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Niemals hätte Jessica J. Lee gedacht, dass ausgerechnet die Seen rund um die deutsche Hauptstadt ihrem Leben eine neue Wendung geben würden. Geboren und aufgewachsen in Kanada, hat sie später viele Jahre in England verbracht. Berlin mutet ihr zunächst unwirtlich an. Als Lichtblick erscheinen ihr die unzähligen Seen rund um die Stadt. Und die passionierte Schwimmerin beschließt: 52 der über 3000 im Brandenburger Land versteckten Gewässer wird sie im Laufe eines Jahres testen – ganz egal, ob die Augusthitze über dem Nymphensee brütet oder die klirrende Kälte den Schlachtensee gefrieren lässt … Mit zarter Lakonie erzählt »Mein Jahr im Wasser« von Verlorenheit und Fremdheit, von frühen Verletzungen und kindlichen Ängsten, aber auch von seidig-klarem Wasser auf der Haut und der meditativen Wirkung, die das Schwimmen in offenen Gewässern haben kann. Am Ende lösen sich nicht alle Probleme, aber es wächst ein Gefühl von Zuhause quer über alle Kontinente hinweg.
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Übersetzung aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser
ISBN 978-38-270-7933-6
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Turning. A Swimming Memoir bei Virago Press / Little, Brown Book Group, London
© Jessica J. Lee 2016
Für die deutsche Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: zero-media.net, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Um uns ist die Illusion unendlichen Raumes
oder keines Raumes, es gibt nur uns und
das in Dunkel gehüllte Ufer, das wir scheinbar
mit der Hand berühren können, das Wasser
dazwischen wie nicht vorhanden.
Margaret Atwood, Der lange Traum
1. Krumme Lanke
2. Templiner See
3. Habermannsee
4. Liepnitzsee
5. Flughafensee
6. Straussee
7. Orankesee
8. Motzener See
9. Pätzer Vordersee
10. Pätzer Tonsee
11. Möllensee
12. Werlsee
13. Mühlenbecker See
14. Teufelssee
15. Nymphensee
16. Wandlitzer See
17. Kleiner Lottschesee
18. Bernsteinsee
19. Kiessee
20. Krumme Lake
21. Karpfenteich
22. Sacrower See
23. Stechlinsee
24. Klein Köriser See
25. Bogensee
26. Großer Tonteich
27. Lubowsee
28. Rangsdorfer See
29. Heiligensee
30. Frauensee
31. Butzer See
32. Plötzensee
33. Schlachtensee
34. Bötzsee
35. Stolzenhagener See
36. Neuer See
37. Zeesener See
38. Güterfelder Haussee
39. Mechesee
40. Schwielowsee
41. Groß Glienicker See
42. Großer Müggelsee
43. Neuendorfer See
44. Springsee
45. Helenesee
46. Jungfernsee
47. Großer Wannsee
48. Schermützelsee
49. Großer Däbersee
50. Tornower See
51. Teupitzer See
52. Hellsee
Wie kühle Seide gleitet es über mich hinweg. Die Intimität unbefangener Berührung, die an meinen Beinen hinaufsteigt, an meiner Taille, meinen Brüsten, bis zu meinem Schlüsselbein. Als ich den Kopf zurückwerfe und mich entspanne, rinnt mir der See in die Ohren. Das Geräusch gleicht einem gedämpften Brüllen, das Wasser verstärkt die Schwingungen des Körpers, jeder Laut dehnt sich zeitlupenhaft aus.
Über dem Wasser ist es ganz hell. Die Sonne flutet über die Gipfel des Waldes und badet die Seeoberfläche in Wärme. Ich lasse mich treiben, und in der lauen Luft spüre ich sie auf meinem Gesicht. Öffne ich die Augen, sehe ich nichts als wolkenloses Blau. Kiefern umranden mein Gesichtsfeld, sättigen die Luft mit ihrem goldenen Blütenstaub.
