Zur geschichtlichen Legitimation des Sportunterrichts am Beispiel der philanthropischen Gymnastik - Christian Klaas - E-Book

Zur geschichtlichen Legitimation des Sportunterrichts am Beispiel der philanthropischen Gymnastik E-Book

Christian Klaas

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2008
Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Didaktik - Sport, Sportpädagogik, Note: 1,0, Technische Universität Darmstadt (Institut für Sportwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Sportunterricht und seine Legitimation sind heute wieder in aller Munde. Vor dem Hintergrund der Diskussionen nach dem schlechten deutschen PISA-Abschneiden einerseits (der Sport erscheint hier im Vergleich zu den so genannten Kernfächern als entbehrlich) und der vorherrschenden Bewegungs- und Erfahrungsarmut unseres alltäglichen Lebens andererseits wird wieder verstärkt nachgedacht über die Gründe, ob und warum Sport in der Schule überhaupt unterrichtet und auf welche Weise das getan werden sollte. Diese Diskussion ist nun kein wirklich neues Phänomen, vielmehr zieht sie sich quer durch die Geschichte der modernen Leibeserziehung, deren Beginn in der Literatur übereinstimmend bei den Philanthropen verortet ist. Es ist ein Trugschluss in der (Sport)Pädagogik von einem stetig zunehmenden Erkenntnisgewinn hin zu immer größerer Allgemeinheit und Reichweite auszugehen. Ziele, Methoden und Inhalte wandeln sich, sie sind abhängig von der jeweiligen Zeit, von der gesellschaftlichen Lage und Stimmung. Dabei gibt es keinen ständigen Fortschritt, alt bekanntes taucht wieder auf und verschwindet in der Versenkung, nur um einige Zeit später in neuem Gewand wieder zu erscheinen. Es scheint daher lehrreich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, weil er die Abhängigkeit und Relativität dessen, was uns heute richtig erscheint, freilegen kann (vgl. Kurz, 1993, S. 12). Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant einmal genauer nachzuschauen, wie sich die Begründungen für Leibeserziehung/Sportunterricht (Ziele) und ebenso wichtig, die jeweilige Umsetzung in die Praxis (Inhalte/Methoden), denn ohne den Blick auf die reale Praxis bleibt der Blick auf die Ziele eine leere Hülle, im Laufe der Zeit gewandelt haben. Was bleibt, was kommt und geht und was kann uns das für heute sagen, das ist die entscheidende Frage. Aus diesem Grund ist der Fortlauf dieser Arbeit in drei große Teile gegliedert. Der erste Teil ist der Analyse des Zeitalters der Philanthropen, dem Beginn der modernen Leibeserziehung, gewidmet (Rahmenbedingungen, Ziele, Inhalte, Methoden der Leibeserziehung), während im zweiten Teil der heutige Ist-Zustand des Sportunterrichts anhand von fachdidaktischen Modellen, Lehrplänen und einem Blick in die Schulrealität beleuchtet wird. Abschließend erfolgt dann ein Vergleich der beiden Zeiten, aus dem wir interessante Folgerungen für die heutige bzw. zukünftige Begründung von Sportunterricht und deren Umsetzung in die Praxis ziehen können.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2.2 Die philanthropische Leibeserziehung
2.2.1 Wozu Körperbildung? Die Ziele der Philanthropen
2.2.2 Was für Leibesübungen? Die inhaltliche Ausrichtung der Philanthropen
2.2.2.3 Die eigentlich gymnastischen Übungen
3 Meilensteine der Sportgeschichte
3.1 Heinrich Pestalozzi - Theoretische Weitsicht und praktische Einengung
3.2 Friedrich Ludwig Jahn - Der Durchbruch der bürgerlichen Gymnastik
3.3 Adolf Spieß - Vater des Schulturnens
3.4 Die Reformbewegung - Wiederentdeckung des Kindes
3.5 Die Sportbewegung - Zweite Wurzel mit enormer Strahlkraft
4 Sport und Sportunterricht heute
4.1 Sportliche und sportunterrichtliche Entwicklungen der letzten 50 Jahre
4.1.1 Die Theorie der Leibeserziehung
4.1.2 Die Versportlichung der Leibeserziehung
4.1.3 Entwicklungen bis heute
4.2 Der heutige Sportunterricht - Begründungen und ihre praktische Umsetzung
4.2.1 Begründungen für den Sportunterricht in der Fachdidaktik
4.2.1.1 Das Sportartenkonzept
4.2.1.3 Bewegte Schule
4.2.1.4 Mehrperspektivischer Unterricht bei Ehni
4.2.1.5 Das Konzept der Körpererfahrung
4.2.1.6 Der offene Sportunterricht
4.2.2 Begründungen für den Sportunterricht in den Lehrplänen
4.2.3 Die Praxis des Sportunterrichts
5 Das „Erbe“ der Philanthropen
Kapitel
5.1.1 Vergleich der Begründungen
5.1.2 Vergleich der Inhalte
5.1.3 Vergleich der Methoden
5.2 Folgerungen - Abschied von der pädagogischen Begründung?
6 Literaturverzeichnis

