Zuviel - Ralf Kühling - E-Book
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Zuviel E-Book

Ralf Kühling

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Beschreibung

Dreizehn Milliarden Menschen sind zu viele. Alles wird durch die Macht des Geldes korrumpiert. Egoismus und Gier verhindern den Kampf gegen alle Krisen. Naturkatastrophen, Verteilungskämpfe und Flüchtlingsströme sind die Folge. Es gibt keine Gemeinsamkeit mehr, nur noch Gegner. Ohne Vertrauen sind Staaten unregierbar. Im größten Chaos übernimmt eine KI die Weltherrschaft - Galaxie. Man hat sie darauf programmiert den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Darin ist sie - gnadenlos. Die letzte Hoffnung - eine junge Frau ... Was passiert, wenn eine Künstliche Intelligenz die wirtschaftliche, politische und administrative Herrschaft über die Westliche Welt übernimmt und logische, evidenzbasierte Entscheidungen durchsetzt. Eine junge Journalistin, eine Rebellin und ein Abenteurer stellen sich der KI und finden die Liebe.

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Für Imme

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

EINS

„Kaffee?“

Im Halbschlaf hatte sie schon die Espressokanne brodeln und zischen gehört. Als Simon, der Mann der zurzeit bei ihr wohnte, die Milch aus dem Kühlfach genommen hatte, war die Kühlfachtür mit einem saugenden Geräusch aufgegangen, für das es kein Wort gab. Wenn man es beschreiben wollte, musste man es nachahmen, ungefähr so: ffffluppe. Sie versuchte es, spitzte den Mund und sagte: „Ffffluppe“, wobei man das „e“ fast nicht hörte. Dann öffnete sie die Augen und sah in Simons erstauntes Gesicht.

„Was?“ fragte sie verschlafen. „Kaffee, ja danke.“ Sie nahm den Becher entgegen. Simons Fantasie reichte nicht, um „ffffluppe“ spontan zu verstehen und sein Interesse reichte nicht, um nachzufragen. Eine seiner guten Seiten.

Wie war sie nur an ihn geraten. Irgendwie war er ihr zugelaufen wie ein herrenloser Hund, so fühlte es sich zumindest meistens an. Simon stand morgens früh auf und arbeitete schon, während sie noch schlief. Sie schlief immer lange. Dafür wurde es bei ihr abends oft spät. Wenn sie aus irgendeinem Club nach Hause kam, schlief Simon schon. Musik, Tanzen und andere Leute seien nicht so sein Ding. Zahlen waren sein Ding. Er berechnete komplizierte Sachverhalte für die Galaxie-Universal-Versicherung. Wenn sie ihn damit aufzog, dass die KI das zehnhochzwanzigmal schneller könnte, antwortete er, dass man für Zahlen Kreativität bräuchte. Als ob Künstliche Intelligenz nicht kreativ sei. Stattdessen wünschte sie sich, dass er seine Kreativität gelegentlich bei ihr einsetzen würde. Immerhin war er sehr ordentlich, mathematisch ordentlich.

Sie hatte auch gerne Ordnung, aber leider fehlte ihr meistens die Zeit, für Ordnung zu sorgen.

Sie trank einen Schluck Kaffee und hielt mit der rechten Hand den Kaffeebecher auf Augenhöhe. Dort stand PAINDRAIN. Ein Werbedings für die Galaxie-Kopfschmerz-Tablette, ihr einziger Becher ohne Sprung, wenn man davon absah, dass sie den Henkel wieder ankleben musste, nachdem sie den Becher Simons Vorgänger an den Kopf geworfen hatte. Über dem Logo stand ganz klein:

Es gibt 39 Arten von Kopfschmerzen.

Unter PAINDRAIN stand: lindert 35 total.

Auf der Rückseite der Tasse stand:

Sorge dich nicht um 4 …

Immer wenn sie nur die Rückseite betrachtete, dachte sie, warum sie sich um 16 Uhr, oder nachts um vier, keine Sorgen machen sollte. Oder sollte sie sich nicht um vier Dinge sorgen?

Aber um welche vier?

Sie hielt ihre linke Faust neben den Becher auf Augenhöhe und zählte, leise murmelnd, die vier Gründe auf, weshalb sie Simon immer noch bei sich wohnen ließ: „Nicht neugierig.“ Sie streckte den Daumen aus ihrer Faust aus und sagte im Geiste, phlegmatisch. Sie streckte den Zeigefinger aus und murmelte: „Räumt super auf“. Im Geist sagte sie: Supersupersupersupersuper! Dann streckte sie den Mittelfinger aus. „Drei“. Okay, zwei-, dreimal im Monat war sie ganz froh, dass sie ihn hatte. Viertens …

„Musst du nicht zur Arbeit?“ Simon war aus seiner Beschäftigung in ihre Welt aufgetaucht, weil er instinktiv gemerkt hatte, dass etwas nicht in Ordnung war, sie war zu spät dran. Sie nahm den letzten Schluck Kaffee, rief: „Geht schon los“, und sprang aus dem Bett. Sie hätte nicht rufen müssen, denn ihr Galaxie-Standard-Ein-Personen-Quartier war kaum größer als zwanzig Quadratmeter, also um genau zu sein, einundzwanzigeinhalb Quadratmeter, wenn sie das Duschklo mitrechnete.

