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Ein eindrucksvolles Buch, das persönliche Erfahrungsberichte, Gedichte und Bilder von Betroffenen und ihren Angehörigen vereint. Die Vielfalt der Perspektiven und Beiträge eröffnet einen tiefen Einblick in die oft unsichtbare Welt der Zwänge. Einzigartig ist das Nebeneinander von Beiträgen von Betroffenen und nahen An- und Zugehörigen. Sichtbar werden die spezifischen alltäglichen Herausforderungen im Umgang mit Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln, aber auch kreative Bewältigungsstrategien, die allen im »Zwangsland« Hoffnung geben. Dieses Buch ist ein wertvoller Begleiter auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben jenseits der Zwänge. Empfohlen von der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mein Kopf arbeitete Tag und Nacht
»Man kann die Zwangsgedanken nicht einfach nicht denken und die Zwangshandlungen nicht einfach nicht mehr machen. Auch wenn wir Betroffene uns vermutlich nichts sehnlicher wünschen. Wir haben uns diese Erkrankung nicht ausgesucht und wir wissen, dass wir damit die Geduld unserer Angehörigen strapazieren. Wir können im Zwangsgeschehen leider oft nicht auf die Bedürfnisse derer eingehen, die uns nahestehen. Vermutlich nehmen wir sie oft nicht einmal richtig wahr. Aber dennoch lieben und brauchen wir euch.«
Julia, 33
Ina Jahn (Hg.)
Zwangsland
Leben mit Ängsten, Unsicherheiten und Zweifeln
BALANCE erfahrungen
BALANCE erfahrungen
»Zwangsland« zeigt die Herausforderungen, aber auch die Stärke und Kreativität von Menschen mit Zwangsstörungen. Es bietet Verständnis, Hoffnung und Ermutigung für alle, die direkt oder indirekt von Zwängen betroffen sind.
Ein eindrucksvolles Buch, das persönliche Erfahrungsberichte, Gedichte und Bilder von Betroffenen und ihren Angehörigen vereint. Die Vielfalt der Perspektiven und Beiträge eröffnet einen tiefen Einblick in die oft unsichtbare Welt der Zwänge. Einzigartig ist die Vielstimmigkeit von sowohl Betroffenen als auch Angehörigen. Sie schildern ihre alltäglichen Herausforderungen im Umgang mit Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln, aber auch kreative Bewältigungsstrategien, die allen im »Zwangsland« Hoffnung geben.
www.psychiatrie-verlag.de
Ina Jahn (Hg.)
Zwangsland
Leben mit Ängsten, Unsicherheiten und Zweifeln
BALANCE erfahrungen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86739-359-1
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-372-0
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-373-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://portal.dnb.de/ abrufbar.
© Psychiatrie Verlag, Köln 2025
Psychiatrie Verlag GmbH
Ursulaplatz 1
50668 Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor. Lektorat: Karin Koch, Köln
Umschlagkonzeption und -gestaltung: Michael Schmitz, Arnbruck,
www.grafikschmitz.de, unter Verwendung einer Illustration von Elias Behnke
Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein
Satz: Psychiatrie Verlag, Köln
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Geleitworte
Vorwort
Zwangsland
Michaela, 57 Jahre
Im Zwangskarussell ist noch ein Platz frei
Julia, 33 Jahre
Verzwanghaftet
Tamara, 16 Jahre
Duschlotto
Maja, 52 Jahre
Die schwarze Wolke
Teresa, 19 Jahre
Bunte Freiheit
Elisa, 19 Jahre
Der mühevolle Aufstieg
Vera, 49 Jahre
Wo geht’s denn hier zum Bahnhof?
