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Zuversicht jetzt E-Book

Sara Fromm

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Beschreibung

Wenn wir nichts ändern, ändert sich nichts: Nehmen wir die Dinge (wieder) selbst in die Hand "Könnte besser sein": Das trifft mittlerweile auf so ziemlich alles zu, was in der Welt passiert. Ist es also im Grunde eh schon gelaufen? Eben nicht: Jetzt ist es erst recht wichtig, ins Handeln zu kommen. Denn um gehört zu werden, müssen wir laut sein. Protest kann dabei helfen, dass wir uns weniger allein fühlen. Und das lässt uns weitermachen. Wir brauchen Handlungsansätze, nicht noch eine Problemanalyse Ja, die Sorge um Klima, Rechtsruck etc. ist mehr als berechtigt. Aber genauso wichtig wie das Problembewusstsein ist das Vertrauen, dass sich doch etwas bewegen kann. Sara Fromm rückt die Krisenbewältigung an sich in den Fokus: Wie können wir zivilen Ungehorsam ausüben, unsere eigene Rolle finden und dabei solidarisch sein? Und: Was können wir von sozialen Bewegungen aus der Vergangenheit lernen? Mut zur Zuversicht - und zu realen Utopien Damit sich Dinge zum Guten ändern können, müssen wir mutig genug sein, uns eine andere Realität vorzustellen. Gleichzeitig geht Sara Fromm auf die Frage ein, wie wir brennen können, ohne auszubrennen: Welche Strategien gibt es, um dran- und gleichzeitig bei sich selbst zu bleiben? Was sind die Stolperfallen? Ausgestattet mit diesem Wissen können wir realistische Erwartungen entwickeln und selbstreflektiert handeln. - Raus aus der Schockstarre: Was, wenn wir uns vor all den Krisen nicht zurückziehen, sondern den Weg der Selbstermächtigung einschlagen? Überlegen wir uns konkret, wie wir Krisen aktiv überwinden können. - Mutig handeln: Sich die Dinge schönzureden, bringt nichts, und Greenwashing etc. erst recht nicht. Sara Fromm zeigt auf, welche Handlungsmöglichkeiten wir stattdessen haben, von der Überzeugungsarbeit im Gespräch bis hin zum kollektiven Erzeugen von Druck, um Entscheidungen voranzutreiben. - Laut werden - mit Strategie: Sara Fromm erzählt von ihren Erfahrungen als Aktivistin, Aktionskoordinatorin und -trainerin, aber auch davon, was wir von aktuellen und vergangenen Gerechtigkeitsbewegungen lernen können.

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Seitenzahl: 320

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Inhalt

EINLEITUNG

1.   UND WAS, WENN …? VON ZUVERSICHT UND (REAL-)UTOPIEN

2.   STATUS QUO: KLIMAKRISE UND ANDERE UNGERECHTIGKEITEN

3.   VOM UMGANG MIT GESELLSCHAFTLICHEN KRISEN: WEGE ZUR UTOPIE

Klimafatalismus versus grenzenloser Optimismus

Adaption und Resilienz: Mit den Folgen leben lernen

Mitigation: Schäden vermeiden, so gut es geht

4.   INDIVIDUUM VERSUS SYSTEM: EINE FRAGE DER VERANTWORTUNG

Individuelle Konsum- und Verhaltensänderungen

Änderungen auf struktureller Ebene

Kohärenz: Das tun, was geht

Wählen reicht nicht

5.   ZUSAMMEN STARK: GUTE GRÜNDE FÜR KOLLEKTIVES HANDELN

Weil wir sollten: Moralische Pflicht & Solidarität

Weil wir müssen: Überlebensnotwendigkeit

Weil wir viele sind: Gemeinschaftsgefühl

Weil es Mut macht: Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit

Weil es Spaß macht!

6.   SOZIALE BEWEGUNGEN UND IHRE STRATEGIEN

Merkmale sozialer Bewegungen

Was bedeutet eigentlich „Erfolg“?

Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung

Die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung

Die argentinische feministische Bewegung

Die deutsche Klimagerechtigkeitsbewegung

7.   DEMOKRATIE IST MEHR ALS WAHLEN: GEWALTFREIE AKTION UND ESKALATION

Kämpfen mit gewaltfreier Aktion

Wirkweisen: Von Dialog zu Druck

Eskalationsstufen für mehr Effektivität

Der Elefant in diesem Buch: Ziviler Ungehorsam

Noch einen Schritt weiter? Sabotage und Eskalation

Vertikale versus horizontale Eskalation

8.   REFORM, REVOLUTION ODER TRANSFORMATION: THEORIEN DES WANDELS IN SOZIALEN BEWEGUNGEN

Formale Politik als Feindin oder Verbündete?

Ein neues Demokratieverständnis

Unterschiedliche Rollen in sozialen Bewegungen

9.   EFFEKTIV VERSUS PERFORMATIV: STRATEGISCH SINNVOLL ORGANISIEREN

Kampagnen: Aktionen strategisch planen

Bündnisse: Allianzen schmieden

System Change, not Climate Change

10. EMANZIPATORISCH, UND ZWAR FÜR ALLE: DISKRIMINIERUNGSSENSIBEL AKTIV SEIN

11. UND JETZT? SELBST AKTIV WERDEN

So viele Themen und Gruppen!

Lokal, national, international – du hast die Wahl

Finde deine Rolle

Vorsicht, Stolpersteine!

Nichts dabei? Eine eigene Gruppe gründen

12. BRENNEN, OHNE AUSZUBRENNEN: LANGFRISTIG AKTIV BLEIBEN

Kapitalistische Leistungslogik im Aktivismus

Nachhaltiger Aktivismus

Individuelle Strategien

Kollektive Strategien

13. ORGANISIERT EUCH!

NACHWORT

DANKSAGUNG

GLOSSAR

LESEEMPFEHLUNGEN

ERWÄHNTE GRUPPEN UND KAMPAGNEN: EINE AUSWAHL

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Für all die stillen Held*innen von gestern, heute und morgen.

Einleitung

Es ist 3 Uhr nachts. Ich liege in meinem Zelt und starre mit offenen Augen in die Dunkelheit. Ich zittere vor Kälte. Draußen hat es maximal 5 °C und meine beiden Schlafsäcke helfen nicht, mich warm zu halten. Die Wärmflasche, die ich zwischen meine Beine geklemmt habe, ist schon fast wieder abgekühlt. Der Regen prasselt beständig auf das Zeltdach über meinem Kopf. Dieser Scheißregen! Schon seit 2 Tagen regnet es fast ununterbrochen und der Zeltplatz hat sich in dieser Zeit in eine reine Matschlandschaft verwandelt. Ein paar Zelte weiter zersägt irgendjemand einen ganzen Wald. Ruhe jetzt! Ich merke, wie mir heiße Tränen in die Augen steigen. Warum, zur Hölle, bin ich überhaupt hier? Warum liege ich mitten im Januar in einem Zelt anstatt in meinem warmen Bett? Ich fühle mich erschöpft und will einfach nur schlafen.

