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Mit ihrem neuen Roman umkreist Brigitte Kronauer bravourös die Möglichkeiten zwischen der Pragmatik alltäglicher Lebensläufe und den gelingenden Aufschwüngen, den Glücksmomenten in Natur, Liebe und Kunst, die uns bestimmen. Wie in einem Treppenhaus kreuzen sich in diesem Buch die Geschichten und Erinnerungen. Alles scheint der Vorstellungskraft der Schriftstellerin Rita Palka zu entspringen, die sich gelegentlich selbst unter ihr Personal mischt, das verschiedener nicht sein könnte. Ob es nun die Dame im Rollstuhl ist, die ihren ehemaligen Liebhaber auffordert den Don Juan der Nachbarschaft zu spielen; die Kassiererin, die der Tristesse entfliehen will und Prostituierte wird; der Verlagslektor, der sich in einen Kellner verliebt; oder Wally, die nur zwei Nächte ihres Lebens mit einem Mann verbracht hat. Sie alle verbindet die Sehnsucht nach den verdeckten Träumen des Alltags, in einer Welt, die diese unerfüllbar und lächerlich macht. Und so rücken die Figuren mit ihren Ängsten und Niederlagen immer dichter zusammen, ohne zu ahnen, dass eine von ihnen zur Mörderin wird.
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Seitenzahl: 331
Brigitte Kronauer
Zwei schwarze Jäger
Roman
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2013 by J.G. Cotta'sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
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Cover: Klett-Cotta Design
Unter Verwendung einer Abbildung der Skulptur "Schwarze Jäger" von Giovanni Campi
Foto: © Soprintendenza Speciale per il Patrimonio Storico, Artistico ed Etnoantropologico e per il Polo Museale della città di Roma
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-93885-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10423-3
Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2008 der Printausgabe.
Für Armin
I
Zwei schwarze Jäger
II
In Deiner Drangsalshitze
Herr Schöffel
Oom Henk
Kleine Verhältnisse oder A dream of the shadow of smoke
Licht auf Körpern
Destruktion
Die Stille der Straße
III
Wally
Mann mit Pfeife
Zufall und Schrebergärten
Bauernweisheit
Pourquoi pas?
He, kleiner Waldschrat!
Nachmittag, freier
Staub
Lord Nicht
Graubube
Parkplatz
Die Türschwelle
Praxis
Die Liebe zu den schlechten Karten
Dreidamentreffen
Nachmittag eines Witwers
Tief verborgene Geheimnisse
Der Bote
Als wir starben
Allerschönste Tage
Der richtige Name
Meldung aus dem Städtchen W.
Informationen zur Autorin
Personal der Schriftstellerin Rita Palka:
Rita Palka, Schriftstellerin
Herr Schüssel, Veranstalter in W.
Frau Schüssel, Mutter und Hausfrau
Ein Archäologe in Sperlonga
Wilhelm Franzbauer, ein Schlesier
Zerstrittenes Paar
Gräfin Aurora von Königsmarck
Kurfürst August der Starke
Herr Schöffel, vorübergehender Liebhaber von Wally
Oom Henk, Onkel und Weltreisender
Wally Mülleis, Hauptfigur, Nichte von Oom Henk
Heiner Krapp, Lektor
Rolf, Kellner, Liebhaber von Krapp
Fritz Grosse, Maler, Spezialist für Schüttelreime
Hilde Tisch, div. Berufe, Schwester von Rolf
Stefania, Zahnärztin
Martina Jeckchen, Steuerberaterin, Freundin Stefanias
Helene Pilz, Exgeliebte, Nachbarin von Wally Mülleis
Frau Bernadotte, Frau Lemnitz, Frau Rottmann, Frau Becher-Hahn, Nachbarinnen
Leo Graubube, Nachbar, verliebt in Frau Jeckchen
Wie entmutigt, fast gedemütigt der kleine, vor circa 45 Minuten noch so aufgedrehte Mann Rita Palka verlassen hat!
»Da«, sagt sie jetzt, »in der sehr niederschmetternden Sekunde, als sie in das zum Gähnen aufgerissene weibliche Maul starrte, schossen alle Widerwärtigkeiten ihres Berufs in diesem einen Schlund zusammen.«
Rita, aus professionellen Gründen gewohnt, solche Sätze zur Probe vor sich hin zu murmeln bevor, sie später eventuell von ihr aufgeschrieben werden, lacht ins Dunkle, ins Dunkel des Städtchens W., in der angeblich verträumten Mittelgebirgslandschaft E. des verschlafenen Bundeslandes I.
Sie stutzt, sie sitzt mit angezogenen Knien auf dem Bett, das man ihr für die eine Nacht zugedacht hat, hungrig vom Frösteln oder umgekehrt, und spricht auch diesen zweiten Satz aus:
»Rita, aus professionellen Gründen gewohnt, solche Sätze zur Probe vor sich hin zu murmeln, bevor sie später eventuell von ihr aufgeschrieben werden, lacht ins Dunkle, ins Dunkel des Städtchens W., in der angeblich verträumten Mittelgebirgslandschaft E. des verschlafenen Bundeslandes I.«
In Zuständen der Überreizung passiert das gelegentlich. Kaum gelingt es dann einer Situation, Ritas nachhetzenden Sätzen zu entkommen. Bis es gut ist und sie, Rita Palka, eingerollt wie eine gesunde Katze, viele Stunden schläft. Jetzt allerdings ist sie wach und schneidet Fratzen vor Vergnügen darüber, daß sie der gähnenden Frau die geistesgegenwärtige Beleidigung in den unflätigen Rachen gestopft hat.
Und die große, damit verknüpfte Betrübtheit von deren kleinem Mann, jenem gewissen Herrn Schüssel, von dem sie eben nach einem winzigen Zögern mit gesenktem Kopf verlassen worden ist, so daß sie ihm nachhorcht und auch jetzt noch immer weiter das Gerassel des Schlüssels hört, mit dem er sie unten, nach etwas schräger Sitte des Hauses, eingesperrt hat?
