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Obwohl Fremdsprachenlehrkräfte in Deutschland in aller Regel das Referendariat als sogenannte "zweite Phase" durchlaufen, ist wenig darüber bekannt, was dort eigentlich passiert. Die Studie nimmt in den Blick, wie das beteiligte Personal der Fachleiter*innen die fremdsprachendidaktische Ausbildung gestaltet. Mittels der Dokumentarischen Methode werden die Ausbildungspraxis und die sie bestimmenden Orientierungen rekonstruiert – in ihrem Einklang und Widerspruch zu bestehenden Normen. Die Untersuchung leistet damit einen Beitrag zur fremdsprachendidaktischen Professionsforschung.
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Seitenzahl: 700
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David Gerlach
Zur Professionalität der Professionalisierenden
Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst?
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8233-8359-8 (Print)
ISBN 978-3-8233-0202-5 (ePub)
Für die Ausbilderinnen und Ausbilder. Und ihre LiV.
Muss man als „voreingenommen“ gelten, wenn man den Vorbereitungsdienst beforscht, den man selbst, wenn auch Jahre zuvor, besucht hat? Abgesehen von Forschungsmethodologie und -methode, Vorgehensweisen, die zu einer Fremdmachung des Forschenden zum Untersuchungsgegenstand führen, die diese Unterstellung im Laufe der Arbeit ad absurdum führen sollten, wäre vermutlich mein eigenes Erkenntnisinteresse an dieser spezifischen Phase der Lehrerbildung gar nicht erst entstanden, wenn ich nicht selbst einmal Lehrkraft im Vorbereitungsdienst für die Fächer Englisch und Biologie gewesen wäre. So erlebte ich selbst das Referendariat allerdings nicht als derart belastend, wie es in vielen Erfahrungsberichten und den (wenigen) vorliegenden Untersuchungen dargestellt wird. Vielmehr war es das Gefühl, „endlich“ in der Praxis angekommen zu sein, obwohl die Hälfte der Zeit weiterhin durch Prüfungssituationen und Ausbildung bestimmt war. Überraschenderweise verlief letztere in meiner persönlichen Wahrnehmung – und mit mittlerweile einigen Jahren Abstand und in dieser reflexiven Retrospektive – wenig formalisiert: Ich erlebte zwei sehr verschiedene Lehrerbildner in meinen beiden Fächern, die ausbildungsmethodisch-didaktisch kaum unterschiedlicher hätten sein können. Dies lässt sich zum einen sicherlich mit den unterschiedlichen Traditionen der Fächer begründen – die fachkulturellen Gegenstände und Methoden von Sprachen und Naturwissenschaften sind nunmal höchst divergent –, aber es war zum anderen eine sehr individuelle Überzeugung von Ausbildung, von inhaltlichen Schwerpunktsetzungen in der Interaktion mit den Referendarinnen und Referendaren und ebenso eine jeweils abweichende Bewertungs- und Gesprächspraxis in Unterrichtsnachbesprechungen, die ich im Nachhinein (und auch währenddessen bereits) derart bemerkenswert fand, dass es gerade diese Gruppe der Ausbilderinnen und Ausbilder ist, die mich in dieser Arbeit als Forschungssubjekte besonders interessiert. Dass es (bislang) zu keinem Vergleich von verschiedenen Fächern gekommen ist, sondern dass ich mich hier (zunächst) auf die Handlungspraxis und Ausbildungsdidaktik der Ausbildungskräfte in den Fremdsprachen konzentriere, ist dabei sowohl aus forschungspragmatischen und organisatorischen Gründen heraus zu sehen, als auch aufgrund der Tatsache, dass hier explorativ zunächst überhaupt ein Einblick in diese spezifische Gruppe von Lehrerprofessionalisierenden gegeben werden soll unter den besonderen Umständen des Vorbereitungsdienstes zum einen, unter Berücksichtigung der fremdsprachendidaktischen Unterrichts- und Ausbildungsgegenstände zum anderen.
Obwohl man alleine eine solche Untersuchung als Habilitationsprojekt plant, durchführt, Daten erhebt und sie in Ergebnisse und Diskussionen münden lässt, ist ein solches Projekt ein Unterfangen, an dem man nicht alleine beteiligt ist. Danken möchte ich daher an dieser Stelle zuerst ganz ausdrücklich den Ausbilderinnen und Ausbildern, die durch ihre Bereitschaft und Offenheit, an dieser Studie durch ihre Interviewteilnahme mitzuwirken, diese Untersuchung erst möglich gemacht haben.
Darüber hinaus gilt großer Dank meinen Hauptbetreuern, Frank G. Königs und Uwe Hericks, die mit ihrem Input, kritischen Fragen und offenen Ohren den gesamten Forschungsprozess konstruktiv begleitet haben. Leider hat Frank Königs den offiziellen Abschluss des Habilitationsverfahrens nicht mehr erlebt. Die Zusammenfassung der externen Gutachten zu dieser Arbeit war eine seiner letzten offiziellen Amtshandlungen für die Philipps-Universität. Seine offene und besonnene Art sowie sein Einsatz für das Fach, seine Mitarbeiter*innen und Studierenden werden mir immer ein Vorbild sein.
Für Inspiration und Feedback in wissenschaftlicher Hinsicht danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bildungsgangkolloquiums. Ivo Steininger, Bianca Roters sowie Julia Fritz bin ich sehr dankbar für die „kollegiale Fallberatung“ sowie insbesondere Julia für den produktiven Austausch und das gemeinsame Grübeln im Rahmen unserer zahlreichen Interpretationswerkstätten zur Dokumentarischen Methode.
Den wunderbaren Kolleginnen und Kollegen am Informationszentrum für Fremdsprachenforschung in Marburg (IFS) gilt ganz ausdrücklich Dank für die mentale Unterstützung (und Ablenkung), außerdem für die Hilfe – auch hinsichtlich meiner vielen parallel laufenden Projekte – meinen studentischen Hilfskräften in Marburg sowie (seinerzeit) meiner Mitarbeiterin Angelika Raster in Regensburg.
Auch zu Dank verpflichtet bin ich den Mitgliedern der Habilitationskommission sowie den extern Begutachtenden und den Mitgliedern des Fachbereichsrats am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, die über die Annahme der Habilitationsleistung sowie die Erteilung der Lehrbefugnis letztgültig entschieden haben.
Und zuletzt möchte ich mich bei meiner Frau Carolin bedanken. Interessanterweise fiel ihr eigener Vorbereitungsdienst in die Phase meiner Untersuchung – ein nicht unwesentliches Detail, das zu den ein oder anderen erheiternden wie einsichtsvollen Diskussionen in den vergangenen Jahren geführt hat. Ich bin ihr besonders dankbar dafür, dass sie mich einerseits immer wieder entbehren muss(te), mich andererseits dennoch jederzeit uneingeschränkt unterstützt, wo auch immer ich gerade bin. Das werde ich nie als selbstverständlich ansehen.
David Gerlach Marburg im Herbst 2019
Nichts scheint zu funktionieren. Die Referendarin, frustriert vom Lärm in ihrer Klasse, sagt schon länger nichts mehr. Sie steht auf und beginnt langsam, etwas an das Whiteboard zu schreiben. Nach und nach wird es ruhiger, als wären die Schülerinnen und Schüler zunehmend gespannt, was von der Lehrerin notiert wird. Sie schreibt: „Manchmal weiß ich kaum, was ich machen soll.“ Dann setzt sich die Referendarin mit dem Rücken zur Klasse gewandt auf das Pult. – Es folgt eine Umblende auf den Schulflur, in einer Ecke steht ein Terrarium, offensichtlich mit lebenden Tieren, denn: Ein Hamsterrad dreht sich. Die Nahansicht offenbart, dass es sich um Spitzmäuse handelt. Sie sitzen leicht schreckhaft im Futternapf. Und im Hamsterrad drehen sie ihre Runden …
Der Beruf des Lehrers und der Lehrerin steht, auch aufgrund eines erhöhten Bedarfs an Lehrkräften in vielen Bundesländern, aktuell unter besonderer medialer Beobachtung. Wenn ein Dokumentarfilm mit dem Titel Zwischen den Stühlen (vgl. Schmidt 2016), aus dem die oben geschilderte Szene stammt, im Jahr 2017 ein großes mediales Echo und hohe Besucherzahlen nach sich zieht, bedeutet dies, dass ein gewisses gesellschaftliches Interesse – vielleicht auch mit einer Prise Schaulust versetzt – für (angehende) Lehrkräfte und die Unwägbarkeiten ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit besteht. Interessanterweise ist dieses gestiegene Interesse nicht nur gesellschaftlich-medial zu beobachten, wenn man die einschlägigsten Tages- und Wochenzeitungen durchblättert: Insbesondere seit der Jahrtausendwende ist ein immenser Zuwachs an Forschung hinsichtlich der Frage zu beobachten, was eine (gute) Lehrkraft ausmacht und wie Lehrerinnen und Lehrer1 „professionalisiert“ werden können (vgl. z.B. Baumert/Kunter 2006, Hattie 2009, Helmke 2015). In der empirischen Bildungswissenschaft und Schulpädagogik sind hier Strömungen beobachtbar, die in Forschungsparadigmen entsprechende Schwerpunkte legen und damit den Beruf der Lehrkraft, ihre Werdung, Wirkung und Qualität bzw. Optimierung zu beschreiben versuchen (vgl. Abel/Faust 2010, Terhart 2011; s. auch Kapitel 2). Ebenfalls die fachliche bzw. fachspezifische Dimension wird zuletzt für Forschende zunehmend interessant: Die einzelnen Fachdidaktiken stehen gewissermaßen unter einem Legitimationsdruck, Konzeptualisierungen einer eigenen fachdidaktisch ausgeschärften Professionsforschung vorzulegen – sowohl mit explorativen Vorhaben, die die fachdidaktische (Unterrichts-)Praxis zu beschreiben versuchen, als auch die Entwicklung von Empfehlungen, Kompetenzen und Standards, die die Profession „Fachlehrer*in“ in ihrer Spezifik beschreib- und damit mittelfristig professionalisierbar machen.