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Wissenschaftliche Hausarbeit für das Lehramt an Gymnasien

eingereicht dem Amt für Lehrerbildung

Thema:Zur geschichtlichen Legitimation des

Sportunterrichts am Beispiel der philanthropischen

Gymnastik

Bereich:Sportwissenschaft (Sportpädagogik/Sportgeschichte)

Name des Verfassers:Christian Klaas

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1 Einleitung

Sportunterricht bzw. Leibeserziehung wie er einst genannt wurde, ist bereits seit über 150 Jahren als Fach an unseren Schulen etabliert. Trotz dieser langen Tradition, wird die Legitimation des Sportunterrichts wie bei kaum einem anderen Fach immer wieder in Frage gestellt. Einsparungen im Bildungsbereich treffen häufig zuallererst den als entbehrlich betrachteten Sport, die dritte Sportstunde steht zur Disposition, wenn sie wie die SPRINT-Studie gezeigt hat (vgl. Kuhlmann, 2005, S. 60) überhaupt gehalten wird. Sogar die Abschaffung des Schulsports steht bei manchen Politikern und Erziehungswissenschaftlern im Raum. Diese Tendenz hat sich gerade durch den PISA-Schock1, dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler in Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen im internationalen Vergleich noch verstärkt. Bildung, heute vor allem verstanden als mathematisch-naturwissenschaftliche, sprachliche und fachübergreifende Bildung, gilt seitdem als Standortfaktor, es herrscht ein verstärkter Wettbewerb der Fächer untereinander um Stunden, mit der Folge einer Abwertung des Sportunterrichts2gegenüber den als wichtig erachteten kognitiven Fächern. Die Legitimation des Sportunterrichts wird also zunehmend in Frage gestellt (vgl. Gerlinger, 2004, S. 2).

Andererseits dagegen häufen sich alarmierende Hinweise auf die Zunahme dicker und fettleibiger Kinder, zunehmend werden Defizite in der körperlichen Leistungsfähigkeit der jungen Generation festgestellt und auf Bewegungsmangel zurückzuführende gesundheitliche Risiken bereits im Kindesalter konstatiert (vgl. Brettschneider et al, 2005, S. 227). Aufgrund der unter den Schlagworten Institutionalisierung, Verhäuslichung und Mediatisierung der Kindheit gefassten Phänomene wird ein Verlust an leiblichen, personalen, materialen und sozialen Primärerfahrungen der Kinder festgestellt (vgl. Gerlinger, 2004, S. 3), Erfahrungen, die, so die Befürworter des Sports, im Erlebnisraum Sport wie kaum an einem anderen Ort möglich sind.

Sportunterricht und seine Legitimation sind also in aller Munde, oder anders ausgedrückt, es wird wieder verstärkt nachgedacht über die Gründe, warum Sport in der Schule betrieben werden soll und die Mittel, wie diese erreicht werden können. Diejenigen, die sich am meisten mit diesen Fragen, wie kann Sportunterricht begründet werden, wie können diese Ziele in die

1Die PISA-Studie erfasste die Lesekompetenz, die mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung und

fächerübergreifende Kompetenzen (vgl. Terhart, 2003, S. 132). Weitere erfolgte Studien waren TIMSS

(Mathematik- und Naturwissenschaftstudie) und IGLU (Grundschullesestudie).