Aus seinem dicken Wald heraus, von dessen Finsternis Rita Palka nichts hatte ahnen können, war seine dringende, nahezu flehentliche Bitte gekommen, und zwar dreimal innerhalb von acht Monaten, die nach ihr gierende Bevölkerung des malerischen Mittelgebirgsstädtchens W., Geheimtip unter Kennern der schönen Literatur und Künste generell, doch nicht durch eine neue Absage zu enttäuschen, nein, in Dreieinigkeitsnamen nicht schon wieder! Es warte nicht nur ein kundiges, zahlreiches Publikum (»Warum nicht gleich zahlloses, zahnloses, hoffentlich aber zahlendes«, hatte Rita beim Lesen ziemlich albern vor sich hin gemurmelt.) und ein bei Eingeweihten berühmtes Pausenbüfett mit warmen Speisen auf sie, sondern in ihm, Schüssel, ein Leser, dessen Herzenswunsch es sei, daß sie seine Einladung, die er zu seinem fünfzigsten Geburtstag erneut con brio und fuoco vortrage, nicht abschlagen möge. Das Bezauberndste – die lange Liste ihrer illustren Vorgänger, wenn er so vorgreifen dürfe, bestätige es, sie könne es im Gästebuch nachlesen, ein Kleinod allein schon das, für sich genommen –, das viele ihrer Kollegen geradezu Ergreifende sei aber der Veranstaltungsort, nämlich der großartig restaurierte Gartensaal ihres Schlosses. Ja, so dürfe man es getrost nennen. 18. Jahrhundert, ein wahrlich würdiger Rahmen, eine silberne Schale für ihre, der verehrten Rita Palka, goldenen Worte, um unseren Olympier aus Weimar einmal abzuwandeln.
Sie möge das bitte bei der Nennung ihrer Honorarforderung ein klein wenig bedenken. Der städtische Etat sei durch die Schloßrenovierungen arg strapaziert. Ein Hindernis jedoch, ein Hindernisgrund dürfe hieraus niemals entstehen. Und: Und vor allen Dingen bitte er sie, ihrem treulich harrenden Publikum doch um Gottes willen »Zwei schwarze Jäger« vorzulesen!
Wenn die Leute ihr aufmerksam zuhören, liest Rita zur Not auch vor fünfen in einem Kuhstall. Das Schloß lockte sie nicht besonders, aber schließlich doch die übrige hartnäkkige Kasperei, und so ist sie am Ende, gegen ihren Instinkt, losgefahren. Nicht wissen konnte sie, daß Herr Schüssel ein so klein geratener und nervöser Mann sein würde und seine Frau, in bodenlanger Kutte auf der Freitreppe neben ihm, derart häßlich und zornig. Die beiden stiegen zu ihr herab, und während Herr Schüssel ihr die Hand küßte, sagte die Frau und Mutter Schüssel:
»Unser Bastian hat Fieber!«
Rita Palka ging zwischen dem Duft eines Herrenduschgels und Geruch von Gesottenem. Am Treppenabsatz folgte die Auskunft: »Gabriel hat sich eine dicke Beule am Kopf geholt!«
Süß sang seitlich der steinernen Stufen zu üppigem Flieder- und Goldregenduft in den Büschen die Nachtigall. Was war mit Ritas Fähigkeit, durch den unverhofften Lichteinfall in eine Schattenzone, durch gedämmte Vogelrufe im Dunst die angenehmste Ausbreitung bis zum Horizont zu erleben, um sich flimmernd mit ihm zu vermischen, das Gedächtnis, die Vergangenheit, alle Gewichte zu verlieren zugunsten einer wunschlos vorherrschenden Gegenwart? Das galt für andere Tage. Aber auch jetzt hatte sie wieder das beängstigende Gefühl, dies alles sei ihr anvertraut und sie müsse es vor einem drohenden Untergang retten. Als sie gemeinsam oben angelangt waren, stieß die geplagte Mutter böse hervor, immer zu ihrem Mann hin, als träfe sie, die fremde Frau Palka, hauptsächlich die Schuld:
»Trudchen hat Durchfall.«
Dann starrte sie Rita Palka direkt ins Gesicht und fuhr fort:
»Heute tagt unser Leseclub. Mein Lieblingsautor Carlos Heller wird verhandelt. Das ist nun wirklich ein hinreißender Schriftsteller! Und wer muß passen wegen schlechter Terminabsprache? Ich!«
Aha, dachte Rita, jetzt gehen ihr die Kinder aus, da muß der nationale Leseclubliebling herhalten. Immerhin erlebte sie bei der Gelegenheit, welcher Art die Damen waren, die ihn groß gemacht hatten. Aber ob die alle so stierten mit extra weit aufgerissenen Augen, als wollten sie sagen: Verstell dich nicht! Ich sehe dir ja doch von Frau zu Frau bis auf den schäbigen Herzensgrund! Als hätten sie niemals abendländische Diskretion gelernt, geschweige die Weisheit der Scham? Wieder hörte sie seitlich aus grün funkelndem Abendlicht die Nachtigall. Fast, glaubte sie für einen Moment, würde sie ihr Leben geben, wenn sie mit ihr tauschen könnte. »Das geht ja gar nicht«, sagte sie dann verdutzt und sehr leise vor sich hin.
Die Schloßfrau griff sich mit riesigen Händen, die hoffentlich nicht das warme Büfett zubereitet hatten, ins rote Gesicht: »Eben doch! Mit Verstand und gutem Willen hätte man es einrichten können!« Herrn Schüssels fein geschnittener Mund, der Mann mußte ein hübsches Kind gewesen sein, zuckte in Trotz oder vielleicht Schmerz. Die Traurigkeit der Vogelstimme, überlegte Rita Palka weiter, die hätte ich von mir aus zu bieten, aber woher die andere Hälfte, das Stählerne, nehmen? Mutlosigkeit überfiel sie plötzlich, ohne Ankündigung. Nichts fürchtete sie mehr. Sie biß sich daher immer fester in den Zeigefinger.
Zwischen ihrem Wohnort und der Stadt W. liegt eine beträchtliche Strecke. Am längsten ist sie ihr auf dieser Schloßgartentreppe erschienen, lächerlich in die Länge gezogen aber schon auf den letzten Kilometern. Der Veranstaltungsort sollte ein unterhalb des Burgfelsens, nach 1750 gänzlich neu erbautes Schloß sein, auf den Fundamenten eines Bauwerks aus dem 16. Jahrhunderts ruhend, ein Schloß im Tal also, nicht unbedingt von weitem sichtbar. So viel wußte sie aus Schüssels Briefen, nicht mehr. Ein Städtchen aber mit einer derart großspurigen Sehenswürdigkeit würde es bestimmt dem Fremden leichtmachen, ans Ziel seiner Wünsche zu kommen.
Wünsche? Das gerade nicht! Was half das jetzt? Nichts! Sie hatte A gesagt, nun war das B dran. Schon stand auch ein Einwohner mit einer kleinen Stirnwunde am Straßeneckpapierkorb und bestarrte das unbekannte Auto. Als sie hielt, wich er zurück. Als sie ihre Frage stellte, schüttelte er sich, vielleicht juckte ihn etwas im Rücken. Jedenfalls machte er sich stumm, mit eingezogenen Schultern, auf etwas fahrige Weise wie ein Schuldbewußter davon.