Gleich werde ich mich auf den Bauch drehen und mit dem ganzen Körper eintauchen. Unter Wasser werde ich ausladende, bogenförmige Bewegungen machen und nach jeder den Kopf zum Atmen heben. Beim seitlichen Wegschieben der Arme werde ich den leichten Druck auf meinen Handflächen spüren, dann den sanften Rückstoß meiner Beine, wenn sie sich spreizen und wieder zusammenfinden in elliptischer, wiederkehrender Bewegung. Die Gliedmaßen weit ausgestreckt und dann wieder eng an meinen Körper gepresst, jeder Zug so präzise wie der Tanz eines Wasserläufers auf der Oberfläche des Sees.
Doch für einen Augenblick noch verharre ich auf dem Rücken, bewege mich an der Grenze zwischen Luft und Wasser.
Schichtung: Bei der Erwärmung
des Sees scheidet sich
das Wasser in drei Schichten.
Die kälteste, das Hypolimnion,sinkt
auf den Grund. Die wärmste,
das Epilimnion, setzt sich an
der Oberfläche ab. Dazwischen
liegt eine instabile Zone,
die Thermokline.
Schwimmer spüren es, wenn der See umschlägt. Zu jeder Jahreszeit gibt es den Moment, da das Wasser sich verändert. Man kann es nicht sehen, man fühlt es. Im Frühling schmilzt das Eis des Winters, und Warm und Kalt des Sees vermischen sich, fließen ineinander. Im Sommer, wenn der See sich erwärmt, ist die Wasseroberfläche mit grünem Algenschaum bedeckt, und wenn er im Herbst wieder abkühlt, verschwindet das Grün. Die Luft wird dünner. Die Blätter leuchten rot und golden. Und das Wasser wälzt sich um.
Die gleichmäßige Kühle des Frühlings und die träge Wärmeschicht auf einem sommerlichen See werden einem vertraut. Klärt sich im Herbst dann das Wasser, spürt man es: Der See fühlt sich sauberer an auf den Armen, weniger wie Samt, eher wie Glasscherben. Und schärfer denn je, wenn der Winter kommt. Ganzjahresschwimmen bedeutet, die Veränderungen eines Sees willkommen zu heißen.
Im Englischen gibt es einen Ausdruck für die Veränderungen des Sees: the breaking of the meres, das »Brechen der Weiher«. Er beschreibt den Augenblick im Spätsommer, wenn Flachwasserseen – meres – ein trübes Blaugrün annehmen und sich auf der Oberfläche Algen ausbreiten wie der Hefebruch der Bierwürze in der Sudpfanne. Dann verwandelt sich das Wasser in ein schleimiges Grün und perlt geradezu vor schimmernden Algen – der See ist, wie man im Deutschen sagt, »umgekippt«.
Doch dieses Umkippen erfasst nur jenen einzelnen Moment des Algenausbruchs, das Sterben des Sees an zu vielen Algen und zu wenig Sauerstoff. Wir neigen dazu, immer nur das Offensichtliche wahrzunehmen – wie den aufsteigenden Glanz einer Algenblüte –, und reduzieren die Bedeutung eines Worts auf diesen kurzen Augenblick, diesen grünen Fleck auf der Wasseroberfläche.
Die Umwälzung des Sees – die »Schichtung« und »Durchmischung« – ist weitreichender; sie umfasst ein ganzes Jahr an Veränderungen im Wasser. Sie findet immerfort statt. Sie bezieht sich auf die größeren Wandlungen im Wasser, wenn die unteren Schichten emporwabern und unter der Oberfläche eine neue Ordnung annehmen. Der See lebt auch im Winter, unter dem Eis.
Ich sehne mich nach dem Eis. Danach, wie das eisige Wasser mir in die Füße schneidet. Nach dem unermesslichen Schwarz des Sees, wenn er am kältesten ist. Dann bedeutet Schwimmen Kälte und Schmerz und Hochgefühl.
Mit achtundzwanzig Jahren wurde ich, fast aus Versehen, für einen fünfmonatigen Forschungsaufenthalt nach Berlin geschickt. Ich bezog eine Altbauwohnung im zweiten Stock, eine dieser riesigen zerbröselnden Wohnungen, die einen geradewegs in einen Stasi-Spionagefilm versetzten. Von dem alten Haus, dessen Keller einst als Ausgangspunkt für Fluchttunnel gedient hatte, brach ich auf in eine Welt aus Kiefern und seidigem Wasser, aus klapperndem Kopfsteinpflaster und abblätternder Farbe.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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