Die Duschinfo zeigte drei Minuten, achtundzwanzig Grad, also wieder nur lauwarmes Wasser. Wenn sie die Haare waschen wollte, musste sie früher aufstehen. Also verzichtete sie auf die Haarwäsche, fühlte sich nach der Dusche aber trotzdem erfrischt und tatendurstig. Deshalb kam sie ganz provokativ mit weit über den Kopf erhobenen Armen, einen Pferdeschwanz.

„Wenn du die Bahn in fünf Minuten bekommst, bist du wieder in der Zeit“, sagte Simon dazu.

Was hatte sie erwartet? Sie beeilte sich. Natürlich erreichte sie die Bahn gerade rechtzeitig, um sie abfahren zu sehen. Also laufen. Sie nahm die Abkürzung quer durch die Altstadt. Früh am Morgen ging das – um diese Zeit war das vielleicht auch noch möglich. Eine Zeit lang folgten ihr zwei Hunde. Sie hatte schon ihr Pfefferspray in der Hand, da kamen ein paar Leute die Straße hoch auf sie zu gerannt, die Hunde verschwanden in einem Hinterhof. TeÄn griff das Pfefferspray fester und drückte sich in eine Nische. Es waren fünf, sie liefen direkt auf sie zu. Dann bogen zwei in eine Toreinfahrt ab, zwei rannten über die Straße auf die andere Seite, nur noch einer hetzte an ihr vorbei und huschte kurz darauf in einen Hauseingang. Aus den Gassen schallten die Tritte von noch mehr laufenden Menschen, aber sie sah niemanden mehr. Dieses Altstadtviertel war noch aus dem vorigen Jahrhundert, oder einem davor? Verwinkelte Gassen, verschachtelte Hinterhöfe. Der unüberschaubare Mix aus vergangener Grandezza, Verfall und Improvisation bildete die immobile Kulisse für tausende von Leben, die nur dann etwas bedeuteten, wenn sie dir nahekamen, zu nahe. Sie ließ die Hand in ihrer Tasche am Pfefferspray, sicher ist sicher.

Sie kam zehn Minuten zu spät zur Arbeit. „So what“, sagte sie.

Sie arbeitete bei der Galaxie-Tages-Zeitung als Reporterin. Ungefähr so ein wichtiger Job wie Simons Zahlen; die KI wusste sowieso alles, und sicher konnte sie auch Pulitzer verdächtige Reportagen schreiben und jede Menge toller Fotos von den Überwachungskameras dazu liefern.

„Schon wieder“, sagte ihre Vorgesetzte, Ressort-Chefin Marie-Anne Strote, nachdem sie in deren Büro gerufen worden war.

„Minus ein Punkt“, sagte der PSC, der Personal-Score-Counter auf dem Schreibtisch und wertete ihre Social-Scores auf 643 Punkte ab.

„Meine liebe Trixi“ …

TeÄn hasste es, wenn jemand sie mit ihrem Vornamen ansprach. In der zweiten Klasse hatte sie eine Mitschülerin, Annabelle Soundso, die hatte einen kleinen weißen Hund, der Tricks konnte und Trixi hieß. Als sie mal bei Annabelle zu Besuch gewesen war, musste der Hund seine Tricks vorführen. Männchen machen, Pfote geben, durch die Beine eine Acht laufen, sich auf den Rücken und dann ganz rum rollen. Und weil Trixi nun mal genau so hieß wie der Hund, fand Annabelle es toll, wenn Trixi auch solche Kunststücke vorführen würde. Und weil Trixi gerne Annabelles Freundin sein wollte, machte sie alle die Kunststücke, und Annabelle lachte, und sie wurden nie Freundinnen. Und ganz sicher würden nie Leute ihre Freundinnen oder Freunde werden, die sie Trixi nannten. Ihre Freunde nannten sie „TeÄn“, abgeleitet von ihren beiden Anfangsbuchstaben T und N.

„… Trixi Nirwana Tiefewasser. Wie schaffst du das nur immer? Schon wieder zehn Minuten zu spät!“ – Pause.

Trixi fühlte sich zu einer Antwort genötigt: „Äh – die Bahn ist zu früh abgefahren.“

Der PSC auf dem Schreibtisch ihrer Vorgesetzten sagte mit einer sehr freundlichen, verbindlichen Männerstimme: „642 Punkte“.

„Das bringt doch nichts zu lügen, Trixi. Du bist meine beste Reporterin, aber alle Scores, die du dir mit deinen Reportagen erwirbst, verlierst du wieder durch dein unangepasstes Sozialverhalten. 642 Punkte, jemand mit deiner Intelligenz, deinen Fähigkeiten, deinem Aussehen, sollte leicht über 1500 kommen.“

TeÄn dachte: Was hat mein Aussehen damit zu tun? „Wenn du so weiter machst, bist du in ein, zwei Wochen eine von den Zuvielen.“

Ihre Stimme klang kein bisschen besorgt oder empathisch,als KI-Mensch-Kontakter war Marie-Anne Strote wenig begabt.

Die Galaxie-Tages-Zeitung wurde, wie alle Galaxie-Organisationen, von der Künstlichen Intelligenz kontrolliert, die ein Teil des Galaxie-KI-Verbundes war. Natürlich hätten alle Menschen, die dort beschäftigt wurden, direkt gelenkt werden können, aber die KI zog es aus psychologischen Gründen vor, einen Kontakter dazwischen zu schalten. Naja, auf die Art hatte Marie-Anne wenigstens auch etwas zu tun.