Stimmt die Bezeichnung, die Adresse nicht? hatte sie sich, hier noch arglos, gefragt. Da schlurfte schon ein weiterer Mensch aus einer Gasse. Dieser schob das Kinn, auf dem ein sauberes Pflaster klebte, neugierig vor, als sie bei ihm hielt, schüttelte aber zu ihrer Bitte um Auskunft heftig mit dem Kopf, schleuderte allerdings seinen rechten Arm in die Richtung, aus der sie kam, den linken in die entgegengesetzte und rief: »Uh, Uh«. Dann riß er kichernd aus. Ein dritter Bürger tauchte auf, ein vierter. Wieder zerrüttete Gestalten! Sie wandten sich schnell ab, als Rita näher kam. Dabei war sie jetzt entschlossen, die beiden festzuhalten, bis sie ihr geholfen hätten. Sie schienen aber bereits zu ahnen, was sie im Schilde führte, und wiesen aus einiger Entfernung, wobei sie Laute von sich gaben, die glänzend die Art ihrer Gesten untermalten, nach rechts, dann nach links, wieder nach links. Auch sie vermieden die erleichternden Begriffe. Ihre Zeichen jedoch wirkten, bei aller Unbeholfenheit, vernünftig. Also prägte sie sich ein: rechts, links, links.
Stieß dann aber nicht auf das Schloß, sondern auf einen Hinkenden.
Sie sah ihn von hinten, stoppte, stieg aus und holte ihn mit schnellen, möglichst leisen Schritten ein. Ihn überraschen wollte sie, ihn stellen. Er sollte nicht flüchten können. Als sie ihn ansprach, fuhr er zusammenknickend, wohl auch zähneknirschend, herum und glotzte sie dann regelrecht entsetzt an: Es war wieder der erste, der mit der Stirnwunde! Der spukhafte Depp schnitt ein qualvolles Gesicht. Diesmal begann auch er, ungefragt, mit den Armen zu rudern. Da sah sie, daß ihm an beiden Händen Finger fehlten.
Frauen und Kinder waren offenbar vor ihr versteckt worden. Ein Mann an Krücken strich sich auf ihre Frage hin langsam, in großer Aufregung, über den schneeweißen Bart. Er hielt eine Pfeife in der Hand und pfiff auf ihr. Vielleicht erwog der Gute, ob er sie in die Irre schicken sollte. Sie verstand ihn nicht, nur am Ende: »Otto! Mein Otto!«, dabei warf er die Arme noch verzweifelter oder auch leidenschaftlicher als die anderen in die liebliche, doch nun etwas stickige Abendluft. Er wäre bei seiner Akrobatik fast gestürzt.
Sie mußte weiter, die Zeit verrann.
Sie war der Habicht im Hühnerhof, vor dem man kopflos floh. Ob denn in dieser Stadt nur Beschränkte lebten? Oder ging es ihr wie den blasierten englischen Bergsteigerpionieren, damals, im Wallis. Sie glaubten, in den Dörfern existierten nur Debile, wußten nicht und wollten nicht wissen, daß sich die Gesunden im Sommer, wenn die Arbeit auf dem eigenen Land getan war, für Wochen in anderen Gebieten verdingten, für den nötigsten Lebensunterhalt. Ja sicher! Die lokalen Überflieger würden alle im Schloß zu ihrer Lesung versammelt sein und beim Erwarten schöner Geistesnahrung allmählich die Geduld verlieren.
Die Idioten hielten währenddessen im Ort Wache.
Aber auch wenn man hier plante, Burg oder Schloß vor Feinden zu verstecken, zum Schluß fand sie es dann doch. Gleich neben einem Parkplatz entdeckte sie die Gartenseite des Herrenhauses, von der aus man das Anwesen betrat, wie Herr Schüssel geschrieben hatte. Das Äußere war, bis auf das Wappen im Giebel, wohl noch nicht renoviert worden. Braun und bröcklig, obschon einleuchtend gegliedert, stand es im verwilderten Grün, ja beinahe Gestrüpp. Sie malte sich lieber gar nicht aus, wie die Hoffassade aussehen mochte. Nirgendwo eine Menschenseele, alles harrte längst drinnen des Ereignisses. Die sich so rar machende Autorin würde, wen konnte das wundern, zu allem Übel unerhört verspätet eintreffen! Für wann war eigentlich der Beginn festgesetzt? Der Wasserschleier einer bescheidenen Schloßfontäne, die verloren stieg, wurde vom Wind gegen ihr Gesicht geweht. Mit nassen Augen hatte sie im ersten Moment Herrn und Frau Schüssel dort oben für Steinfiguren gehalten. Sie war wütend, sie schämte sich.
»Ist es nicht wunderschön?« fragte Herr Schüssel, als er sie, zusammen mit seiner Frau in das totenstille Treppenhaus führte. Kein Räuspern, Raunen, Scharren, kein Laut. Um ein ›Kleinod‹ handelte es sich jedoch gewiß, in Weiß, Gold und einem schwebenden Blau oder verblichenen Grün gehalten. Der mit Wappen bemalte Pfeiler in der Mitte trug den unteren Teil der Treppe, die in zwei Läufen apart geschwungen nach oben führte. Hölzernes Spitzenwerk um tanzende Löwen herum. Eine Ahnung beschlich sie. Ihr Beruf würde sich hier als zutiefst absurd herausstellen. Sie stieg unaufhaltsam in die kompakteste Absurdität hinein. Kompakt? War sie nicht eher ein saugendes Vakuum? Ein Saugheber? »Rocaille-Schnitzerei«, flüsterte Herr Schüssel. »Balthasar Neumann« sagte laut seine Frau. Er schüttelte daraufhin hinter ihrem Rücken den Kopf und murmelte in Ritas Ohr: »So sagt man nur, Beweise hat man keine.«
Kaum war die erste Etage erreicht, drängten sich zwischen Trompe-l’œil-Nischen mit vorgetäuschten Vogelbauern geräuschlos Besucher vor. »Liebe, verehrte Frau Palka«, sagte Herr Schüssel, »Darf ich Ihnen Frau Luise Bork, die tüchtige Leiterin unserer Bücherei, vorstellen? Dann Frau Carla Altpeter von der Gebäudereinigung, einschließlich der Schloßtoiletten, was fingen wir wohl ohne sie an, Frau Regina Lachmund, unsere Schloßhausmeisterin und Garderobiere, Herr Leo Ochs, unser Kassenwart. Frau Venona Vaternahm, sie hat vor vier Tagen geheiratet, bis dahin Venona Haselhuhn, unsere, ich möchte sagen, Kreisbuchhändlerin.«
Rita Palka wurde von allen freundlich, allerdings in tiefem Ernst, in womöglich heimlichem Kummer begrüßt, im Grunde so, als wäre ein Unglück im Anzug oder bereits eingetreten. Besonders Frau Altpeter und Frau Lachmund hatten den gleichen Schwermutszug um den Mund, der wiederum, wie ihr schien, Ähnlichkeit mit dem von Frau Schüssel aufwies. Schon wollte sie den gottlob keineswegs bedrückten Herrn Schüssel fragen, ob ein örtlicher Trauerfall oder ähnliches, von dem sie nichts wissen konnte, auf den Gemütern laste. War etwa ihre Verspätung so schlimm? Sie konnte doch alles gleich öffentlich und charmant begründen! Da sah sie, daß Herr Ochs Schüssel etwas zuflüsterte. Den betroffenen Gesichtsausdruck trug daraufhin auch Herr Schüssel. Seine Frau dagegen lächelte, lächelte mit spöttisch verzogenem, grobem Mund.