Bei der Forschung zur Lehrerbildung geht es damit nicht selten um bestimmte Strukturen in den lehrerbildenden Phasen, die in den deutschen Systemen prägend sind, seien sie im Hochschulbereich oder im Referendariat verankert, im Berufseinstieg oder im Fortbildungsbereich. Jedoch: „Weitgehend ungeklärt ist, was Studium und Referendariat im Einzelnen leisten und wo deren Grenzen liegen.“ (Cramer 2012: 59) Auffällig ist, dass insbesondere zum Referendariat, welches – auch durch oben medial wirksame Dokumentarfilme, aber ebenso in Erzählungen und durch Hörensagen Dritter – mitunter als „Horror“ von den Betroffenen charakterisiert wird, kaum Forschung vorliegt (vgl. Kapitel 4). Erst zuletzt wurde in einer der wenigen größeren Untersuchungen der Eintritt der Studienabsolvent*innen in den Vorbereitungsdienst gar mit einer Parabel von Kafka umschrieben, dessen Maxime ungefähr gedeutet werden muss wie: „Passe Dich möglichst schnell an die geforderten Erwartungen an!“ (Munderloh 2018: 9) Der Vorbereitungsdienst wird daher – auch von Seiten der Forschung – als Sozialisations- oder (stärker negativ konnotiert) als (nötiger) Anpassungsprozess charakterisiert, dem zwar ein starkes und weiterhin wachsendes Interesse an Lehrerprofessionalisierung generell gegenübersteht – nur über die Effekte des Vorbereitungsdienstes als vermeintlich prägendster Phase weiß man im Grunde genommen weiterhin kaum etwas. Und trotzdem finden sich Strukturen des Referendariats in fast allen deutschen Bundesländern als sogenannter zweiter Phase der Lehrerbildung wieder.
Der Begriff „Lehrerbildung“ ist dabei nicht unproblematisch: Primär die erste Phase vereinnahmt diesen Begriff für sich, spricht sich in einer akademischen Orientierung gegen den Begriff der „Lehrerausbildung“ aus, wohingegen der Diskurs der zweiten Phase primär vom Ausbildungsbegriff geprägt ist: Personen, die „Professionalisierenden“, übernehmen hier ganz explizit die Verantwortung für Ausbildung und Professionalisierung über einen längeren Zeitraum. Mit den „auszubildenden“ Lehrkräften geschieht aktiv etwas, ein Prozess, der im Hochschulbereich aufgrund der Vielzahl von zu absolvierenden Lehrveranstaltungen noch vergleichsweise diffus, latent eigengesteuert und vereinzelt bleibt. Damit verlangt man von Lehramtsstudierenden ein hohes Maß an Autonomie und Selbstlernen, während im Vorbereitungsdienst dies von Lehrerbildner*innen stärker gesteuert zu sein scheint. Ist Professionalisierung im Studium damit (trotz Bologna) ein selbstgesteuertes Lernen, das sich im Vorbereitungsdienst qua Struktur in ein instruktionsgesteuertes verwandelt? Welche Bedeutung kommt dann den Ausbilderinnen und Ausbildern zu, die für die inhaltliche Ausgestaltung, Beratung und Bewertung der angehenden Lehrkräfte2 maßgeblich verantwortlich zeichnen? Wie gehen sie selbst mit den Anforderungen und formalen Vorgaben um, die an sie gestellt werden? Woran orientieren sie sich?
Laut einer Definition der Europäischen Kommission (2013) sind der Gruppe der Lehrerbildner*innen all die Personen zuzurechnen, die formelle oder informelle Lerngelegenheiten für angehende Lehrkräfte bzw. Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung schaffen (vgl. auch Snoek/Swennen/van der Klink 2011). Ein Ausbilder, der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer1 im Vorbereitungsdienst, der zweiten Phase in der deutschen Lehrerbildung, über 21 Monate begleitet und betreut, sagt im Interview mit mir zu seinem Aufgabenbereich und seinen Referendar*innen:
Also, es/ es/ es GIBT manchmal Referendare, wo man, al/, nicht oft, aber manchmal habe ich welche gehabt, wo ich dann gesagt habe, hier (..) möchte ich eigentlich meinen Sohn nicht als Schüler drin sitzen sehen. Ähm. In der Regel, weil FACHLICH, aber was noch viel schlimmer ist, wenn/ wenn ähm, wenn die menschliche Seite nicht stimmt. Wenn die Beziehungsebene nicht da ist. Aber das ist durchaus eher SELTEN. [Bastian Schmidt, Zeilen 291-297]
Dieses – zugegebenermaßen nicht unproblematische – Beispiel, zeigt, worum es in dieser Arbeit gehen soll. Ausbildungskräfte im Vorbereitungsdienst beurteilen ihre angehenden Lehrkräfte hinsichtlich bestimmter Kompetenzen oder Wissensbestände, durchaus jedoch ebenfalls auf Ebenen von Persönlichkeits- und Beziehungsstrukturen. Ungewiss ist, an welchen Stellen diese Beurteilungsmaßstäbe und Orientierungen wirksam werden – ein Sachverhalt, der vielen Referendarinnen und Referendaren große Schwierigkeiten im Zuge ihres Vorbereitungsdienstes bereitet (s. Kapitel 4). Interessant ist daher, wie Ausbilderinnen und Ausbilder ihre Tätigkeit wahrnehmen, intervenieren, in bestimmte Richtungen beraten – und zwar als vom System bestellte Ausbilderinnen und Ausbilder für Fremdsprachen, um die es hier gehen soll, die möglicherweise kaum dazu kommen, fremdsprachendidaktische Akzente zu setzen, da andere Schwerpunkte seitens der Referendarinnen und Referendare relevant gesetzt werden. Indem wir mehr über das Handeln der Ausbildungskräfte erfahren, besteht die Chance, einen Einblick in Strukturen und Inhalte des Vorbereitungsdienstes aus einer anderen Perspektive zu gewinnen. Wo sich Forschung zu Referendarinnen und Referendaren primär auf Belastungsfaktoren, zuletzt verstärkt ebenso auf Kompetenzentwicklung und Professionalisierung bezieht (s. Kapitel 4), steht die Vermutung im Raum, dass Ausbilderinnen und Ausbilder sowohl für die Belastung wie auch die Professionalisierung der LiV verantwortlich sein könnten. Und obwohl man mit solchen Kausalzusammenhängen natürlich vorsichtig sein muss, sollte man dieser These zumindest näherungsweise nachgehen und überhaupt mehr darüber erfahren wollen zur Frage – und das soll das hier schlicht zusammengefasste Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sein:
Was machen Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner im Vorbereitungsdienst angehender Fremdsprachenlehrkräfte?
Die fachliche Eingrenzung ist dabei nicht irrelevant: Die Andeutung oben, dass mittlerweile zahlreiche Fächer unter einem gewissen Druck stehen, professionstheoretische Erkenntnisse zu liefern, hat sich aufgrund größerer empirischer Untersuchungen zunächst in der deutschen Mathematikdidaktik (vgl. Kunter et al. 2011) sowie in Deutsch und Englisch (vgl. Blömeke et al. 2011) prominent niedergeschlagen. Weitere fachspezifische Konzeptualisierungen, insbesondere von fachdidaktischem Professionswissen (vgl. Krauss et al. 2017) folgten. Auch in der Fremdsprachendidaktik lässt sich in den vergangenen 15 Jahren ein starkes Anwachsen an theoretischer wie empirischer Forschung beobachten, die Fremdsprachenlehrerprofessionalität und -professionalisierung beschreib- respektive förderbar machen möchte (vgl. Kapitel 3). Dies ist damit von besonderer Bedeutung für diese Arbeit, denn zum einen interessiert mich – in einer zunächst theoretischen Perspektive – die komparative und in sich ergänzende, sich manchmal nur auf den ersten Blick ausschließende, Betrachtung dominierender Strömungen professionstheoretischer Ansätze in der Schulpädagogik im Vergleich zu Ansätzen fachdidaktischer Professionsforschung in der Fremdsprachendidaktik. Dies macht es daher nötig, die einschlägigsten Strömungen, Konzepte und Ansätze in den nächsten Kapiteln darzustellen und damit potentiell vergleichbar zu machen, selbst wenn sie im späteren Verlauf gegenstandsbezogen und methodisch-methodologisch für das Forschungsvorhaben möglicherweise eher in den Hintergrund treten.2
Wenn in der vorliegenden Studie explorativ auf das Handeln von Ausbildungskräften im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst fokussiert wird, ist dies demnach immer vor der theoretischen Folie von schulpädagogischer wie auch fremdsprachendidaktischer Professionsforschung zu sehen. Die vorzustellenden Erkenntnisse sollen in empirischer wie theoretischer Hinsicht Anregungen zur Weiterentwicklung in beiden Feldern bieten. Schließlich können die beforschten Untersuchungssubjekte als Gestaltende von Fremdsprachenlehrerbildung gesehen werden in einer Phase, zu der sowohl in schulpädagogischer wie fremdsprachendidaktischer Hinsicht noch kaum Erkenntnisse vorliegen.
Der Komplexität der Fragestellung und des Untersuchungsgegenstandes ist es geschuldet, dass nach dieser Einleitung und dem kurzen Problemaufriss (Kapitel 1) auf mehreren Ebenen Eingrenzungen vorgenommen werden müssen. Diese erfolgen zunächst hinsichtlich der professionstheoretischen Ansätze, zum einen in schulpädagogischer Hinsicht und den damit verbundenen, aktuell dominierenden Bestimmungsansätzen (Kapitel 2), zum anderen in fremdsprachendidaktischer Hinsicht mit dort vorherrschenden Forschungsschwerpunkten und -erkenntnissen in Bezug auf „die Fremdsprachenlehrerin“/„den Fremdsprachenlehrer“ (Kapitel 3). Wenn auch die beiden Kapitel zur schulpädagogischen und fremdsprachendidaktischen Lehrerprofessionsforschung nacheinander aufgeführt werden, da das Format einer Publikation es auf textlicher Ebene nicht anders erlaubt, muss man sich diese beiden Kapitel gleichsam als parallel nebeneinander gestellt denken, die einen Zugriff auf das Konstrukt „Fremdsprachenlehrerprofessionalität“ ermöglichen, zu dem das danach folgende Kapitel zum Vorbereitungsdienst (Kapitel 4) eine systemische Rahmung einzieht und diese dann im Kapitel zur Fremdsprachenlehrerprofessionalisierung im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst1 gegenstandstheoretisch zusammenfasst und in den konkreten Forschungsfragen münden lässt (Kapitel 5).
Struktur der Theoriekapitel.