Irgendwann fallen mir endlich die Augen zu.

Am nächsten Morgen schäle ich mich aus meinem Zelt. Um mich herum herrscht bereits reges Treiben, denn heute findet die Großdemonstration statt, zu der Tausende von Menschen in Lützerath erwartet werden.

Am Nachmittag stehe ich nicht mit Tausenden, sondern mit Zehntausenden von Menschen vor einer großen Bühne. Mit aller Kraft rufen diese Stimmen: „What do we want? Climate Justice!“ Und spätestens da weiß ich wieder, warum ich die letzten Nächte im Regen in einem Zelt verbracht habe. Warum ich hier bin und nicht in Freiburg in meiner warmen Wohngemeinschaft vor dem Kamin. Warum ich tue, was ich tue. Immer und immer wieder.

Von Wut zu Mut

Um aus „Wut“ „Mut“ zu machen, muss man nur den ersten Buchstaben auf den Kopf stellen. Ein kleiner Handstand, der scheinbar sehr unterschiedliche Gefühle miteinander verbindet. Und um Mut geht es in diesem Buch. Grund zum Wütendsein haben wir genug: Klimakrise und Rechtsruck sind nur einige davon. Doch zuerst ist da vielleicht erst mal das Gefühl der Wut im Bauch. Oft mischt sich auch Trauer und Verzweiflung dazu – alles keine schlechten Gefühle, die Frage ist eher, was wir mit diesen Gefühlen machen können. Natürlich reicht ein sprachlicher Dreher nicht aus, um aus dem mächtigen Gefühl der Wut über den Zustand der Welt zu einem Gefühl des Mutes zu gelangen. Wir brauchen außerdem Zuversicht, dass eine andere Welt möglich ist. Und davon würde ich dir gerne mit diesem Buch eine ordentliche Portion mitgeben. So viel, dass du deine Wut – aber auch deine Traurigkeit und Verzweiflung – in Mut verwandeln kannst. Mut zu handeln.

Die Klimakrise rast auf uns zu. Ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, wie die Autos auf deutschen Autobahnen. Du fragst dich, wie wir der Klimakrise und anderen gesellschaftlichen Krisen etwas entgegensetzen können? Du hast das Gefühl, dass deine Umstellung auf Ökostrom, Biolebensmittel und Bus und Bahn nicht genug sein könnte? In deiner Nachbarschaft, deiner Stadt, gibt es Pläne für ein neues Infrastrukturprojekt, das große ökologische oder soziale Probleme mit sich bringt, und du möchtest etwas dagegen tun, weißt aber nicht genau, wie? Es fehlt an etwas, zum Beispiel an menschenwürdigen Unterkünften für Geflüchtete? Du warst schon einmal bei einem lokalen Ortsgruppentreffen und möchtest dich dort sinnvoll einbringen? Oder hast noch gar keine Berührungspunkte mit dem Aktivsein – willst das aber schleunigst ändern? Dann ist dieses Buch für dich. Denn neben einem kurzen Überblick über die Klima- und weitere Krisen, die uns gerade umgeben, will ich dir in diesem Buch vor allem Mut machen. Mut, dich zu engagieren, zu organisieren. Nach einem kurzen Abriss über die aktuelle Lage beschäftige ich mich in Kapitel 3 (ab S. 34) damit, warum den Kopf in den Sand stecken keine (gute) Option ist. In den Kapiteln 4 und 5 (ab S. 48 bzw. 66) geht es um die Notwendigkeit und Schönheit, die entsteht, wenn wir uns mit anderen Gleichgesinnten zusammentun. Um dabei nicht planlos, sondern möglichst strategisch zur Sache zu gehen, werfe ich in Kapitel 6 (ab S. 81) einen Blick auf soziale Bewegungen, wie sie Gesellschaften vorangebracht haben und auch in Zukunft weiter voranbringen werden. In Kapitel 7 bis 9 (ab S. 112) findest du einige Konzepte aus der Theorie der sozialen Bewegungen. Dabei bringe ich einige allgemeine Praxisbeispiele und aus meiner Erfahrung mit ein. Vieles davon sind Beispiele aus Deutschland, teilweise aber auch aus anderen Ländern. Erfahrungen anderer, marginalisierteri Menschen stehen im darauffolgenden, 10. Kapitel (ab S. 194) zu diskriminierungssensiblem Aktivsein im Vordergrund. Das 11. Kapitel (ab S. 204) gibt Hinweise und Ideen darauf, wie du selbst aktiv werden kannst, sowie konkrete Verweise auf tolle Initiativen und Gruppen. Ich zeige außerdem ein paar klassische Stolpersteine und versuche, Möglichkeiten anzubieten, wie sie sich umschiffen lassen. Kapitel 12 (ab S. 253) widmet sich der Frage, wie du langfristig Teil der Bewegung bleibst, ohne auszubrennen. Ganz zum Schluss, in Kapitel 13 (ab S. 265), gebe ich dir noch einmal eine ordentliche Portion Mut mit – denn die letzten Seiten dieses Buchs sind hoffentlich der Anfang deiner Reise.

Perspektive ohne Heldentum

Meine eigene Reise begann 2018 (so richtig): Seitdem verstehe ich mich selbst als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung. Erst in Spanien, dann in Deutschland, aber oft auch auf europäischer und internationaler Ebene. Schon seit meiner Schulzeit war ich hin und wieder umweltbewegt aktiv, wirklich politisch wurde es allerdings erst nach meinem Studium. Seitdem war ich auf zahlreichen Klimacamps, Demonstrationen und anderen Aktionen. Ich habe mich schon auf Brücken, in Kohlegruben, auf Straßen, vor Werkstore und Atomkraftwerke gesetzt, um zu protestieren. Ich war in verschiedenen Gruppen aktiv. Dafür überschreite ich, wenn ich es als notwendig ansehe, auch manchmal die Grenzen des Legalen. Ich habe außerdem das große Privileg, mich seit 2020 als Teil meiner Lohnarbeit aktiv für Klimagerechtigkeit und andere progressive Kämpfe einsetzen zu können. Erst für 3 Jahre als Geschäftsführerin und Trainerin bei der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, einer kleinen Organisation, die 1974 aus der deutschen Friedensbewegung heraus entstanden ist, seit 2023 als Aktionskoordinatorin und Campaignerin beim internationalen Netzwerk Stay Grounded. (Mehr zum Netzwerk kannst du ab S. 208 nachlesen.) Weil es mir dabei am Herzen liegt, Menschen und Gruppen in ihren Bestrebungen nach gesellschaftlichem Wandel zu unterstützen, stehe ich ihnen seit einigen Jahren auch nebenberuflich selbstständig – mal bezahlt, mal unbezahlt – als Trainerin und Moderatorin zur Seite. Das tue ich zum Beispiel mit Workshops zu Kampagnenplanung, gewaltfreier Aktion, Klimagerechtigkeit, Konsens und mit meinem absoluten Lieblingsformat: Aktionstrainings.