2Frei nach dem Motto: „Warum sollen Kinder unter diesen Bedingungen heute noch am Barren rumturnen oder

Fußball spielen? Das können sie ja auch in ihrer Freizeit machen.“

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Tat umgesetzt werden, beschäftigen, sind die Sportpädagogik und die Sportdidaktik3. Auf diese Fragen gibt es nun in der zurzeit regen sportpädagogischen bzw. sportdidaktischen Diskussion unterschiedliche Antworten. Gestritten wird vor allem darum, ob der Sportunterricht, vom Anspruch eher bescheidener, pragmatisch (Einführung in und Vorbereitung auf das komplexe Kulturphänomen Sport, Sportunterricht aufgrund seiner gesundheitlichen und kompensatorischen Wirkungen) begründet ist bzw. werden soll oder ob ihm nicht eine wesentlich weitreichendere Bedeutung bei der Erfüllung des schulischen Erziehungsauftrags zukommt, ein entscheidender nicht ersetzbarer Beitrag zur Förderung der Entwicklung des Kindes zu einem selbstbewussten, selbstbestimmten, selbständigen Individuum, was eine explizit pädagogische Orientierung des Schulsports zur Folge hätte. Zwischen diesen beiden Polen - pragmatische bzw. pädagogische Begründung des Sportunterrichts - bewegen sich alle aktuellen fachdidaktischen Positionen und Modelle inklusive der dazugehörigen Vorstellungen darüber, auf welchem Wege diese Ziele jeweils zu erreichen sind.

Diese Diskussion ist nun kein wirklich neues Phänomen, vielmehr zieht sie sich quer durch die Geschichte der Leibeserziehung. Es ist ein Trugschluss in der Pädagogik und damit auch in der Sportpädagogik/Sportdidaktik von einem stetig zunehmenden Erkenntnisgewinn hin zu immer größerer Allgemeinheit und Reichweite auszugehen. Fachdidaktische Modelle und Konzepte wandeln sich. Fragestellungen, Zielsetzungen und Methodenideale sind abhängig von der jeweiligen Zeit, von der gesellschaftlichen Lage und Stimmung. Dabei gibt es keinen ständigen Fortschritt, alt bekanntes taucht wieder auf und verschwindet in der Versenkung, nur um einige Zeit später in neuem Gewand wieder zu erscheinen, anderes bleibt dagegen tendenziell über lange Zeiträume relativ konstant erhalten, mal mehr mal weniger dominant. Ein Blick in die Vergangenheit ist lehrreich, weil er die Abhängigkeit und Relativität dessen, was uns heute richtig erscheint, freilegen kann (vgl. Kurz, 1993, S. 12). Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant einmal genauer nachzuschauen, wie sich die Begründungen für Leibeserziehung/Sportunterricht (Ziele) und ebenso wichtig, die jeweilige Umsetzung in die Praxis (Inhalte/Methoden), denn ohne den Blick auf die reale Praxis bleibt der Blick auf die Ziele eine leere Hülle, im Laufe der Zeit gewandelt haben. Was bleibt, was kommt und geht und was kann uns das für heute sagen, das ist die entscheidende Frage.

3Die Bezeichnungen Sportpädagogik und Sportdidaktik werden in der heutigen Literatur teilweise relativ

sorglos synonym verwendet, daher bedarf es einer kurzen Begriffsklärung. Allgemein kann man davon

ausgehen, dass Sportpädagogik und Sportdidaktik als aufeinander verwiesene Teilbereiche eines gemeinsamen

Ganzen zu betrachten sind. Dabei scheint die Sportpädagogik in gegenwärtigen Forschungsakzenten mehr

soziologisch analytisch ausgerichtet, z. T. auch philosophisch orientiert und mit der Reflexion von Sinn

sportlicher Erziehung befasst zu sein. Sportdidaktik dagegen befasst sich mehr mit Fragen der Praxis-

Konstruktion, dem Lehren und Lernen bzw. dem sportpädagogischen Handeln (vgl. Elflein, 2000, S. 1).