Es geht mir also zunächst darum, die jeweilige Spezifität schulpädagogischer und fremdsprachendidaktischer Professionsforschung heraus- und diese den Erkenntnissen und Strukturen zum Vorbereitungsdienst gegenüberzustellen, in denen diese Professionalität bzw. Professionalisierung greift. Motiviert von den geringen Erkenntnissen zu Lehrerbildner*innen fokussiert das Forschungsprojekt dann auf die Rekonstruktion von Handlungspraxis2 der fremdsprachendidaktisch Ausbildenden im Vorbereitungsdienst und die von ihnen angelegte Ausbildungsdidaktik. Ausgehend von Bourdieus Habituskonzept (vgl. Bourdieu 1987/2006) und der praxeologischen Wissenssoziologie von Bohnsack (2014/2017) wird in Kapitel 5 hergeleitet, inwiefern die Rekonstruktion von Handlungspraxis der Ausbilderinnen und Ausbilder Einblicke in den fremdsprachendidaktisch orientierten Vorbereitungsdienst bieten kann. Hiermit einher geht die Formulierung von vier Forschungsfragen, die Ausbildungspraxis und Ausbildungsdidaktik greifbar machen und im weiteren Verlauf beantwortet werden sollen. Die dahinterstehende Methodologie und das methodische Vorgehen mitsamt Datenerhebung sowie Analyse mittels Dokumentarischer Methode (vgl. Bohnsack 2014a) wird auch unter Berücksichtigung forschungsethischer Aspekte in Kapitel 6 diskutiert. Die insgesamt elf Ausbildungskräfte wurden mittels narrativ-episodischer Interviews in berufsbiographischer Hinsicht sowie zu Situationen aus ihrer Tätigkeit als Lehrerbildner*innen befragt.
Ich möchte zeigen – und das kann hier als ein nicht unerwartbares Kernergebnis bereits vorweggenommen werden –, dass die Themen und Bedürfnisse, die von der Disziplin in Theorie und Empirie relevant gesetzt werden (Kapitel 2-4), nicht in dem Maße zum Gegenstand von Ausbildungspraxis gemacht werden, wie es gemeinhin gefordert wird. Der Grund hierfür ist allerdings nicht auf Seiten des Personals zu suchen, d.h. ihnen kann kein Vorwurf gemacht werden, dass das Potential an Professionalisierungsprozessen nicht voll ausgeschöpft werden kann: Die Lehrerbildner*innen, aber ebenso die Referendarinnen und Referendare, finden sich im Vorbereitungsdienst in einem System wieder, das kaum Möglichkeiten eröffnet, die schulpädagogisch und fremdsprachendidaktisch relevant gestellten Bedingungen für erfolgreiche Professionalisierungsprozesse herzustellen. Dies wird zwar aus der theoretischen Herleitung mittels der Kapitel 3 und 4 in Ansätzen erkennbar, besonders deutlich allerdings in der Darstellung von drei Fällen von Ausbilderinnen und Ausbildern (Kapitel 7), in deren Rekonstruktion sichtbar wird, wie didaktisch und methodisch Lehrer*innenbildung in der zweiten Phase umgesetzt wird (oder eben nicht). Die Ergebnisdarstellung teilt sich dementsprechend in zwei Oberkapitel auf: Zunächst werden die drei kontrastiven Fälle dargestellt (Kapitel 7), die in sich aufgeschlossen werden und im späteren Vergleich das Kontinuum an Ausbildungspraxis aufspannen sollen. Die drei Fälle zeigen je spezifische Themen und Orientierungsrahmen, welche sich im Vergleich auch mit den weiteren Fällen ergeben und validieren lassen. Um dies zu festigen, erfolgt in einem zweiten Schritt der Ergebnisdarstellung in Kapitel 8 eine komparative Betrachtung aller untersuchten Fälle – im jeweiligen Rückgriff auf die ausführlichen Fallrekonstruktionen in Kapitel 7 – entlang bestimmter Themen, die für die Rekonstruktion habitueller Ausbildungspraxis durch die Analyse mittels der Dokumentarischen Methode relevant wird. Kapitel 9 untersucht in einem stärker explorativen Ansatz durch die Ausbildungspraxis relevant gesetzte ausbildungsdidaktische Konzepte und ihre jeweilige, teils hoch-kontextspezifische Aushandlung mittels einzelner, aus den Daten heuristisch abgeleiteter Beispiele.
Die Zusammenfassung der Ergebnisse, unter erneutem Rückgriff auf die vorliegende Theorie und Empirie, erfolgt in Kapitel 10 aufgeteilt nach Ausbildungspraxis und -didaktik. Außerdem wird hier näherungsweise der Versuch unternommen, einen Habitus von Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst zu umreißen. Näherungsweise aus dem Grund – auch das kann hier vorweggenommen werden –, dass die Rekonstruktion von Orientierungsrahmen im Sample methodisch nicht leicht war: Die Tatsache, dass Ausbildungskräfte – und das mag Teil ihres Habitus sein – einen höchst reflexiven Sprechmodus offenbaren, sich als Teil ihrer Tätigkeitsbeschreibung ständig ebenso mit Reflexionen von angehenden Lehrkräften auseinandersetzen müssen, verhinderte an vielen Stellen das Erreichen langer, in sich geschlossener Narrationen, die für eine sichere Habitusrekonstruktion nötig gewesen wären. Dennoch liefern die Beschreibungen und Argumentationen der Ausbildungskräfte, insbesondere in ihrer jeweiligen Auseinandersetzung und Interaktion mit dem Vorbereitungsdienst sowie formalen Vorgaben und den LiV interessante Aspekte, die zur Habitusrekonstruktion hinleiten können.
Im Anschluss an die Ergebnisdiskussion wird der Forschungsprozess insgesamt reflektiert (Kapitel 11). Hier geht es mir zum einen um eine begründete Rekapitulation der ganzen Untersuchung, die sich mit der Vorbereitung und der Erstellung dieses Manuskripts über fünf Jahre erstreckt hat, zum anderen müssen mit der entsprechenden Distanz ebenfalls zum Gegenstand sowie den Forschungssubjekten und Analysen kritische Aspekte beleuchtet bzw. mögliche Alternativen auch für Anschluss- oder ähnlich gelagerte Projekte formuliert werden. Vor diesem Hintergrund sollen abschließend Implikationen sowohl für Professionsforschung wie auch Lehrerbildung an sich gegeben werden (Kapitel 12). Die vorher diskutierten Ergebnisse könnten einerseits Rückschlüsse für die Gestaltung der zweiten Phase und der Qualifikation des Personals, andererseits Folgen für die erste und sogenannte „dritte“ Phase der Fortbildungen haben – ebenso in fremdsprachendidaktischer wie fächerübergreifender Hinsicht, obwohl der Fokus hier auf der fremdsprachendidaktischen Lehrerbildung verbleiben soll.
Diskussionen um Lehrerprofessionalität und -professionalisierung beginnen in einschlägigen Einführungswerken und wissenschaftlichen Publikationen nicht selten mit einer Annäherung an den Begriff der Profession, der schnell, gleichsam kurzschlussartig, die Charakteristika einer Profession im soziologischen Sinn aufmacht und dann im Vergleich des akademischen Feldes bemerkt, dass sich der Lehrer*innenberuf gar nicht so einfach mit den klassischen Zugängen zum Professionsbegriff, exemplarisch bemessen an den Disziplinen Jura und Medizin, vergleichen lässt.1 Im Anschluss erfolgt dann häufig die Diskussion darüber, inwiefern überhaupt von Lehrerprofessionalität, oder eher: „Semi-Professionalität“, gesprochen werden kann oder ob diese sich im Gegenteil nicht sogar stärker emanzipieren, ob dem Lehrerberuf eine Professionalisierungsbedürftigkeit oder ganz besondere -fähigkeit unterstellt werden müsse (vgl. zusammenfassend Lundgreen 2011; auch Tenorth 2006). Obwohl ich nun hier mit ebenjenem Einstieg genauso verfahren bin, wie ich es kritisch anklingen lassen wollte, möchte ich es sogleich hierbei belassen.2 Im Wesentlichen wurden die Diskussionen darüber, ob denn der Lehrberuf eine Profession sei, von einem professionstheoretischen Zugang abgelöst, der „für begrenzte Bereiche notwendige Kompetenzen der Professionellen zu bestimmen und Wege zu deren Erwerb zu skizzieren“ (Hericks/Keller-Schneider/Bonnet 2019: 598) versucht. Denn: Parallel geht mit der Anerkennung der Existenz von Lehrerprofessionsforschung einher, dass hiermit eine in besonderem Maße herausgestellte Tätigkeit verbunden ist, die komplexe Anforderungen bearbeitet und gleichzeitig vieler Ressourcen bedarf, die es daher auch wert ist, er- und beforscht zu werden, da Professionsforschung dann zu einer Entwicklung der Profession und ihrer Professionellen führen kann, ja im Grunde genommen sogar muss. Zuvorderst muss allerdings eine Differenzierung getroffen werden zwischen den Begrifflichkeiten Profession, Professionalität sowie Professionalisierung – jeweils unmittelbar bezogen auf die Spezifik des Berufs von Lehrerinnen und Lehrern:
Eine Profession wird über bestimmte Tätigkeiten, charakteristische Anforderungen und spezifische Wissensstrukturen charakterisiert, die zudem in gewisser Weise institutionalisiert, akademisiert und organisiert sind. Sie stellt „the structural, occupational and institutional arrangements for dealing with work associated with the uncertainties of modern lives in risk societies“ (Evetts 2003: 297). Die Profession der Lehrerin/des Lehrers unterstützt damit (zumindest primär) Entwicklungsprozesse der Lernenden, die von Unsicherheiten geprägt sind, wobei im Kontext des Lehrerberufs für die Profession der Grundschullehrpersonen noch heute die Existenz einer spezifischen Wissens- und Kompetenzbasis bezweifelt [wird], da für sie ein hoher Anteil an pädagogisch-personalen, eher diffusen und wenig spezifisch-professionellen Fähigkeiten angenommen wird, wohingegen man Gymnasiallehrern aufgrund ihrer soliden Wissensbasis in den Unterrichtsfächern einen gewissen Respekt entgegenzubringen bereit ist. (Terhart 2011: 205) Selbst wenn man diese Sichtweise, wie sie Terhart stellvertretend formuliert, nicht vollkommen teilen kann oder will, zeigt sie doch die Brisanz und Schieflage innerhalb der Profession (und ihrer Außenwirkung als Statusgruppe), die sich von verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Schulformen und Fächern in ihren je spezifischen Anforderungen, durch das Alter der Lernenden oder auch durch fachliche Tiefe bedingen lässt.