Anders als Luisa Neubauer, Lea Bonasera, Lena Schilling und Carola Rackete etwa, die auch Bücher zu Klimaaktivismusii geschrieben haben, bin ich dabei keine Person des öffentlichen Lebens. Meine Erfahrungen spiegeln so oder so ähnlich die Erfahrungen vieler anderer erfahrener Klimaaktiver in Westeuropa wider, die auf ihre Art etwas zur Klimabewegung beitragen, ohne dabei im Rampenlicht zu stehen. Ich glaube, dass besonders diese Geschichten auch inspirierend sein können. Denn wir müssen nicht alle Berühmtheiten wie Luisa Neubauer werden, um selbstwirksam und effektiv für Klimagerechtigkeit und gegen Unterdrückung aktiv zu werden und andere mit unseren Geschichten anzustecken. „Je mehr Bürger*innen mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Held*innen wird es einmal brauchen“1, schrieb auch die italienische Journalistin Franca Magnani.

Ein bisschen anders ist in meinem Buch auch, dass es im Vergleich zu ähnlichen Titeln teilweise mehr Bewegungstheorie für strategisches Vorgehen gibt. Denn ich bin überzeugt davon, dass wir aus der Vergangenheit lernen können bzw. sollten und auch soziale Bewegungen letztendlich Systeme sind, die mehr oder weniger effektiv sein können.

Als politische Bildner*in ist es mir wichtig, dir in diesem Buch nicht nur meine Erfahrungen und Argumente vorzulegen. Ich will dich auch unterstützen, deine eigene Meinung und mögliche Handlungsschritte herauszufinden. Deswegen orientiert sich das letzte Drittel am konkreten Handeln. Es gibt außerdem am Ende jedes Kapitels einige Reflexionsfragen. Du kannst sie als Einladung verstehen, innezuhalten und mit dir oder anderen Menschen in deinem Umfeld darüber ins Gespräch zu kommen. Du kannst aber natürlich auch direkt weiterlesen. Wenn du dich zu einzelnen Themen noch weiter informieren möchtest, findest du am Ende des Buchs (S. 275) ein paar Buchempfehlungen zum Weiterlesen.

Ein politischer Akt

Letztendlich geht es mir mit diesem Buch darum, dich zum Handeln zu ermutigen und dir Werkzeug dafür mitzugeben. „Dieses Buch ist ein Akt, ein politischer Akt, dessen Ziel die Revolution ist.“2

„Wenn sie euch also fragen, wer bei eurer Abschlussfeier gesprochen hat, erinnert euch daran: Ich bin eine Schwarze Feministin Lesbe Kämpferin Dichterin [sic], die ihren Beitrag leistet. Ein Teil davon ist, euch zu fragen, wie ihr euren Beitrag leistet? Und wenn sie euch danach fragen, was sie gesagt hat, dann erzählt ihnen, dass ich euch die fundamentalste Frage eures Lebens gestellt habe: Wer seid ihr? Und wie setzt ihr die Stärken eures Seins für das ein, woran ihr glaubt?“3 Audre Lordeiii bei einer Abschlussrede am Oberlin College im Mai 1989

i Da ich versuche, den Text möglichst zugänglich zu schreiben, findest du im Text hin und wieder Wörter, die fett geschrieben sind. Sie sind am Ende des Buches auf S. 272 in einem Glossar zusammengefasst, damit du immer wieder nachschlagen kannst.

ii Ich verwende das Wort „Aktivismus“ im Buch austauschbar mit Engagement.

iii Audre Lorde war eine Aktivistin und eine der einflussreichsten afroamerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Texte und Reden inspirieren auch heute noch international vor allem Schwarze, feministische und befreiungsbewegte Menschen.

1. Und was, wenn …? Von Zuversicht und (Real-)Utopien

Von 2016 bis 2018 lebte ich in Schweden, um dort mein Masterstudium in Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften an der Lund University zu machen. Dieses Studium eröffnete mir eine komplett neue Welt. Das, was ich bereits ansatzweise als gesellschaftliche Probleme wahrgenommen hatte, erhielt Form und Farbe. Und mehr Substanz. Wesentlich mehr Substanz. Egal in welchem Modul, ständig schien es um verschiedene Problematiken auf den unterschiedlichsten Ebenen zu gehen: die sexistische Unterdrückung durch das Patriarchat, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes für Konsumgüter des Globalen Nordens, das ungerechte Wirtschaften im Kapitalismus, der ausbeuterische und rohstoffintensive Fleischkonsum – Probleme ohne Ende! Die Liste erschien mir und meinen Mitstudierenden endlos. Die grauen, langen Winter in Schweden taten ihr Übriges: Wir fühlten uns frustriert, verzweifelt, traurig. Nicht wenige von uns suchten Hilfsangebote der Universität bei mentalen Gesundheitsproblemen auf.

In meinem dritten Semester, kurz vor Beginn der Masterarbeit, saß ich wie jeden Tag in unserem Hörsaal und wartete auf den Start einer Gastvorlesung von einer Professorin unseres Instituts, Mine Islar. In knapp 2 Stunden stellte sie uns das Konzept von „Degrowth“ vor. Bei diesem Konzept geht es darum, ein niedrigeres und damit nachhaltiges Level von Produktion und Konsum zu erreichen. Damit soll ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen möglich werden.

Ich wurde hellhörig, fühlte mich angesprochen und inspiriert von dem Konzept. Es war im Gegensatz zu vielen anderen unserer Studienthemen kein neues Problem, sondern eine mögliche Lösung, eine Vision. Nach der Vorlesung ließ mich das Konzept nie wieder los. Ich recherchierte, las und diskutierte zu Degrowth. Und schrieb meine Masterarbeit über die Möglichkeit, wie die Degrowth-Gemeinschaft eine starke Akteurin des Wandels in der sozial-ökologischen Transformation sein könnte.4 Das Konzept von Degrowth begleitet mich nach wie vor – als Muster einer Vision, die mich zum Handeln antreibt und mir Orientierung geben kann.