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Die Geschichte sowohl der modernen schulischen Leibeserziehung selbst als auch einer dazugehörigen Theorie der Leibeserziehung (also der Beginn der Sportpädagogik/ Sportdidaktik) beginnt, in der Forschung unumstritten, mit den Philanthropen (vgl. Krüger, 1993a, S. 34; Bohus, 1986, S. 102; Begov, 1980, S. 146; Grupe, 1964, S. 17; u.a.). Leibeserziehung gab es zwar bereits davor, z.B. in der Antike oder in den Ritterakademien des 17/18. Jahrhunderts, aber eine planvolle schulische Leibeserziehung, die sich nicht nur auf die Adelsschichten beschränkte, eine pädagogische Begründung für Leibeserziehung und die Ausbildung einer Theorie dazu, gibt es erst seit den Philanthropen. Nun ist ein Zeitraum von über 200 Jahren zu lang, um ihn in seiner Breite auf Begründungen für Leibeserziehung und deren praktische Umsetzung zu untersuchen. Daher beschränken wir uns in der folgenden Untersuchung im Detail auf den Vergleich zwischen Anfang (Philanthropen) und vorläufigem Ende der Entwicklung der Leibeserziehung (heute). Die These lautet, dass trotz selbstverständlich vorhandener Veränderungen und Brüche seit dem Beginn der schulischen Leibeserziehung bei den Philanthropen, im Vergleich heute noch deutliche Parallelen zur damaligen Leibeserziehung hinsichtlich Begründung und praktischer Umsetzung zu sehen sind und dass diese Parallelen Folgen für die heutige fachdidaktische Diskussion haben können.

Der Fortlauf der Arbeit ist daher wie folgt in drei größere Teile gegliedert. Der erste Teil ist dem Zeitalter der Philanthropen gewidmet (2). Bevor wir jedoch unser Augenmerk auf die Leibeserziehung richten können, ist es nötig, dass wir uns einen allgemeinen Überblick verschaffen, was in dieser Zeit politisch und gesellschaftlich, vor allem im Erziehungswesen passiert, um die Entstehung der modernen schulischen Leibeserziehung einordnen zu können (2.1). An diesen Überblick schließt sich dann die eigentliche Untersuchung an, mit welchen Begründungen/Zielen die Leibeserziehung bei den Philanthropen gefordert und eingeführt wurde und wie die praktische Umsetzung in Inhalte und Methoden aussah (2.2). Ausgehend von einem kurzen Überblick über einige wichtige Meilensteine der Sportgeschichte (3), die für die weitere Entwicklung bzw. deren Verständnis bedeutsam sind, geht es dagegen im zweiten Teil der Arbeit darum festzustellen, wie Sportunterricht heute begründet und in der Praxis realisiert wird (4). Wir beginnen diesen Abschnitt wieder mit einer Verortung (Wo befinden wir uns? Was war davor?), indem wir die Entwicklungen in der Gesellschaft, vor allem in Bezug auf den Sport, Sportunterricht und Sportpädagogik/Sportdidaktik seit dem Ende des 2. Weltkriegs bis heute zu skizzieren (4.1). Diese Ausführungen dienen vor allem dazu angesichts der Komplexität des betrachteten Feldes und der vielfältigen Verwiesenheit heutiger Vorgänge auf die jüngere Sportgeschichte, einen klaren Überblick über die

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Rahmenbedingungen zu behalten. Anschließend analysieren wir den heutigen Ist-Zustand hinsichtlich der Begründungen für Sportunterricht und deren Umsetzung in die Praxis anhand aktueller fachdidaktischer Modelle, aktueller Lehrpläne und dem Blick in die Schulrealität (4.2). Im dritten und finalen Teil der Arbeit schlagen wir dann die Brücke von den Philanthropen zur heutigen Zeit, indem wir zunächst die jeweiligen Ziele, Inhalte und Methoden damals und heute miteinander vergleichen (5.1) und dann abschließend Folgerungen ziehen, was wir daraus für die heutige bzw. zukünftige Begründung von Sportunterricht und deren Umsetzung in die Praxis lernen können (5.2).

2 Das Zeitalter der Philantropen

Die Bewegung des Philanthropismus, die mit Namen wie Basedow, Salzmann, Trapp, Campe, Villaume, Vieth und vor allem GutsMuths in Verbindung gebracht wird, wird wie bereits angedeutet als Beginn der sporthistorischen Neuzeit, als Beginn der modernen Leibeserziehung definiert (vgl. Begov, 1980, S. 145). Bevor wir uns nun eingehender mit der Leibeserziehung dieser Zeit beschäftigen, ist es nötig erst einmal einen Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Zeit zu werfen. Was passiert in dieser Zeit? Dieser Frage wollen wir zunächst nachgehen.