Professionalität meint das kompetente Handeln im Beruf des Lehrers/der Lehrerin, wenn er/sie „über möglichst hohe bzw. entwickelte Kompetenzen und zweckdienliche Haltungen verfügt, die anhand der Bezeichnung ‚professionelle Handlungskompetenzenʼ zusammengefasst werden“ (Terhart 2011: 207) – gleichwohl die oben angedeuteten Elemente einer modernen, risikobehafteten und von Unsicherheit geprägten Gesellschaft (und Schülerschaft) dieses Handeln vor Herausforderungen stellen dürfte.
Professionalisierung beschreibt in seiner Substantivierung des Verbs „(sich) professionalisieren“ einen aktiven Prozess, eine Entwicklung, die zudem aufgrund der Reflexivität mutmaßlich von der/dem – dann zunehmend – Professionellen ausgeht. Horn (2016) diskutiert dies in dreierlei Deutung: „1) Professionalisierung im Sinne der Professionwerdung eines Berufes, 2) Professionalisierung als Entwicklung von Professionalität, um professionell als Lehrer handeln zu können, 3) Professionalisierung als Ausprägung einer professionellen Identität“ (ebd.: 162). Erstere bezieht sich auf eine Konzeptbildung innerhalb der Profession bzw. dem Sich-Entwickeln einer Semi-Profession in Richtung einer etablierten und anerkannten (vgl. Terhart 2011), während die letzten beiden Deutungen auf das Handeln und die identitäre Herausbildung der individuellen Lehrkräfte abzielt, eine gewisse berufsbiographische Perspektive gleichsam mitdenkt und auszufüllen versucht.
Die Schwierigkeit des Professionsbegriffs führt an vielerlei Stellen zur Argumentation dahingehend, diesen Begriff aufzugeben zugunsten einer breiteren Verwendung von Professionalität zur „Rekonstruktion der Handlungs- und Anforderungsstruktur“ (Helsper/Tippelt 2011: 272) der professionell Agierenden sowie der Bearbeitung von Profession im Sinne einer „sozialen Welt pädagogisch Tätiger“ (Nittel 2011: 40), welche Nittel über wissenssoziologische, symbolisch-interaktionistische und berufsbiographische Ansätze mittels des Prinzips „lebenslangen Lernens“ (ebd.: 53) zu erschließen versucht. Dass diese Begriffsbestimmung im pädagogischen Kontext noch lange nicht abgeschlossen ist, machen Helsper und Tippelt (2011) in einer Gesamtschau aktueller Befunde und Diskussionen, beschrieben als „unendliches Projekt und strategischer Kampf um Anerkennung“ (ebd.: 275), mehr als deutlich. Reflexivität sehen sie dabei als zunehmend unausweichliche Anforderung für pädagogisches Handeln „gegenüber Adressaten, aber auch im Kontext von Institutionen und insbesondere gegenüber übergreifenden, etwa staatlichen Akteuren und deren Öffentlichkeit“ (ebd.: 282), das in diesem Sinne für die Professionalität als pädagogisch Tätige ein genuines Bestimmungsmerkmal darstellt.
Uneindeutig wird es begrifflich dann, wenn im wissenschaftlichen Diskurs von Professionsforschung gesprochen, aber möglicherweise Professionalisierungsforschung gemeint ist. Da der Begriff der Professionsforschung im deutschen Diskurs jedoch einschlägiger für beide Schwerpunkte verwendet wird, werde ich im Hinblick auf die konzeptionellen Beiträge zur Profession der (Fremdsprachen-)Lehrkraft (bzw. ihrer Lehrerbildner*innen) primär von Professionsforschung schreiben, dann die damit verbundenen Prozesse hingegen als Professionalisierung, als aktiv-gestalteten oder passiv-erlittenen Prozess, versuchen darzulegen.
Für dieses theoretische Einleitungskapitel in seinem allgemein-einführenden Anspruch ist es nicht das Ziel, die Ansätze von schulpädagogischer Professionsforschung so detailliert wie möglich mitsamt der in den letzten Jahren vorgelegten Forschung herauszuarbeiten3, sondern vor allem die groben schulpädagogischen Strömungen zu identifizieren, zu skizzieren und vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit angelegten Forschungsschwerpunkts gegenstandsbezogen die Relevanz der Ansätze zusammenfassend herauszuarbeiten, um später hierauf zurückgreifen zu können. Eines der primären Ziele in der Darstellung ist daher zu untersuchen, inwiefern eine gewisse Strukturgebung einer auf Lehrerprofessionalisierung abzielenden Phase wie der des Vorbereitungsdienstes innerhalb der Professionsforschung be- und gegriffen werden kann.
Im Folgenden werden die zentralen und aktuell diskutierten Ansätze erziehungswissenschaftlicher und schulpädagogischer Professionsforschung in Anlehnung an Terharts Differenzierung (2011) vorgestellt.1 Er unterteilt die gegenwärtigen Strömungen primär in 1. strukturtheoretische, 2. kompetenztheoretische sowie 3. berufsbiographische Bestimmungsansätze. Bestimmungsansatz nennt es Terhart insbesondere, da er herausarbeitet, dass die Lehrerprofessionsforschung sich darum bemüht, sich selbst zu bestimmen, „also ohne Fixierung auf das theoretisch und empirisch zunehmend obsolete klassische Professionen-Konzept“ (ebd.: 205), das sich stets im Vergleich zu etablierten Professionen wie Juristen und Medizinern sah. Auch wenn diese Aufteilung in drei Bestimmungsansätze sicherlich nicht unumstritten ist2, fasst sie doch die primär im deutschsprachigen Raum vorherrschenden theoretischen Grundlagen für Lehrerprofessionsforschung zusammen. Ziel bei der Darstellung dieser teils gegenseitig recht kritisch rezipierten theoretischen Deutungen von Lehrerprofessionalität ist es, die jeweiligen Grundpositionen darzustellen, um deren Relevanz auch für das vorliegende Forschungsvorhaben deutlich zu machen und im Rahmen der Untersuchung und Analyse hierauf zurückgreifen zu können. Außerdem sollen diese dominierenden Ansätze der allgemein-schulpädagogischen Professionsforschung vor dem Hintergrund der noch vorzustellenden fremdsprachendidaktisch orientierten Professionsforschung in einen gemeinsamen Kontext gesetzt und damit für das Vorhaben in ihrer Relevanz und Deutungsgewalt herausgestellt werden. Ein dabei besonders zu berücksichtigender Aspekt sollte die Rolle von aktiv an Lehrerbildung teilnehmenden Institutionen, Strukturen bzw. Professionellen, d.h. Lehrerbildner*innen, sein, da der Fokus später auf maßgeblich an der Fremdsprachenlehrerbildung im Vorbereitungsdienst beteiligten Personal liegen wird.
Strukturtheoretische Deutungsansätze professionellen Handelns sehen als Aufgabe, eine Struktur bzw. die einzelnen Ebenen und Akteure sowie ihr Verhältnis zueinander innerhalb einer Struktur zu verstehen und zu deuten, auf Basis theoretischer Konzepte dieses Handeln zu interpretieren. Handlungen und Spannungen in der Praxis sind hier also daher nicht als intentional zu sehen, sondern als Folge bestimmter Strukturen, wie es soziologisch z.B. von Parsons mit der struktur-funktionalen Theorie (z.B. 1968) beschrieben wurde. In einer Struktur wie der Schule, die für Parsons ein soziales System darstellt, erlernen die (inter-)agierenden Personen bestimmte Rollen, die mit bestimmten Erwartungen konnotiert sind, welche wiederum an die Struktur und die Funktionen der einzelnen Elemente des Systems gebunden sind.1
Einer der bekanntesten Vertreter dieser Position ist Oevermann (1996, 2008), der Lehrerhandeln begründet auf Basis eines therapeutischen, d.h. der Automieförderung zugewandten Professionsverständnisses. Lehrende bauen demnach in ihrer spezifischen Rolle ein diffuses Verhältnis zu ihren Klienten auf, den Lernenden als ganze Personen. In dieser Beziehung sind letztere noch nicht voll in ihrer Rolle entwickelt, nicht autonom und selbstbestimmt, sodass dieses Arbeitsbündnis neben der ohnehin stattfindenden Vermittlung von Wissen und Normen ständig reflektiert und neu definiert werden muss. Die Interaktion von Lehrkräften und Lernenden ist dann durch Routinen dieser Wissens-, Normen- und/oder Kompetenzförderung geprägt. Dieses Verhältnis gerät dann in eine „Krise“, wenn Routinen unterbrochen werden oder in einer bestimmten Situation fehlen bzw. nicht anwendbar sind. Oevermann (2008) versteht in diesem Zusammenhang, dass „die Krise der Normalfall ist und die Routine der Grenzfall“ (ebd.: 57), sodass ein analytisches Vorgehen z.B. durch eine Fallanalyse im pädagogischen Alltag Bestandteil professionellen Handelns wird bzw. im Sinne einer Professionalisierung werden sollte. Eine Krise kann somit als Anlass genommen werden, die Situation auf Basis des persönlichen Deutungswissens zu interpretieren und im Rahmen des „Arbeitsbündnisses“ – eines bewusst psychosozialen/-analytisch gewählten Begriffes des Verhältnisses zwischen Lehrendem und Lernendem, das zudem durch die Schulpflicht „erzwungen“ wird – zwischen den beiden Agierenden eine neue Routine zu entwickeln.
Tritt z.B. in einer – hier zum Zwecke der beispielhaften Darstellung unspezifizierten Unterrichtssituation – ein Mangel an Wissen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu Tage, kann die Lehrperson in dieser Krise Lösungsmöglichkeiten anbieten, um diese zu bewältigen. Die Krise besteht in diesem Zusammenhang aber auch in dem Widerspruch diffuser und spezifischer Sozialbeziehungen (vgl. Oevermann 1996), die zwischen Lehrperson und Schülerin/Schüler bestehen und damit einer Professionalisierung bedürfen: Inwieweit kommt die Lehrperson dem/der Lernenden entgegen? Entmündigt die Lehrperson den Schüler/die Schülerin möglicherweise in seiner Selbständigkeit und lebenspraktischen Autonomie als Individuum, indem das Wissen direkt vorgelegt wird, ohne vielleicht ein selbständiges, methodisches Lösen des Wissensdefizits zu evozieren?
