande, in allen Herzen, in allen Schichten und im Schoße des deutschen Volks.

In diesen Sprüchwörtern und sprüchwörtlichen Redensarten ist alle deutsche Kraft und Art verkörpert; sie sind das Herz und der Witz der Sprache, die Zisternen und unversiegbaren Brunnen des gelehrten Schreib- und Redewüstensandes, welcher bald zu viel und bald zu wenig vermittelt, am unrechten Orte schwunghaft und zur ungelegenen Zeit statarisch ist. Die Sprüchwörter sind der ewige Born des Menschenverstandes, "aus dem nicht nur diejenigen schöpfen, die keinen eigenen Verstand haben", sondern auch, die zu viel davon haben, denn sie lernen vom Sprüchwort, wie man die Rede körperlich, beseelt, einfältig, kurz und gemeinverständlich macht.

Die deutschen Sprüchwörter sind das Vermächtnis des deutschen Genius an jedweden Deutschen ohne Unterschied des Geistes, der Erziehung, der Lebensverhältnisse, des Alters und Geschlechts – eine Norm für Sitte und Lebensart, für Handel und Wandel und jeglichen Verkehr, sei's mit Menschen, mit Dingen, mit Natur oder mit Gott dem Herrn.

Diese Sprüchwörter und Redensarten sind eine lebendige, in allen Geschichten wurzelnde, eine ewig sprossende, blühende und fruchtende, eine auf den Gassen verkehrende Weisheit, für alles Volk und alle Zeit, wie die Heilige Schrift, aber stetig vermehrt und neu aufgelegt in jedem deutschen Gemüt. Sie sind das zirkulierende Kapital des deutschen Geistes, Zins auf Zins häufend, wuchernd in allen Fakultäten bei Mann und Weib, in Kindern und Erwachsenen, in Gelahrten und Laien, in Staat und Familie, in Schule und Haus!

Das Köstlichste ist noch, wie bei Wasserquellen, Volksliedern und Märchen: der Schatz ist unversiegbar da, und niemand präsentiert sich als Schatzmeister oder Autor. Man verdankt niemandem etwas als dem Genius des Volkes, und man nimmt die Lehre ohne Neid und Widerspruch, mit unbefangenem Gemüte an, weil man keiner einzelnen Person verpflichtet und von keiner beherrscht ist.

III. Das deutsche Volkslied.

"Die Volkslieder sind uralt. Sie wurden wegen ihres zum Teil noch heidnischen oder üppigen Inhalts ( laicorum cantus obscoenus nach Otfried Benediktinermönch des 9. Jahrhunderts, Verfasser des "Krist", einer poetischen Evangelienharmonie (um 868 vollendet), mit der er der "heidnischen Volkspoesie" ( laicorum cantus obscoenus) entgegenwirken wollte. von der Kirche untersagt und daher auch nicht aufgezeichnet. Die heidnischen Elemente darin mußten verschwinden oder konnten sich nur sehr verblümt erhalten. Dagegen ist kein Zweifel, daß sowohl Liebes- als auch Spott- und Schelmenlieder ( winileot, siswa, sisesanc, lotirspracha, posa, giposi, scofleot nach Hoffmanns deutschem Kirchenlied, S. 8 August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben (1798 – 1874) "Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luther" (3. Ausg. 1861). überall verbreitet blieben, immer neu entstanden, bei Spiel und Tanz und frohen Gelagen nicht fehlen durften.

"Sie sind entweder unmittelbar aus dem Volke hervorgegangen, oder, wenn auch von Meistern des Gesangs gedichtet, ausnahmsweise so einfach und volksmäßig, daß sie in aller Mund kamen und zu Volksliedern wurden.

"In ihnen kehrt die durch die Minnesänger in eitle Subjektivität ausgeartete Poesie wieder zu anspruchsloser Objektivität zurück, auch da, wo sie nicht episch erzählen (Balladen, Romanzen), sondern nur das Gefühl des Augenblicks ausdrücken."

Wolfgang Menzels.Geschichtschreiber, Kritiker und Literarhistoriker (1798-1873)

Volkslieder gehen gewöhnlich aus Erlebnissen, aus Ereignissen hervor, sie skizzieren Heldentaten, Abenteuer oder allgemeine Kalamitäten: Pest, Hungersnot, Kriegsdrangsal, Tyrannei der Machthaber oder den Sieg des Volkes. Die Lieder sind also wohl zuverlässig so alt als die Geschichten, Situationen und Helden, welche ihren Gegenstand bilden. Leute des Volks dichten oder prophezeien nur in der ersten allgemeinen Aufregung und Divination, die verhältnismäßig rasch vorübergeht.

Der gebildete Mensch findet in seiner bloßen Person und für seine Rechnung die Kraft, zu dichten und zu denken, das Volk aber befruchtet sich nur in der Masse, und die Individuen, welche das Wort oder die Tonweise finden, sind dann in Wirklichkeit so sehr die Organe des Volks, daß sie von ihrem persönlichen Empfinden und Urteilen so wenig wie möglich oder ganz und gar nichts hinzutun. In Volksliedern spiegelt sich selten der Charakter eines Individuums, sondern des Volkes wie der Zeit.

Der objektivste Dichter, wenn er einer Schule angehört und ein gebildeter Mensch ist, sucht seine eigene Stimmung und Weltanschauung auszusprechen und schmückt sie noch obendrein mit angenommenen, halbaffektierten Sentiments, mit Anempfindungen, mit sittlichen, patriotischen Ambitionen, mit solchen Phrasen, Wendungen und Intentionen aus, von denen er augenblicklichen Anklang erwartet, die er der allgemeinen Bildung oder Verstandesschablone für konform hält.