2.1 Der Rahmen - Wurzeln in Aufklärung und Rousseau

Die Aufklärung, die prägende Strömung dieser Zeit, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England und den Niederlanden entsteht (Locke, Newton), schwappt mit dem 18. Jahrhundert nach Frankreich über (Montesquieu, Voltaire) und erreicht Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich auch Deutschland, wo sie mit Immanuel Kant ihren Höhepunkt findet. Ziel der Aufklärung ist es, den Menschen von allen Bevormundungen durch Autorität und Tradition zu befreien4und mit Hilfe der Vernunft einer höheren Form des Daseins zuzuführen (vgl. Bohus, 1986, S. 97). Wesenszeichen sind der Glaube an die Allmacht der Vernunft und die mechanistisch-mathematische Erklärbarkeit der Welt, Vernunft wird zur Quelle aller Erkenntnis, die Welt wird berechenbar. Ziel ist jedoch nicht nur reine Erkenntnis, sondern die Veränderung der Lebensbedingungen, genauer der Abbau gesellschaftlicher Schranken (egalité) und die Befreiung des Individuums von allen Zwängen (liberté). Es vollzieht sich ein geistiger Emanzipationsprozess, der überall in Politik, Wirtschaft und

4Kant beschreibt diesen Prozess als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.

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Gesellschaft seine Spuren hinterlässt. So entwickeln sich die Ideen der Gewaltenteilung und Volkssouveränität, wodurch der Absolutismus ins Schwanken gerät, es kommt zu einem Rütteln am vorherrschenden gesellschaftlichen Rollen- und Standesdenken, was der Entwicklung zur gesellschaftlichen Nivellierung ihren ersten großen Anschub verleiht, in der Wirtschaft versucht die Aufklärung die zentrale Steuerung des Merkantilismus durch ein „freies Spiel der Kräfte“ abzulösen, die Liberalisierung der Wirtschaft mit ihren Wesensprinzipien Leistung und Wettbewerb erfährt ihren Anfang. All diese ausgelösten Veränderungen haben eine Schwächung der herrschenden Gesellschaftsgruppen zur Folge und stärken die Position des Bürgertums. Dieses übernahm schrittweise in allen gesellschaftlichen Belangen die Führung (vgl. Bohus, 1986, S. 98). Der Philanthropismus stellt nun die logische Reaktion auf die Aufklärung im Erziehungswesen dar. Die gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit des Übergangs von einer altständischen zu einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung, der schleichende Wegfall der gesellschaftlichen Schranken, die zunehmende Leistungsorientierung in der Arbeitswelt und damit der Verlust der Einheit von Leben, Lernen und Arbeit5(vgl. Benner & Kemper, 2001, S. 143) ziehen Konsequenzen nach sich. Es kommt zur harschen Kritik am bestehenden als untauglich erachteten Erziehungssystem, die vor allem von Basedow, sozusagen dem ersten Philanthropen ausgeht. So kritisiert er in seiner „Vorstellung an Menschenfreunde“ den Unterricht selbst, u. a. das unselige Auswendiglernen („Verbalmemorieren“ in Basedows Worten), die fehlende Anschaulichkeit des Lernens, sowie die Tatsache, dass viel Stoff gelernt wird, der überhaupt nicht in der Realität gebraucht wird, also anwendbar ist (vgl. Basedow, 1768, S. 38 & 58). Vor allem aber kritisiert er auch das gesamte Schulsystem als solches und fordert daher eine umfassende Reform des Erziehungs- und Bildungswesens. Diese umfasst im Wesentlichen die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht, die strikte Trennung von Kirche und Staat und damit auch von Kirche und Schule (das schließt Geistesmänner als Lehrer aus), die Einrichtung eines Kollegiums, das die Aufsicht und Kontrolle über Erziehung, Unterricht und Reformen hat und schulische Missstände beseitigt, eine Bildungsgesamtplanung, die staatliche Ausbildung von Schulmännern, die Verfassung von Schulbüchern und die Gliederung der Schulen in große und kleine Schulen (für Nichtstudierende) und Gymnasien bzw. Akademien (für Studierende) (vgl. Benner & Kemper, 2001, S. 90ff). Die großen Schulen waren dabei für den großen Haufen, die

5Zunehmend erfolgt die Bemessung des Einzelnen nicht mehr nach Stand und Geburt, sondern nach Beruf und

Leistung. Die Kindheit hört tendenziell auf, auf einen bestimmten Stand und Beruf hin finalisiert zu sein (vgl.