Oevermann unterscheidet hier zwischen ingenieuralem Wissen, das in der pädagogischen Arbeit deduktiv Lösungen anbietet und begründet, sowie interventionspraktischem Wissen, welches sowohl standardisiertes Methodenwissen einbezieht (äußert sich in „Routine par excellence“ im alltäglichen Unterricht; vgl. Oevermann 2008: 59) wie auch das eher therapeutisch-intervenierende Wissen, das primär klientenzentriert ist und „die konkrete historische Lage und Situation des Klienten … rekonstruieren muss“ (ebd.). In diesem Zusammenhang definiert und unterscheidet Oevermann die Begriffe Lernen und Bildung, sodass ersteres auf der Vermittlung standardisierten Wissens fußt („Primat der Wissensvermittlung“, Oevermann 1996: 142), während „Bildung immer Krisenlösung und damit das Gegenteil von Routine“ (Oevermann 2008: 59) ist. Neben dem Primat der Wissensvermittlung beinhalte pädagogisches Handeln allerdings auch immer „Erziehen“,
weil die anlässlich der Wissens- und Normenvermittlung notwendig werdenden Lehrer-Schüler-Beziehungen angesichts … der Ungefestigtheit von Autonomie und Rollenhandlungsfähigkeit des Schülers in dieser Phase immer auch folgenreich sind für die Entwicklung des Schülers als ganzer Person. (Oevermann 1996: 147)
Bezugnehmend auf die Tatsache, dass ein therapeutisch-professionelles Handeln voraussetzt, dass vom Klienten eine gewisse „Freiwilligkeit“ ausgeht, sich therapieren zu lassen – d.h. dass Schülerinnen und Schüler von sich aus lern- und bildungswillig sind –, ist Oevermanns zentraler Kritikpunkt die deutsche Schulpflicht. Diese sieht er als mittlerweile obsolet an, da sie Pädagoginnen/Pädagogen und Kinder in ein erzwungenes Arbeitsbündnis bringt mit der Folge, „dass dem Kind die Neugierde als Hauptmotiv dafür, in der Schule zu sein, aberkannt wird“ (ebd.: 66). Darüber hinaus sieht er es als soziologisch und gesellschaftlich begründet an, dass spätestens zum aktuellen Grundschulalter der Kinder bereits in der Familie quasi automatisch die Krise entsteht, dass die Kinder die hochkomplexen Prozesse des Lesens, Schreiben und Rechnens erlernen müssen, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Da die Struktur der Familie dies nicht alleine bewerkstelligen kann, benötigt man ab diesem Zeitpunkt Lehrerinnen und Lehrer, die dieses Wissen vermitteln. In diesem Zusammenhang spricht Oevermann von Experten, was jedoch noch keine Professionalität ausmache. Diese sei erst durch eine fallorientiert-hermeneutische Lösungserarbeitung von Krisen und z.B. pädagogisch-erzieherischen Herausforderungen in der (Wieder-)Herstellung von Autonomie gegeben (1996, 2008).
Helsper (2004b) vertieft Oevermanns Grundidee als „strukturtheoretisch-rekonstruktiv“, indem das Unterbrechen der Routinen („ständige Drohung des Scheiterns“) vor allem durch situative Fallarbeit zu einem professionelleren Lehrer*innenhandeln führt. Zentral sieht Helsper damit einige unüberwindbare Antinomien in der Struktur des Lehrerhandelns (vgl. ebd.; vgl. auch Terhart 2011):
Begründungsantinomie entsteht dadurch, dass Lehrer*innenhandeln begründet Wissen und Lebenspraxis vermitteln soll, die entstehende Ungewissheit bzw. Unplanbarkeit im Unterricht diese Begründung aber erschwert.
Praxisantinomie meint, dass theoretisches Wissen nicht unmittelbar in der Praxis umgesetzt werden kann, dies aber für ein wissenschaftliches (= professionelles) Handeln nötig wäre.
Subsumtionsantinomie steht für die Schwierigkeit, Fälle pädagogischen Handelns wissenschaftlich zu typisieren bzw. zu hierarchisieren, dann allerdings wiederum durch die Subsumtion die Einzelfälle aus dem Blick zu verlieren.
Ungewissheitsantinomie bezieht sich auf die Tatsache, dass mit dem Lehrerhandeln der Anspruch verbunden ist, dass Schülerinnen und Schülern Wissen vermittelt wird, durch die Unplanbarkeit pädagogischen Handelns dies aber kaum garantiert werden kann.
Symmetrieantinomie (Machtantinomie) steht für die unterschiedlichen Positionen, die Lehrende und Lernende in ihrer Interaktion einnehmen, ein Arbeitsbündnis bedarf jedoch eines symmetrischen Verhältnisses der Agierenden.
Vertrauensantinomie: Das Arbeitsbündnis muss von gegenseitigem Vertrauen geprägt sein, allerdings muss ständig die mögliche Abhängigkeit des Kindes betrachtet sowie die jeweils von Lernenden als auch Lehrenden bestehende Persönlichkeit („persönliche Integrität“) gewahrt werden.
Auf eine zweite Ebene „der diffus-spezifischen Lagerung“ (Helsper 2001: 87) positioniert Helsper:
Näheantinomie beschreibt – und hängt damit nah mit der Vertrauensantinomie zusammen – das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Interaktion von Lehrenden und Lernenden.
Sachantinomie als die Forderung eines Lebensweltbezugs der Unterrichtsgegenstände bei gleichzeitiger Vermittlung von „lebensweltlich gültigen, biografisch unterlegten Rahmungen der unterrichtlich behandelten Gegenstände auf dem Hintergrund der konkreten Individualität von Schülern“ (Helsper 2004b: 78).
Organisationsantinomie ist gemeinhin der organisatorisch-strukturelle Zwang von z.B. Räumlichkeiten, Stundenplänen und Lehrplänen, in denen Lehrerhandeln eingebettet wird.
Differenzierungsantinomie meint den gesellschaftlich-politischen Anspruch einer offenen Allgemeinbildung für alle Schülerinnen und Schüler, gleichzeitig aber die Herausforderung Bildung in individualisierter Form, d.h. individuelle Lernprozesse, anzustoßen.
Autonomieantinomie beschreibt letztlich die Aufgabe einer Lehrkraft, Grundlagen dafür zu legen, dass die Schülerinnen und Schüler autonome, mündige Bürgerinnen und Bürger werden, allerdings kann dies in der Schule nur im strukturell begrenzten Rahmen des Systems geschehen.
Auf den nächsthöheren Ebenen sammeln sich nach Helsper (2001) auflösbare organisationsbedingte Widersprüche, welche die Antinomien aufgrund der institutionalisierten Schulbildung begünstigen2, Dilemmata als Folge „der fallspezifischen und berufsbiographischen Auseinandersetzung mit diesen Antinomien und Widersprüchen“ (ebd.: 88) in Wechselwirkung der Lehrpersonen z.B. einer Schule sowie zuletzt Handlungsparadoxien, in denen professionelles Handeln zunehmend unmöglich wird aufgrund einer immer ungünstiger liegenden, unüberwindbaren Verquickung der auf den unteren Ebenen diametral gegenüberstehenden Antinomien, Widersprüchen und Dilemmata.
Helsper (2001, 2004b, 2007) versucht mittels dieser unterschiedlichen, hierarchisch zusammenhängenden Ebenen von Antinomien bis Paradoxien, das „Scheitern“ im Unterrichts- und Bildungsprozess zu begründen und gleichzeitig aufzuzeigen, dass diese Antinomien jederzeit bestehen, aber oft im Wesentlichen strukturimmanent und damit zwar nicht auflösbar sind, mit ihnen aber z.B. durch Fallarbeit reflexiv beim Vorkommen eines Routinebruchs oder Scheiterns umgegangen werden kann und dies auch in der Erwartungshaltung ungewisser Folgen im Lehrerhandeln bewusst sein sollte: „Vor diesem Hintergrund zeigt sich Professionalität in der Fähigkeit, die vielfachen Spannungen und genannten Antinomien sachgerecht handhaben zu können.“ (Terhart 2011: 206)
Die im Lehrerhandeln implizierte, durch die Struktur des schulischen Unterrichtens entstehende „Ungewissheit“ thematisieren sowohl Helsper (2008) als auch Combe (2005). Letzterer spricht dann von Irritationen und dem „Entstehen von Neuem“ in Unterrichtsprozessen und sieht Professionalisierung von Lehrpersonen im reflexiven Umgang damit: „Solche Erfahrungskrisen nicht abzuwehren, sondern für die eigene Entwicklung und Erkenntnis zu nutzen und mit ihnen umzugehen lernen, wäre eine zentrale Kompetenz eines lernenden Lehrers.“ (Combe 2005: 82) Combe und Buchen (1996) beziehen sich strukturtheoretisch in ihrer Deutung von Unterrichtsprozessen nicht nur auf die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, sondern verknüpfen in ihrer Sichtweise die Sachinhalte und Unterrichtsgegenstände, welche ursächlich Brüche in den Interaktionsprozessen bewirken und Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler in ihrer Rolle haben können. Hericks (2009) bewertet es daher als „nur konsequent, auch die Professionalisierungsbedürftigkeit des Lehrerhandelns an dessen primäre Funktion, d.h. an die Wissens- und Normenvermittlung, selbst anzubinden“ (ebd.: 67). Wagner (1998) vertritt ebenfalls eine strukturtheoretische Sichtweise professionellen Lehrerhandelns und sieht zentral eine „Verflechtung von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen“ (ebd.: 159), stellt allerdings zudem die Sachinhalte des Unterrichtsprozesses in den Mittelpunkt, dessen professionelle Aufarbeitung den „Erwerb eines pädagogischen Habitus [erfordert], in dem Fallverstehen, Wissenschaftswissen, professionelle Deutungsschemata und das intuitive Verstehen feldspezifischer pädagogischer Probleme verbunden werden“ (Helsper 2014: 223, in Rückgriff auf Oevermann 2002).
Insbesondere die strukturtheoretische Deutung der Lehrerprofessionalität Oevermanns war wiederholt Gegenstand der Kritik, am weitreichendsten wohl durch den offenen Streit in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, in der Baumert und Kunter (2006) den strukturtheoretischen Ansatz grundlegend kritisieren3, Helsper (2007) ein Jahr später dann diesen Ansatz (und Oevermann) jedoch dezidiert verteidigt. Die Kritik Baumerts und Kunter zielt primär auf die psychoanalytisch-therapeutische Komponente des strukturtheoretischen Ansatzes ab4, da er ihnen zum einen nicht weit genug geht und darüber hinaus eine diffuse Sozialbeziehung zwischen Lehrkräften und einzelnen Schülerinnen und Schülern überbetont, ohne zu beantworten,
wie Unterricht möglich ist und auf Dauer gestellt werden kann, systematisches und kumulatives Lernen über Kindheit und Jugend hinweg erreichbar und die kognitiven und motivationalen Voraussetzungen beruflicher, politischer, kultureller und zivilgesellschaftlicher Teilhabe für die gesamte nachwachsende Generation zu sichern sind und welche Anforderungen sich daraus für das Kompetenzprofil einer Lehrkraft ergeben. (Baumert/Kunter 2006: 472)
Auch die von Helsper zentral diskutierte Antinomie von Nähe und Distanz relativieren Baumert und Kunter, indem pädagogisches Handeln und Fürsorge für sie keinen Bezug zu therapeutischen Ansätzen und Konzepten oder gar Intimität bedeuten. Sie sehen strukturell in „der Organisation systematischen Lernens und des langfristigen Wissenserwerbs eine … bemerkenswerte Erfolgsgeschichte“ (ebd.: 473) und beziehen sich hier auf Prange (2000) und Tenorth (2006), kritisieren dabei gleichzeitig die von Oevermann und Helsper postulierten Elemente bzw. Momente des Scheiterns, der Krisen oder Brüche im Lehrer*innenhandeln, welche in ihren Augen eine zu negative Sicht einnehmen.