Reale Utopien

Obwohl Degrowth oft auch als „soziale Bewegung“ (mehr zu sozialen Bewegungen in Kapitel 6 ab S. 81) bezeichnet wird, sehe ich darin vor allem eine Vision: von einer besseren, gerechteren Welt für alle. Der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright nannte solche Visionen „Reale Utopien“5. Für den 2019 verstorbenen Theoretiker sind Utopien dabei nicht nur irgendwelche unrealistischen Fantasien, sondern inspirierende Visionen, die uns dabei helfen können, Ungerechtigkeiten die Stirn zu bieten. Besonders an seinem Konzept ist, dass es nicht nur um Theorie geht, also irgendwelche komplexen Luftschlösser. Stattdessen stehen praktische Lösungen im Mittelpunkt, die auf realen sozialen Bedingungen sowie Möglichkeiten beruhen – reale Utopien eben. Für ihn sind diese Utopien aber nicht nur real, sondern auch emanzipatorisch. Sie dienen also dem Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit. Laut Wright sollten emanzipatorische Utopien auf 3 Grundprinzipien basieren: sozialer Gerechtigkeit, demokratischer Teilhabe und individueller Freiheit. Diese Prinzipien stehen miteinander in Verbindung und nur wenn sie alle 3 angestrebt werden, kann eine gerechte Gesellschaft entstehen. Im Anschluss findest du eine kurze Zusammenfassung, was jeweils gemeint ist.

Soziale Gerechtigkeit:

Eine gerechte Gesellschaft, wie sie zum Beispiel im Begriff „Klimagerechtigkeit“ ja schon wortwörtlich vorkommt, muss bestehende soziale Ungleichheiten und Hierarchien überwinden. Dazu braucht es eine Umverteilung von Ressourcen, aber auch von Chancen, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Demokratische Teilhabe:

Eine gerechte Gesellschaft entsteht nicht von allein. Sie muss erkämpft werden, Tag für Tag. Auch in Demokratien (mehr dazu in Kapitel 7 ab S. 112). Deswegen braucht es Teilhabe, die allen Menschen offensteht, statt bestimmte Bevölkerungsgruppen auszuschließen. Entscheidungen müssen gemeinsam getroffen werden.

Individuelle Freiheit:

Seit der Coronapandemie ist das zugegeben ein teilweise kontroverser Wert. Deswegen muss er nach meinem Verständnis unbedingt mit sozialer Gerechtigkeit, dem ersten von Wrights Grundprinzipien, einhergehen. Laut Wright sollte eine gerechte Gesellschaft den Menschen die Freiheit geben, ihr gesamtes Potenzial zu entfalten und ihre eigenen Lebenswege zu wählen. Dafür braucht es die Beseitigung von Unterdrückung und die Schaffung von Bedingungen, die es den Menschen ermöglichen, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.

Sogar Wright selbst gibt aber zu, dass es nicht einfach ist, diese „realen Utopien“ in die Tat umzusetzen. Denn dafür braucht es nicht nur politische Veränderungen, sondern auch angepasste soziale Strukturen und individuelle Verhaltensänderungen. Trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – ist es wichtig, diese Utopien als eine Art Leitfaden für unser Handeln zu nutzen, um die Welt zu schaffen, die uns vorschwebt. Eine (klima)gerechte Welt. „Dabei sind Utopien natürlich keine Abbilder der Zukunft, sondern Leitbilder ihrer Gegenwart. Sie verändern sich mit der Geschichte und wirken stets in ihrer Zeit“6, analysiert der Aktivist, Autor und Bildungsreferent Timo Luthmann in seinem Buch „Politisch aktiv sein und bleiben“.

Und meine Realutopie? Die besteht aus einer Welt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Eine Arbeitswoche mit maximal 20 Stunden ist ganz normal und es gibt nur ein geringes Lohngefälle. Reiche Menschen werden stark besteuert. Bildung und Kinderbetreuungsplätze sind komplett kostenlos. Inhalte, die Unterdrückungs- und Diskriminierungssensibilisierung vermitteln, gehören zum Standard. Es gibt gut ausgebauten und günstigen oder im Nahverkehr sogar kostenlosen ÖPNV und Fahrradnetze. Autos und Flugzeuge spielen nur eine sehr kleine Rolle in dieser Welt. Menschen gehören die Häuser und Wohnungen, in denen sie wohnen – viele leben in Gemeinschaften zusammen, und/oder in Mehrgenerationenhäusern. Leerstand oder Spekulation mit Immobilien? Gibt es nicht. Biologische Landwirtschaft ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, genauso wie die Teilnahme an Projekten solidarischer Landwirtschaft. Queere Familien und Alleinerziehende erfahren die gleiche Unterstützung wie heterosexuelle Familien, und Abtreibungen sind legal. Energiegewinnung ist wesentlich dezentralisierter und in der Hand der Bürger*innen selbst. Sie beruht auf erneuerbaren Energien und einer drastischen Reduktion des Energieverbrauchs. Insgesamt findet in allen Lebensbereichen viel mehr Selbstbestimmung und -verwaltung statt. Menschen organisieren sich in Kooperativen und Genossenschaften und engagieren sich in vielen Bereichen ehrenamtlich. Und auch in den Köpfen hat sich so einiges verändert: Wir haben uns – unter anderem dank Werbungsverbot für umweltschädliche Produkte – von der Konsumlogik losgelöst und konzentrieren uns auf Gemeinschaftserlebnisse, Zeit in der Natur, beim Sport, beim Spielen, beim Lesen … Es herrscht Bewegungsfreiheit für alle. Weltweit. Restriktive Freihandelsabkommen gehören der Geschichte an. Stattdessen beherrscht Zusammenarbeit auf Augenhöhe das internationale Klima. Das alles und noch so viel mehr ist Teil meiner Utopie – und ich finde sie wunderschön und erstrebenswert.

Dass Utopien oft keinen guten Ruf haben, halte ich für problematisch. Denn sie sind äußerst wichtig für soziale Bewegungen. Sie statten uns mit einer positiven Idee für die Zukunft aus, mit einer Vision, die wir gemeinschaftlich anstreben. Die amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Walidah Imarisha sieht in Science-Fiction großes Potenzial, um diese Visionen zu entwickeln: „Visionäre Fiktion verlangt von uns, dass wir in unseren Zukunftsvisionen unrealistisch sind, weil alle wirklichen, substanziellen sozialen Veränderungen zu der Zeit, als die Menschen dafür kämpften, als unrealistisch angesehen wurden – bis diese Menschen die Welt veränderten, um sie zu verwirklichen.“7

Dass wir dabei den genauen Weg hin zu dieser Utopie noch nicht kennen, spielt gar keine so große Rolle. Denn wenn wir auf den Moment warten, an dem wir einen perfekten Plan für unsere gemeinsame, sozial-ökologisch gerechte und gewaltfreie Zukunft haben, dann diskutieren und basteln wir wohl bis zum Zeitpunkt des endgültigen Kollapses daran herum. Ausschlaggebend ist deswegen vor allem, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Hier und heute. Nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl, und auch nicht erst nach dem nächsten Aktionsgruppentreffen.