Natürlich war ihr, Rita, längst ein Verdacht gekommen. Sie bekämpfte aber solche bösen Gedanken und bemühte sich, noch rasch vor Beginn einen Spiegel zu entdecken. Denn Herr Schüssel entführte sie jetzt Frau Lachmund und Frau Bork und ihnen allen, die angetreten waren zur Begrüßung. Sieben Leute immerhin zusammen mit dem Ehepaar Schüssel, die ihr in dieser fremden Stadt schon die Hand gegeben hatten! Es mußte an der unheimlichen und ja wohl auch unnatürlichen Lautlosigkeit liegen, daß in Rita Palka die Menschenfurcht aufstieg. Eine schwarze Wolkenwand, vor der es keine Rettung gab, das wußte sie.
»Bei uns gehen die Uhren anders«, verkündete Herr Schüssel und ergriff ihren Arm. »Lassen Sie uns noch ein Weilchen die Räumlichkeiten betrachten. Wir sind so stolz auf unser Juwel! Wollen Sie den Festsaal sehen? Zu Ihrer Lesung sind wir nämlich umgezogen. Erst vorhin kam uns der Gedanke, wieviel passender es sein müsse, Sie, gnädige Frau, in unserem grünen Kabinett zu hören, anstatt in der kühlen Pracht des großen Prunkraums. Zwischen einer weißen Marmornymphe und einem weißen Marmorfaun werden Sie ›Zwei schwarze Jäger‹ lesen. Ist das nicht zauberhaft? In diesem Raum können wir auch auf ein Mikrofon verzichten.«
Herr Schüssel schwitzte. Und Frau Palka wußte, was die Stunde geschlagen hatte. »Sehr reizvoll!«, versuchte sie zurückzulispeln. Ihre Stimme war rauh, als stieße sie einen Fluch aus.
Er öffnete eine Flügeltür und sah dabei unauffällig auf seine Armbanduhr, Rita aber hauptsächlich auf den gleißenden Parkettboden, in dessen Mitte ein kleiner Perserteppich lag. Stühle gab es nur an den Wänden, weiße Pompstühlchen, vielleicht sieben insgesamt. »Sehen Sie noch schnell die stuckierte Decke an. In der Mitte die göttliche Weisheit, von der die goldenen Strahlen bis zu den Rändern laufen, in dem Strahlenfeld Glaube, Hoffnung, Liebe und die vier Kardinaltugenden. In den Feldern am Rande die vier Weltteile, in den Ecken vier Monarchien. Babylon mit Nebukadnezar, Persien mit Cyrus, Griechenland mit Alexander, Rom mit Romulus.«
Er warf ihr einen stolzen und ängstlichen Blick zu: Immerhin war die Örtlichkeit grandios, oder etwa nicht? So blähte sich das Provinzstädtchen unangefochten in Welt und Kosmos, Zeit und Raum. Ihr wurde ebenfalls immer bänglicher zumute, nur fehlte bei ihr der Stolz. Aus Schüssel aber hätte man sich noch während des Dreißigjährigen Krieges bei Hofe durch frühzeitiges Einsperren in einen wachstumshindernden Käfig einen Hofnarren gezüchtet.
»Zu meinem großen Bedauern kann unser fast hundertjähriges Ehepaar Erna und Eitel Pott wegen eines gemeinsamen Schwächeanfalls nicht kommen. Er war ein großartiger Stukkateur und daher auch Tortenverzierer«, sagte der kleine Mann im tapferen Bemühen um eine Gnadenfrist und rief dann plötzlich wie verdutzt: »Mein Gott, höchste Zeit!«
Abrupt machten sich die beiden Komödianten auf den Weg zurück. »Schon der Fußboden des Kabinetts ist köstlich, aufwendig renovierte Intarsienarbeit«, plauderte er scheinbar heiter, »Wir haben Läufer für die Stühle ausgelegt.« Er nahm ihre Frage vorweg und tätschelte kurz ihren Arm, als müßte man sie für ihren Auftritt vor der Menschenmenge beruhigen. »Sie werden staunen. Die Wände sind mit grünen Glasplatten verkleidet und mit einem aufstuckierten, weißen Netz überzogen. An den Kreuzungspunkten sind jeweils Spiegelplättchen aufgesetzt. Man hat sie aus dem Schutt des abgerissenen Vorgängerbaus geborgen.«
Rita Palka bemühte sich sehr, ihm zuzuhören und nicht, wie in Wirklichkeit ja auch er, zu lauschen. Sie horchten beide, ob aus der Richtung ihres Ziels ermunternde Laute zu ihnen vordrängen. Sicher kannte sich Herr Schüssel mit der Akustik des Schlosses aus und kam zu eigenen Deutungen, die ihn trotz allem bravourös ausschreiten ließen. Für die Ohren seines Gastes, dem immer heißer wurde, blieb alles stumm. Da aber erschien die Schloßfrau im Sackkleid. Sie lachte, sie schien eine gute Nachricht zu haben. Das Ehepaar tauschte schnelle Blicke. »Charlotte Kissel läßt sich entschuldigen. Ihre Schwiegermutter ist zu Besuch gekommen.« »Und Bogisch? Was ist mit Rudi Bogisch?« erkundigte sich beinahe schon schrill Herr Schüssel. »Fühlt sich nicht wohl. Hat abgesagt. Das nächste Mal kannst du aber, das hat er versprochen, felsenfest mit ihm rechnen. So hat sich auch die Kissel geäußert.«
Der kleine Mann ließ die Schultern sacken. Die Frau zertrümmerte offenbar seine letzten Hoffnungen. Das mochte sie stärken und daraufhin rühren, denn nun meinte sie in tröstlichem Ton: »Es hilft ja nichts, Schatz, wir müssen irgendwie anfangen.«
Zu dritt zogen sie in das Lesekabinett ein. Der niedliche Raum konnte die Seele zum Hüpfen bringen. Er bildete das geordnete Herzstück des grün blitzenden, zuckenden Abendlichts in der schönen Wildnis draußen. Rita Palka sah auf Anhieb, daß sie fast alle Leute kannte. Man hatte sie ihr ja eben vorgestellt.