In seiner Replik auf Baumert und Kunter (2006) verteidigt Helsper (2007) den strukturtheoretischen Ansatz und relativiert unter anderem das sogenannte „Scheitern“ der Lehrperson, dass dieses von Baumert und Kunter zu drastisch dargestellt worden sei, es lediglich bedeute, dass aus strukturtheoretischer Sicht professionelles Handeln wie das einer Lehrperson „anfällig für Verwicklungen ist und dass es gerade einer gelassenen, reflexiven Haltung im Umgang damit bedarf“ (Helsper 2007: 570). Diese reflexive Haltung dürfe dann aber nicht nur allgemeinen Kriterien folgen, sondern müsse von Einzelfall zu Einzelfall neu betrachtet, individuell bestimmt werden und sei demnach nicht generalisierbar.
Helsper (2007) nimmt auch Stellung zu Baumert und Kunters zentraler Kritik des vermeintlichen Therapieverständnisses von Unterricht bzw. des „therapeutisch-prophylaktischen“ (Oevermann 1996: 142) Ansatzes, räumt Lehrpersonen ebenfalls (wie Baumert/Kunter 2006) eine hohe Bedeutung im Rahmen von schulischer Wissensvermittlung ein, stellt aber dennoch klar, dass Lehrende außerdem dafür verantwortlich seien, einen Bildungsprozess zu begleiten, bei dem die Schülerinnen und Schüler „noch nicht zwischen diffuser und spezifischer Handlungslogik unterscheiden und die Bedeutung des Lehrers nicht spezifisch eingrenzen“ (Helsper 2007: 568). Gleichzeitig vertrete der strukturtheoretische Ansatz „keine generalisierten Erziehungserwartungen“ (ebd.: 569), dennoch müsse das diffuse Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, die nach Helsper nicht strukturbedingt, sondern pädagogisch sei (ebd.: 569), ständig „reflektiert und begrenzt werden“ (ebd.: 569). Daher sei das Fallverstehen im strukturtheoretischen Verständnis keine grundlegend therapeutische, d.h. biographisch-individuelle Aufarbeitung, sondern „die Rekonstruktion konkreter Schul- und Unterrichtsszenen“ (ebd.: 571).
Helspers Replik unterstellt Baumert/Kunter (2006) ein weitreichendes Missverständnis und eine falsche Darstellung des strukturtheoretischen Ansatzes sowie wenig Innovation in der Darstellung ihres eigenen Ansatzes (s. kompetenztheoretischer Bestimmungsansatz im nächsten Kapitel), der nach Helsper primär „Ansätze der Expertise- und Lehrerforschung [systematisiert]“ (Helsper 2007: 574). Er sieht im Versuch eines Vergleichs in diesem Modell verschiedener Konzeptionierungen von Wissen auch durchaus Anknüpfungspunkte für die strukturtheoretische Position, welche von anderen bereits aufgezeigt wurden, „von Baumert und Kunter aber weitgehend übergangen [werden]“ (ebd.: 574). Trotzdem empfiehlt Helsper auf Grundlage von Baumert/Kunter (2006) eine Erweiterung der strukturtheoretischen Position insbesondere dahingehend, „die Antinomie von Person und Sache“ (ebd.: 576), d.h. das eigentliche Unterrichten, sowie „den Erwerb und die Handlungsrelevanz ‚kasuistischen Wissens‘“ (ebd.) stärker in den Fokus zu stellen, was bis zu dem Zeitpunkt nur in geringem Maße umgesetzt worden sei.
Trotz der Kritik an Oevermanns strukturtheoretischer Sichtweise und Helspers Unternehmung, die in seinen Augen oft falsch rezipierten Grundannahmen in ein rechtes Licht zu rücken, verstehen viele weitere Pädagoginnen und Pädagogen schulisches und unterrichtliches Handeln als durch Strukturen bestimmt, schwächen Oevermanns und Helspers möglicherweise drastische Sichtweise aber ab, integrieren besonders Sachinhalte oder sehen andere Aspekte des Lehrerhandelns strukturtheoretisch als professionalisierungsbedürftiger als die Lehrer-Schüler-Interaktion. Professionelles Handeln im Rahmen eines strukturtheoretischen Ansatzes ist folglich zwar primär mit Wissens- und Normenvermittlung verknüpft, versteht sich in der pädagogischen Praxis aber auch in der Diskussion und Interpretation der durch die vorgegebene Struktur und den dadurch vorliegenden Antinomien entstehende Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen/Schülern sowie den Unterrichtsgegenständen. Die Rollen, die die Akteure im Unterrichtsgeschehen einnehmen, sind hier zentral und daher von den Positionen und ihren Begründungen oft auf zwei Personen (Lehrperson – Lerndende/r) beschränkt, während Unterrichtsalltag meist die Interaktion einer Gruppe oder der Lehrperson mit einer Gruppe darstellt. Der strukturtheoretische Ansatz verfolgt demnach hier einen ständigen Dialog zwischen den handelnden Personen auf verschiedenen Ebenen und sieht Professionalisierungsbedürftigkeit darin, die persönliche Integrität der Klienten im Bildungsprozess – oder trotz des Bildungsprozesses – insbesondere auch durch Zwänge und Vorbestimmungen der Institution Schule und anderer formaler Vorgaben zu wahren (vgl. Hericks 2009).
Kompetenztheoretische Ansätze beziehen sich in der Regel auf die ursprüngliche Definition von Weinert, welche auch im Rahmen der Kompetenzorientierung in Schulen nach PISA verbreitet die Grundlage für didaktisch-methodische Überlegungen und Standardentwicklung geboten hatte. Nach Weinert (2001b) versteht man unter Kompetenzen die
bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (ebd.: 27f.).
Folglich liegt in einer Kompetenzorientierung nach Weinert der Fokus auf dem Lösen eines Problems bzw. einer Problemstellung, welche/s spontan im Handeln auftritt, bewusst in einem Lehr-/Lernprozess aufgeworfen wird und dann für diesen Prozess genutzt werden kann. Die Kompetenzen zum Lösen dieser Problemstellungen werden jedoch grundsätzlich als erlern- bzw. vermittelbar herausgestellt.
Die oben bereits aufgeführte Kritik Baumert und Kunters (2006) am strukturtheoretischen Ansatz hat deren Sichtweise bereits in Grundzügen insofern verdeutlicht, als dass sie die Unplanbarkeit und Antinomien des Lehrer*innenhandelns als solche nicht als zentral sehen, sondern erlern- und ausbaubare Kompetenzbereiche definieren in Anlehnung an die Arbeiten zum professionellen Wissen von Shulman (1986, s.u.) und Bromme (1992) sowie zur Kompetenzdiagnostik in Schule, wie sie Weinert (2001b) geprägt hat, um letztlich das Lehrerhandeln kompetenztheoretisch zu bestimmen (vgl. auch Helmke 2015). Letzteres ist dann erfolgreich, wenn „es Lehrkräften gelingt, Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern zu initiieren und zu unterstützen, sodass die schulischen Lernziele erreicht werden“ (Baumert/Kunter 2011: 30). Baumert und Kunter räumen zwar ein, dass das Lehrerhandeln tendenziell unsicher und nicht standardisierbar ist,
[daraus] folgt jedoch weder, dass die persönlichen Voraussetzungen, die notwendig sind, um in dieser Situation erfolgreich zu handeln, nicht beschrieben werden könnten, noch, dass diese Voraussetzungen grundsätzlich nicht erlernbar oder vermittelbar seien. (ebd.)
Hierdurch wird im kompetenztheoretischen Bestimmungsansatz vornehmlich Wert auf „die empirische Erforschbarkeit des komplexen unterrichtlichen Geschehens“ (Terhart 2011: 207) gelegt, professionelles Handeln wird mitsamt seiner Fundamente in Wissen und Kompetenzen für Lehrerinnen und Lehrer im Großen und Ganzen erlernbar. Mit in das kompetenztheoretische Feld – von einem weiten Kompetenzbegriff ausgehend – einbezogen werden daher auch Expertiseansätze, die vor allem die pädagogisch-psychologische Forschung zu Lehrkräften seit den 80er Jahren prägen, häufig in der Diskussion um Lehrerprofessionalitätsansätze aber separat betrachtet werden. Zentral innerhalb des Expertiseansatzes ist der Fokus auf Wissensbestände und Routinen, die sich über den Ausbildungs- und Tätigkeitsverlauf vom Novizen hin zum Experten über mehrere Stufen entwickeln (vgl. z.B. Bromme 1992, Berliner 1988). Rekurrierend auf verschiedene Kompetenzdefinitionen und Wissensforschung innerhalb des Novizen-Experten-Paradigmas wird dem folgend im Rahmen der einflussreichen COACTIV-Studie die professionelle Kompetenz für Mathematiklehrkräfte modelliert: Professionelle Kompetenz besteht in COACTIV aus den vier Bereichen „Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele“, „Motivationale Orientierungen“, „Selbstregulation“ sowie Professionswissen (s. Abbildung 2; vgl. Baumert/Kunter 2006, 2011). Letzteres übernimmt in seiner Untergliederung die Wissensdomänen von Shulman (1986) als Kompetenzbereiche und ergänzt diese um das Organisationswissen sowie das Beratungswissen, jene werden in der Übersicht jedoch zunächst nicht weiter aufgeschlüsselt.
Modell professioneller Handlungskompetenz – Professionswissen (Baumert/Kunter 2006: 482).