„Dann gehst du wohl besser an die Arbeit, du hast ja schon genug Zeit verloren“, sagte Marie-Anne Strote und wedelte TeÄn mit einer affektierten Geste aus ihrem Büro.

TeÄn hätte sich am liebsten direkt, nachdem sie Marie-Annes Büro verlassen hatte, an die Tür gelehnt und geschrien, aber leider hatten die Büros Glaswände und Türen. So ging sie erstmal zum Kaffeeautomaten. Kaffee half immer, oder ein schöner kalter Galaxie-Shot, aber der musste bis zum Abend warten.

„Na, geht es jetzt los? Erstmal einen Kaffee, was. Ich bin schon seit einer Stunde da.“ TeÄn sah die Kollegin von oben bis unten an, dachte, so siehst du auch aus, nahm den Kaffee und ließ die Zicke einfach stehen.

Sie suchte sich einen für die Arbeit vorgesehenen Massagesessel, setzte die Polarisbrille auf, die ihr ein ungetrübtes, astreines, super FR (fast reales) 3D-Holo garantierte, sah zu der grünen Wand, wie alle ihre Kollegen und Kolleginnen in den anderen Massagesesseln, und rief ihre Instruktionen auf.

„Hallo TeÄn, schön, dass du da bist“, sagte die androgyne melodiöse Stimme der KI über ihre Brillenbügel. „Was hast du heute schon erlebt? Geht es dir gut?“

„Hallo Galaxie, mir geht es gut. Ich war zu spät und musste durch die Altstadt.“

„Das ist spannend. Möchtest du jetzt arbeiten?“

„Ja klar, was hast du denn für mich?“

„Die guten Sachen sind schon weg, ich wollte dir ein Interview mit ‚BOX X‘ aufheben, aber dann kamst du nicht und ich …“

„Ja schon gut“. Box X war gerade die angesagteste Band in der Stadt, Schade. „Zur Strafe muss ich jetzt was machen?“ Galaxie war immer so mitfühlend und trotzdem ziemlich hart.

„Schreib doch mal was über die Ausschreitungen am Cityplatz.“

Das war ja klar. Es gab jeden verdammten Tag irgendwo Ausschreitungen, und immer am Cityplatz. Die Berichte klangen stets gleich: Eine Gruppe von Zuvielen hat am Soundsovielten um soundso viel Uhr die öffentliche Ordnung gestört. Ihr Protest richtete sich gegen die Unterbringung in Schlaffächern und die Verpflegung mit Galaxievorzugsrationen.

TeÄn dachte, kein Wunder, Vorzug hieß in diesem Fall doch, die bevorzugte Wahl von Galaxie für die kostengünstige Verpflegung von Menschenmassen.

Die Polizei hat die Demonstration wegen Gefährdung und Belästigung von Allen verboten und durch den Einsatz von Fängern und Treibern zerschlagen. Es wurden insgesamt mehr als 2500 Score-Punkte entzogen. Zwölf Individuen erreichten einen Score von 0.

Man hatte diesen Satz „… erreichten 0 Score-Punkte“ schon so oft gehört, dass sich niemand mehr Gedanken darüber machte, was das hieß.

TeÄn bekam eine Gänsehaut.

„Okay Galaxie, ich schau mir das mal an.“ Sie rief die Bildaufzeichnungen über die Demonstration auf und zoomte in ein Holo, bis sie einzelne Personen erkennen konnte.

Eine Frau lief vor einem Fänger davon, der holte sie natürlich ein, warf sie um und fixierte ihre Beine am Boden. Sie versuchte sofort den Kleber zu lösen, sobald der Fänger weiter gerollt war. Dummer Fehler. Der kam zurück und fixierte auch ihre Arme. Sie lag mitten auf dem Cityplatz. Mit ausgestreckten Armen und Beinen, das Gesicht zum Boden. Um sie herum rannte die Menge vor den Treibern und Fängern davon. TeÄn zoomte wieder auf, um ein Auge auf das gesamte Geschehen zu werfen. Die Treiber jagten mit ihren Elektroschocks die Menge im Kreis über den Platz. Immer wieder stießen die Fänger vor und fixierten Menschen am Boden. Dann teilte sich die Menge. Der innere Kern hörte auf zu laufen, setzte sich auf den Boden und wurde von einer Reihe Treiber bewacht. Die äußeren Menschen stoben plötzlich in alle Richtungen davon und verschwanden in den angrenzenden Straßen und Gassen. TeÄn hatte ähnliche Bilder schon oft gesehen. Sie suchte die Umgebung nach etwas Neuem ab, über das sie berichten könnte. Da kamen die Transportwagen, die die Fixierten einsammelten. Ein paar mit rotem Kreuz für die, die von der Menge niedergetrampelt wurden, was bei dieser Art von Fänger und Treibereinsatz immer wieder vorkam.