Nur ein einziges Wesen mit dickem, rotem Kopf und ein alter Mann waren noch hinzugekommen. Beide blickten sich wie die anderen dauernd suchend und sehnsüchtig um. Sie wußte sofort: Das eine war ein Kind der Schüssels, das mit dem hohen Fieber, gewiß das älteste, hier in einen kleinen Herrenanzug gesteckt, um es als Erwachsenen zu verkleiden, der andere, jede Wette, der Schloßgärtner. Alles zusammengetrommelte Leibeigene, und sie alle ausgeliefert an den Saugheber des Absurden? Jawohl, Saugheber! Schon prustete sie leise los und tarnte es routiniert als Räuspern.
Gerade als Herr Schüssel sie, nun offiziell, noch einmal den Leuten vorstellte und behauptete, sie seien, welch ein Luxus, ganz »entre nous und en famille«, stürmte ein beleibter Herr ins Kabinett. Er dampfte vor Jovialität und hatte eine junge Frau im Schlepptau, die sofort den schütteren Zuhörerkreis durch ihre Brille konsterniert, dann ironisch musterte und zu notieren begann.
»Also doch noch«, entfuhr es Herrn Schüssel erschrocken. »Der Herr Bürgermeister! Willkommen, willkommen, Herr Dr. Gräfling! Sie hier! Mein Gott, Herr Dr. Gräfling! Trotz plötzlich anberaumter Krisensitzung dürfen wir unseren Herrn Bürgermeister in unserm Kreis begrüßen. Welche Freude, welche Ehre! Bitte, Herr Dr. Gräfling!«
Den Bürgermeister verblüffte die geringe Anzahl der Lauschenden keineswegs. Er nahm sie wohl gar nicht erst wahr, sondern legte gleich los. »Guten Abend, guten Abend«, rief er in großer Gemütlichkeit in den Raum, suchte und fand dabei ein Zettelchen in seiner inneren Jackentasche. »Welche Freude, welche Ehre für uns alle, unseren lieben, weitgereisten Gast in unserem herrlichen, erst kürzlich unter größten finanziellen Anstrengungen renovierten Schloß begrüßen zu dürfen, das jetzt sogar ein bescheidenes Museum beherbergt, vollständig dem hochberühmten Sohn unserer Stadt, Fabrizius Pulmer, gewidmet. Trotz kommunaler Geldsorgen, auch Sie wissen ein Lied davon zu singen, mein guter Schüssel, liegt uns die Kultur am Herzen, und zwar in Gestalt von Ihnen, Herr Schüssel, aber auch Frau Schüssel, die ja einen Lesekreis ins Leben gerufen hat. Sie, verehrte Frau Autorin, Ida Palmer, nicht wahr?, ich hatte nicht die Zeit, nicht das Vergnügen, Sie zu lesen, gelten als anspruchsvolle, man sagt sogar, schwierige und extrem gebildete Autorin, mit vielen Anspielungen aus der Literatur. Nicht jedermanns Sache. Nun gut, um so mutiger die Initiative unseres verantwortlichen lieben Schüssel, Sie einzuladen und hier lesen zu lassen. Er steht, hahaha, für alles gerade! Sie werden nicht alle Tage in so schöner Räumlichkeit, wenn auch, so hoffe ich, vor geneigten Ohren Ihre Vorträge abhalten. Ihnen also, liebe Einwohner, ich will es kurz machen, ein ›Wohl bekomm’s!‹ Bevor ich weitermuß, zu meinem großen Bedauern, natürlich, natürlich, von den heiteren Stätten der Kunst zurück zur Krise – Sie alle wissen vom heimtückischen, noch nicht aufgeklärten Mordversuch durch Erstechen an einem Behinderten, und zwar nicht an irgendeinem, sondern an unserem verdienstvollen, ehemaligen Vorsitzenden des Schützenvereins Seppel Honigmann in unserer idyllischen Stadt. Der Bürger fragt fassungslos: Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Ich füge hinzu, frank und frei: Sind es denn Menschen? Der gute Seppel würde, wenn er nur könnte, jetzt unter uns weilen –, von den heiteren Stätten der Kunst also zurück zur Krise, möchte ich darauf hinweisen, daß ich am Donnerstag selbst und höchstpersönlich hier sprechen werde. Ein Diavortrag über Neuseeland wird’s diesmal sein, der hoffentlich große Bevölkerungsschichten, wenn schon nicht des ganzen Bundeslandes I. – Sie verstehen meine Art zu scherzen –, so doch unserer schön verträumten Mittelgebirgslandschaft E., erreicht, was mir immer an solchen im doppelten Sinne teuren Stätten kommunaler Begegnung, meine Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger unseres malerischen W., sehr, sehr am Herzen liegt. Wie ich höre, gibt es dann auch wieder, anders als heute, das sagenhafte Büfett.«
Hier ergriff Rita Palka eine ihr bisher unbekannte neutrale Schwerelosigkeit.
Er schüttelte ihr die Hand, streckte den Daumen hoch und entschwand im Laufschritt. Vielleicht gab es niemanden im Kabinett bis auf Herrn Schüssel, der es ihm nicht gern gleichgetan hätte. Herr Schüssel, der einzige Freiwillige, aber verschloß flugs die Tür. Acht Camouflagezuhörer, zählte die Schriftstellerin. Schüssel war, als der Bürgermeister »Ida Palmer« gesagt hatte, dunkelrot geworden, und während er sie zum Lesepult geleitete, zwischen dem Faun, dessen kreideweißer Unterleib dort, wo es indezent wurde, in Ornamentik überging, und der Nymphe, die für ihn die linke ihrer Brüste entblößte, raunte er ihr zu: »›Palmer‹ sollte ein Witz sein wegen unseres großen Malers Fabrizius Pulmer. Kein Versehen, nur das ›Ida‹ war wohl ein Versprecher. Typisch Dr. Gräfling! Es ist nämlich so.«
Sie glaubte ihm allerdings nicht, fühlte sich völlig gewichtlos, beklommen vor Gewichtlosigkeit.
Die junge Frau steckte den Stift weg und machte flink zwei Fotos, eins von Rita Palka, sobald sie die Brille aufgesetzt hatte, das andere, etwas erstaunlich, warum denn das?, vom Publikum. »Ich begrüße auch noch Judith Bork, Journalistin beim uns allen vertrauten ›Schloßblick‹, Tochter unserer treuen Frau Bork von der Bücherei, mittlerweile und eh man sich’s versieht, recht flügge geworden, die Kleine, großartig!« rief da in Windeseile Herr Schüssel.
Sogar dem fiebernden Kind Bastian konnte nicht entgangen sein, daß Schüssel es sagte, um das Mädchen festzunageln. Sie sollte nicht dem Bürgermeister hinterherlaufen, was sie sich augenscheinlich vorgenommen hatte. Vielleicht bekam Schüssel nur die benötigten Zuschüsse, wenn eine bestimmte minimale Teilnehmerzahl erreicht wurde? Nein, nicht nur um das Festnageln ging es ihm. Die Abiturientin, allenfalls Praktikantin, mußte durch Schmeichelei zu einem freundlichen Bericht ohne Foto vom dürftigen hauseigenen Publikum bewogen werden.