Die Diskussion um pädagogisches Wissen und Wissensdomänen maßgeblich beeinflusst haben zwei Jahrzehnte zuvor die Arbeiten von Shulman (1986, 1987). Er arbeitet heraus, dass noch im 19. Jahrhundert das Handeln und die Qualifikation von Lehrkräften maßgeblich durch ihr Inhaltswissen („knowledge of content“; Shulman 1986: 7) geprägt war, während zur Zeit seiner Beiträge in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts primär Fragen des Classroom managements im Fokus von Praxis und Forschung geraten waren. Dadurch sei in den Hintergrund gerückt, woher das Wissen der Lehrkräfte stamme und wie sie ihr unterrichtliches Handeln mit Fachwissen begründen oder auch in welchem Verhältnis es zu allgemein-pädagogischem Wissen steht. 1987 führte er die folgenden Wissensbereiche als essentiell für das Lehrerhandeln auf (vgl. Shulman 1987: 8):
Fachwissen (content knowledge),
allgemein-pädagogisches Wissen (general pedagogical knowledge),
curriculares Wissen (curriculum knowledge),
fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge),
Wissen über Lernende und ihre Eigenschaften (knowledge of learners and their characteristics),
Wissen über pädagogische Kontexte (knowledge of educational contexts),
Wissen über pädagogische Ziele und Werte (knowledge of educational ends, purposes, and values, and their philosophical and historical grounds).
Um die Bedeutung der Verknüpfung zwischen Fach- und fachdidaktischem Wissen wiederherzustellen, gestand Shulman in seiner Konzeption einer pädagogischen Wissensbasis dem fachdidaktischen Wissen einen großen Raum ein. Er prägte damit die Idee des Pedagogical content knowledge. Dieses Wissen beinhaltet für Shulman dementsprechend nicht nur die bedeutendsten fachwissenschaftlichen Konzepte eines Unterrichtsfaches, sondern auch umfängliches Wissen über dessen methodisch-didaktische Zugänge, zugeschnitten und möglichst variabel einsetzbar für verschiedene Zielgruppen von Lernenden (d.h. verschiedene Altersstufen, Vorkenntnisse, Ziele).1 Grob strukturiert wird dieses Wissen durch curriculares Wissen, welches durch Vorgaben bestimmte Inhalte und Themen vorgibt, wodurch wiederum den Lehrkräften diverse Materialien zur Verfügung stehen, welche sie möglichst flexibel, begründet über ihr fachdidaktisches Wissen, einsetzen (vgl. Shulman 1986, 1987).
Als eine der Wissensgrundlagen in der universitären Lehrerbildung dient primär (erziehungs-)wissenschaftliches Wissen, welches jedoch nicht direkt auf die Praxis übertragen werden kann (vgl. Radtke 1996, Neuweg 2004/2014). Hierdurch wird das vielzitierte Theorie-Praxis-Problem häufig von Seiten der Lehramtsstudierenden aufgeworfen, da ein Anwendungsbezug im Sinne eines reflektierenden Transformierens von Wissen nicht erfolgt.
Bezüglich der innerhalb von Lehrerbildung gültigen, vermittelten, oder besser: putativ vermittelbaren, Wissensstrukturen wird demnach hinterfragt, welche Wissensbestände tatsächlich für die Praxis wirksam sein können. Im Gesamtzusammenhang von Wissensforschung und wissenssoziologischen Ansätzen, die dann das Wissen von Lehrkräften (und die Umsetzung dessen in praktischem Handeln) untersuchen, wird gerade dann die Bedeutung impliziten Wissens wiederholt herausgestellt, da wissenssoziologisch davon ausgegangen wird, dass gerade implizites Wissen als handlungsleitend gilt (vgl. Mannheim 1964, Bohnsack 2017). Auch im Anschluss an Polany (2016) betont Neuweg (2004, 2014) wiederholt, dass Professionelle auf impliziter Ebene mehr wissen, ebenfalls routiniertes Handlungswissen entwickelt haben, als sie explizit zu formulieren im Stande wären (vgl. auch Shulman 1987). Er definiert innerhalb dreier Kategorien von Lernen, Wissen und Handeln drei Begriffe von Lehrerwissen (s. Abbildung 3; vgl. Neuweg 2014), von denen erstes gewissermaßen das (universitäre, fachliche, fachdidaktische und pädagogische) Ausbildungswissen darstellt, das „gelernt“ werden kann, gleichzeitig aber durch Erfahrungslernen geprägt ist und wird. Dieses Wissen wiederum formt sich im zweiten Wissenskonzept als mentale Struktur und „psychologisches Konstrukt“ (ebd.: 584): Hier formieren sich explizites und implizites Wissen, informiert und prägt sich gegenseitig, ist aber – wie angedeutet – insbesondere auf impliziter Ebene nicht direkt greifbar. Beide Wissensformen wiederum können sich im Handeln, „Wissen 3“ nach Neuweg (vgl. Abbildung 3), und hier in bestimmten Handlungsepisoden äußern, welche sich im Sinne eines Könnens zeigen, welches aber dann empirisch hingegen von außen mittels anderer Wissensbestände von Forschenden rekonstruiert und interpretiert wird.
Konzepte des „Lehrerwissens“ (Neuweg 2014: 585).
Lehrer*innenwissen ist folglich nicht nur ein komplexes Konstrukt, es ist zudem für Forschung nur schwer greifbar, was wiederum Lehrerbildung und Lehrerprofessionalisierung im Bereich des Herausarbeitens oder Förderns von Professionswissen vor Herausforderungen stellt: „Beim Lehrerwissen in diesem Sinne [Wissen 3; Anmerkung D.G.] handelt es sich aber nicht um das Wissen des Lehrers, sondern um das Wissen des Forschers, der die Logik des Handelns (!) von außen rekonstruiert.“ (ebd.: 585; Hervorhebung im Original) Für Neuweg ist dementsprechend das Theorie-Praxis-Problem die Differenz zwischen Wissen 1 und 3, gleichzeitig betont er, dass für alle drei Wissensformen aus inhaltlicher (lehrerbildender) wie empirischer Perspektive bislang nur unbefriedigende Ergebnisse vorliegen – trotz großer Erhebungen sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Forschungsparadigma und ebenso besonders im Umgang mit der Wissenskonzeptbildung und definitorischer (Un-)Schärfe: „Die Lehrerwissensforschung umgeht das Problem bisweilen rhetorisch.“ (ebd.: 600) Hierdurch verschwimmen für Neuweg viel zu häufig die Grenzen zwischen Wissen, Kompetenz, Handeln und Können.
Außerdem gilt über verschiedene professionelle Wissensbestände und Kompetenzen auch: „Professionalität im Lehrerberuf meint mehr als das Erreichen eines bestimmten Niveaus an professioneller Handlungskompetenz.“ (Cramer 2012: 520) Aus diesem Grund werden innerhalb des kompetenztheoretischen Bestimmungsansatzes in der Regel ebenfalls lehrerpersönlichkeitsrelevante Aspekte herausgestellt, finden sich wieder z.B. in den Modellierungen von Baumert/Kunter (2006, 2011) sowie bei Helmke (2015) mitsamt Überzeugungen, Haltungen und Glaubenssätzen (Beliefs), welche wiederum Handeln beeinflussen (können).2 Diese wiederum werden – und das wird auch von Vertreterinnen und Vertretern innerhalb des kompetenztheoretischen Ansatzes geteilt – durch persönliche (berufs-)biographische Erfahrungen maßgeblich geprägt und leiten damit hier über zu einem weiteren, möglichen Bestimmungsansatz für Lehrerprofessionalität und -professionalisierung.
Von erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung ausgehend, dass „Erziehung und Bildung grundsätzlich im Kontext von konkreten Lebensläufen stattfindet“ (Marotzki 1999: 327), wird in einem berufsbiographischen Bestimmungsansatz von Lehrerprofessionalität zentral gestellt, dass diese als „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart 2001: 56) zu konzeptualisieren sei, welches einer Bearbeitung und reflexiven Einholung bedarf (vgl. auch Kunze/Stelmaszyk 2008). Durch eine von verschiedenen Phasen geprägte, gleichzeitig von eigenen früheren Schulerfahrungen beeinflusste Tätigkeit (vgl. z.B. Lortie 1975), die mit ständigen Herausforderungen, nötigen Entwicklungen und unabwendbaren Krisen behaftet ist, bedeutet professionelles Lehrerhandeln, sich dieser Erfahrungen, Brüche, aber auch dem eigenen Wissen und Können bewusst zu werden und sie entsprechend professionell zu bearbeiten.
Nicht selten werden folglich innerhalb der Biographien von Lehrerinnen und Lehrern Phasen oder charakteristische Abläufe vermutet, die teilweise mit den oben bereits angesprochenen Kompetenzzuwächsen von Novizen zum Experten einhergehen (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1986, Bromme 1992) oder eher Sozialisations- oder Identitätsfindungsprozesse beschreiben. Für erstere ist eine Unterscheidung in drei Phasen nicht unüblich, bei der zunächst eine Survival stage das Überleben im Klassenraum darstellt, welche durch die Bewältigung vielfältiger didaktisch-methodischer Herausforderungen zur Mastery stage führen kann und letztlich – nach Ausbildung von sicheren Routinen – ein Lehrerhandeln auf der Routine stage beschreibt (vgl. Fuller/Brown 1975). Ein für den zweiten Typus zur Klärung lehrpersonencharakteristische Lebensverläufe gängiges – und auch das einschlägigste – Modell ist jenes von Sikes et al. (1985): Sie beschreiben basierend auf berufsbiographischen Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern ein Entwicklungsmodell, welches ebenfalls durch ein gewisses „Überleben“ im Praxisschock innerhalb der ersten Berufsjahre gekennzeichnet ist, sich dann gewissermaßen stabilisiert, ein Plateau bildet, innerhalb dessen weniger innovative Konzepte von Seiten der Lehrpersonen neu implementiert werden, und letztlich innerhalb der letzten zehn Jahre ein steter Rückzug aus dem Beruf einsetzt. Die Autorinnen und der Autor betonen jedoch, dass dieser Verlauf zwar für ihr Sample charakteristisch sei, dass dies jedoch nicht bedeute, dass zwingend alle Lehrerinnen und Lehrer auch in dieser Rigidität – und mit abnehmender Innovationskraft – ihren Beruf durchlebten.