So sind diese Utopien nicht nur ein Ansporn für Menschen innerhalb sozialer Bewegungen, sondern sie haben auch einen Mobilisierungscharakter nach außen. Visionen können uns helfen, den langen Atem nicht zu verlieren, den wir brauchen, um die herrschenden Verhältnisse zu verändern. Schritt für Schritt. Denn: „Soziale Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Marathon“8, wie Timo Luthmann schreibt.

Zuversicht trotz negativer Gefühle

Die Klimakrise ist kein positives, hoffnungsvolles oder gar optimistisches Thema. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Menschen haben „Klimaangst“, realisieren die Tragweite der Klimakatastrophe und ihre Auswirkungen auf das eigene Leben. Das kann wahnsinnig deprimierend sein. Wenn wir uns viel mit der Klimakrise beschäftigen, ist es manchmal schwer, nicht die Zuversicht zu verlieren. Es gibt Tage, an denen scheint auch mir alles viel zu viel, zu düster, zu sinnlos. Denn trotz der vielen Bemühungen, trotz Klimastreiks mit Millionen von Menschen, finden politische Veränderungen viel zu langsam und viel zu minimal statt. Es ist fundamental, zu erkennen und sich einzugestehen, wie dramatisch die Klimakrise ist, um ins Handeln zu kommen. Denn warum sollte ich meine Gewohnheiten ändern, mein komfortables Leben aufgeben oder zumindest einige Zeit davon opfern, wenn es gar kein gravierendes Problem gibt?

Trotzdem braucht es eben auch Zuversicht. Denn ohne Zuversicht könnten wir es mit dem Handeln ja gleich ganz sein lassen. Also: Augen und Ohren auf für die Problematik der Klimakrise – unbedingt. Aber auf der anderen Seite zeigen eine Studie der schwedischen Psychologieprofessorin Maria Ojala und ähnliche Arbeiten aus der Klimapsychologie, dass problemorientiertes Handeln uns das Gefühl gibt, eine riesige Verantwortung auf unseren Schultern zu tragen.9 Denn die Klimakrise und andere, komplexe Probleme ähnlichen Ausmaßes kann niemand allein lösen. Und dieses Gefühl lähmt uns eher, anstatt zu beflügeln.

Vielleicht kennst du das ja selbst: Gefühle der Trauer, Wut, Angst, aber auch Scham und Schuld können über uns hereinbrechen, wenn wir uns mit der Klimakrise, anderen Krisen und der eigenen Rolle darin ernsthaft auseinandersetzen. Mit diesen Gefühlen bist du nicht allein. Vielen Menschen, auch mir, geht es immer wieder so. Unsere Gefühle sind Teil von uns, wir können sie nicht wegwünschen. Aber: Auch diese negativen Gefühle helfen uns – bei nicht weniger als beim Überleben. Die Psychologin Renée Lertzman beschreibt, dass in der Auseinandersetzung mit der Klimakrise ähnliche emotionale Abläufe wie beim Verlust eines geliebten Menschen erkennbar sind: Phasen der Verleugnung, der Wut, der Resignation und des Akzeptierens wechseln sich gegenseitig ab.10 Statt uns für diese Gefühle zu schämen oder zu versuchen, sie wegzudrücken, sollten wir sie anerkennen und vor allem mehr darüber miteinander ins Gespräch kommen. Und: Wir sollten ihre transformative Kraft nutzen. Menschen wie Ökophilosophin Joanna Macy und Psychologe Chris Jonstone versuchen ganz explizit, Menschen zu unterstützen, und Verzweiflung und Ohnmacht gegenüber Krisen in konstruktives, gemeinsames Handeln umzuwandeln. Ihre Arbeit orientiert sich am Ansatz der Tiefenökologie, welche auf Mitgefühl und Verständnis für Natur und Erdlebewesen beruht. Sie verbinden in ihrer Arbeit spirituelle Gedanken mit Psychologie.11

Die nigerianische Schriftstellerin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie schreibt in ihrem berühmten Essay „We should all be feminists“: „Wir sollten alle wütend sein. Wut hat eine lange Geschichte, positive Veränderungen voranzubringen. Aber ich bin auch hoffnungsvoll, weil ich fest an die Fähigkeit der Menschen glaube, sich zum Besseren zu verändern.“12 Adichie weist schon in die Richtung, die ich meine, wenn ich von Zuversicht schreibe. Dass „Zuversicht“ in diesem Buch sogar auf dem Cover steht, war eine Idee des Verlags – und nicht meine. Ich war anfangs skeptisch, ob ich überhaupt zuversichtlich bin und was Zuversicht für mich im Hinblick der Klimakrise bedeutet. Durch Gespräche mit einigen Freund*innen fiel mir dann auf: dass ich jeden Tag aufstehe und zu Klimagerechtigkeit arbeite, aktiv bin, ist ein riesiger Akt der Zuversicht. Dieses Buch zu schreiben in der Hoffnung, dass es Menschen wie dich zum Handeln bewegt, ist auch Zuversicht.

Es ist keine „naive“ Zuversicht. Denn wie ich in Kapitel 2 (ab S. 23) noch deutlicher machen werde, ist die Klimakrise schon da, es wird schwierig, es sterben bereits Menschen. Wir werden wohl kaum alle gemeinsam glücklich und zufrieden Hand in Hand gen Sonnenuntergang laufen. Es ist eher ein Balanceakt zwischen naiver Hoffnung und (über-)lebensnotwendiger Zuversicht. Wir brauchen eine Zuversicht, die aus Vertrauen besteht. Wie genau dieses Vertrauen aussieht, ist von unserer eigenen Theorie des Wandels abhängig. Die einen brauchen Vertrauen in politische Prozesse und bestimmte Autoritäten – beispielsweise Entscheidungsträger*innen in der Regierung. Die Anarchist*innen unter uns, die mit dem Staat als Prinzip nichts anfangen können, brauchen Vertrauen in das Potenzial von Selbstorganisation. Zu diesen verschiedenen Theorien des Wandels komme ich noch im Kapitel 8 (ab S. 149). Was wir aber alle ganz sicher brauchen, ist Vertrauen in sozialen Wandel und somit in die Menschheit. Unglaublich stark finde ich dafür dieses Zitat des amerikanischen Politikwissenschaftlers Howard Zinn: „In schlechten Zeiten hoffnungsvoll zu sein, ist nicht einfach nur töricht romantisch. Es basiert auf dem Fakt, dass die Geschichte der Menschheit nicht nur eine Geschichte von Gewalttätigkeiten, sondern auch eine von Mitgefühl, Opfer, Mut, Güte ist.“13

Fragend schreiten wir voran

Menschen brauchen einen Anker, um zu handeln. Eine Idee, wie die Zukunft in 20, 30, 40 Jahren oder weit darüber hinaus aussehen könnte. Ein Funken Realismus ist dafür nicht verkehrt, aber die Idee darf und soll gerne utopisch sein. Audre Lorde ist überzeugt von der Macht der Visionen, die uns „bestärkt […] darin, zu wachsen und uns zu verändern und auf eine Zukunft hinzuarbeiten, die es noch nicht gibt.“14 Den Weg dorthin beschreiten wir gemeinsam. Besser gesagt testen wir verschiedene Wege, verlaufen uns, korrigieren unseren Kurs. „Fragend schreiten wir voran“15 lautet das treffende Motto der zapatistischen Widerstandsbewegung (mehr dazu in Kapitel 7 auf Seite 128). Um den ersten Schritt in Richtung dieser Utopie zu gehen und die Energie für weitere Schritte aufzubringen, brauchen wir Zuversicht, kollektiv, aber auch jede*r Einzelne von uns. Eine Zuversicht, dass Veränderung nicht nur dringend notwendig, sondern eben durchaus möglich ist.