Peter, 20 Jahre
Ich wollte mir all den Schmerz herausreißen
Marie, 38 Jahre
Ein Gamechanger
Claudia, 51 Jahre
Mein Zwang auf der Ersatzbank
André, 40 Jahre
Aus der Welt eines Intensivsammlers
Dankmar, 68 Jahre
Der Schock
Ines, 68 Jahre
Vom Rauchen der Finger
Kolja, 49 Jahre
Mein innerer »Monk«
Kathleen, 44 Jahre
Die Last der Gedanken
Hayley, 18 Jahre
Streitmodus
Jacqueline, 36 Jahre
Das Versteckspiel
Nadja, 20 Jahre
Unbekanntes Terrain
Silvio, 23 Jahre
Wie der Zwang mich zwingt zu leben
Lucas, 20 Jahre
Der Kleber, der mein Leben zusammenhalten soll
Sophie, 28 Jahre
Eine Tasse Haferbrei
Tabea, 59 Jahre
Bis wohin gehen Ihre Hände? Oder: Wenn Fragen Sicherheit geben
Josephine, 44 Jahre
Sammelleidenschaften
Emil, 23 Jahre
Immer diese Angst
Jeff, 31 Jahre
Die Diagnose, erstmals gelesen
Janine, 40 Jahre
Zugfahren mit Zwang
Anette, 60 Jahre
To Control
Rosa, 38 Jahre
Das Zwangsmonster zieht an meinen Nerven
Vincent, 16 Jahre
Antippen
Joshua, 13 Jahre
Grenzerfahrung
Beatrice, 49 Jahre
Unsicheres Land
Ruben, 54 Jahre
Zwölfchen
Estrella, 32 Jahre
Eine lange Odyssee
Sören, 51 Jahre
Diese Sache, die sich schwer erklären lässt
Clara, 27 Jahre
Mut und Hoffnung
Isabella, 48 Jahre
Einmal Zwang zum Mitnehmen, bitte!
Hendrik, 19 Jahre
Mein Partner, der Waschzwang und ich
Paula, 19 Jahre
Alle wollen los, aber unser Sohn duscht immer noch
Bianca, 54 Jahre
Jeder Tag – eine neue Herausforderung
Jan, 46 Jahre
Alles im Leben hat seine Zeit!
Janett, 45 Jahre
Denken müssen wir ja sowieso
Barbara, 70 Jahre
Bye bye, Dermatillomanie!
Alba, 30 Jahre
Zwei Seiten der Medaille
Elias, 22 Jahre
Das Auf und Ab einer Zwangserkrankung
Maria, 49 Jahre
Die Richtung stimmt
Elke, 61 Jahre
Aufgeben ist keine Option
Emma, 40 Jahre
Mein Quatschkopf
Michael, 59 Jahre
Einige Gedanken und Vorstellungen zum Schluss
Georg, 56 Jahre
Wege aus dem Zwangsland
Zwangsstörungen zählen zur vierthäufigsten psychischen Erkrankung weltweit. Neben Zwangsgedanken, Grübeln gehören Waschen, Putzen, Kontrollieren, Ordnen zum Alltag vieler Betroffener. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass diese Gedanken und Handlungen unsinnig sind. Sie können aber nicht anders, weil die Zwänge ihnen unter anderem Sicherheit und Orientierung geben. Angehörige wie Eltern, Partner und Freunde werden oftmals stark in die Zwänge einbezogen und tragen so zur Aufrechterhaltung des Zwanges bei. Betroffenen und Angehörigen ist dieses Verhalten sehr peinlich, darum wird es immer wieder vor anderen verheimlicht.
In diesem Buch geben Betroffene und Angehörige Einblicke, wie sich das Leben mit einer Zwangsstörung anfühlt und aussieht. Anhand von eigenen Erfahrungen, Bildern und Gedichten lernen wir ihre Welt kennen und verstehen. Was müsste passieren, um die Zwänge in die Schranken zu weisen? Welche Therapien und Menschen haben dabei geholfen, sich der Erfahrung zu stellen?
Mit diesen Erfahrungen, Bildern und Gedichten möchten alle Beteiligten Mut machen, den Weg aus Isolation und Verheimlichung zu finden. Mithilfe von Selbsthilfegruppen, Literatur und therapeutischer Unterstützung ist es möglich, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Antonia Peters
Vorsitzende Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.
