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Masterarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Russistik / Slavistik, Note: 1,7, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Slavistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Die russische Literatur ist zum Anfang des 20. Jahrhunderts sehr vielfältig. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts beginnt weltweit eine neue literarische Epoche nach französischem Vorbild. Für den russischen Symbolismus ist die griechisch-römische Antike eine wichtige Grundlage, bei der „die Symbolisten den Mythos als Rückkehr zum Ursprung und zur Urerfahrung der Menschheit“ verwenden. Innokentij Annenskij wird erstmals als Übersetzer bekannt, der zunächst die Dramen des Euripides für seinen modernen Leser verständlich machen möchte. Seine dichterische Seite bleibt nur einem kleinen Kreis der Dichter vorbehalten. [...] So entsteht eine Theorie der Symbolisten, wie zum Beispiel Vladislav Chodasevič oder Vjačeslav Ivanov, das Annenskij die übersinnliche Vollständigkeit des Lebens nicht sehen kann und deshalb kein Gefühl für das menschliche Leben hat. Aber auch wenn sehr viele Gedichte bei Annenskij mit der Darstellung des Todes enden, bedeutet dies nicht, dass er im Leben keinen Sinn sieht. Die Künste sind ein untrennbarer Teil des Lebens für ihn, denen er viel Zeit widmen möchte. [...] Anhand oben beschriebene Passage kann man erkennen, wie widersprüchlich seine Wahrnehmung vom Leben ist. Auf der einen Seite versteht er, wie wichtig die Betrachtung der Kunst ist, auf der anderen Seite glaubt er nicht daran, dass er einen Moment finden könnte, den er als wunderschön empfindet. [...] Das Zitat aus dem Brief zeigt seine Einstellung zum Leben, die keine Eindeutigkeit besitzt. Auch seine Dichtung weist keine eindeutige Thematik auf. Man findet in seinen Gedichten viele unterschiedliche Themen, wie zum Beispiel „Tragische Existenz der Menschen“, „Glücksuche“, „Gegenüberstellung vom Mensch und Dichter“, „Darstellung der Natur“, „Liebe“, „Schlechtes Gewissen gegenüber der Gesellschaft“, „Bedeutung der Kunst“, aber auch „Verarbeitung unterschiedlicher Philosophien“. In der vorliegenden Arbeit wird der Akzent auf den Begriff und das Bild vom Leben gelegt. Als Ziel hat diese Arbeit die verschiedenen Darstellungen vom Leben in der Lyrik Annenskijs herauszuarbeiten. Bei der Analyse des menschlichen Daseins soll nicht das Thema „Tod“ als Ausgangspunkt gelten, wie es in der Sekundärliteratur oft gemacht wird. Bevor hier die Hauptthematik dieser Arbeit beginnt, soll ein Einblick in seine Themen gegeben werden, wobei auf den Kontext der Epoche geachtet wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
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Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Einblick in die Themen der Dichtung Annenskijs
3. Der Begriff und das Bild vom „Leben“ in Annenskijs Dichtung
3.1 Das qualvolle Leben
3.2 Das kostbare Leben – Zwiespalt zwischen Verschwendung und Enttäuschung
3.3 Das mechanische Leben
3.4 Das Leben in Grenzsituationen
3.5 Der allgegenwärtige Tod im Leben
3.6 Das Leben nach dem Tod
4. Schlussfolgerung
5. Literaturverzeichnis
Die russische Literatur ist zum Anfang des 20. Jahrhunderts sehr vielfältig. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts beginnt weltweit eine neue literarische Epoche nach französischem Vorbild.[1] Für den russischen Symbolismus ist die griechisch-römische Antike eine wichtige Grundlage, bei der „die Symbolisten den Mythos als Rückkehr zum Ursprung und zur Urerfahrung der Menschheit“[2] verwenden. Innokentij Annenskij wird erstmals als Übersetzer bekannt, der zunächst die Dramen des Euripides für seinen modernen Leser verständlich machen möchte.[3] Seine dichterische Seite bleibt nur einem kleinen Kreis der Dichter vorbehalten. Auch die erste und einzige Gedichtsammlung zu seinen Lebzeiten wird unter dem Pseudonym „Ник.Т-о“ herausgebracht: „eine Anspielung auf das homerische »Outis«, mit dem Odysseus sich dem Zyklopen Polyphem vorstellte.“[4] Der Autor möchte damit die Aufmerksamkeit der Leser auf die Dichtung lenken und nicht auf die Person, die diese Sammlung erschaffen hat.