Reflexionsfragen:

▸   Wie sieht deine Utopie von der Welt im Jahr 2050 aus?

▸   Wie sieht ein Tag in deinem Leben in dieser Utopie für dich aus?

▸   Was gibt dir Zuversicht mit Blick auf die Klimakrise und die ungewisse Zukunft?

2. Status quo: Klimakrise und andere Ungerechtigkeiten

Mein Kopf brummt. Ich spaziere gerade mit einem Freund durch die Sträßchen der kleinen Stadt im Norden Deutschlands, in der er wohnt. Wir reden über den Golfstrom. Schon vor einigen Wochen hat eine meiner Kolleginnen entgeistert von einer neuen Studie erzählt, von der sie in den Nachrichten gelesen hatte. Ich habe ihr damals nur mit einem halben Ohr zugehört – ich wollte nicht so genau hinhören. Aber in dem Gespräch mit meinem Freund stellte ich mich diesen Neuigkeiten, hörte ihm aufmerksam zu und erfuhr: Niederländische Forscher*innen haben herausgefunden, dass wir im Jahr 2050 einen Kipppunkt im Atlantik erreichen könnten. Der Golfstrom könnte zusammenbrechen. Denn wegen der Erderhitzung schmelzen die Gletscher. Ihr Süßwasser gelangt ins Meer und verändert so den Salzgehalt. Dadurch ändern sich die Ströme, die maßgeblich für die Klimaverhältnisse auf den Kontinenten entscheidend sind. Wenn alles so voranschreitet, wie die Forscher*innen vermuten, könnte es auf der ganzen Nordhalbkugel im Durchschnitt bis zu 30 °C kälter werden.16 Selbst, wenn nicht genau das eintritt, was im Modell errechnet wurde – wir stellen ständig neue traurige Rekorde auf und überschreiten Kipppunkte. Ich merke, wie sich mir langsam die Kehle zusammenschnürt. Meine Hände fangen an zu schwitzen. Ich spüre Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Wir reden weiter über die möglichen Konsequenzen und stellen fest, dass wir uns beide nicht so richtig vorstellen können, was das für die Zukunft wirklich bedeutet. Für unsere Zukunft und die vieler anderer Menschen. Menschen, die uns nahestehen, unsere Freund*innen, unsere Familie. Aber auch Menschen, die wir nicht kennen, weil sie weit weg wohnen oder die eine komplett andere Lebensrealität als wir haben und denen wir uns trotzdem irgendwie verbunden fühlen im Angesicht dieser beklemmenden Realität. Heute überwiegen bei mir die Angst und die Verzweiflung, selbst wenn ich beides nicht allzu nah an mich heranlasse. Oft ist da aber auch Wut anstelle von Verzweiflung. Wut auf die, die so viel dazu beitragen, dass der Golfstrom möglicherweise zusammenbricht. Und die sich scheinbar einen Scheiß darum scheren, dass Menschen schon heute an den Konsequenzen ihrer egoistischen, profitorientierten Handlungen sterben.

Klimakrise ist jetzt

Im Synthesebericht des Weltklimarates IPCC von 2023 steht es schwarz auf weiß: Wir müssen handeln. Jetzt. Denn die Erderhitzung schreitet wesentlich schneller voran als ursprünglich vom IPCC im Jahr 2018 angenommen. Im Juni 2024 verkündete UN-Generalsekretär António Guterres, dass das 1,5-Grad-Limit quasi nicht mehr haltbar sei.17 Denn wenn wir diese Grenze nicht überschreiten wollen, müssen die weltweiten CO₂-Emissionen bis 2030 um fast die Hälfte gegenüber 2018 sinken.18 Bis 2030 sind es, während ich dieses Buch schreibe, noch gut 5 Jahre. Bis 2035 müssen die Emissionen sogar um insgesamt 65 % sinken. In den verschiedenen Szenarien der Wissenschaftler*innen wird jedoch selbst in den optimistischsten Fällen diese 1,5-Grad-Grenze überschritten – nicht nur kurzzeitig, sondern mehrere Jahrzehnte lang. Bereits heute liegt die Erwärmung bei ungefähr 1,1 °C. Diese erst einmal etwas abstrakte Zahl bedeutet, dass bereits heute Flüsse über ihre Ufer steigen und Häuser niederreißen, wie 2022 im Ahrtal im Westen Deutschlands, wo mindestens 17 000 Menschen ihr Hab und Gut verloren.19 Die Zahl bedeutet, dass im selben Jahr in Indien und Pakistan Hitze und Überschwemmungen zu Stromabschaltungen, großflächigen Ernteausfällen und 1700 Hitzetoten in Pakistan führten.20 Sie bedeutet, dass 2023 unglaublich viele Waldbrände in Europa wüteten. Das sind nur 3 Beispiele von vielen.

Kriege und Konflikte

Die Klimakrise ist nicht die einzige tickende Zeitbombe. Wortwörtlich sehen wir, wie Diskussionen rund um das Thema Waffenlieferungen in Deutschland und Österreich Einzug halten. Neben Kriegen, die nur selten Schlagzeilen in deutschsprachigen Medien machen – wie im Jemen und Kongo, in Syrien und Myanmar – branden zunehmend weitere Kriege auf: zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Israel und Palästina.

Der Kampf um Ressourcen wie Bodenschätze und Land ist dabei aktuell die zweithäufigste Ursache für Konflikte.21 Wie beispielsweise in den 90er-Jahren an der Grenze zwischen Mauretanien und dem Senegal, als es nach einer Trockenperiode zu Kämpfen um Ackerland kam.22 Die Klimakrise verschärft solche Konflikte bereits jetzt. Auch in Zukunft wird sie diese durch Ressourcenknappheit und Naturkatastrophen weiter verstärken. Ressourcenkonflikte innerhalb nationaler Grenzen, aber besonders auch auf globaler Ebene, werden durch Profitinteressen und Konkurrenzkampf angeheizt. Denn oft spielen die natürlichen Ressourcen, wie etwa Ölvorräte, eine große Rolle im strategischen Kriegstreiben der Großmächte.