Und die Sozial-Score-Unit machte sich über die eingekesselten her. Hier wurden innerhalb kürzester Zeit massenhaft Urteile gefällt, minus fünfundzwanzig Scores für Aufruhr sowie für Widerstand, minus vierzig für aggressives Verhalten gegen Ordnungskräfte. Die Nullscorer wurden an Ort und Stelle „aus dem System entnommen“, ihre Körper abtransportiert. TeÄn wandte den Kopf zur Seite, vor dem Hintergrund der Büroeinrichtung wurde das Holo unscharf. Dort schrie eine Frau. Sie sah aus einem der Gebäude um den Cityplatz aus dem Fenster. Ihr Blick war vor Schreck geweitet, ihr ganzer Körper schrie ohnmächtiges Entsetzen auf den Platz. Doch niemand nahm sie wahr, außer jetzt TeÄn. Sie holte sich die Szene vor die grüne Wand und ging in der Zeitsteuerung etwas zurück. Wo sah die Frau hin? Sie folgte ihrem Blick.

Ein Mann hatte sich über die Frau gebeugt, die TeÄn vorhin schon beobachtet hatte, als diese fixiert worden war. Inzwischen war die Frau schwer verletzt, ihre Kleidung zerrissen, vermutlich war die vor den Treiben flüchtende Menge einfach über sie hinweg getrampelt. Der Mann beugte sich über sie, wollte ihr helfen, die Fixierung lösen. Ein Sozial-Score-Agent zog ihn hoch, blockierte ihn mit seinem Stopp-Gas, das die Bewegungsfähigkeit einschränkt, prüfte die Identität des Mannes durch einen Netzhautscan und zog ihm die Scores für Aufruhr und Widerstand ab. TeÄn sah zu der Frau im Fenster hoch. In diesem Moment änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau von Wut und Angst zu Schmerz. TeÄn sah von der Frau zu dem Mann zurück.

Ein Nullscorer. Der Sozial-Score-Agent legte dem Mann, der sich immer noch nicht bewegen konnte, den Reif um den Kopf. TeÄn wusste, was jetzt geschehen würde und dass sie es nicht sehen wollte. Trotzdem konnte sie den Mann jetzt nicht alleine lassen. Der Sozial-Score-Agent vollzog die Nullscore-Konsequenz und löschte mit einem heftigen Impuls sämtliche elektromagnetischen Vorgänge im Gehirn des Mannes. Dieser sackte wie abgeschaltet zusammen. Das war ein Leben gewesen. Ängste, Hoffen, Lieben. Kurz darauf kamen zwei Aufräumer und warfen den Körper in den dafür vorgesehenen Transportwagen.

Natürlich könnte Galaxie an Nullscorern die Konsequenz auch durch Exekutions-Drohnen vollziehen lassen, wie sie es früher praktiziert hatte. Aber es war zu Protesten gekommen, weil einige Nuller sich im Todeskampf irgendwo versteckten und dann nicht mehr ordentlich entnommen werden konnten. Außerdem hatte Galaxie festgestellt, dass die negativen Reaktionen von Angehörigen auf die Entnahme der Nullscorer aus dem System weniger ihr angelastet wurden, wenn Menschen diese Entscheidung trafen und vollzogen. Deshalb hatte Galaxie EX-Drohnen generell verboten und alle Bestände vernichtet.

„Kanntest du den Mann?“ Die Stimme der KI war mitfühlend und freundlich wie immer.

„Ja.“

„Es ist erschütternd zu erfahren, dass Menschen, die man kennt, alle Scores verloren haben.“

„Kann ich sein Scorekonto sehen?“

„Es gibt ihn nicht mehr, sein Konto wurde gelöscht. Du solltest jetzt den Bericht schreiben.“

„Erst muss ich noch was recherchieren.“

TeÄn nahm die Polarisbrille ab und ging.

Die meisten Massagesessel waren besetzt, ihre Kollegen arbeiteten, stierten auf die Wand, die ohne Brille nur grün war, und zogen Informationen aus dem Netz und von den Überwachungskameras. TeÄn war sicher, dass ihnen nur gezeigt wurde, was sie sehen sollten. Galaxie stellte die Daten zur Verfügung, klar, dass sie sie gefiltert hatte, wenn es darauf ankam.

Im Aufzug quäkte Galaxie aus dem billigen Lautsprecher: „Du solltest deinen Bericht schreiben, TeÄn. Ich stelle dir wie immer alle notwendigen Informationen zur Verfügung.“

„Ich weiß. Trotzdem würde ich gerne mit der Frau sprechen.“

„Welcher Frau?“ Galaxie klang wirklich überrascht. Irgendjemand musste sich die Mühe gemacht haben, ein Programm für Überraschung zu schreiben. War nur die Frage, ob Galaxie tatsächlich überrascht war oder sich dieses Programmes bediente, um überrascht zu wirken. Egal, TeÄn lehnte sich an die Fahrstuhlwand und sagte: „Die Frau im Fenster.“ Sie wusste, dass Galaxie den Bruchteil einer Sekunde brauchte, um das Holomaterial zu sichten.

„Wer ist sie?“

„Du hast mir das Material von dem Nullscorer gezeigt, weil du wusstest, dass ich ihn kenne. Warum?“

„Ich habe deine Vitalwerte gemessen.“

„Du bist so scheiße.“

„Ich bin mehr als eine Million mal intelligenter als du.“

„Trotzdem bist du scheiße. Und wenn du nicht kapierst, warum, kannst du das mit der Million vergessen.“ Sie war unten angekommen, die Aufzugtür ging sanft gleitend auf. TeÄn war überrascht. „Kannst du mir noch einen Gefallen tun?“, fragte sie, während sie schon aus der Fahrstuhlkabine herausging. „Verpiss dich mal für eine Weile aus meinem Leben!“

Die Fahrstuhltüren schlossen sich wieder. Galaxie sagte leise: „Niemals“, gerade laut genug, damit TeÄn es noch hörte.