»Frau Rita Palka, mit unglaublich zahlreichen und wer weiß wie hoch dotierten Preisen überschüttet, liest Ihnen jetzt bis zur Pause die Geschichte ›Zwei schwarze Jäger‹ vor. Ich bitte um Aufmerksamkeit.« Herr Schüssel hatte inzwischen so viele Leute vorgestellt, daß er es mit diesen Worten gut sein ließ. Er saß direkt vor ihr und hielt schweißüberströmt einen Zettel in der Hand.
Auf ihrem Bett, im dunklen Zimmer hockend, fällt Rita nun wieder ein, wie oft er während ihrer Lesung mit diesem Stück Papier geraschelt und das darauf Notierte studiert hatte. Ist es nicht kalt? Sie erinnert sich an ihre Frage, eben, auf dem Weg ins Dachgeschoß, ob er, Herr Schüssel, denn nicht, wie brieflich angekündigt, Geburtstag habe. Das sei übertragen, mehr metaphysisch gemeint gewesen, lautete die verzagte Antwort, auch metaphorisch, ein bißchen.
»Zwei schwarze Jäger«, las sie im konzentrierten Abendlichtgefunkel des grünen Kabinetts und zwang sich zu einem zuversichtlichen Trompeten dabei, als müßten mindestens achtzig Zuhörer erreicht werden von ihrer Stimme. Diese wenigen würde es immerhin aufrütteln aus ihrer Vereinsamung, aus einer Kränkung, die sie ihnen schuldlos angetan hatte: So ein schöner, hier drinnen versäumter Abend! »Viele Anspielungen«, hatte der Bürgermeister gesagt. Das also auch noch, das verfolgte sie bis in dieses Kaff! Die Faulen plapperten es als Vorwurf ungeprüft nach, die Ambitionierten witterten es in den schlichtesten Sätzen, egal, ob sie von einem Schloß oder einem Campingwagen schrieb. Es kam in seiner Verkehrtheit auf dasselbe raus.
Sie sah, bevor sie der Versammlung, da es ja keinen Ausweg gab, ihre ersten Sätze zumuten mußte, noch einmal hoch. Ihr Blick fiel auf Carla Altpeter, die Putzhilfe. Da konnte sie es leider nicht unterlassen, sich zu fragen, ob die Frau wohl Stundenlohn bekam für ihre Anwesenheit. Es war Carla angesichts dessen, was sie erwartete, nur zu wünschen! Warum können wir uns nicht schon jetzt an die berühmte Pausenstärkung machen?, dachte Rita noch, gestattete sich ausdrücklich diese kleine Wehleidigkeit und erinnerte sich auch plötzlich an die Botschaft des Bürgermeisters, mit dem Büfett sei heute nichts, bevor sie begann:
»Sie starrten die Löwen an, jeder für sich, zwei Meter voneinander entfernt, der athletische Mann, die dünne Frau.«
Meine Gegner, sagte sie sich, sind ja keinesfalls die Leute. Das darf ich nicht vergessen. Es sind die leeren Stuhlreihen. Als hätte ich nicht schon genug mit den Fratzen zu tun, die mich aus meinen eigenen Sätzen – was keiner wissen darf – immer öfter anstarren! Wie diese Stühle vor sich hin gähnen! Weiß der Himmel, warum man so viele von den Unbestechlichen hat aufmarschieren lassen! Mir eingebrockt zu meiner Demütigung? Diese Zeichen enttäuschter Hoffnungen lassen sich doch keine Sekunde ignorieren, genau wie die Büchertürme dahinten nicht, erst recht, wenn die Kreisbuchhändlerin Vaternahm, geborene Haselhuhn, sich allenfalls selbst ein Exemplar verkaufen wird, damit ich was zum Signieren habe.
Solche Sprechpausen kamen immer gut an. Die wurden zuverlässig als bedeutungsvoll ausgelegt.
»Der Mann hatte den schwarzen Löwen, die Frau die schwarze Löwin vor sich, ein belangloser Unterschied, den sie erst einige Zeit später bemerkten. Das starke Glänzen der Oberflächen verbarg zunächst solche Abweichungen von der Symmetrie.«
Herr Schüssel lächelte, seine Frau nicht. Zwischen ihnen, damit es nicht entwischte, das kranke Kind Bastian. Was konnte den zweifellos gutartigen Schüssel nur bewogen haben, sie, die unschuldige Rita Palka, hierher einzuladen? Immerhin hatte er sich für das karge Publikum nicht einmal mit der üblichen »Konkurrenzveranstaltung« in der Wirklichkeit oder im Fernsehen rauszureden versucht.
»Während aber die beiden lebendig und selbstverständlich menschengroß vor den Tieren standen, befanden sich hinter den spiegelnden Figuren auf ihrem Podest in entsprechendem Maßstab aus demselben Material die beiden halbnackten Jäger mit goldenen Riemen schräg über der Brust. Auch sie vollkommen schwarz. Aus der Dschungelnacht ihrer afrikanischen Gesichter glomm lediglich das Weiß der Iris, eher angstvoll als in wachsamer Jagdleidenschaft, vierfach hervor.«
Hatte sie nicht bereits hier zum ersten Mal das Geräusch gehört, von dem sie dachte, Herr Schüssel hätte es zu verantworten beim entschiedenen Zerreißen seines Zettels? Aber nein, er hielt ihn unversehrt in der Hand und blickte darauf. Das also konnte es nicht sein. Roch es hier womöglich nach zerquetschten Marienkäferchen?