Rechte Kräfte auf dem Vormarsch

Diese Konflikte treiben Menschen in die Flucht. Neben inner- und zwischenstaatlichen Konflikten werden durch den steigenden Meeresspiegel, verheerende Dürren und andere Naturkatastrophen zukünftig ganze Erdteile unbewohnbar sein. Die Klimakrise könnte bis ins Jahr 2050 über 215 Millionen Menschen zur Flucht zwingen.23 Auf der Suche nach Sicherheit und Stabilität werden mehr Menschen aus dem Globalen Süden nach Europa kommen.

Die tschadische Umweltaktivistin und Bürgerrechtlerin Hindou Oumarou Ibrahim schreibt im Vorwort von Carola Racketes Buch „Handeln statt hoffen“: „Niemand verlässt gerne seine Familie, seine Wurzeln, seine Identität. Wir dürfen niemals vergessen, dass kein Mensch als Migrant geboren wurde. Daher müssen wir aufstehen und deutlich sagen, dass wir diese Zukunft nicht wollen. Und dann Veränderungen umsetzen.“24

Das sehen leider längst nicht alle so. Schon jetzt hetzen rechte Parteien und Gruppen gegen Geflüchtete und Migrant*innen im Allgemeinen. In einigen unserer europäischen Nachbarländer zeigt sich diese stärker werdende Rechte bereits in den neuen Regierungen: Im November 2023 kam in den Niederlanden der rechtspopulistische Geert Wilders an die Macht, in Schweden wurde die rechtspopulistische Partei „Schwedendemokraten“ 2022 zweitstärkste Macht, in Italien regiert die rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Auch Deutschland rühmt sich nicht gerade mit einer Willkommenskultur: Im Juli 2023 wurde der erste Bürgermeister der rechtspopulistischen AfD-Partei ins Amt gewählt. Im Januar 2024 dann der nächste Schock: Recherchen vom investigativen Netzwerk Correctiv bringen ans Licht, dass sich im November 2023 hochrangige AfD-Politiker*innen mit Neonazis und ähnlich gesinnten, finanzstarken Unternehmer*innen trafen. Dort schmiedeten sie Pläne zur Deportation von Millionen von Menschen aus Deutschland.25 Die Ergebnisse der EU-Wahl im Juni 2024 bestätigen den beängstigenden Rechtsruck in vielen europäischen Ländern noch einmal schwarz auf weiß.

Rechte Parteien wie die AfD in Deutschland nutzen Krisen wie die steigenden Lebenshaltungskosten infolge der Inflation (2023) und des Krieges von Russland gegen die Ukraine aus, um in der breiten Bevölkerung für ihre Partei zu werben. Mit Forderungen und Erklärungen, die migrantische Menschen als Übeltäter*innen abstempeln, werden Feindbilder geschaffen und zusätzlich gefährliche Scheinlösungen für die Alltagsprobleme von Menschen mit einem geringeren Einkommen oder anderen prekären Lebenslagen präsentiert.

Ausbeutung mit System

Sowohl die Klima- als auch die Energiekrise zeigen klar, wie unterschiedliche Menschengruppen verschieden stark betroffen sind. Diese Krisen verstärken bestehende Ungerechtigkeiten – und haben gleichzeitig oft ihren Ursprung genau darin: Es sind Ausbeutungen mit System.

Die Menschen, die historisch gesehen am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, leiden bereits jetzt am meisten unter ihren katastrophalen Folgen. Auch hier findet Hindou Oumarou Ibrahim klare Worte: „Dabei lief in den vergangenen 10 Jahren erst der Trailer zu dem anstehenden Horrorfilm über unseren Planeten und die Menschheit. Und meine Leute sind stille Zeugen eines Problems, das sie nicht selbst verursacht haben.“26 Die Menschen in den Ländern des Globalen Südens werden schon jetzt verstärkt von vermehrten Naturkatastrophen und steigendem Meeresspiegel gebeutelt – obwohl sie in der Vergangenheit wesentlich weniger CO₂-Emissionen verursacht haben als Menschen aus dem Globalen Norden bisher. So hat Deutschland seit 1750 insgesamt knapp 95 Milliarden Tonnen CO₂ ausgestoßen. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent waren es hingegen im selben Zeitraum nur 51 Milliarden Tonnen.27 Wir in Deutschland haben dabei den gerechten Anteil am gesamten globalen CO₂-Budget schon um das Zweifache überschritten, gemessen an der Bevölkerungszahl. Also an dem Budget, das für eine 1,5-Grad-konforme Entwicklung maximal verfügbar ist.28

Um diese Form der Ausbeutung auf dem Rücken der Menschen im Globalen Süden in irgendeiner Weise rechtfertigen zu können – vor dem eigenen Gewissen sowie vor anderen Menschen –, braucht es erfundene Kategorien, die bestimmte Menschengruppen über andere stellen. Bei der Ausbeutung des Globalen Südens durch den Globalen Norden schlagen sich diese Konstrukte im Kolonialismus sowie Rassismus nieder. Für Ressourcen wie Materialien, aber auch Arbeitskraft, die wir brauchen, um unseren Lebensstil hier im Globalen Norden überhaupt aufrechterhalten und im ersten Moment etablieren zu können, müssen wir den Globalen Süden ausbeuten. Das wurde in der Geschichte möglich durch Kolonialismus – also die Entstehung von Kolonien weit weg von unserem europäischen Zuhause.29 Um wiederum Kolonialismus zu rechtfertigen, wurden künstliche Kategorien erstellt, die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe in verschiedene Klassen einteilen und die einen – die weißen Menschen – über die anderen stellen. Ein grausames Konstrukt.

Ungerechtigkeiten spielen außerdem zwischen verschiedenen Klassen eine Rolle. Ein Beispiel aus dem Flugverkehr: Das reichste Prozent der Menschheit verursacht die Hälfte der gesamten Emissionen, die durch Flugverkehr entstehen.30 Ein Privatjet – die obszönste Art des Reisens in der Luft – stößt das Äquivalent von 2 Tonnen CO₂ in nur einer Stunde aus.31 Das ist das Vierfache des Jahresdurchschnitts an CO₂-Emissionen einer Person aus Kenia.32 Doch auch innerhalb von geographischen Regionen gibt es natürlich Klassenunterschiede. So lebten 2021 beispielsweise in Mexiko 318 Millionär*innen33, während über 30 % der Bevölkerung mit unter 6,85 Dollar pro Tag auskommen müssen34. Die konkreten Folgen dieser Klassengesellschaft in der Klimakrise? Menschen mit einem hohen Vermögen oder Einkommen haben beispielsweise viel leichter die Möglichkeit, ihr Zuhause gegen Überschwemmungen zu wappnen als Menschen ohne diese finanziellen Ressourcen.