Seine Zeitgenossen können sich zu seinen Lebzeiten kein vollständiges Bild über seine Dichtung machen, denn seine zweite Gedichtsammlung wird nicht vor seinem Tod herausgebracht. Der Inhalt dieses Buches komplettiert seine Lyrik und ihre Thematik.[5] So entsteht eine Theorie der Symbolisten, wie zum Beispiel Vladislav Chodasevič oder Vjačeslav Ivanov, das Annenskij die übersinnliche Vollständigkeit des Lebens nicht sehen kann und deshalb kein Gefühl für das menschliche Leben hat.[6] Aber auch wenn sehr viele Gedichte bei Annenskij mit der Darstellung des Todes enden, bedeutet dies nicht, dass er im Leben keinen Sinn sieht. Die Künste sind ein untrennbarer Teil des Lebens für ihn, denen er viel Zeit widmen möchte. In einem Brief an seine Frau schreibt er während einer Reise, dass es ihm sehr leid tut, wie wenig Zeit er sich für die schönen Sachen nehmen kann, denn der hektische Alltag lässt dies nicht zu. Somit entsteht das Gefühl bei ihm, dass sein Leben nicht ausgefüllt wird:
„Монументы, церкви, картины – все это обогащает ум. Я чувствую, что стал сознательнее относиться к искусству, ценить то, что прежде не понимал. Но я не чувствую полноты жизни. В этой суете нет счастья. Как несчастный, осужденный всю жизнь искать голубого цветка, я, вероятно, нигде и никогда не найду того мгновенья, которому бы можно сказать: «остановись – ты прекрасно».[7]
Anhand dieser Passage kann man erkennen, wie widersprüchlich seine Wahrnehmung vom Leben ist. Auf der einen Seite versteht er, wie wichtig die Betrachtung der Kunst ist, auf der anderen Seite glaubt er nicht daran, dass er einen Moment finden könnte, den er als wunderschön empfindet. Weiterhin schreibt er, dass er sich immer und überall langweilt: „[…] и все-таки ты знаешь, что я всегда и везде томлюсь.“[8]
Das Zitat aus dem Brief zeigt seine Einstellung zum Leben, die keine Eindeutigkeit besitzt. Auch seine Dichtung weist keine eindeutige Thematik auf. Man findet in seinen Gedichten viele unterschiedliche Themen, wie zum Beispiel „Tragische Existenz der Menschen“, „Glücksuche“, „Gegenüberstellung vom Mensch und Dichter“, „Darstellung der Natur“, „Liebe“, „Schlechtes Gewissen gegenüber der Gesellschaft“, „Bedeutung der Kunst“, aber auch „Verarbeitung unterschiedlicher Philosophien“. In der vorliegenden Arbeit wird der Akzent auf den Begriff und das Bild vom Leben gelegt. Als Ziel hat diese Arbeit die verschiedenen Darstellungen vom Leben in der Lyrik Annenskijs herauszuarbeiten. Bei der Analyse des menschlichen Daseins soll nicht das Thema „Tod“ als Ausgangspunkt gelten, wie es in der Sekundärliteratur oft gemacht wird. Bevor hier die Hauptthematik dieser Arbeit beginnt, soll ein Einblick in seine Themen gegeben werden, wobei auf den Kontext der Epoche geachtet wird.