»Die Jäger hielten die leicht geduckt voranschreitenden Tiere an schweren Eisenketten! Nein, das waren keine Jäger, die das starre Gebirge durchstreifen, um Dynamik ins Steinerne zu bringen. Diese hier mußte man anderen Revieren zuordnen. Ohne sich untereinander zu verständigen, grübelten die Frau und der Mann darüber nach, wie und auf welches Wild gehend, sich diese Jagd denn im einzelnen vollziehen mochte. Sie hatten sich am dritten Tag ihrer Reise heftig um eine Kleinigkeit gestritten. Was war es noch? Was war es jetzt wieder? Gelegentlich brauchten sie so eine Entladung ihrer Gefühle für einander, und irgendwann bot sich dann ein lächerlicher Anlaß, den sie im Moment als etwas Wesentliches ansehen konnten. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge war es gut so, daß sie einerseits Abstand hielten, um ihrer Erbitterung, die sie für Sekunden mit Wonne als Haß begriffen, noch etwas Auslauf zuzugestehen. Auf der anderen Seite bahnte sich eine längst schon gewünschte Versöhnung gewöhnlich am besten, nämlich diskretesten an, wenn beide im selben Raum gleichzeitig auf dasselbe Dritte konzentriert waren. Der Mann sagte dann irgendwann ein, zwei Sätze. Manchmal schaffte es auch die störrischere Frau und verbiß sich schon ein Lächeln dabei. Fünf Minuten später war die Sache in der Regel erledigt. Diesmal nicht ganz. Die kalte Zone ums Herz herum zeigte keine Temperaturveränderung, im Gegenteil, es wurde mit jedem Augenblick frostiger dort. Wenn das passierte, erschien ihnen auf einmal die Unerheblichkeit des Anlasses wie der Hinweis auf etwas schlimmes Grundsätzliches. Etwas ist in mir abgestorben, dachte dann wenigstens die Frau, finster begeistert in solchen seltenen Fällen, etwas ist im Leben für immer vorbei. Ein Trost, daß es so radikal vor sich geht!«
Da hörte Rita Palka wieder das reißende Geräusch, gleich zweimal hintereinander, ritsch-ratsch ging das, und um nicht allzu decouvrierend mit den Augen zwischen den Leuten nach der Ursache zu forschen, legte sie kurz den Kopf in den Nacken und sah die verliebte Stuckarbeit der Decke an, eigensinnige Lochstickerei, eine perfekt gebügelte, schneeweiße Großmutterschürze. In den Ecken überschlugen sich die Ornamente wie bei den Fensterbögen. Viel abzustauben! Da mochte Frau Altpeter von der Gebäudereinigung, die bisher krumm und unruhig dagesessen hatte, gut und gerne einen langen Putztag hinter sich haben. Ritas Blick nach oben verfehlte seine Wirkung nicht. Es wurde vollkommen still trotz des Parkettbodens unter den Läufern. Sie mußte es sich als eigenen Fehler ankreiden, daß sie bei solchen Störungen derart widerstandslos aus der Konzentration geriet. War es Arroganz, altertümlich hochfahrende Überzeugung von der Wichtigkeit des Gelesenen? Das wohl nicht, bloß das Bestehen auf einem Entweder-Oder. Es ist zum Lachen, zum Heulen, sagte sie sich und griente deplaziert.
»Sobald sie sich aber wieder versöhnt hatten, dachte die Frau üblicherweise Sätze wie diese: ›Es ist wie bei optischen Täuschungen, wenn man durchs geschlossene Fenster auf einen Baum starrt und plötzlich erschrickt, weil ein riesiges Tier aus dem Laub klettert, bis man erkennt, daß es bloß eine Wespe ist, die sich am Glas hochbewegt. Man reagiert einfach nicht adäquat!‹ Jetzt aber sprang beiden etwas vermutlich zur gleichen Zeit ins Auge. Nur zuckte allein die Frau unter dem Schock zusammen. Sie ging nahe an die etwa einen halben Meter hohe Figur heran, bis der Wärter sie mißbilligend zurückrief. Sie wollte ganz sicher sein, daß sie sich nicht täuschte, und kam dann zu ihrem Mann hinüber, der sofort ihre Blässe bemerkte. Er schwieg allerdings dazu. Die Frau sagte ebenfalls vorerst kein Wort, als zählte jetzt nicht im geringsten der Mann, sondern nur die Untersuchung des zweiten Jägers. Auch der führte, wie der andere, die große Raubkatze bloß halbwegs, führte sie bloß zur Hälfte an der Kette, denn er war, kein Zweifel, ja selbst gefesselt, wie der erste gefesselt an den Löwen! Deshalb schleppte er breite Eisenringe um Handgelenke und Hals.«
Feinde sind sie tatsächlich nicht, weder die leeren Stühle, noch die Leute. Sie sind nur völlig gleichgültig, die einen wie die anderen, sagte sich Rita Palka und horchte auf das Reißen, das wieder eingesetzt hatte. Bei der kleinsten Ablenkung drehten ihre kindischen Zuhörer sofort erwartungsvoll den Kopf. Sie entdeckte jetzt auch selbst die Person, die den Lärm veranstaltete. Es war die Putzfrau, Frau Carla Altpeter, die sich über die große Tasche auf ihrem Schoß beugte und einen Reißverschluß nach dem anderen, innen und außen aufzog und wieder schloß, ohne etwas anderes in ihrer Versunkenheit wahrzunehmen. Bastian, im Festanzug mit dem rot geschwollenen Fieberkopf, konnte den Blick gar nicht mehr wenden davon. Frau Schüssel lächelte erfreut. Ihr Mann dagegen schien gleich weinen zu wollen und gab einen räuspernden Preßlaut von sich, um Frau Altpeter zu verwarnen, die er ja eventuell für ihr Dasitzen bezahlte, die zwecks Aufrechterhaltung der Kultur zur Leih- oder Mietzuhörerin gewordene Altpeter. Zwischendurch sah er besorgt zu Judith Bork hinüber, die ihren Stift in der Hand hielt.
Rita machte eine deutliche Pause. Das schreckte die Zuhörer noch am ehesten auf. Manchmal erlebte sie beim Lesen wieder die prächtigen Reiche der Vorstellung, die zu den Sätzen geführt hatten. Aber sie welkten hier unter den schlummerigen Blicken dahin, verfielen auch vor ihr selbst.
»Der Löwe und der Jäger waren wechselseitig aneinandergeschmiedet, keiner konnte einen Schritt ohne den anderen tun, geschweige denn fliehen. Gegeneinander zu kämpfen als bestialisches Schauspiel aber, das wäre ihnen wohl ohne weiteres möglich. Die Frau hielt den Atem an, denn, überzeugt von der Realistik des skandalösen Gespanns, schloß sie sofort aus, es könnte sich um eine Allegorie handeln. Sie beugte sich fasziniert, in ungläubiger Empörung, schon wieder zu weit vor gegen die Statuette an der Seite ihres stumm und steif dastehenden, sie beobachtenden Mannes.«
Rita sah an dieser Stelle, als prüfte sie die Wirkung ihrer Sätze, gespielt wichtigtuerisch die Zuhörer an. Bei anderen Autoren flößte das dem Publikum tiefen Respekt ein, warum sollte sie das in ihrer Halbnot nicht auch mal versuchen? Ließ die Blicke dann gemütlich, vielleicht auch zaudernd, schweifen zu den blitzenden Spiegelstückchen an den Wänden des Kabinetts, in dem das grüngoldene Abendlicht gurgelte und zuckte mit wechselnden Schattierungen, und kam dabei Frau Altpeter auf die Schliche: Die zog und knöpfte gar nicht aus Langeweile oder allgemeiner Unrast an Tasche und Jacke herum. Dann nämlich hätte sie nicht so ein verzweifeltes Gesicht geschnitten. Die Schloßpflegerin Carla Altvater oder Altpeter suchte einen Gegenstand, immer an denselben Stellen, immer fassungsloser und fand ihn nicht. So vergeblich aber ihr Fingern und Tasten war, so wenig konnte sie davon lassen.