Es liegt in der Natur von Stufen- oder Phasenmodellen, dass ihre vermeintliche Starrheit häufig kritisiert wird. Dementsprechend betonen insbesondere Sikes et al. (1985), dass ihr Modell nicht in dieser unflexiblen Struktur zu sehen sei, sondern vielmehr das Potential hat, unterschiedliche Anforderungen in verschiedenen Phasen transparent machen. Auch zeigt sich in berufsbiographischer Forschung, dass weniger die als stabil zu bezeichnenden Phasen als prägend zu charakterisieren sind, sondern eher jene, an denen Brüche stattfinden bzw. Übergänge gestaltet oder bewältigt werden müssen (vgl. Herzog 2014). (Berufs-)Biographische Verläufe und deren Rekonstruktion macht sich hier insbesondere auch die Bildungsgangforschung im Kontext von Lehrerprofessionalisierung zu eigen, wenn sie in Rückgriff auf Havighurst (1972) sogenannte Entwicklungsaufgaben für Lehrerinnen und Lehrer in verschiedenen Phasen identifiziert. Hericks (2006) beschreibt beispielhaft im Anschluss an eine eigene, vorherige Konzeptualisierung mit Ingrid Kunze (vgl. Hericks/Kunze 2002) vier zentrale Entwicklungsaufgaben für den Kontext des Berufseinstiegs von Lehrerinnen und Lehrern, die von den „neuen Lehrkräften“ bearbeitet werden: Rollenfindung als Lehrperson, Vermittlung von fachbezogenen Inhalten, Anerkennung/Führung von Lernenden sowie Kooperation innerhalb der Institution Schule. Havighurst (1972) definiert Entwicklungsaufgaben – ursprünglich primär an Lernenden orientiert, aber auf weitere Lebensphasen transferierbar – wie folgt:
A developmental task is a task which arises at or about a certain period in the life of the individual, successful achievement of which leads to his happiness and to success with later tasks, while failure leads to unhappiness in the individual, disapproval by the society, and difficulty with later tasks. (ebd.: 2)
Die von Hericks identifizierten Entwicklungsaufgaben von berufseinsteigenden Lehrerinnen und Lehrern beziehen bildungsgangtheoretische Annahmen1 ein und können damit – im Gegensatz zu den zunächst sehr gegensätzlich wirkenden, oben bereits vorgestellten anderen beiden Bestimmungsansätzen – als ein Mittelweg von strukturtheoretischer Deutung gesehen werden, da eine gewisse Krisenhaftigkeit und Unvorhersehbarkeit als dem Lehrberuf genuin angesehen wird. Gleichzeitig berücksichtigt die Bildungsgangtheorie die Potentialität von Kompetenzentwicklung (vgl. Baumert/Kunter 2006), auch im Anschluss an Wissensformen nach Shulman (1986) oder Expertiseansätze (z.B. Bromme 1992).2
Entwicklungsaufgaben sind dergestalt, dass sie die Lehrerinnen und Lehrer nicht als hilflos Erleidende gewisser Umstände wie des herausfordernden Berufseinstiegs zurücklassen, sondern dass Lehrpersonen sich berufsbiographisch und identitätsbildend aktiv in einer bewussten, reflexiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, dem Nutzen eigener Ressourcen wie Wissen und Kompetenzen sich diesen Entwicklungsaufgaben stellen. Sie sind in diesem Sinne „unhintergehbar“ (Hericks 2006: 60), wenn Lehrerinnen und Lehrer eine Weiterentwicklung, Professionalisierung erleben wollen, „wenn es zu Progression von Kompetenz und zur Stabilisierung von Identität kommen soll“ (ebd.).
Forschung innerhalb des berufsbiographischen, bildungsgangtheoretischen Bestimmungsansatzes zielt darauf ab, Handlungspraxis, kollektive Erfahrungen bzw. Habitūs3 von Lehrerinnen und Lehrern zu verschiedenen Zeitpunkten des Ausbildungs- oder Berufslebens, „biographisch und gesellschaftlich vorgeformte Handlungsdispositionen“ (Keller-Schneider/Hericks 2014: 391), in verschiedenen Kontexten greifbar zu machen. Hieran anschließend können auf Grundlage der erhobenen, berufsbiographischen Anforderungen Empfehlungen zur Optimierung von lehrerbildenden Strukturen in allen Phasen sowie zur reflexiven Anleitung und Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben in Beratungs- und Ausbildungszusammenhängen (z.B. im Vorbereitungsdienst) erarbeitet werden. D.h. der berufsbiographische Bestimmungsansatz von Lehrerprofessionalität bezieht gezwungenermaßen immer auch lehrerbildende Strukturen und Inhalte in seine (Re-)Konstruktion mit ein, selbst wenn sie – in der Regel – keine Wirksamkeitsforschung betreibt, sondern vielmehr Handlungspraxis und Anforderungen in je individueller oder kollektiv geteilter Wahrnehmung und Bearbeitung herausstellt. Bemerkenswert ist in der Gesamtschau der berufsbiographischen Forschung zum Lehrer*innenberuf, dass selten die Entwicklungen und Verläufe von Fachlehrkräften in den Blick genommen werden bzw. – wenn ein Sample eine bestimmte Fachlichkeit vertritt – diese kaum berücksichtigt wird (vgl. Kunze/Stelmaszyk 2008).
Obwohl bis in die 2000er Jahre kaum empirische Forschung hinsichtlich der Frage vorlag, inwiefern die Qualität der Lehrkraft, ihre „Professionalität“, Auswirkungen auf Unterricht und die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler hat, ist dies besonders im Zuge der letzten zwanzig Jahre in verschiedenster Hinsicht bearbeitet worden. Die empirische Bildungsforschung interessiert hier, meist einem quantitativen Forschungsparadigma folgend, Professionswissen und -kompetenzen sowie ihre Modellierung, auch vor allem ihre Wirkung auf Seiten von Unterricht, d.h. auf Lernende, während eher mit einer qualitativen Brille in soziologischer, d.h. strukturtheoretischer oder berufsbiographischer Hinsicht der Erhebung von Anforderungen beruflicher Praxis bzw. der Frage, was professionelles Lehrer*innenhandeln überhaupt konstituiert, weiterhin stark explorativ nachgegangen wird. Die hier überblicksartig dargestellten Bestimmungsansätze von Lehrerprofessionalität schließen sich nicht in der Drastik aus, wie es die Kritik von Baumert und Kunter (2006) gegenüber der strukturtheoretischen Deutung nach Oevermann (1996, 2002) und Helsper (2001, 2004b, 2007) vermuten lässt. Nicht verwunderlich ist in dieser Gesamtschau, dass – zunächst rein oberflächlich betrachtet – die Zusammenfassung des berufsbiographischen Bestimmungsansatzes am kürzesten ausfällt, verknüpft er doch, insbesondere unter Einbezug der Bildungsgangtheorie und des Konzepts von Entwicklungsaufgaben (vgl. Trautmann 2005, Hericks 2006), wichtige Annahmen und Konstrukte, die in den beiden anderen Ansätzen bereits enthalten sind, und verbindet diese logisch, um schwerpunktmäßig die Bedeutung von Herausforderungen im Berufsverlauf explorativ greifbar zu machen. So lassen sich Bildungsgang und Entwicklungsaufgaben auch begreifen als ein Erkennen und Bearbeiten von Fällen, Krisen und Antinomien im eigenen Handeln (strukturtheoretisch), parallel dazu im „kompetenten Umgang“ mit ihresgleichen bzw. dem Kompetenz-/Wissenserwerb zur Bearbeitung derselben (kompetenztheoretisch) unter steter, reflexiver (und prospektiver) Berücksichtigung der eigenen (Vor-)Erfahrungen (berufsbiographisch). Wenn der kompetenzorientierte Bestimmungsansatz empirisch das „Wie“ professionellen Handelns erheben möchte, beschäftigt sich der strukturtheoretische Ansatz mit dem „Was“ von krisenhaften, schulischen Interaktionsprozessen, welche über den berufsbiographischen Ansatz relationiert und in einen Reflexionsprozess überführt werden können.
In dieser latent von Unsicherheit begleiteten Konstruiertheit von Lehrer*innenbildung, die zudem innerhalb von Institutionen (Universität, Studienseminar) sowie Schule stattfindet, mitsamt dem Versuch von Forschung, Kompetenzen und Wissen standardisier- und in Performanz messbar zu machen, wird unter der Rahmung der Berufsbiographie wiederholt das Konzept des Habitus in Bourdieu’scher Tradition bemüht, der die biographische, aber auch strukturtheoretische Komponente des Individuums mit den gesellschaftlich gewachsenen Handlungsdispositionen innerhalb verschiedener, institutionalisierter Felder, hier: diejenigen der Lehrperson, zu beschreiben versucht (vgl. z.B. die Beiträge in Kramer/Pallesen 2019). Habitūs treten als sozial und institutionell geprägte und übertragbare „strukturierte Strukturen“ (Bourdieu 1987: 98) hervor, die für die Professionellen Handlungsstrukturen bereithalten, gleichzeitig gestalten sie das Handeln der Person(en) als „strukturierende Strukturen“ (ebd.), jedoch „ohne bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung“ (ebd.: 99)1 und sind damit in soziale Felder, wie Bourdieu die Kontexte nennt, mit ihren je spezifischen Strukturen und Anforderungen eingebunden. Die Herausbildung eines Habitus über die individuelle Biographie und die sich daraus ergebende Handlungspraxis lässt sich – natürlich nicht ohne Einschränkungen – in seiner Auseinandersetzung mit normativen Setzungen innerhalb verschiedener Phasen beschreiben und bewerten (vgl. Bonnet/Hericks 2019). Auch kann das Konstrukt auf eine sozial wirksame Lehrerbildung, Lehrerprofessionalität und Lehrerprofessionalisierung übertragen werden, zumindest der explorativen Beschreibung von Lehrer*innenwissen und -handeln in Annäherung dienlich sein. Allerdings muss speziell aus der Perspektive der Beschreibung von Professionalisierungsprozessen hier insofern eingeschränkt werden, als dass Bourdieu selbst den Habitus als latent träge und nicht in vollem Maße mit einem Generierungsprinzip, d.h. von sich selbst heraus verändernd bzw. erneuernd konstruiert (vgl. Bourdieu 1992), sondern dass der Habitus eher durch eine Anpassung des Feldes verändert oder gebrochen werden kann.2 Dennoch ist das Konzept zur Beschreibung von Professionalität, wie oben angedeutet, dienlich. Im Hinblick auf Professionalisierungspotentiale wird es dann fruchtbar, wenn z.B. im bildungsgangtheoretischen Sinne Entwicklungsaufgaben konstruiert bzw. Entwicklungspotentiale innerhalb eines Habitus rekonstruierbar und Habitustransformationen über berufsbiographische Prozesse hinweg erkennbar werden (vgl. z.B. Hericks 2006).3