Innokentij Annenskijs Werke werden zur Epoche des russischen Symbolismus gezählt. Sehr oft wird diese Zuordnung mit der Zeit, in der er gelebt hat (1855-1909), verbunden. Der russische Symbolismus wird in zwei Generationen aufgeteilt, die Ältere und die Jüngere. Bei beiden Generationen liegt die Weltvorstellung zu Grunde, die zur Platonischen Lehre zurückführt, welche die Welt in real (physisch) und ideal (metaphysisch) unterteilt.[9]Für die ältere Generation der Symbolisten ist die ideale Welt eine Fantasie, die nur durch die Kunst erreicht werden kann: „Длястаршихсимволистовиноймир–этонекаяданность,постичькоторуюможнолишьприпомощиискусства.“[10]Die jüngeren Symbolisten behaupten, dass die ideale Welt im Gegensatz zur Realen näher an der Wirklichkeit ist: „Младшиесимволисты,ощущаютсебятеургами,призваннымитворитьиныемиры,воспринимаютихнепростокакцарствофантазии,акакнекуюреальностьболееистиннуюпосравнениюсфеноменальныммиром.“[11]Da Annenskij älter „als manche Vorläufer des russischen Symbolismus“[12]ist, kann man ihn der älteren Generation der Symbolisten zuordnen. Aber seine erste Gedichtsammlung „Тихиепесни“ erschien erst 1904. Aus diesem Grund betrachten seine Zeitgenossen, das heißt die jüngeren Symbolisten, seine Poesie, die eines unerfahrenen Dichters beziehungsweise die keines großen Dichters. So beschreibt zum Beispiel der Dichter des russischen Symbolismus Valerij Brjusov Annenskijs Gedichtsammlung „Тихиепесни“: „Этоещенепоэзия,ноужепредчувствиепоэзии,обещаниеее.“[13]Er gesteht Annenskij jedoch die gelegentliche Verwendung neuer nicht banaler Motive zu, allerdings soll nach seiner Ansicht der Autor von „Тихиепесни“ noch weiter an sich arbeiten[14], um ein echter Poet zu werden. Im Gegensatz dazu schreibt Alexander Blok, „größter Dichter der russischen Symbolisten, deren >zweiten Generation< er angehörte“[15], in einer kurzen Rezension zu Annenskijs Gedichtsammlung, dass dieser ein dichterisches Feingefühl besitzt: „Большаячастьстиховг.Ник.Т-о носит на себе печать хрупкой тонкости и настоящего поэтического чутья, несмотря на наивное безвкусие некоторых строк и декадентские излишества, которые этот поэт себе позволяет“.[16]Jedoch hat Annenskij gemäß Bloks Meinung zu viele Merkmale der Dekadenz in seinen Gedichten. Leider wird von seinen Zeitgenossen nicht erkannt, dass Annenskij nicht nur die französische Poesie verarbeitet, sondern vereinigt auch andere Richtungen in seiner Dichtung. Deswegen kann man Annenskij „weder ganz zu den Symbolisten zählen, noch ihn als blossen Mitläufer bezeichnen.“[17]Er war ein selbständiger Dichter, der nicht um Ruhm kämpft, sondern alles aufmerksam beobachtet[18]: „er stand „ausserhalb“, wusste aber sehr genau, was „drinnen“ vorging“.[19]
Annenskij schreibt in seinem Essay „über den künstlerischen Idealismus Nikolaj Gogol’s“[20]: „Насокружаюти,вероятно,составляютдвамира:мирвещейимиридей.“[21]Seit seinem Studium beschäftigt sich Annenskij mit der Antikliteratur. Daher kann man sagen, dass er sich der Idee des Dualismus „zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt“[22]bedient, was ihn den russischen Symbolisten annähert. Im Gegensatz zu den meisten Symbolisten ist für Annenskij diese Vorstellung nicht unbedingt abgeschlossen. Er stellt die Existenz der Ideenwelt immer wieder in Frage. Dieser Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit im Kapitel 3.6 beleuchtet.
Annenskij sieht die Idee des Weltdualismus zwar als Grundlage, entwickelt diese jedoch weiter: „[…]Анненский меняет аксиологические акценты, и, взрывая символизм изнутри, предвосхищает акмеистическую систему онтологических ценностей.“[23]Insbesondere sieht man dies an seiner zweiten Gedichtsammlung, die erst nach seinem Tod (1910) mithilfe seines Sohnes Valentin Krivič[24]veröffentlicht wird. Der Unterschied zu den Symbolisten wird an der Beschreibung des Himmels gezeigt, denn der Himmel ist bei Annenskij leer, tödlich oder verbrannt, was für die symbolistische Poesie nicht üblich ist.[25]
[…]
На твоем линяло-ветхом небе
Желтых туч томит меня развод.