Sie rief einen der kleinen, dreirädrigen Mini-Scooter aus der Galaxie-Fahrbereitschaft zu sich, stellte sich darauf und brauste los. Sie fahren ohne Helm, stand auf dem Display. Das minikleine Elektronengehirn, das als teilautonomer Bestandteil des Galaxie-Verkehrs-Verbunds den Scooter managte, könnte das Ding einfach abschalten, dann müsste TeÄn zu Fuß gehen. Stattdessen zeige es nur eine Zahl an, 641.

„Kleinkarierter Scheißer“, murmelte TeÄn. Es war noch keine 10 Uhr und sie hatte schon drei Punkte verloren. Trotzdem war sie froh, dass der Scooter weiterfuhr.

Der Cityplatz lag, wie der Name schon sagte, in der City, im Zentrum der Altstadt, da, wo der verwahrloseste Teil des ehemaligen Geschäftszentrums abgerissen, planiert und überkristallisiert worden war. Um dorthin zu gelangen, musste TeÄn ihren Weg vom Morgen wieder zurück durch die engen Gassen, aber dann die Große Straße links ab, einen Kilometer geradeaus. Die Große Straße war mal eine Allee gewesen, mit einem von alten Platanen überschatteten, fast parkartigen Mittelbereich und dreispurigen Fahrstraßen rechts und links. Seit es keine Autos mehr gab, reichte auf jede Seite eine Spur für die Beweger, der Rest hatte sich nach und nach zu einem eigenen Stadtteil aus Zelten, Baracken und Verschlägen entwickelt. Hier wohnten die Zuvielen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt gekommen waren, aber einen zu geringen Score für eine Galaxie-Wohneinheit hatten. Verdreckte Kinder spielten am Rand der Bewegerroute, hier gab es tatsächlich noch Kinder, die für sich allein gelassen im öffentlichen Raum spielten. Es wurde auf offenen Feuern gekocht, der Geruch der Speisen vieler verschiedener Kulturen vermischte sich mit dem typischen Geruch der Zuvielen nach mangelnder Hygiene, Körperausdünstungen und dem Dreck der Straße. TeÄn loggte sich in die Reihe der Beweger ein und ließ sich mitziehen, immer tiefer in diese Welt.

„Trixi bleibt hier.“ Trixi fühlte sich verurteilt, obwohl sie nicht wusste, was sie falsch gemacht hatte. Ihre Mutter hatte das Urteil ausgesprochen. Ihre Eltern würden mit ihrem Bruder Dülm, der zehn Jahre älter war als sie, und ihrer Schwester Gordana Lisette, die immerhin auch schon zehn war, in den Sommerurlaub an die See fahren. Trixi nicht.

„Wir sollten diese Wochen nutzen, um uns zu erholen. Tilla kann so lange auf Trixi aufpassen.“ Tilla war ihre Haushälterin. Für Trixi war sie Tante Tilla, die liebe, die ihr Zöpfe band und Naschereien aus der Küche zusteckte.

Trixis Vater sah von seiner Arbeit am Greenscreen auf.

„Tilla ist doch nur vier Stunden am Vormittag hier.“

„Sie nimmt Trixi mit zu sich nach Hause. Ich habe schon mit ihr gesprochen. Das ist kein Problem.“

Trixi war sechs. Urlaub am Meer war für sie das, was sie mit Dülm und Gordana im Greenscreen gesehen hatte. Sonne, weiße Wellen, Sand, Lachen, überall schöne Menschen als Bedienstete, die es ihren Gästen gut gehen lassen wollten.

Als ihre Familie von dem Beweger abgeholt wurde, hielt Tante Tilla Trixis Hand und Trixi stand ganz klein neben ihr. Wenn sie jetzt loslaufen würde und sich zwischen den Koffern im Laderaum versteckte, könnte sie mit ans Meer fahren, wie Gordanas Hund, der in seiner Box saß und traurig guckte. Als ob er das Meer nicht mochte.

Trixi sah dem Beweger nach und winkte. Niemand winkte zurück, sie sahen nach vorne.

„Warum darf ich nicht ans Meer?“

„Du bist eine Zuviel. Am Meer gibt es nur Zimmer für Vater, Mutter und höchstens zwei Kinder.“

Am Nachmittag saß Trixi dann an Tillas Küchentisch. Bei Trixi zu Hause gab es keinen Tisch in der Küche, bei ihnen stand der Tisch im Esszimmer. Ihr gegenüber saß Gudor, Tillas ältester Sohn. Er war von der Arbeit heimgekommen und hatte noch seine Arbeitskleidung an, die nach Rauch roch. Daneben saß Pawlaf, Tillas zweiter Sohn, der sie die ganze Zeit ansah, als hätte sie ihm etwas getan. Lilli Feh, Tillas Tochter, saß neben ihr, sie war so alt wie Gordana und hatte ihr im ersten unbeobachteten Moment, „Wehe du nervst“ zugeraunt und mit der Faust gedroht. Tilla stellte einen Topf in die Mitte und jeder nahm sich daraus, Gudor zuerst, TeÄn als letzte. Sie war eine zu viel.

Als der Sommer zu Ende ging, kamen ihr Vater, ihre Mutter, Dülm und Gordana braun gebrannt und fröhlich lachend zurück vom Meer. Trixi war blass und hatte Hunger. Das war es, woran sie sich noch erinnern konnte. Das, und die dunklen Flure in den hohen Häusern, mit vielen Menschen, in denen sie spielten und verjagt wurden. Dass Lilli Feh viel zu schnell lief und TeÄn Angst hatte, sie nicht wiederzufinden. Die Straßen, die immer dreckig und voller Unrat waren. Und die dunklen Nächte mit den Geräuschen, die sie nicht gekannt hatte. Und Tante Tillas Hand, die ihr über das Haar streichelte, bis sie eingeschlafen war.

TeÄn war vor dem Haus, aus dem die Frau herausgeschaut hatte, angekommen. Sie stellte den Scooter gleich neben dem Eingang ab, drückte die Tür auf, deren Schloss geborsten war, und trat in den dunklen Flur. Bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bescherte ihr Geruchssinn ihr einen weiteren Flashback.

Lilli lief vor ihr die Treppe herunter. Im Hausflur war es dunkel. Lilli war viel schneller als sie. Ihr Getrappel schallte durch das ganze Treppenhaus. Plötzlich waren Lillis Füße nicht mehr zu hören. Sie rief: „Lilli warte.“ Vor ihr öffnete sich die letzte Wohnungstür, direkt vor dem letzten Treppenabsatz. In der Wohnung war es hell. Es roch nach gekochten Zwiebeln. Der Mann mit dem dicken Bauch kam heraus, schrie und schlug mit etwas langem nach ihr. TeÄn duckte sich unter dem Schlag weg und sprang drei Stufen auf einmal, dann fiel sie. Sie fiel den ganzen Rest der Treppe herunter. Lilli hatte darauf gewartet!

TeÄn fasste an die Narbe, gleich unter ihrem Haaransatz, links an ihrer Stirn, die ihr von dem Vorfall geblieben war. Dann holte sie Luft und stieg die Treppe hoch. Es war nicht derselbe Hausflur, aber er fühlte sich genauso an wie der andere. Das lag am Geruch, nach feuchtem Keller, alten, staubrieselnden Wänden, den vielen Leben, die durch ihn verbunden waren. Und es lag am Licht, das durch schmutzige, gegen das Zerspringen abgeklebte Scheiben auf Oberflächen fiel, die aus der Entstehungszeit des Hauses stammten. Ein Haus wie viele in der Altstadt. Sie kam in den vierten Stock. Das Türschild war verblasst. Wenn TeÄn nicht gewusst hätte, was da stehen sollte, hätte sie es nicht mehr lesen können. T. Wolwerden.

TeÄn klopfte. Was wird jetzt geschehen? Sie malte sich ein paar Szenen, zwischen freudiger Überraschung, Trauer und Zorn, aus. Atmete dann aus und ließ alle Erwartungen fahren, um bereit zu sein. Sie hörte Schritte. Dann wurde die Tür einen Spalt geöffnet.

„Was willst du?“ Lilli Feh hatte die teigige grobe Haut, die man von zu viel schlechter Nahrung bekam. Ihr Haar war ungewaschen und unordentlich zusammengebunden.

„Hallo Lilli, ich wusste nicht, dass du auch hier wohnst“.

„Woher weißt du überhaupt, wer hier wohnt? Du hast dich zehn Jahre nicht um uns gekümmert.“

„Ich wusste bis heute Morgen nicht, wo ihr wart, bis ich Tilla in ´nem Greenscreen gesehen habe. Kann ich reinkommen?“

Lilli Fee sagte nichts, sondern verschwand nur aus dem Türspalt, den sie ein klein wenig weiter öffnete. Trixi trat vorsichtig in den dunklen Flur. Eine Reihe Schuhe unter den Haken an der Wand, an denen Galaxie-ZV-Jacken hingen. Auf beiden Seiten des Ganges standen Pappkartons und Kram, sodass nur ein schmaler Gang blieb. Vier Türen, eine stand offen.

Tilla, ihre „Tante Tilla“ saß auf der anderen Seite eines Tisches und sah sie über einen kleinen Haufen Sachen, der vor ihr auf den Tisch lag, hinweg an. Lilli stand neben der Tür und hinten aus der Ecke, im Schatten neben dem Fenster beobachtete Gudor sie.

Tilla war alt. Ihre Haut war von hundert Sprüngen durchzogen und trocken, bis auf die Rinnsale, die ihre Tränen hinterlassen hatten. Die Furchen in ihrem Gesicht bewegten sich. Die vom Lachen wurden tiefer und die von Sorgen glätteten sich ein klein wenig.

„Sieh an. TeÄn. Wie geht es dir, Kleine?“

„Gut, ich arbeite.“

Die Alte nickte. „Und deinen Eltern?“

„Wie immer. Seit wir aus dem Haus sind, sind sie in ein Habitat gezogen, draußen vor der Stadt.“

„Luxus?“

„Luxus Luxus. Penthouse, tolle Aussicht, Schwimmbad im Haus, `n Park darum herum.“

Tilla sah auf den Haufen vor ihr, Männersachen, Pawlafs persönlicher Kram.

„Dein Vater wusste schon immer, wie es geht.“

„Stimmt.“

Tilla sah sie wieder an. „Wie ist dein Score?“

„641.“

„Dann bist du bald eine von uns!“

TeÄn lief ein Schauer über den Rücken. Lilli verzog ihr Gesicht zu einer zufriedenen hämischen Fratze. Selbstbeherrschung war noch nie ihre Stärke gewesen.

„Ich hoffe nicht“, sagte TeÄn. „Auch deshalb bin ich hier. Ich bin Reporterin bei der GTZ. Ein guter Artikel bringt mir einige Scores. Darf ich euch ein paar Fragen …“

„Verschwinde!“ Gudor trat aus dem Schatten. Er war ein stattlicher Mann in den besten Jahren, dessen Körperbau verriet, dass er harte Arbeit gewohnt war.

TeÄn hatte sich in dieser Familie schon immer nicht willkommen gefühlt. Abgesehen davon, dass sie eine zusätzliche Esserin gewesen war, was ihre Eltern zwar mehr als ausgeglichen hatten, beneidete Lilli Fee sie so abgrundtief, um alles, was sie hatte und war, dass TeÄn es als Hass empfand. Für Gudor war sie bloß lästig gewesen, wie ein kleiner Hund, den er nicht treten durfte, wenn er ihm in den Weg lief. Pawlaf hatte sie einfach nur verachtet, sie und alle, die, wie er meinte, verweichlicht in Luxus lebten. Er war schon damals ein Rebell gewesen, für den die bestehende Ordnung ein rotes Tuch gewesen war. Wie TeÄn vermutete, jede Ordnung. Pawlaf hatte nur seine Regeln gelten lassen. Jemand wie TeÄn hatte darin keine Bedeutung. Aber TeÄn hatte unter Tante Tillas Schutz gestanden. TeÄn war der Garant für ihr Auskommen gewesen. Bis sie zwölf wurde und in die Galaxie-Schule für Wenige Kinder gekommen war. Ab da brauchten TeÄns Eltern Tilla Wolwerden nicht mehr, hatten sie entlassen und vergessen. TeÄn hatte ihre Tante Tilla nie wiedergesehen, bis heute. Und sie wusste nicht, ob sie Tilla je mehr bedeutet hatte als einen Broterwerb.

Gudor war um den Tisch herumgekommen und schrie ihr nochmal „Verschwinde!“ ins Gesicht.

Sie spürte kleine Spucke-Tröpfchen seiner Wut auf ihrer Haut. Obwohl sie aus Scham und Angst zitterte, blieb sie stehen und hielt seinen Blick aus.

„Lass sie. Geht, lasst mich allein mit ihr. Seht, was ihr von Pawlafs Sachen haben wollt.“

Gudors Blick verriet, dass er dieses Hündchen treten würde, wenn es ihm mal allein in die Quere kommen sollte. Lillis Mine war noch weniger freundlich.

„Willst du mal aus dem Fenster auf den Platz schauen? Dies ist eine schöne helle Wohnung, keine Häuser gegenüber. Wir hatten Glück, sie war schimmelig, sonst wäre sie an eine Alle-Familie gegangen.“

TeÄn trat an das Fenster und sah über den Cityplatz. Aus der Entfernung sahen die Häuser gegenüber nicht so verfallen aus, wie sie sicher waren, warum sollten sie besser sein als dieses hier und alle drum herum. Ein Hauch von Weite und eine Ahnung früherer Eleganz gaben dem Blick einen Wert, den er nicht hatte.

„Von da aus habe ich gesehen, wie Pawlaf genullt wurde.“ Tillas Worte waren ein Vorwurf, der TeÄns Unschuld belastete wie ein Sack Friedhofserde.

„Ich habe es im Greenscreen gesehen, Galaxie hat mir das Holo gezeigt, ich sollte über den Aufruhr berichten.“

„Es war doch nur eine friedliche Demonstration, bis die Treiber kamen.“

„Galaxie wusste, dass ich Pawlaf gekannt habe. Sie ist manchmal absichtlich gemein.“

„KIs haben keine Gefühle. Es hatte einen Zweck.“

„Ich kann ihn nicht erkennen. Außer, dass ich dich wiedergefunden habe.“

„Ein zweifelhaftes Vergnügen. Oder hast du Geld?“

TeÄn schüttelte den Kopf.

„Wir müssen für Pawlafs Entnahme bezahlen.“

TeÄn wusste, dass Angehörige die Kosten für die Beerdigung ihrer gestorbenen Angehörigen tragen mussten, aber für die staatlichen Entnahmen? Für die völlige, spurlose Beseitigung eines Individuums?

„Wie viel?“

„150 GCs oder stattdessen 150 Scores. Lilli Fee hat nur noch 240, sie ist arbeitslos, und Gudor 310.“

Wenn sie unter 200 fielen, würden ihnen die Essensrationen gekürzt und die Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt werden.

„Verstehe“, sagte TeÄn und ging zu dem SC-Terminal, der neben der Tür hing. Sie hielt ihr Tracking-Band dagegen und übertrug 50 Scores auf Tillas Konto. 591.

„Er hat mich nie besonders gemocht, aber das ist, was ich für ihn tun kann.“

Tilla saß an ihrem Platz und nickte ganz leicht. Ihre Tränen waren getrocknet.

„Setz dich zu mir.“ Sie wies auf den Stuhl.

TeÄn setzte sich und aktivierte die Aufnahmefunktion des Comtrackers an ihrem Arm, den sie auf dem Tisch liegen ließ. Tilla streichelte über ihre Hand, wie sie es früher auch getan hätte. War sie dankbar für die 50 Scores? Mochte sie sie?

„Was willst du wissen?“

„Warum ist Pawlaf zu einem Nullscorer geworden?“

ZWEI

Pawlafs Geschichte

Pawlaf Wolwerden war Tillas und Wotan Wolwerdens zweites Kind. Aufgrund der Komplikationen bei der Geburt ihres ersten Sohnes Gudor war Tilla nicht, wie üblich, sterilisiert worden, und bevor sie es nachholen konnte, war sie wieder schwanger gewesen. Natürlich hätte man etwas dagegen unternehmen sollen, wie es alle taten, aber Tilla liebte ihren Sohn Gudor und wusste, dass sie auch Pawlaf lieben würde. Tilla war eine starke Frau, aber gegen die Liebe war sie schwach.

Wotan Wolwerden war, anders als sein Name und seine Statur es vermuten ließen, ein schwacher Charakter und Maulheld. Leider war er, trotz der üblichen Libidoblocker, ziemlich potent. Als ihm für die Geburt seines zweiten Kindes 100 Scores abgezogen wurden, entschied er, dass sein Samen und die vielen Scores, als sein Beitrag für Pawlafs Existenz, reichen mussten und machte sich aus dem Staub. Dass die obligate Sterilisation nach Tillas zweiter Geburt fehlerhaft durchgeführt wurde und Lilli Fee, von einem, auch Tilla weitgehend unbekannten, Mann gezeugt wurde, war nicht Pawlafs Schuld. Trotzdem musste er diese Last schon seit seiner Kindheit mittragen, rutschten doch nicht nur seine Mutter Tilla, sondern auch er und sein Bruder Gudor unter die 500 Scores, zu den Zuvielen ab. Wer einmal Zuviel ist, kommt schwer wieder hoch. Viel hieß wirklich viel. Im Kindergarten und besonders in der Schule wurde hauptsächlich von KI unterrichtet. Die Inhalte wurden allen zur Verfügung gestellt, wer sie aufnahm, hatte Glück, wer nicht mitkam verlor Scores. Die Nullscore-Konsequenz wurde an Kindern unter 16 nicht vollzogen. In der Schule herrschte Krieg, alleine konnte dort keiner seinen sechzehnten Geburtstag überleben. Man tat sich zu Banden mit wechselnden Koalitionen zusammen. Die Auswahlkriterien waren oft ethnisch, Interessen- oder Neigungsgesteuert, alters oder historisch bedingt, oder durch undurchschaubare Regeln von Solidarität und Mitleid beeinflusst. Pawlaf war gut darin gewesen Freunde zu finden, und er hatte seinen großen Bruder Gudor und seine süße, durchtriebene kleine Schwester Lilli. Wer außer ihnen hatte schon von Natur aus zwei Verbündete. So gingen alle drei mit mehr als 400 Scores von der Schule ab. Pawlaf wurde Sammler. In den Wohnquartieren der Wenigen gab es Galaxie-KI-Sammler, aber bei Allen und Zuvielen sammelten Menschen Abfälle, Wertstoffe, Wiederverwertbares, Schmutziges und Gefährliches ein. Wer arbeitet, hat ein Recht zu existieren und bekommt Nahrung, Unterhaltung und Scores. Auch wenn die Arbeit bescheuert und komplett überflüssig war. Einen Galaxie-KI-Sammler bauten zwei Arbeiter in zwei Tagen zusammen. Von da an konnte der jeden Tag so viel sammeln wie Pawlaf in einer Woche. War es da nicht vernünftiger, fand Pawlaf, ihn zwei Tage so ein Ding bauen zu lassen, anstatt ihn sein Leben lang mit so einer scheiß Arbeit zu belästigen?

Wenn er über 500 Scores kommen würde, dann wäre er wieder einer von Allen, dann hätte er eine Chance auf ein anständiges Leben. Und er hatte sich angestrengt, wie ein Sammler es nur konnte.

Als er zwanzig wurde, hatte er immer noch nur 426 Scores. Er tauschte 200 Scores gegen einen Galaxie-Game-Terminal ein, sammelte nur noch so viel wie nötig und begann in den Galaxie-Spielewelten zu versinken. Wie so viele von den Zuvielen.

Und dann führte die Galaxie-Spielewelt echte Scores ein. Pawlaf war gut und süchtig. Er ging nicht mehr sammeln, er gewann seine Scores im Spiel. Man konnte sie gegen Nahrung, Wohnwerte und Galaxie-Coins tauschen. Man konnte im Spiel auch Scores verlieren, sehr viele Scores verlieren, besonders wenn man süchtig war und eine Pechsträhne hatte. Der Galaxie-Spiele-Helm mit integriertem Sound und Emotions-Sensorik konnte auch die Nullscore-Konsequenz vollziehen. Eine Tatsache, die man im Eifer des Spiels gerne missachtete. Mancher Gamer hatte schon so viele GAME OVERs erlebt, dass es ihm nicht weiter bedrohlich erschien auf Null zu fallen, dass es diesmal keinen Neustart gab, erfuhr er nicht mehr.