Es ist beeindruckend, was Menschen, die Zwangserkrankungen erlebt haben, beschreiben und künstlerisch umsetzen können. Sicherlich sind diese Bilder, Gedichte und Texte nicht nur und ausschließlich durch die Zwangserkrankung der Betroffenen und des Mitleidens ihrer Angehörigen entstanden. Aber das Erleben und Erfahren dieser oft peinlichen, schambesetzten und mit Leid verbundenen Erkrankung hat in diesen berührenden und faszinierenden Beiträgen seinen Ausdruck gefunden. Dies fesselt interessierte Leserinnen und Leser und eröffnet uns, den Nicht-so-Betroffenen, eine neue Welt.
Es ist der langjährig tätigen, hochkompetenten und vor allem leidenschaftlichen Psychotherapeutin Ina Jahn zu verdanken, dass die Beiträge dieser betroffenen Menschen zusammengetragen wurden und nun in diesem wunderbaren Buch präsentiert werden können.
Mit einer zutiefst wertschätzenden und respektvollen therapeutischen Grundhaltung gelang es ihr, das Vertrauen der hier vertretenen Autorinnen und Autoren zu gewinnen und sie zu ermutigen, der Öffentlichkeit zum Teil sehr persönliche und fast immer bisher verborgene Gedanken, Eindrücke und Erfahrungen zu präsentieren.
Empowerment, Recovery und Förderung von Selbstwert und Autonomie sind die professionellen Bezüge dieser Entwicklung.
Ich wünsche diesem Buch ein breites, interessiertes Publikum. Und ich wünsche mir, dass es Menschen mit Zwangsstörungen und ihre Angehörigen ermutigt und stärkt.
Katarina Stengler
Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit und Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Helios Park-Klinikum Leipzig
Als besonders wertvoll empfinde ich es, dass in diesem Buch sowohl Betroffenen als auch Angehörigen Raum gegeben wird, ihre Erfahrungen mit der Erkrankung zu teilen. Dass dies auf so unterschiedlichen kreativen Wegen erfolgen konnte, bereichert das Buch außerordentlich.
Aus eigener Erfahrung und aus meiner Tätigkeit als Peer-Unterstützerin weiß ich, wie oft man als Betroffener keine Sprache findet, um dem Gegenüber das quälende innere Erleben mitzuteilen. Und wie tiefgehend diese Sprachlosigkeit in die innere Emigration führt. Dies betrifft sowohl die Erkrankten selbst als auch die Angehörigen. Sehr berührend kommt in dem Buch immer wieder zum Ausdruck, wie stark der Zwang in das Leben von Familien bzw. Partnerschaften eingreift und immer mehr Raum fordert.
Insofern hat das Buch eine zentrale »Brückenfunktion«. Es baut Brücken, vom Betroffenen zur Außenwelt, vom Betroffenen zum Angehörigen. Auch Angehörige bauen aus ihrer Perspektive mit. Ihre Texte überbrücken die Mauern in der Beziehung zum Kranken, die der Zwang mit seinen unerbittlichen Forderungen immer wieder baut.
Beim Lesen gedanklich über diese Brücken zu gehen, ermöglicht Perspektivenwechsel. Sich so öffnende Kommunikationsräume tragen zum gegenseitigen Verständnis bei. Das dadurch wachsende Einfühlungsvermögen in andere kann ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Genesung sein.
Es hat mich sehr berührt zu lesen, in welchem Spannungsfeld sich die Angehörigen befinden. Einem Spannungsfeld zwischen Mitgefühl, Solidarität und gleichzeitig der Notwendigkeit, dem Zwang Grenzen zu setzen, um die persönliche Integrität zu wahren. Was für ein hartes Ringen fast jeder heilsamen Entscheidung vorausgeht.
Ich danke allen Beteiligten für den Mut, sich mithilfe des selbstgewählten Ausdrucksmittels mitzuteilen. Als ebenfalls Betroffene weiß ich ganz genau, wie viel Courage es kostet, über das Erleben im Zwang zu sprechen. Ich bin sicher, dass dieser bemerkenswerte Schritt einen zutiefst heilsamen Effekt für diese Mutigen hat. Sich vor der Krankheit und ihren Folgen nicht mehr verstecken zu müssen und offen über das Erlebte zu sprechen, hilft, krankheitsbedingte Erfahrungen in das eigene Leben zu integrieren.
Darüber hinaus vermitteln die Beiträge sowohl direkt Betroffenen als auch ihren Mitmenschen exemplarisch, was der einzelne Erkrankte oder Angehörige konkret erlebt. Dies trägt dazu bei, dass sich persönliches, verstörendes inneres Erleben als Symptom einer behandelbaren Erkrankung »übersetzen« lässt. Für Betroffene und Angehörige, die noch still und im Verborgenen leiden, kann das Wiedererkennen in den Erzählungen anderer ein erster Schritt aus ihrer leidvollen Situation sein.
Zudem erlebe ich es als Peer-Unterstützerin als sehr bedeutsam, dass durch die verschiedenen kreativen Beiträge im Buch verschiedene Facetten der Persönlichkeiten von Betroffenen sichtbar werden. Ich finde es sehr wichtig, dass die Wahrnehmung von Menschen mit Zwangserkrankungen nicht auf die Symptome reduziert wird. Die ganzheitliche Betrachtung ihrer Person trägt zum Abbau von Fremd- und Selbststigmatisierung bei.
Im Kontakt mit anderen Betroffenen bemerke ich immer wieder, dass die Zwangsstörung eine der psychischen Erkrankungen ist, die besonders stark mit Vorurteilen versehen wird. Dies führt zur immer weiteren Ausgrenzung und Benachteiligung. Diesen Prozessen Erfahrungswissen entgegenzusetzen, wie es in dieser Publikation vermittelt wird, wirkt nachhaltig entstigmatisierend.
Das Buch vermittelt Hoffnung. Das Buch setzt durch das gedankliche Mitgehen beim Lesen der Texte und Betrachten der Bilder eine innere Bewegung in Gang. Später mündet diese vielleicht sogar in sichtbares Handeln. Und das ist gut so.
Möge das Ergebnis dieses einzigartigen Projektes viele Menschen ermutigen und inspirieren. Ich hoffe sehr, dass das Buch mit den so reichhaltigen Erfahrungsschätzen in vielen ambulanten Arztpraxen, Klinik- und öffentlichen Bibliotheken zu finden sein wird.
Sabine Voigt, Peer-Unterstützerin
Zwangsland. Ein Land mit engen Grenzen. So wie Wortbeginn und Wortende das Innere des Wortes lautmalerisch fest umschließen, so sind auch die Gedanken der betroffenen Menschen fest eingeschlossen. Gedanken, die zur ständigen Wiederholung sinnloser Handlungen zwingen und dadurch wertvolle Lebensenergie binden. Zwangsland ist ein hartes Land, schwarzwolkig, eintönig und kalt. Zermürbend sind die ewigen Schleifen der Gedanken und Handlungen, die ausgeführt werden müssen, wenn man erst einmal dieses Land betreten hat. Trotzdem bietet der Aufenthalt in diesem Land auch Schutz, Sicherheit und Abgrenzung.
Zwänge werden eher im Verborgenen gelebt. Für die Gedanken und Handlungen, die damit einhergehen, erhofft man sich kein Verständnis der Mitmenschen, die Zwangsland noch nie betreten haben. Umso wertvoller ist dieses kleine Buch, welches uns ins Zwangsland hineinschauen lässt und damit die vielfältige Welt der Zwänge vor uns ausbreitet.
Die Idee zum Buch entstand in einer Angehörigengruppe. Eine Angehörige eines Zwangserkrankten meinte am Ende einer Gesprächsrunde: »Es ist so wertvoll, was sich die Angehörigen hier mit auf den Weg geben – man müsste das in einem Buch festhalten.« Im Nachgang sprach ich die Angehörige an, wir vereinbarten Termine, entwickelten gemeinsam ein Konzept und warben für unser Projekt. Auf dem Flyer stand in großen Buchstaben: »Sich etwas von der Seele schreiben – Einblicke geben – Erfahrungen (mit)teilen – anderen Mut machen.«
Zunächst folgte eine Zeit des Wartens. Doch je näher der Einsendeschluss heranrückte, desto mehr Texte, Bilder und Skizzen trafen ein.
Die Vielfalt der Erfahrungsberichte kann für jeden Betroffenen und Nicht-so-Betroffenen, aber auch für therapeutisch Tätige von Interesse sein. Gerade der Blick von verschiedenen Seiten, auch in Familiensysteme hinein, macht das Buch so besonders.
Ziel ist es, die Menschen, die sich im Zwangsland verirrten, in ihrer Schönheit und ihrem Leuchten zu zeigen. Sensibel, klug und kreativ präsentieren sie sich in Gedichten, Geschichten und Bildern. Oft mit einer erstaunlich genauen und klaren Sicht auf ihre Krankheit. Allen, die ihre Leiden, Kämpfe, Hoffnungen und auch ihre Erfolge mit uns teilen, sei von Herzen gedankt! Was von außen oft unverständlich erscheint, wird mit dieser Lesereise in das Land der Zwänge verständlich und nachvollziehbar. Und neben aller Traurigkeit und Verzweiflung, die vielleicht aus den Texten herüberweht, macht dieses Buch auch Mut und zeigt, dass Zwänge bewältigbar sind und der Kampf dagegen lohnt.
Ina Jahn
Michaela, 57 Jahre
Durch dein offenes Tor
betrat ich dich unbemerkt,
beim Spazierengehen der Gedanken,
in einem Augenblick der Unbedachtheit.
Verborgen ist die Lebendigkeit
der lichtdurchfluteten Tage.
Hinter den Ästen der verschneiten Bäume
lauern Wesen, die nach mir greifen.
Zwangsland, mich friert in dir.
Dein Tor ist noch nicht ins Schloss gefallen.
Einen tiefen Atemzug nehmend, trete ich beherzt
zurück in den warmen, lebendigen Wintertag.
Dieses Gedicht entstand in einer Phase, wo ich eine Ärztin gefunden hatte, bei der ich die mich belastenden Gedanken aussprechen konnte. Ich habe damals noch viel Rückversicherung gebraucht. Aber ich erlebte dadurch auch entlastete Stunden, also schon eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, diese Symptomlast nicht mehr zu haben.
Mein Leben glich vor dem Erkrankungsbeginn – äußerlich gesehen – dem eines ganz normalen Kindes. Ich war sehr gut in der Schule, trieb mit Begeisterung Sport und hatte feste Freundinnen.
Mit dem Eintritt in die Pubertät zeigten sich erste Symptome meiner Zwangserkrankung. Ich entwickelte Kontaminationszwänge in Bezug auf abgesonderte Körperflüssigkeiten und einen sich daraus ableitenden Waschzwang. Dieser legte sich später wieder. Die ebenfalls in dieser Zeit entwickelten Kontrollzwänge begleiteten mich dagegen über Jahrzehnte. Ich wurde unruhig, wenn ich allein oder wir als Familie das Haus verließen. Ich zweifelte daran, dass eine Kerze wirklich gelöscht oder der Wasserkocher auch wirklich ausgestellt wurde. Ich lief dann zurück und kontrollierte die befürchteten Umstände.
Im frühen Erwachsenenalter kamen Zwänge in Bezug auf meinen Körper, insbesondere auf mein Gesicht, hinzu. Infolgedessen bleichte ich mir regelmäßig die Flaumhaare im Gesicht. Heute weiß ich, dass diese Befürchtungen Teil der körperbezogenen Zwangsgedanken waren.
Während meiner Ausbildung im medizinischen Bereich entwickelte ich sehr starke, krankheitsbezogene Ängste. So vermutete ich, von einem Tumor des Blutsystems betroffen zu sein. Diese Befürchtungen gingen so weit, dass ich regelmäßig mit dem Lineal die Größe des »problematischen« Lymphknotens maß. Letztlich führte meine Angst dazu, dass Lymphknoten durch chirurgische Eingriffe entfernt wurden. Mit Abstand gesehen waren diese hypochondrischen Ängste ebenfalls ein Subtyp der Zwangsstörung. Die Entnahme der Lymphknoten und deren histologische Untersuchung beruhigten zwar diese spezifische Angst, aber letztlich bewirkt jede Form der Neutralisierung eine Stabilisierung der Zwangserkrankung, unter Umständen mit dem Wechsel der Zwangsthemen.
In den neunziger Jahren trat das Problem von AIDS an die Öffentlichkeit und wurde sehr ausführlich in den Medien thematisiert. Ich entwickelte nun sehr starke Ängste hinsichtlich dieses Themas. Zu all den ohnehin bestehenden Befürchtungen in Bezug auf die praktische Arbeit in meiner Ausbildung kamen sehr große Sorgen hinzu, mich durch den Kontakt mit Blut mit HIV zu infizieren. Als ich jemandem ein Pflaster reichte und er nicht »konzentriert genug« darauf achtete, ob er mich berührte oder nicht, war das ein einschneidendes Erlebnis. Ich war in Gedanken nun mit HIV »infiziert«. Ein Arzt, dem ich mich anvertraute und der Tests veranlasste, konnte mir nicht helfen. Meine Testergebnisse waren im folgenden Vierteljahreszeitraum immer negativ. Aber ich zweifelte deren Richtigkeit an. Mein damaliger Ehepartner reagierte fassungslos, als ich die Vermutung äußerte, dass die Blutproben möglicherweise vertauscht sein könnten. Ich wusste damals nichts von der Erkrankung, an der ich litt. Mir war nicht klar, wie sehr die Tests meinen Zustand verschlechterten.
Heute, mit Abstand gesehen, weiß ich, dass mich der andere Auszubildende, dem ich ein Pflaster reichte, gar nicht berührt hatte. Mein damaliges inneres Erleben resultierte aus einer typischen Denkverzerrung der Zwangserkrankung. In diesem Fall handelte es sich um eine hochgradige Verschmelzung von aufdringlichem Gedanken und befürchtetem Ereignis. Deshalb erzählte ich dem Arzt, der die Tests veranlasst hatte, mit tiefster innerer Überzeugung, dass »ganz viel Blut über meine Hand« gelaufen sei. Dieses innere Bild sah ich häufig vor meinen Augen. Dieses Erleben ist ein Ausdruck dafür, dass die aufdringlichen Gedanken Betroffene auch in Form von Bildern bedrängen können.
Mir war es nicht möglich, meine Ausbildung im medizinischen Bereich fortzusetzen. Um mit meinen Ängsten zurechtzukommen, schien mir der Abbruch meiner Ausbildung die einzig mögliche Lösung zu sein. Die wahren Gründe sprach ich nicht an. Ich erklärte, dass ich mit dem Profil des Berufes nicht zurechtkomme.
Dadurch befand ich mich in einer schwierigen persönlichen Situation. Ich stand ohne jeglichen beruflichen Abschluss da und wurde zum Empfänger von Sozialleistungen. Zudem konnte ich die Beziehung zum Vater meiner Tochter nicht mehr aufrechterhalten. Wir trennten uns im gegenseitigen Einvernehmen.
Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich mit Unterstützung von Freunden, dass ich von einer psychischen Erkrankung betroffen war. Ich absolvierte eine stationäre, nicht zwangsspezifische Therapie. Zu dieser Zeit gab es in der Stadt, in der ich lebte, noch kein Bewusstsein hinsichtlich Zwangserkrankungen und keine spezialisierten Behandlungsangebote. Ich ging davon aus, an einer Depression zu leiden. Die Therapie wirkte kaum in Bezug auf meine Ängste. Aber sie half mir insofern, dass ich viel soziale und auch emotionale Unterstützung erfuhr. Im Sinne einer beruflichen Rehabilitation bekam ich Zugang zu einer weiteren Ausbildung.
Ich entwickelte ein neues Lebensziel. Diese zweite Ausbildung bereitete mir Freude. In Bezug auf meine Lebensperspektive und meine familiäre Situation stabilisierte ich mich. Ich hatte auch die Hoffnung, weniger mit Ängsten konfrontiert zu sein. Aber die Erkrankung verschwand nicht. Die Art der aufdringlichen Gedanken veränderte sich nur.
Ich bekam zunehmend autoaggressive Gedanken und aggressive Zwangsgedanken in Bezug auf Kinder. Als alleinerziehende Mutter war es sehr belastend, mit diesen Symptomen zu leben. Das Problem verschärfte sich dadurch, dass mir nicht bewusst war, an einer Zwangserkrankung zu leiden. So viele Betroffene befürchten beispielsweise, ein Kind mit einem Messer zu verletzen.
Ohne das Wissen, dass dies ganz klassische Symptome einer Zwangserkrankung sind, ist es sehr überfordernd, die bedrängenden Gedanken und die damit verbundenen einstürmenden inneren Bilder zu ertragen. Zudem setzt sich der Zwang ganz besonders gern in Bereichen des Lebens fest, in denen die Betroffenen hohe moralische Werte haben, die sie auf jeden Fall in ihrem Leben umsetzen wollen. Mir war es immer sehr wichtig, meiner Tochter ein Aufwachsen in einer Art und Weise zu ermöglichen, die ihre körperlichen und emotionalen Grenzen nicht verletzt.
Meine Alltagssituationen in meinem Leben als alleinerziehende Mutter waren von ständigen problematischen Situationen geprägt. Ich litt unter starken aufdringlichen Gedanken, durch eine Unachtsamkeit anderen Menschen und insbesondere Kindern zu schaden. Beispielsweise plagten mich Ängste, dass sich in den Lebensmitteln, die ich in die Kita mitgegeben hatte, Splitter befanden. Wenn ich mit meiner Tochter unterwegs war und sie Gegenstände, wie beispielsweise herumliegende Büchsen, Äste oder Verkehrsschilder berührte, erzeugte das viel Anspannung, welche ich häufig nicht gut regulieren konnte. Ich empfand die Büchsen und die herumliegenden Äste als Stolperfallen. Wenn ein Verkehrsschild leicht wackelte, befürchtete ich, dass es umstürzen und andere erschlagen könnte.
Eine Sirene, die am späten Nachmittag nach einem Besuch eines öffentlichen Freibades ertönte, löste aufdringliche Gedanken aus, dass ich dort – von mir unbemerkt – ein Kind durch Untertauchen »ermordet« haben könnte. Ein abgerissener Drachen im Herbst verursachte große Befürchtungen, dass dieser ein Unglück verursachen könnte.
Zudem waren aufdringliche Kontaminations-Zwangsgedanken in Bezug auf Krankheitserreger meine ständigen Begleiter. Wenn ich mit meiner Tochter im Wald unterwegs war und sie Äste anfasste, beschlich mich die Sorge, dass sie sich mit Tollwut anstecken könnte.
Ich hatte in dieser Phase meines Lebens niemanden, dem ich mich vollkommen, auch mit dem Schwersten, anvertrauen konnte. Einer ambulanten Therapeutin, die ich zu diesem Zeitpunkt in größeren Zeitabständen aufsuchte, erzählte ich nichts von diesen speziellen Problemen. Wenn man sich von den Gedanken nicht distanzieren kann, ist es sehr schwer, mit anderen darüber zu sprechen, zumal ich auch unter starken körperlichen Reaktionen litt, wenn ich von den Gedanken bedrängt wurde.
Trotz dieser wirklich schweren Belastungen absolvierte ich die Ausbildung. Der unbedingte Wille, die Anforderungen der Ausbildung bewältigen zu wollen, öffnete mir Zugang zu meinen inneren Ressourcen und trug zur Stabilisierung bei. Ich fand auch gleich im Anschluss eine Arbeitsstelle.
Der Abschluss der Ausbildung und der zeitnahe Einstieg in die Erwerbsarbeit waren wichtige Faktoren, den Zwängen etwas von ihrer Macht zu nehmen. Zudem konnte ich in dieser Zeit neue freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Mit einer Freundin konnte ich ansatzweise über meine Ängste sprechen.