[…]
(Ты опять со мной, S. 91[26])
In diesen zwei Versen zeigt sich, wie Annenskij den Himmel als farblos, alt, gebrechlich und abgenutzt charakterisiert.[27]Dabei fällt zusätzlich auf, dass die Wolken die Farbe Gelb haben, was nach symbolischer Charakteristik verdeutlicht, dass die Wolken krank sind. Dies könnte man aus der Wortfamilie „gelb“ (желтый), zu der auch das Wort „Galle“ (желчь) gehört, herleiten.[28]„Nach altem Glauben sitzt der Ärger in der Galle. […] Wer sich viel ärgert, wird gallenkrank. Bei starkem Ärger verkrampfen sich die Gallenwege, die Galle kann nicht mehr über den Darm abgeführt werden, sie tritt direkt ins Blut, die Haut wird gelb.“[29]Hinzu kommt, dass das lyrische Ich selbst vom Auflösen dieser kranken Wolken gequält wird.
In einem anderen Beispiel wird die Sonne, die auch als Lebensenergiespender gesehen wird und von der das ganze Leben auf der Erde abhängt, als tödlich bezeichnet:
[…]
И помертвом солнце в небе
Стонет раненая медь.
[…]
(Офорт, S.120)
In den Arbeiten von Ljubov’ Kichnej und Ljubov’ Kichneij & Natalija Tkačeva werden weitere Beispiele genannt[30], in denen der Himmel keine typischen Darstellungen des russischen Symbolismusaufweist. Dies nähert Annenskij den Akmeisten an, bei denen der Himmel auch eine ebenfalls negative Konnotation bekommt. Zu den spezifischen Merkmalen der akmeistischen Poesie wird die entwickelte Poetik der kulturellen Rezeption gezählt[31]: „Однако,определениеакмеизмакак«тоскипомировойкультуре»предполагаетнахождениемеханизмапереносатекстовчужойкультурынарусскуюкультурнуюпочву“[32]. Innokentij Annenskij beschäftigt sich sehr ausführlich mit der Antikliteratur sowie -philosophie und glaubt fest daran, dass der Hellenismus die Wiedergeburt auf russischem Boden erleben wird, weil die russische Sprache dafür feinfühlig sei.[33] Die griechische Lebenseinstellung greift „auf Goethe als Vorbild“[34] zurück. Die kommentierte Übersetzung der Tragödien von Euripides wurde zum Ziel von Annenskijs Lebens.[35] Der Dichter Osip Mandel’štam, der sich zu den Akmeisten zählt[36], schreibt:
„Всю мировую поэзию Анненский воспринимал как сноп лучей, брошенный Элладой. Он знал расстояние, чувствовал его пафос и холод и никогда не сближал внешне русского и эллинского Мира. Урок творчества Анненского для русской поэзии – не эллинизация, а внутренний эллинизм, адекватный духу русского языка, так сказать домашний эллинизм.“[37]
Annenskij nimmt den Hellenismus als Grundlage und macht diesen – wie Mandel’štam sagt – zu einem „häuslichen“ Text.[38]Im Gegensatz dazu behauptet Vjačeslav Ivanov, der „zur 2. Generation der russischen Symbolisten gehört“[39], dass Annenskij zu Euripidesʼ Nachfolger und Nachahmer geworden ist. Seine Begründung liegt darin, dass Annenskij vier Dramentitel von Euripides übernimmt und daraus Eigene gestaltet.[40] Jedoch bedeutet Annenskijs Zuwendung zu historischen literarischen Werken nicht, dass er diese nur nachzuahmen versucht. Vielmehr verbindet er die vorhandenen Themen der Werke mit modernen Richtungen der Literatur und Philosophie seiner Zeit: „Он трактовал античный сюжет в античных схемах, но, вероятно, в его пьесе отразилась душа современного человека. Это душа столь же несоизмерима классической древности, столь жадно ищет тусклых лучей, завещанных нам античной красотою.“[41]