»Die magere, fast dürre und trotzdem für manche Männer wohl anziehende Frau bewegte sich nun zwischen den Zwillingsfiguren hin und her in ihrem gepunkteten Sommerfähnchen auf roten, hochhackigen Schuhen, die das Nervöse ihres Typus extra betonten, sogar ein bißchen hinausschrien. Eine Gestalt, die zu sagen schien: Entweder man mag mich, oder man läßt die Pfoten von mir! Sie begann allmählich damit Aufsehen zu erregen. Andere Besucher hatten die besondere Situation der schwarzen Jäger bis dahin gar nicht bemerkt. Sie wandten auch jetzt ihr Interesse mehr der erregten Frau als den Plastiken zu. Der Mann aber ließ sie nicht aus den Augen. Er begann, heftiger mit den Kiefern zu mahlen.«
Sie, Rita, hatte dann, immer bemüht, die Geräusche der unglücklichen Putzfrau nicht wahrzunehmen, mutig und sinnlos weitergelesen von einer in der gepunkteten Frau aufkeimenden Idee. Nachdem deren Mitgefühl mit den Jägern verflogen war, sah sie nämlich etwas ganz anderes in ihnen abgebildet, konnte sich nicht länger gegen den steigenden Druck eines seit ihrer Schulzeit gehätschelten Interpretationsbedürfnisses stemmen. Handelte es sich hier nicht um eine Darstellung, auch der Mann mußte es doch erkennen, von ihrer beider Liebe? Wie sie aneinander gebunden und einander ausgeliefert waren, nicht voneinander fliehen, aber sich sehr wohl gegenseitig zerfleischen konnten?
Rita las den Leuten vor, wie die rotbeschuhte Frau sich erinnerte, daß sie vom ersten Augenblick an, als sie den Mann gesehen hatte, um die handfesten Leiden wußte, die er ihr bereiten würde. Was sie natürlich nicht abschreckte, nein, das nicht!
Rita las vom Zündstoff in den damals auf die Frau gerichteten Augen, dachte zwischendurch: Hoffentlich ist wenigstens mein Zimmer heute nacht passabel!
Las von der Macht, die dem Mann zufiel, weil er, und nie ein anderer vor ihm, etwas in der dünnen Frau entdeckt und in die Wirklichkeit geholt hatte, das ohne ihn nicht ans Licht getreten wäre, ein Splitter nur oder ein riesiges Land. Umgekehrt konnte es doch nicht ganz anders sein, denn wären sie beide sonst noch immer zusammen gewesen?
Während Rita Palka in einem Nebenzimmer ihres Kopfes erwog, ob sie der sicher hochverdienten Carla von der Gebäudereinigung ihre Hilfe beim Suchen anbieten solle, sprang diese sicher schlecht verdienende Frau plötzlich auf, stieß in Richtung von Herrn Schüssel hervor: »Mein Portemonnaie mit allem drin ist weg«, und hastete, gegen Stuhlbeine tretend, aus dem Kabinett. Rita konnte nicht unterbinden, daß es in ihr kommentierte: Der Kreis ist noch intimer geworden! Das fieberkranke Kind Bastian aber schüttelte sein Haupt wie ein Alter und grinste dazu, als würde es von dem Zwischenfall gleich ein bißchen gesünder. Was machten eigentlich Vaternahm, Ochs und Lachmund oder Haselhuhn und Bork? Erstarrt, verstört durch die Flucht der Gebäudereinigerin?
Die kleine, zeitvertreibende Unruhe mußte sich wohl erst legen, sie konnte nicht einfach überbrüllt werden. Ritas Gehirn nutzte aus eigenem Antrieb die Unterbrechung, um ihr, Rita Palka, en passant eine Lebensphase zu präsentieren, in der sie von jedem Satz der großen Dichter gewissermaßen zurückgeschleudert worden war in Sumpf und Schlamm der eigenen Unzulänglichkeit. Und es doch nicht aufgeben konnte! Sie lächelte gerührt über sich selbst. Sieh da, Herr Ochs hielt sich für gemeint und lächelte zurück.
Frau Altpeters scharfes Reißen fehlte ihr jetzt fast. Sie las jedoch konzentriert weiter von der Überschlanken, der aparten Vogelscheuche, die plötzlich auf ihren Stöckelschuhen gewaltsam die Erkenntnis durchfuhr, daß es bei Jäger und Löwe um viel Erregenderes ging, als sie noch eben geglaubt hatte. In die Skulpturen schlüpfte etwas Ernsteres, Kompaktes. Der Stein, falls es welcher war, wurde durch unsichtbaren Materialaustausch zu Erz, oder das Erz verdichtete sich erneut unter starkem Druck zu etwas noch Unerbittlicherem bei strikter Aufrechterhaltung der Oberflächen. Alles falsch, natürlich, aber so empfand sie, die Frau im Sommerfähnchen, den Vorgang, dem sie, vielleicht als einzige unter den Besuchern an diesem Ort, Rom, Donnerstag, 14.30 Uhr, bewußt beiwohnte.
Wichtig war nicht mehr die Demonstration, wie sie und ihr Mann dramatisch oder gewohnheitsmäßig aneinandergefesselt blieben, vielmehr, daß jeder für sich, unüberbrückbar einsam, an seine ursprünglich großartige Idee von der Liebe geschmiedet war, und, sogar wenn er vor ihr flüchten oder sie vergessen wollte, nicht ohne sie sein konnte. Selbst wenn er verdreckt, zerschlissen, halb tot und nicht zum Wiedererkennen hinter ihr, der Vision, hergeschleift wurde: Los kam er nicht von ihr. Das pubertäre Bild einer Leidenschaft von Augenblick zu Augenblick, von Angesicht zu Angesicht, ob sie sich inzwischen darüber gemeinsam mokierten oder nicht, war, für jeden allein, das einzige, was in Wahrheit zählte, was alle Nichtswürdigkeiten schwach, aber unbeirrbar und nicht zu vernichten, durchglomm.
Bevor sie sich aber vollständig in dieser Überraschung zu verlieren begann, hatte sich die Frau zu dicht an einen der Jäger herangemacht und wurde vom Wärter zurückgerissen. Dann passierte etwas, was er gewiß nicht beabsichtigt hatte. Die Frau, die in ihrer körperlichen Zerbrechlichkeit keinen großen Widerstand bot, verlor das Gleichgewicht, taumelte kurz, stürzte. Das gepunktete Kleid habe sehr gut ausgesehen auf den schwarz-weißen Kacheln und der über und über sommersprossigen Haut und eine unklare Dunkelheit zwischen den Beinen freigegeben. Man habe fast glauben können, alles sei nur passiert um dieses Designs willen. Auch habe sie einen Laut ausgestoßen, nicht unbedingt einen Schmerzensschrei, vielleicht nur einen des Schrekkens, der aber leider seine Wirkung getan habe.