Neben kolonialen, rassistischen und klassistischen Unterschieden gibt es noch weitere Merkmale, die dafür sorgen, dass manche Menschen wesentlich stärker von der Klimakrise betroffen sind. So sind beispielsweise FLINTA* stärker betroffen als (cis-)Männer. Im Globalen Süden ist das Risiko für Frauen und Mädchen, bei einer Naturkatastrophe zu sterben, vierzehnmal höher als für Männer.35 Aber auch in Deutschland betrifft die Klimakrise Frauen disproportional, weil es beispielsweise für alleinerziehende Mütter und ältere (alleinstehende) Frauen schwer ist, steigende Energie- und Lebensmittelpreise zu stemmen.36 Gesundheitlich leiden diese Personen ebenfalls stärker unter der Klimakrise – so waren im Hitzesommer 2022 in Europa 63 % der hitzebedingten Sterbefälle Frauen.37 Aber auch ältere Menschen, queere Menschen, jene mit Behinderung und chronischen Erkrankungen sowie wohnungs- und obdachlose Menschen sind disproportional schlechter dran.

Unser westliches Wirtschaftssystem bedeutet Gewalt

Der Kapitalismus der westlichen Welt bedient sich struktureller Formen der Gewalt, um sich selbst aufrechtzuerhalten. Solche Formen sind im Vergleich zu direkter bzw. personaler Gewalt eher „unsichtbar“. Diese Art Gewalt wird von Strukturen geprägt, die dafür sorgen, dass Menschen daran gehindert werden, grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen38 – wie etwa eine Wohnung zu finden oder einen Beruf auszuüben. Beispiele dafür sind Klassismus, Rassismus und Sexismus. So braucht Kapitalismus zur Existenzsicherung wie gesagt beispielsweise Kolonialismus. Dieser führt zu gewaltvollen Konflikten, die unter anderem durch das sogenannte „land grabbing“ entstehen, also die Aneignung von Land für politische oder wirtschaftliche Zwecke. Davon sind oft indigene Bevölkerungsgruppen betroffen, so etwa bei der Besitzergreifung großer Regenwaldflächen im brasilianischen Amazonasgebiet. Diese Flächen dienen dann unter anderem der Produktion von Soja zur Tierfutterherstellung und damit letztlich dem Fleischkonsum im Globalen Norden. Oder aber dem Abbau von Kohlevorkommen und der Nutzung von Minen für die Produktion von Konsumgütern für den Globalen Norden. Hier findet somit ganz konkrete Gewalt gegen Menschen im Globalen Süden statt – angetrieben von unserem westlichen, kapitalistischen Wirtschaftsmodell.

Degrowth für das gute Leben für alle

Globale Gerechtigkeit kann aus meiner Sicht nur erreicht werden, wenn aktiv eine Reduktion von Produktion und Konsum im Globalen Norden geplant und umgesetzt wird, sodass Länder im Globalen Süden wieder Perspektiven jenseits vom westlichen, ökologisch desaströsen Entwicklungsmodell entwickeln können. Das ist das bereits erwähnte Konzept von „Degrowth“, im Deutschen auch öfter mal mit „Postwachstum“ gleichgesetzt. Das zentrale Ziel von Degrowth ist es, ein niedrigeres und damit nachhaltiges Level von Produktion und Konsum zu erreichen. Damit soll ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen möglich werden. Da gerade die Länder mit hohem Einkommen historisch und aktuell auf Kosten des Klimas und vor allem des Globalen Südens wirtschaften, ist Degrowth eine Forderung für Länder des Globalen Nordens. Dabei ist es aber keinesfalls gleichzusetzen mit einer Rezession, wie wir sie beispielsweise in der Coronakrise erlebt haben. Eine Rezession bedeutet die unerwünschte Verkleinerung der aktuell existierenden Ökonomie. Denn unser derzeitiges Wirtschaftssystem braucht Wachstum, um nicht zu kollabieren. Ganz im Gegensatz dazu geht es bei Degrowth um einen Wechsel zu einer komplett neuen Ökonomie – die unabhängig ist von Wirtschaftswachstum.

Klimagerechtigkeit – überall und morgen

Bereits heute, innerhalb der derzeit lebenden Generation, werden viele bestehende strukturelle Ungleichheiten und Machtverhältnisse durch die Klimakrise noch verstärkt. Tendenz: steigend. Vor allem die Jüngeren unter uns sowie unsere Kinder und Enkelkinder werden noch mehr unter den Folgen zu leiden haben. Wer heute 20 Jahre alt ist, wird mit 45 in einer Realität leben, die von den unsicheren Prognosen einer mehr als 1,5 °C heißeren Welt geprägt sein wird. Kein Wunder also, dass die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland im Angesicht der Klimakrise Gefühle wie Angst, Wut, Ungerechtigkeit und Trauer empfinden.39

Deswegen muss der Kampf gegen die Klimakrise immer ein Kampf für Klimagerechtigkeit sein. Und zwar für intragenerationelle – also zwischen Menschen innerhalb einer Generation, vor allem zwischen dem Globalen Süden und Globalen Norden – und intergenerationelle Gerechtigkeit – also zwischen den verschiedenen Generationen.

Der österreichische Herausgeber, Autor und Aktivist Manuel Grebenjak bringt es in seinem Buch „Kipppunkte – Strategien im Ökosystem der Klimabewegung“ auf den Punkt, wenn er schreibt: „Bei Klimagerechtigkeit geht es um umfassende soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Resilienz. Anders gesagt: Eine um 1,5 °C aufgeheizte Erde, auf der die meisten Menschen in Unterdrückung und Unfreiheit leben, wäre wohl eine schlechtere als eine 2 °C heißere Welt, die von Gerechtigkeit und Solidarität durchdrungen ist.“40

Wir leben in einer Welt voller Krisen, einer Polykrise. Die Klimakrise ist eine davon, vielleicht die bedrohlichste mit Blick auf die gesamte Menschheit. Sie ist bereits jetzt Teil unseres Alltags und abhängig von unserer Position in der Gesellschaft mehr oder weniger spürbar. Da diese Krise ihre Ursprünge in den verschiedenen Unterdrückungssystemen unserer aktuellen Gesellschaft hat, brauchen wir nicht nur direkte Antworten auf die Frage, ob und wie wir die 1,5-Grad-Grenze einhalten können, sondern auch darauf, wie wir dies gerecht tun können. Wie die feministische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir schon 1947 feststellte: „Aus dem Wissen um die realen Bedingungen unseres Lebens müssen wir die Kraft zum Leben und die Gründe für unser Handeln schöpfen.“41 Wir müssen uns also die Frage stellen: Wie können wir diesen Krisen begegnen? Was können wir tun?

Reflexionsfragen: