Zwei Bäume machen einen Wald - Jessica J. Lee - E-Book

Zwei Bäume machen einen Wald E-Book

Jessica J. Lee

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Beschreibung

Als Jessica J. Lee durch Zufall die gut versteckten Aufzeichnungen ihres verstorbenen Großvaters in die Hände fallen, entschließt sie sich, nicht nur ihrer Familiengeschichte nachzuspüren, sondern auch die Insel zu erkunden, auf der ihre Großeltern den Großteil ihres Lebens verbrachten: Taiwan. Im Bestreben, diese zwischen tektonischen Platten und gegensätzlichen Kulturen gelegene Insel der Extreme zu erforschen, legt Jessica J. Lee frei, inwiefern menschliche Schicksale mit geografischen Kräften zusammenhängen. Angetrieben von dem Wunsch, zu verstehen, welche Erschütterungen ihre Familie erst von China nach Taiwan und schließlich nach Kanada führten, spürt sie anhand dieser Insel mit ihren hohen Bergen, dem offenen Tiefland und den dicht bewachsenen Wäldern der Migrationsgeschichte ihrer Vorfahren mit all ihren Abgründen und Geheimnissen nach. Lee führt uns durchs Gebirge, in denen die Taiwangoldhähnchen zu Hause sind, berichtet von seltenen Vögeln und schwimmt in zedernbedeckten Seen. Doch jenseits ihrer persönlichen Erkundungen wirft Lee auch einen kritischen Blick auf die ehemaligen Kolonialherren Taiwans.

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Aus dem Englischenvon Susanne Hornfeck

Für meine Familie

NATURKUNDEN No 68herausgegeben von Judith Schalanskybei Matthes & Seitz Berlin

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

dao

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

shan

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

shui

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

lin

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Dank

Bibliografie

Plötzlich erschien der Baum wie ein

Scheiterhaufen, an dessen Fuß

die Asche der Götter erkaltet war.

BRANDON SHIMODA,The Papaya Tree

Vorbemerkung

Sprachbarrieren spielen in diesem Text eine große Rolle. Aufmerksame Leser werden feststellen, dass ich zwar die in Taiwan üblichen traditionellen chinesischen Schriftzeichen benutze, mich bei der Umschrift von Personen, Orten und anderen Begriffen in Mandarin aber für eine Kombination der beiden Systeme Wade-Giles und Hanyu Pinyin (Festland) entschieden habe.

Ich habe beide Umschriften im Buch beibehalten, weil es damit in Taiwan und in meinem Umfeld ziemlich durcheinandergeht. Schon das macht deutlich, wie komplex der Sprachgebrauch im heutigen Taiwan ist. Dennoch habe ich versucht, Pinyin immer dann zu benutzen, wenn es um das chinesische Festland geht, und Wade-Giles oder eine andere regionaltypische Variante, wenn es um Taiwan geht. Der Einsatz von Google Maps, das mit Hanyu Pinyin arbeitet, ist bei gemeinsamer Nutzung von digitalem und lokalem Kartenmaterial manchmal irreführend. Immer da, wo die ursprünglich in Wade-Giles wiedergegebenen Ortsnamen durch Pinyin (z. B. bei dem Berg Nenggao) ersetzt wurden, habe ich das so übernommen. Auf Tonzeichen wurde um der besseren Lesbarkeit willen ganz verzichtet.

Erwähnen möchte ich noch, dass die Wade-Giles-Umschrift von der älteren Generation bevorzugt wird, während ich später mit Hanyu Pinyin unterrichtet wurde.

Die Kluft zwischen uns reicht weiter als die Distanz zwischen den Wörtern.

IN TAIWAN

IN CHINA

Vor 9 Millionen JahrenDie Entstehung Taiwans beginnt

 

Vor 6–10 000 JahrenErste indigene Siedlungen

 

1542Portugiesische Seeleute kommen nach Taiwan und nennen es »Ilha Formosa«

 

1624Holländer landen an der Stelle des heutigen Tainan

 

1626Spanische Siedlungen in Nordtaiwan

 

 

1636Beginn der Qing-Dynastie

1661Koxinga segelt nach Taiwan und besiegt die Holländer

 

1683Taiwan unter der Herrschaft der Qing-Dynastie

 

1853Erste biologische Inventarien durch Ausländer werden erstellt

 

1895–1945Taiwan wird im Vertrag von Shimonoseki Japan zugesprochen

 

 

1912Ende der Qing-Dynastie / Gründung der Republik China

 

1927Der chinesische Bürgerkrieg beginnt

 

1937–1945Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg (Pazifikkrieg)

1945Unter den Nationalisten (KMT) kehrt Taiwan unter chinesische Herrschaft zurück

 

1949Ende des chinesischen Bürgerkriegs; in Taiwan beginnt das Kriegsrecht

 

 

1966–1976Kulturrevolution

1971Republik China (Taiwan) verliert seinen Sitz bei den Vereinten Nationen, er wird von der Volksrepublik China übernommen

 

1987Ende des Kriegsrechts

 

 

1989Proteste und Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens

1999Jiu’er’yi, das große Erdbeben vom 21. September

 

2009Taifun Morakot trifft auf Taiwan

 

Vorwort

Der erste Tag im Wolkenwald hat mich zu Nebel erweicht. Die Welt verlor sich im Weiß, alles, was ich sah, waren meine Füße am Boden und die Farben der Bäume. Das Rostrot der Erde reichte bis hinauf zur Rinde der Feigenbäume, von Flechten grau und golden betupft. Der Pfad war vollgesogen von Nebelnässe und morgendlichem Regen. Vor mir Schwaden, wie ich sie dichter nie gesehen hatte, zäh und kühl. Hinter mir, auf Armlänge, meine Mutter.

Den Weg durch die Schlucht hatten wir aus Neugier und lange unterdrückter Abenteuerlust eingeschlagen. Zuletzt waren wir in meiner Kindheit zusammen gewandert, durch die kanadischen Wälder oder die walisischen Berge, bei Tagesausflügen während der Familienurlaube. Hier auf der Insel, wo meine Mutter geboren ist, zog es sie in die Hügel hinaus, in die ihr vertrauten, heißen, wuchernden Wälder, wo sie als Kind unweit ihres Zuhauses durch dichtes Grün streifte, an Spätnachmittagen nass durch Reisfelder watete, und wo sie alle Pflanzen kannte, die üppig aus jeder Ritze sprossen. Mein Großvater, ihr Vater, war erst kurz zuvor in diesem Land gestorben.

Noch nie hatte ich sie so lebendig erlebt.

In den vergangenen Jahren hatten wir uns lediglich in Vorortwohnzimmern, Autos oder Restaurants gemeinsam aufgehalten. Niemals an einem Berghang. Niemals bei solchem Wetter. Die Idee zu diesem Spaziergang war uns eingeschossen wie eine plötzliche Erinnerung, ungebeten und ohne Vorwarnung, ein Ziehen im Hinterkopf, das zu Bewegung drängte. Ich musste daran denken, wie wir früher gemeinsam unterwegs gewesen waren; wir beide immer ein wenig hinterher, Schwester und Vater stets ein paar Schritte voraus. Der Bewegungsdrang fuhr uns in Beine und Füße wie Strom durch einen Draht und knipste unsere Körper an. Ausgerüstet mit einer Wanderkarte wagten wir uns in die Feuchtigkeit hinaus.

Wie viele Wanderwege in Taiwan führte auch dieser von einer Fahrstraße weg, hinunter zu einer Hängebrücke, die eine Schlucht überspannte. Die Klamm im Kalkstein und Marmor fiel jäh zu einem Fluss hin ab; tief unten schlängelte er sich als silbrig-grünes Band durch die Felsen davon. Vorhänge aus Vegetation bedeckten die Steilhänge, umspielten und verhüllten das zerklüftete Skelett der Bergflanke und verloren sich in Klumpen verwitterten braunen Steins, wo der Fels den Wurzeln noch nicht nachgegeben hatte. Aus den von Erosion hinterlassenen Löchern wuchsen stachelige Bäume, Ranken hangelten sich über geglättete steinerne Oberflächen. Das Grünzeug war unermüdlich auf dem Vormarsch.

Ich weiß nicht, was wir zu sehen hofften. Wir hatten uns trotz des Wetters hinausgewagt, trotz dieses von Kälte triefenden Umhangs aus Winterluft, der Taiwans Gebirge umhüllt. Der erste Kilometer bestand aus Holzstufen und mit jedem Zugewinn an Höhe verdichtete sich unser Atem. Der Duft von Erde und Grün mischte sich mit der Feuchtigkeit. Sie dämpfte alle Geräusche, und der Tritt unserer Stiefel wurde mit jeder Stufe schwerer. Je weiter wir gingen, desto weniger sahen wir. Auf mittlerer Höhe waren wir losgegangen und hatten uns in die Wolken vorgearbeitet. Die Wegränder endeten im Weiß.

Meine Mutter hatte Höhenangst. Vielleicht war es besser, dass wir nicht sahen, wie weit wir gekommen waren.

Substantiv: Insel

Inseln entstehen durchBewegung, durch Kollisionund durch Ablagerung

1

Ich habe viele Wörter für »Insel« gelernt: Eiland, Atoll, Schäre, Holm. Sie existieren in der Gemeinschaft von Archipelen oder für sich allein, und ich habe sie immer in Verbindung mit dem Wasser gesehen. Das englische Wort island kommt schließlich vom deutschen »Aue«, das wiederum vom lateinischen aqua (Wasser) stammt. Eine Insel ist ein schwimmendes Wort, ein Archipel, ein pelagischer Ort.

Das chinesische Wort für Insel weiß nichts vom Wasser. Für eine Zivilisation, die sich im Landesinneren entwickelt hat, ist die Unermesslichkeit der Berge die bessere Metapher: 島 (dao, »Insel«, in Taiwan to ausgesprochen) setzt die Beziehung zwischen Erde und Himmel ins Bild. In dem Schriftzeichen steckt die Idee von einem Vogel – 鳥 (niao) –, der sich auf einem einsamen Berg – 山 (shan) –niederlässt.

Taiwan ist gerade mal 140 Kilometer breit, erklimmt auf dieser Distanz aber eine Höhe von fast viertausend Metern. Der Sprung von Meereshöhe bis hinauf zu den jäh aufragenden Gipfeln ermöglicht eine Fülle unterschiedlicher Habitate, sodass die Vielfalt der Wälder auf der Insel wesentlich größer ist, als ihr vergleichsweise kleiner Fußabdruck erwarten ließe. Die Küsten sind in salz- und sonnengegerbte Mangrovenwälder verpackt, weiter im Süden wächst dichter tropischer Dschungel. Die feuchte Hitze des tropischen Regenwalds geht über in gemäßigten Baumbewuchs; seine Laubhölzer klettern, bis sie weiter oben von Nadelbäumen abgelöst werden. Auf mittlerer Höhe überwiegt borealer Nadelwald mit kathedralengleichen Baumriesen, der sich über der Baumgrenze im Grasland verliert. Dort dehnen sich Schilfgrassteppen bis in den Hochgebirgshimmel hinein. Die Bäume sind gestaffelt wie die Höhenlinien einer Landkarte.

Taiwan, auf der Schnittstelle zweier Vulkanbögen gelegen, wurde in den Konflikt hineingeboren, eine instabile Landmasse, die sich in ständiger Konfrontation befindet. Die Insel liegt auf dem Pazifischen Feuerring – jener von Erdbeben und Vulkanausbrüchen heimgesuchten Zone südöstlich von China, westlich von Japan und nördlich der Philippinen – und markiert die Bruchkanten zweier tektonischer Platten, unter Geologen auch als »destruktive Plattengrenze« bekannt. Der Zusammenstoß der Eurasischen und der Philippinischen Platte presste vor sechs bis neun Millionen Jahren, während des Miozäns, die Insel hervor. Solche Kollisionen sind gewaltig; eine der Platten schiebt sich dabei unter die andere und drückt Landmasse aus dem Meer nach oben. Aber auch die Bruchkanten selbst können zerstörerisch sein.

Das zentrale Gebirgsmassiv, das sich mit 280 Kilometern über vier Fünftel der Länge Taiwans erstreckt, und das im Norden quer über die Insel verlaufende Hsuehshan-Gebirge sind beiderseits von Bruchkanten flankiert. Auch die Vorberge und das Flachland im Westen sind von Brüchen durchzogen; wie die willkürlichen Nähte einer Quiltdecke definieren und unterteilen sie die Landschaft. Das Küstengebirge im Osten liegt eingezwängt zwischen Bruchlinien und Meer.

Die Insel verfügt über gut zweihundert Gipfel, die mehr als dreitausend Meter hoch sind; Monumente eines tektonischen Wandels, festgeschrieben in Gneis, Marmor sowie feinem und grobem Schiefer. Diese Berge gehören zu den jüngsten der Erdgeschichte und sind noch immer in Bewegung. Jedes Jahr werden sie von der Philippinischen Platte etwa 80 Millimeter weiter nach Westen geschoben. Die Kräfte der Orogenese, die große Gebirgsketten hervorbringen, lassen Taiwans Gipfel jeden Tag ein wenig wachsen.

Inseln faszinieren uns; ihre Mythen entspringen gleichermaßen ihrer Isolation und unserer Vorstellungskraft. Das lange gesuchte Ithaka oder der rettende Hafen im Sturm. Die Inseln, die ich aus Erzählungen kenne, sind sowohl real als auch imaginiert, Gebilde aus Fels und Erde und dennoch aufgeladen mit der ideologischen Bedeutung eines Eden oder Arkadien, mit Vorstellungen vom Paradies.

Vor der chinesischen Küste liegen unzählige Inseln, viele davon bekannt und in erreichbarer Nähe. Doch die weiter entfernt, jenseits der Taiwanstraße oder im Ostchinesischen Meer gelegenen entzogen sich einfacher Erschließbarkeit. Kein Wunder, dass sie idealisiert oder auch wegen ihrer Entfernung zur chinesischen Leitkultur verachtet wurden. Penglai, das sowohl als Berg wie auch als Insel beschrieben wurde, galt in den chinesischen Mythen als Heimat der Unsterblichen, ein gesegneter Ort, an dem die Becher nie trocken, die Reisschüsseln nie leer wurden. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schickte der erste Kaiser eines geeinten Chinas seine Schiffe auf der Suche nach diesem mythischen Eiland gen Osten. Es heißt, seine Emissäre hätten stattdessen Japan entdeckt. Die Inseln der frühen Legenden versprachen sagenhafte, aber unerreichbare Schätze.

Doch Penglai 蓬萊 ist auch einer der traditionellen Namen für Taiwan. Wegen seines Rufs als Schatzkammer waren die Eroberer der Qing-Zeit zunächst vor allem auf Natur- und Bodenschätze aus. 1697 kam der kaiserliche Beamte und koloniale Chronist Yu Yonghe auf der Suche nach Schwefel dorthin. Auf seiner Reise entlang der Küste, begleitet von indigenen Führern und Dienern, berichtete er in seinem Tagebuch von Reiskörnern groß wie Bohnen und von Nutzpflanzen, die hier doppelt so reiche Ernten erzielten wie auf dem Festland. Die Kokosnüsse ließen sich spalten und als Weinbecher verwenden. Er schrieb, dass die Früchte Taiwans – vielfältig, aber auf dem Festland weitgehend unbekannt – auf der Rückreise nach China leider verderben würden; die Insel sei fruchtbar und mit Überfluss gesegnet, aber völlig abgelegen. Den Bewohnern des Kontinents galten die Inseln des östlichen Archipels als lebensprall; Berge im stürmischen Meer. Aber im Gegensatz zu den mythischen Inseln der Unsterblichen gehörte Taiwan ganz und gar ins Reich des Materiellen, eine lebendige Welt in einer von Brüchen durchzogenen Gegend.

Dies ist die Geschichte der Insel. Und zugleich die Geschichte meiner Familie.

Sprachen werden zur Heimat. Mein Geist funktioniert auf Englisch und mein derzeitiges Leben in Berlin auf Deutsch. Die frühesten Kindheitswörter aber kommen aus dem Mandarin, der Sprache meiner Mutter. Ich weiß sie bis heute: 狗gou (Hund), 老虎laohu (Tiger), 爱ai (Liebe, lieben). Und am wichtigsten:

Po

Großmutter

Gong

Großvater

Po und Gong kamen aus China – von Anwesen, die über Jahrhunderte niemand verlassen hatte – nach Taiwan, wo sie fast vierzig Jahre lang lebten, denn aufs Festland konnten sie nicht zurück. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie zusammen mit mehr als einer Million Festlandchinesen auf der Insel an, nachdem Chiang Kai-sheks Nationalisten (die Kuomintang oder KMT) am Ende des Bürgerkriegs dorthin geflohen waren.

Taiwan war immer schon Spielball von Macht und Willkür und hat mehrfach die Besatzer gewechselt: Die Ureinwohner haben seit Jahrtausenden dort gelebt, dann begann mit der Eroberung durch die Spanier und später durch die Niederländische Ostindien-Kompanie ein ständiges Gerangel um die Insel. Holländer und Spanier errichteten Handelsniederlassungen an der Westküste, gefolgt von chinesischen Kolonisatoren, die Taiwan für mehr als zweihundert Jahre beherrschten. Nach dem ersten sino-japanischen Krieg von 1895 hatten die Japaner das Sagen, bis die Insel 1945 an China zurückfiel. Aber als meine Großeltern dort ankamen, galt es nach Jahrzehnten der kulturellen Trennung noch ganz andere Grenzen zu überwinden.

Leute wie meine Großeltern und ihre Nachkommen wurden in Taiwan waishengren genannt (外省人 wörtlich »Menschen von außerhalb der Provinz«, also Festländler), ein so schwammiger Begriff, dass es mir selbst heute noch schwerfällt, unsere Herkunft zu erklären. Das Terrain unserer Geschichten blieb vage, es gab keine klaren Grenzziehungen. Zusammen mit meiner Mutter emigrierten meine Großeltern schließlich nach Kanada, wo ich auf die Welt kam. Mein Großvater ist kurz vor seinem Tod wieder nach Taiwan zurückgekehrt. Als ich erwachsen war, ging auch ich weg – zuerst nach Großbritannien, wo mein Vater herstammt, dann nach Deutschland, wo ich meine Karriere als Schriftstellerin und Wissenschaftlerin beginnen sollte. Meine Mutter, meine Schwester und ich wussten nicht, ob wir uns als Chinesen bezeichnen sollten – schließlich stammen wir aus einem China, das es so nicht mehr gibt – oder als Taiwaner. Ein einzelnes Wort kann die Bewegungen nicht erfassen, die unsere Geschichten über Meere und Kontinente trugen.

Namen sind selten verlässliche Zuschreibungen. Häufig entspringen sie den Fallstricken der Eroberung, den Behauptungen und Missverständnissen jener, die von fremden Ufern kamen. Aus China, Japan, Portugal, Spanien und den Niederlanden. Ilha Formosa ist Portugiesisch und bedeutet »schöne Insel«. Taoyuan ist ein Ethnonym, das auf eine lokale Siedlung Indigener zurückgeht. Ryukyu oder Liuqiu heißt der Inselbogen von Okinawa, dessen geologischen Abschluss Taiwan bildet. Im Chinesischen wird der Name der Insel mit den Schriftzeichen 臺灣 (Langzeichen) oder 台湾 (Kurzzeichen) wiedergegeben, dabei steht tai für »Plattform« oder »Terrasse« und wan für »Bucht«. Ein fester Halt im aufgewühlten Meer.

Die Namen enthalten Überschreibungen und Verschüttetes, das jederzeit aus dem Boden brechen kann, wie die Verwerfungen eines Erdbebens. Der Begriff 中華民國 (Zhonghua Minguo) etwa, die »Republik China«, wie Taiwan seit 1945 offiziell heißt. Oder die konfliktträchtige Bezeichnung Taiwans als »Provinz Chinas«.

Ein Brechen und Bersten ist dem Fels der Insel eingeschrieben: Sie selbst wurde aus Bewegung geboren und ist übersät mit schlafenden Vulkanen und Steilküsten, die so unvermittelt aus dem Meer in den Himmel ragen, dass ein einziger Blick sie nicht fassen kann. Taiwan ist ein Ort, der Zeit und genaues Hinschauen verlangt, den aber ein unterirdisches Beben jeden Moment auslöschen kann.

Ich war achtzehn, als mein Großvater vergaß, wer ich war. Im Bungalow meiner Großeltern in Niagara Falls döste ich auf dem Sofa und wartete, dass meine Mutter uns nach Hause fahren würde. Hunderte Male war ich schon hier gewesen: in den Schulferien, an Wochenenden, und wenn meine Eltern dienstlich verreisen mussten. Der dicke orangefarbene Teppich war meinen Füßen vertraut. Die Lichtschalter fand ich im Dunkeln, wusste, wo die Kanten des Rauchglastischs ins Wohnzimmer ragten, und welches meiner Kinderfotos auf welches Regal gehörte. Im Keller stapelten sich stockfleckige chinesische Zeitungen, gesättigt vom Plastikgeruch der VHS-Kassetten mit taiwanischen Seifenopern, die dort ebenfalls lagerten. Ich hatte mir die Geräusche und Gerüche eingeprägt, die in Jade geschnittenen Landschaftsszenen, die mein Großvater so liebte, und hatte ihm bei der Pflege seiner Bonsai-Bäumchen geholfen. Ich schlief, gemütlich in die sommerliche Klebrigkeit des schwarzen Ledersofas gerollt, bis Gong zu meinen Füßen stand, auf mich deutete und mich in der einzigen Sprache anredete, über die er noch verfügte.

那是谁?

Na shi shei?

Wer ist das?

Da war mir Gongs Alzheimer-Erkrankung zum ersten Mal aufgefallen, und ich begann, Fragen zu stellen. Die Erkenntnis, wie rasch die Vergangenheit verblasste, verlieh der Aufgabe, mehr über sie zu erfahren, eine gewisse Dringlichkeit. Ich hatte so vieles im Leben meiner Großeltern als gegeben hingenommen. Und dann war da noch die Sprachbarriere. Schon mit acht Jahren hatte ich aufgehört, die chinesische Samstagsschule zu besuchen. Ich hatte keine Lust mehr, die einzige Halbchinesin im Klassenzimmer zu sein, wenn wir uns durch drei Stunden mit Kalligrafie und Volksliedern quälten, und so schrumpfte mein Mandarin aufs Notwendigste. Unser gemeinsames Leben nahm eine vereinfachte Form an: Meine Erinnerung an Po und Gong beschränken sich auf das, was sie kochten.

Die große walisische Familie meines Vaters hatte größere Anziehungskraft auf mich. Seine Eltern sind von Wales nach Kanada übergesiedelt, als meine ältere Schwester Nika und ich noch klein waren; bei ihnen fühlte ich die Wärme einer gemeinsamen Sprache, die auch Cousins und entfernte Verwandte mit einschloss. Auf Mutters Seite gab es keine Verwandtschaft, keine Tanten oder Großtanten oder Cousins, die man hätte besuchen können. So war es schon immer gewesen, und ich dachte, so sei das eben in Einwandererfamilien, die wie wir auf der ganzen Welt verstreut waren.

Ich wusste, dass meine Großeltern aus China stammten, Taiwan jedoch als ihre Heimat betrachteten. Warum das so war, davon hatte ich eine vage Vorstellung, obwohl ich nur als Kleinkind auf der Insel gewesen war. Gelegentlich schnappte ich etwas über vergangene Kriege und politische Führer auf, über Kampfjets und die Übel des Kommunismus, aber an kanadischen Schulen wurde diese Geschichte nicht unterrichtet. Wenn die Leute hörten, dass meine Familie aus Taiwan kam, entgegneten sie oft: »Thailand? Ich liebe thailändisches Essen.« Ich lernte, sie lächelnd und taktvoll zu korrigieren, ohne meine Frustration zu zeigen; dabei musste ich aber auch immer wieder feststellen, wie wenig ich selbst wusste.

Für mich ist Po einfach meine aufbrausende, schwierige Großmutter gewesen. Sie stritt mit meinen Eltern herum und sprach fast nie mit meinem Großvater, außer um ihm Vorhaltungen zu machen. Der Überschwang, mit dem sie meine Schwester und mich verwöhnte – sie kaufte uns riesige Teddybären und Toblerone und Ferrero Rocher –, konnte ebenso rasch ins Gegenteil umschlagen, und es gab Zeiten, in denen ich mich lieber von ihr fernhielt. Ein einziges Wort konnte sie in Rage bringen, und das geschah oft.

Gong war immer schon der Ruhigere gewesen; in der Freizeit von seinem Hausmeisterjob las er oder kümmerte sich eigenbrötlerisch um seine Pflanzen. Als ich klein war, schaute ich ihm bei meinen Besuchen zu, wie er die Böden der Chef-Boyardee-Fabrik wischte, in der Dosenpasta hergestellt wurde. Der braune Ziegelbau der Fabrik faszinierte mich. Es gab dort riesige Maschinen aus Stahl und über allem lag der Geruch von gekochter Stärke und Zitrusreiniger. Ich sah ihn putzen, ruhig wie immer. Anschließend lächelte er voll kindlichem Stolz, wenn er mir eine Dose Rindfleischravioli kaufte. Ich fragte nie, wie das Leben ihn an diesen Ort verschlagen hatte, wo er, längst im Pensionsalter, einen heißen Mopp über die Fußböden einer kanadischen Fabrik schob.

Mit siebenundzwanzig kam ich zum zweiten Mal nach Taiwan, der erste Besuch seit Kindertagen. Gong war dorthin zurückgekehrt und ein paar Jahre zuvor gestorben. Meine Mutter und ich wollten sein Grab besuchen. Er war allein gestorben, mit zerrüttetem Gedächtnis. Obgleich wir den Lauf der Dinge weder hätten beeinflussen noch ändern können, fühlte es sich für uns an wie ein nicht wiedergutzumachender Verrat.

Jahrzehnte waren vergangen, seit meine Mutter ausgewandert war. Doch die Insel rief meine Familie zurück. Nach ihrer Pensionierung sprach meine Mutter davon, für immer nach Taiwan zurückzukehren. Plötzlich erkannte ich all die verschiedenen Arten und Weisen, auf die sie versucht hatte, auf einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen, begriff, wie sehr es sie irritiert haben musste, wenn sie ihre Kinder in ihrer ererbten Sprache etwas fragte und diese auf Englisch antworteten. Wenn wir uns über ihre Fehler im Englischen lustig machten, erwiderte sie: »Dann sprecht ihr doch Chinesisch.« Sie hatte es im Scherz gesagt, aber ich hörte den Verlust in ihrer Stimme. In Taiwan lernte ich dann etwas darüber, wie Orte uns in ihren Bann ziehen – und manchmal wieder abstoßen –, und in mir wuchs eine unausgesprochene Sehnsucht heran.

Mutter und ich verbrachten den größten Teil unseres Aufenthalts mit Wanderungen auf den überwucherten Hügeln und Pfaden außerhalb der Städte. Wir wagten uns bis in den Süden nach Kenting vor, wo sie ihre Kindheitsferien auf einer Halbinsel aus Korallen verbracht hatte. Wir ließen uns auf dem Yangmingshan vom nördlichen Regen durchweichen und tauchten durch die Nebelschwaden der Taroko-Schlucht. In der Landschaft meinten wir, einen Ausdruck dieses Ortes und unserer Leben zu finden, der über Großvaters Tod hinausreichte, jenseits einer Vergangenheit, die sich meinem Verständnis entzog. Ich entwickelte eine Zuneigung zu diesen Bergen und ihren Wäldern, ein Bedürfnis, wieder und wieder dorthin zurückzukehren.

Ich beklagte die verpassten Jahre. Das war keine Nostalgie – ein gefährliches Gefühl, denn es greift meist zu kurz –, aber ein besserer Begriff ließ sich nicht finden. Das Wort »Sehnsucht« aus meiner adoptierten Sprache Deutsch würde vielleicht eher passen – der Wunsch, dass die Dinge anders gelaufen wären. Oder hiraeth aus dem Walisischen, das Heimweh nach einer Vergangenheit bedeutet, in die man nicht zurückkehren kann. Und dann ist da noch das chinesische Wort 鄉情 (xiangqing), die Sehnsucht nach dem Ort der Geburt. Aber keines von ihnen trifft es genau. Unfähig, meine Gefühle in Worte zu fassen, begann ich zu überlegen, dass die Bande, die meine Großeltern und meine Mutter mit diesem Ort verknüpften, vielleicht auch mich umgarnt hatten, mit dünnen Fäden zunächst, später mit dickerem Zwirn. An die Stelle der Trauer trat eine tiefe Liebe. Verwandelt Bedauern sich eigentlich immer in Sehnsucht?

Ich glaube, es war kein einzigartiges Verlangen. Ich kenne andere, die Orte oder Verwandte verloren haben, und denen die Rückkehr ein Trost war; die Aktivierung eines Körpergedächtnisses, das ihnen über Generationen eingeschrieben war. Mir hat das Wandern in den Bergen der Insel ein Gefühl von Trost und Beständigkeit gegeben.

Wo mir die Worte fehlten, griff ich auf andere Sprachen zurück, auf die der Pflanzen, der Geschichte, der Landschaft. Bei meiner Arbeit als Umwelthistorikerin habe ich viel über die Pflanzen der gemäßigten Zonen gelernt; im kanadischen Nadelwald oder europäischen Heideland finde ich mich mühelos zurecht. In den ausgedehnten kanadischen Wäldern, in denen ich aufwuchs, gibt es die rote Flamme des Herbstes, den kargen, stillen Rückzug des Winters. Lärchen und Ahorn vollführen den Reigen der Jahreszeiten: Pollenbildung, Zellalterung, Kahlheit.

In Taiwan aber war ich botanisch hilflos, die Bäume waren mir genauso fremd wie die Farne, die aus den Fenstersimsen sprossen. Die Pflanzen Taiwans sind zu zahlreich, um sie alle zu benennen.

Grün ergießt sich über die Hügel, eine fleckige, intensive Färbung, die mich mehr an einen tiefen Teich als an festes Land erinnert, an dunkle Wasserpflanzen statt an Bäume. Ein Grün, das sich bis zum Horizont erstreckt, manchmal im Licht flirrend, meist aber dampfend vor tiefhängenden Wolken, die zwischen Hügelkette und Himmel kleben. Ein Grünton, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

Taiwans Hügel bilden eine natürliche Grenze zwischen den Städten und den hohen Bergen. Kampferbäume, Chinesische Ulmen, Indische Nesselbäume, Banyans und Zuckerpalmen werden überrannt von Legionen sich entrollender Farne und von Riesentaro, der mit offenem Mund die Regengüsse trinkt. Die Schirme der achtfingerigen Diplofatsia recken die Hände in den Himmel. Sie alle entfalten ihr Grün in Schichten, satt und tief.

Die Insel besitzt sowohl zugewanderte wie auch einheimische Arten. Manche sind vom Festland herübergekommen, von Vögeln oder anderen Tieren gebracht, durch die Luft oder auf der Landbrücke, die einst die Taiwanstraße füllte, als vor vielen Zeitaltern der Meeresspiegel noch niedriger war. Andere kamen aus Japan, der östlich gelegenen Inselkette, wieder andere wurden von den südlichen Meeren angespült und schlugen an den Küsten Wurzeln. Und dann gibt es neuere Pflanzen, die nur hier gedeihen; ein Viertel entwickelte sich ausschließlich in der Isolation ihrer Heimatinsel. In den Pflanzen Taiwans erkannte ich sowohl Bewegung als auch Wandel: Arten, die sich dem Klima, der Höhe und den Böden anpassten.

Ich sah Mimosen unter meiner Berührung zusammenzucken und erblickte Dendrocalamus latiflorus (von lateinisch »Baumgras«), einen Riesenbambus, dessen Wipfel außer Sichtweite wogten. Ich lernte sie beim Durchstreifen der Wälder kennen, nahm kauernd ihre Duftspur auf oder richtete die Linse meiner Kamera auf ihre fernen Spitzen.

Ich konsultierte Bücher. In den Schilderungen britischer Geografen aus dem 19. Jahrhundert fand ich eine seltsame Sicht auf die Insel. Ihre Berichte aus dem Inneren Taiwans waren von Panik durchzogen – die Pflanzen zu fremd, die Wälder zu dicht. Sie beschrieben die Insel als schön, aber auch als bedrohlich, eine wuchernde Wildnis. Die Erhabenheit extrem hoher Berge fand ihre Entsprechung in der Tiefe dunkler Wälder. John Thomas, Fotograf und Fellow der Royal Geographical Society, schrieb von anmutig schönen Berglandschaften mit endlosen Wäldern, in denen sich »parasitäre Kletterpflanzen von Baum zu Baum hangeln und ein chaotisches Gewirr hervorbringen, das dem Tauwerk chinesischer Dschunken gleicht«. In solchen Darstellungen mischen sich Schönheit mit Furcht, Neugier mit Exotik, gelegentlich ist auch Abscheu zu spüren. Obwohl sie auf Englisch schrieben, fand ich dort keine Sprache, die ich hätte teilen können.

Das war das Grün, mit dem meine Mutter aufwuchs. Sie brachte mir auf Mandarin Pflanzennamen bei, für die ich sonst keine Bezeichnungen hatte. Mutter hatte sie vom Großvater gelernt: 鳳凰木fenghuang mu, der »Phönix«- oder »Flammenbaum« und 芭蕉bajiao, eine faserige, nicht-essbare Bananenart. Ihre Kindheit eingeschlossen in den Namen der Bäume. Ich schmeckte die Wörter, prägte mir ihre Form ein und sehnte mich plötzlich nach der Erinnerung an Dinge, die ich gar nicht kannte.

Delonix regia

2

Taipeh war ein Ort meiner Kindheitsfantasien. Erbaut aus Wörtern, die mir die Mutter leise zuraunte, mit Straßen, die mit ihrem Heimweh gepflastert waren. Die Luft gesättigt mit Erinnerungen. In diesen Fantasien bestand Taipeh aus einem einzigen Hügel, darauf eine Schule und an seinem Fuß ein Wohnblock. Eine gerade, unbefestigte Straße verband beides miteinander. Dort wimmelte es von Imbissverkäufern, deren Wagen auf sonderbare Weise den Hot-Dog-Ständen im Toronto meiner Jugend glichen. Es gab keinen Wind und keine Bäume. Das Licht war gelb, und der vorherrschende Geruch kam vom choudoufu, den meine Mutter nach ihrem Weggang aus Taiwan am meisten vermisste.

»Riecht der wirklich nach Kacka?«, fragte ich sie, denn ich hatte ihn niemals gerochen.

»Ganz und gar nicht! Er riecht köstlich«, erwiderte sie dann und deckte mich zu.

»Warum heißt er dann stinkender Tofu?« Darauf zuckte sie nur lächelnd mit den Schultern, als hätte gerade ein Häppchen Erinnerung ihre Lippen gestreift.

Als sie noch ein Schulmädchen war, kaufte Mutter sich an diesem Hügel jeden Tag nach Schulschluss etwas zum Naschen, um nicht gleich nach Hause zu müssen. Sie aß gern, und ihr Gesicht war damals runder, ihr Körper fülliger. Jedenfalls ist das so in dem einzigen Schwarz-Weiß-Foto, das ich aus jener Zeit von ihr gesehen habe. Die Hände voller Silbermünzen kaufte sie sich Tofu, Zwiebelpfannkuchen und Zuckerrohrsaft.

Wenn sie heimkam, ging die Sonne bereits unter. Die Wohnung war in grau-grüne Düsternis getaucht, überall vergitterte Fenster und Pflanzen. Staub hing in der Luft. Leise schlich sie sich hinein, um keinen Ärger zu erregen. Aber sie war nicht leise genug. Meine Großmutter war wütend, wenn sie so spät nach Hause kam. Schlimmer noch, sie wurde zu dick. Po drohte mit dem Hackmesser. Es fielen böse Worte und Mutter wurde in ihr Zimmer gesperrt. Die Türe verschlossen.

Von Taipeh hat sie mir immer nur bruchstückhaft erzählt, und manchmal fragte ich mich, ob das alles war, woran sie sich erinnern konnte. 1960 wohnten in Taipeh fast eine Million Menschen, doch was sie als Vergangenheit vor mir erstehen ließ, beschränkte sich auf einen winzigen Ausschnitt: Meine Großeltern, sie selbst und ein Wok voll frittiertem Tofu. Eine ganze Stadt reduziert auf eine einzige Straße mit Imbissverkäufern.

Die Zeit, die ich als Erwachsene in Taiwan verbrachte, befreite mich von diesem naiven Bild. Ich fand eine Stadt, die aus dem Flachland der Westküste aufsteigt, ein Gewirr aus bröckelnden Betonblocks, überragt von glasverkleideten Hochhäusern. Straßen und Stadtautobahnen auf Stelzen schraubten sich nach oben, überfüllt mit brummenden Motorrollern, die Taipehs Verkehrsadern mit ihren Abgasen verschmutzten. Die gekachelten Wände der Gebäude waren mit Algen bewachsen, und an jedem älteren Gebäude zeigten sich Spuren einer durchsetzungsfähigen Natur: Farne, die aus den ziegelbreiten Simsen sprossen, Blumen, die aus den Gelenken morscher Markisen in den Himmel wuchsen. Eingebettet in ein Flussbecken und umrahmt von blätterbeladenen Hügeln, präsentierte sich das Stadtzentrum flach und gleichförmig. Keine Spur von dem isolierten, einsamen Hügelrücken meiner Kindheitsvorstellung. Stattdessen bildeten die umgebenden grünen Hügel den Hintergrund für alle meine Unternehmungen.

Ich durchstreifte die Straßen Taipehs – mit oder ohne meine Mutter – auf der Suche nach einem Anker. Meine Landkarte war ein Wirrwarr aus Umschrift und Schriftzeichen, die um den wenigen Platz entlang der Straßenränder wetteiferten. Ich wollte die Insel anhand ihrer typischen Wahrzeichen kennenlernen, so wie einst meine Mutter, doch die offenen Reisfelder und Äcker, die sie noch kannte, waren längst Teil der Stadt geworden, gepflastert mit breiten Straßen und bekannten Wolkenkratzern.

Einmal fanden wir eines der alten Stadttore, gestrandet inmitten eines Kreisverkehrs. Augenblicklich wusste meine Mutter trotz der vielen neuen Straßen, wo sie sich befand, doch hundert Meter weiter hatte sie die Orientierung schon wieder verloren.

Ich selbst fühlte mich mehr zum Rückgrat der Insel hingezogen. In Wäldern und Bergen wich die Dringlichkeit der Zeit zurück, der Minutentakt, den die Stadt vorgab, schmolz dahin und verdampfte, wurde klein und unerheblich angesichts der Dimensionen von Bäumen und Steinen. Auf den Wanderwegen vergaß ich, mein Handy zu checken, und wandte meine Aufmerksamkeit lieber der Vielfalt und Fülle zu, die sich zu meinen Füßen ausbreitete: den komprimierten Erdzeitaltern, von vielen Wanderern festgetreten, dem geduldigen Wachstum der Moose auf verwittertem Stein und, wenn ich mich oberhalb der Baumgrenze oder auf blankem Fels befand, die aussagekräftigen Gesteinsschichten, die uns die Geschichte eines Berges erzählen. Von der menschlichen Zeit meiner Familiengeschichte bewegte ich mich durch die grün sich entfaltende, dendrologische Zeit zu dem, was mein Fassungsvermögen bei weitem übersteigt: die tiefe, unergründliche Spanne der geologischen Zeit. Viele meiner Tage in den Hügeln verbrachte ich zwischen Bäumen, und wenn ich aus ihnen heraustrat, fand ich mich in den Wolken wieder.

Die Baumgrenze liegt hier gut tausend Meter höher als in den mir vertrauten europäischen Gebirgen, auf einer Höhe von dreitausendfünfhundert Metern. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie kurz auf der Insel die Strecke zwischen Meereshöhe und Gipfel ist. Taiwans Geologie erzählt die komplexe Geschichte vom Heraustreten an die Luft und von der Verdichtung in der Zeit, vom Magmafluss und vom Aufschub des Korallenriffkalks aus Salzwasser. Doch an den zerrütteten Berghängen sah ich auch die Schäden, die Taifune und Erdbeben angerichtet hatten – verstärkt noch durch Rodung, Bergbau und Monokulturen –, das allmähliche Zerfallen von Stein zu Schotter, von Erdrutschen im Schlamm zurückgelassen. Berge konnten hier nur zu rasch erschüttert, ihre Zeitachsen in Augenblicken zerstört werden.

Diesmal bin ich allein gekommen. Ich bin einunddreißig und habe mir vorgenommen, drei Monate lang mein Chinesisch zu verbessern, zu schreiben, vor allem aber zu wandern. Es ist Oktober. Ich habe mir ein Apartment im Osten von Taipeh gemietet, im letzten Haus in der letzten Gasse, bevor die Berge die Ausdehnung der Stadt nach Süden hin begrenzen. Im Schatten ihrer beeindruckenden steinernen Präsenz passt dieser Ort zu den Erinnerungen meiner Mutter. Das alte Betongebäude, dessen weiß geflieste Fassade dick mit Schimmel bewachsen ist, hat vergitterte Fenster und jadegrüne Plastikmarkisen, die in jedem Stockwerk aus den Balkonen ragen. Innen ist es düster; die verglasten Wohntürme aus jüngerer Zeit sind noch nicht in diesen Teil der Straße vorgedrungen.

Von hier aus sehe ich den Straßenlaternen beim Aufflackern zu, sie werfen gelbes Licht auf den Asphalt. Ein Hund döst vor dem kleinen Tempel nebenan, er hat sich zwischen den ungleichmäßigen Lichtflecken eingerollt, die aus den Fenstern über ihm fallen. Bald wird er mich kennen. Vom Stand des Straßenhändlers, der allabendlich neben dem 7-Eleven an der Ecke Stellung bezieht, weht der Geruch von choudoufu die Gasse herunter.

Die Spuren der Stadt sind hier überall erkennbar: weggeworfene Plastiktüten, die sich am Straßenrand verfangen, ausrangierte Regenschirme, abgefahrene Reifen und Ersatzmasten, Motorroller, einer neben dem anderen für die Nacht abgestellt. Aber es gibt mehr als diese menschlichen Hinterlassenschaften: die ledrigen Blätter von Osmanthus und Feige, die fransigen Schattenrisse von Akazien und Banyan-Bäumen. Zikaden singen ihren surrenden Gesang im wogenden Wildwuchs am Ende der Gasse, Farne und Gräser und die Andeutung kleiner Bananenblätter greifen über die Asphaltkante hinaus.

Jenseits der Gasse dehnt sich das Grün in die Hügel hinauf. Xiangshan – der Elefantenberg – gehört zu den vier kleinen Gipfeln, die Taipeh im Südosten begrenzen. Gemeinsam bilden sie die Si Shou Shan (四獸山, die vier Tierberge). Waldbedeckt und wellig schlafen sie jenseits des Taipeh-Beckens. Selbst nur von geringer Höhe, bilden sie eine Art Einladung in die höheren Berge. Von dort aus hoffe ich, die flache Ausdehnung des Beckens überblicken zu können, die geologische Grammatik der unter mir liegenden Stadtlandschaft zu entschlüsseln.