Benner & Kemper, 2001, S. 42). Bruchlose Übergänge zwischen künstlichen Formen des Lernens in der Schule

und außerschulischen Erfahrungen gibt es nicht mehr.

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Unterschichten, gedacht, deren Beruf schon weitgehend vorbestimmt war, dementsprechend beschränkten sich die Inhalte auf wenige Grundlagen des Lesens, Schreibens, Rechnens, der Sittenlehre und der Landesgesetze, sowie körperliche Arbeit. Die kleinen Schulen dagegen waren für alle Bürger (und Adelige), deren späterer Beruf im Gegensatz zum großen Haufen noch nicht feststand. Aufgrund dieser Ungewissheit der späteren Bestimmung sollte auf dieser kleinen Schule zunächst einmal ein breites Fundament an nützlichem, brauchbaren Wissen und praktischen Fertigkeiten6erworben werden, sozusagen allgemein, auch körperlich, gebildet werden, und erst am Ende dieser Schulzeit mit dem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr dann die Entscheidung fallen, ob sie einen bestimmten Beruf oder das Studium ergreifen (vgl. Basedow, 1768, S. 43f). Entsprechend der Gedanken der Aufklärung wurde also eine vernünftige, nützliche Erziehung für alle gefordert.

Neben der Aufklärung werden in der Literatur als Wurzel des Philanthropismus stets auch die Lehren Rousseaus7, der als geistiger Wegbereiter der Aufklärung gilt, benannt. Rousseaus Denken ist geprägt von der Annahme der offenen Bildsamkeit (Perfectibilité) aller Menschen, jeder Mensch lässt sich nach ihm vervollkommnen. Der Mensch ist im Gegensatz zum vorher vorherrschenden negativen Menschenbild von Natur aus, so wie er auf die Welt kommt, gut und trägt alle Anlagen für ein vollkommenes Wesen in sich. Das Problem jedoch ist, dass der Mensch bzw. das Kind unter dem moralisch schlechten Einfluss der Gesellschaft verdirbt, seine tugendhaften Anlagen verkümmern. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen“, wie Rousseau (1762, S. 17) selbst ausdrückt. Er bemängelt die falsche Erziehung, die Ursache allen Übels, die Tatsache, dass Kinder immer für andere erzogen werden, statt für sich selbst, dass sie nicht Kind sein dürfen, sondern schnellstmöglich in eine vorgegebene Form (nach Rousseau z.B. in die eines Gelehrten) gepresst werden. Die Kernfrage bei Rousseau ist also, wie der Mensch seine Wohlbeschaffenheit innerhalb der entarteten Gesellschaft behalten und darüber hinaus die Gesellschaft neu ordnen kann (vgl. Krüger, 2007, S. 16), wie der Mensch zu Vollkommenheit gelangen kann. Den Schlüssel sieht Rousseau wie bereits angedeutet in der Erziehung, genauer einer natürlichen und „negativen“ Erziehung. Natürlich und „negativ“ ist diese Erziehung deshalb, weil sie sich kindgemäß und zwanglos vollzieht. Erziehung bedeutet nicht

6Zu diesen Kenntnissen und Fertigkeiten gehörten über den Stoff der großen Schulen hinausgehend

Kalligraphie, Rechenkunst, Geometrie, Mechanik, mathematische Wissenschaften, Naturhistorie, physikalische

Experimentalerkenntnis, Geographie, Künste, Anatomie und Diätetik, Grundlagen der Religion, der Moral und

der Kenntnis von den Landesgesetzen, Historie (vgl. Basedow, 1768, S. 43ff), außerdem Vorübungen des

wahren männlichen Lebens, bestehend vor allem aus Übung in diversem Handwerk und körperlicher

Ertüchtigung (vgl. Basedow, 1785, S. 192).

7Von entscheidender Bedeutung ist sein Werk „Emile oder über die Erziehung“, ein Erziehungsroman über die

natürliche Erziehung des Waisenjungens Emile, das zahlreiche neue Ideen und Einsichten im Hinblick auf

Erziehung vermittelt (Krüger, 2007, S. 16).