Zwei Städte - Charles Dickens - E-Book

Zwei Städte E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Eine Geschichte aus zwei Städten (Originaltitel: A Tale of Two Cities) ist ein historischer Roman von Charles Dickens aus dem Jahr 1859. Er gehört zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur. Dickens schrieb diesen Roman 1859, als sein eigenes Leben starke Veränderungen erfuhr. Er ließ sich scheiden, seine britische Wochenzeitschrift Household Words ging ein, während er eine neue Zeitschrift All the Year Round startete. Die Idee zu der Geschichte hatte Charles Dickens, wie er selbst im Vorwort der 1859er Ausgabe schrieb, während der Teilnahme an dem Theaterdrama The Frozen Deep von Wilkie Collins, das er zusammen mit seinen Kindern und Freunden aufführte.

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The Project Gutenberg EBook of Zwei Städte, by Charles DickensThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.org/licenseTitle: Zwei StädteAuthor: Charles DickensIllustrator: Hablot K. BrowneTranslator: Julius SeybtRelease Date: October 21, 2018 [EBook #58145]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZWEI STÄDTE ***Produced by Peter Becker, Reiner Ruf, and the OnlineDistributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (Thisfile was produced from images generously made availableby The Internet Archive)

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1859/60 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Ungewöhnliche, altertümliche und regional gefärbte Ausdrücke wurden nicht korrigiert; fremdsprachliche Zitate und Ausdrücke wurden unverändert übernommen, sofern die Verständlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird. Inkonsistente Schreibweisen (z.B. erwidern/erwiedern; fünfzig/funfzig; gelegentliche Verwendung von Apostrophen vor dem ‚Plural-s‘) wurden nicht vereinheitlicht.

In Zitaten innerhalb der wörtlichen Rede wurde ein doppelter Satz Anführungszeichen („„ ... ““) verwendet; in fortlaufenden Erzählsträngen wurden diese dabei nur einfach geschlossen. Umlaute in Großbuchstaben wurden in ihrer Umschreibung (Ae, Oe und Ue) dargestellt.

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um einen Roman in vier Teilen, welche ursprünglich in getrennten Büchern herausgegeben, schließlich aber zu einem Band zusammengefasst wurden. Die Seitennummerierung beginnt aber, entsprechned der ursprünglichen Textstruktur, in jedem Teil wieder von neuem. Sowohl das Inhaltsverzeichnis als auch das Verzeichnis der Illustrationen waren im Original im ersten Teil abgedruckt; in der vorliegenden Fassung wurden beide Verzeichnisse vor den gesamten Text gestellt, da diese auf alle vier Teile gleichermaßen verweisen.

Das Origial wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in Antiquaschrift werden in der vorliegenden Fassung kursiv wiedergegeben. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.

ZWEI STÄDTE

von

CHARLES DICKENS.

LEIPZIG

Verlag von J. J. Weber.

Inhalts-Verzeichniß.

Erster Theil.

Erstes Buch: Wiederauferstanden.

Seite

 1. 

Kapitel: 

Die Periode 

3

 2. 

  „ 

Die Postkutsche 

7

 3. 

  „ 

Die Schatten der Nacht 

16

 4. 

  „ 

Die Vorbereitung 

24

 5. 

  „ 

Der Weinschank 

43

 6. 

  „ 

Der Schuhmacher 

61

Zweites Buch: Das goldene Haar.

 1. 

Kapitel: 

Fünf Jahre später 

83

 2. 

  „ 

Ein Schauspiel 

93

 3. 

  „ 

Eine Enttäuschung 

104

 4. 

  „ 

Zum Glückwunsch 

127

 5. 

  „ 

Der Schakal 

138

 6. 

  „ 

Hunderte von Leuten 

147

Zweiter Theil.

 7. 

Kapitel: 

Monsieur le Marquis in der Stadt 

1

 8. 

  „ 

Monsieur le Marquis auf dem Lande 

15

 9. 

  „ 

Das Medusenhaupt 

24

10. 

  „ 

Zwei Versprechen 

42

11. 

  „ 

Ein Seitenstück 

55

12. 

  „ 

Der Mann von Zartgefühl 

62

13. 

  „ 

Der Mann ohne Zartgefühl 

74

14. 

  „ 

Der ehrliche Gewerbsmann 

83

15. 

  „ 

Stricken 

100

16. 

  „ 

Immer noch stricken 

117

17. 

  „ 

Eine Nacht 

135

18. 

  „ 

Neun Tage 

143

Dritter Theil.

19. 

Kapitel: 

Eine Meinung 

1

20. 

  „ 

Eine Bitte 

13

21. 

  „ 

Wiederhallende Schritte 

19

22. 

  „ 

Die Fluth steigt immer noch 

37

23. 

  „ 

Feuer! 

46

24. 

  „ 

Vom Magnetfelsen angezogen 

57

Drittes Buch: Des Sturmes Wüthen.

 1. 

Kapitel: 

Zu geheimer Haft 

79

 2. 

  „ 

Der Schleifstein 

98

 3. 

  „ 

Der Schatten 

109

 4. 

  „ 

Eine Pause im Sturm 

117

 5. 

  „ 

Der Holzmacher 

126

 6. 

  „ 

Triumph 

136

 7. 

  „ 

Ein Klopfen an der Thür 

147

Vierter Theil.

 8. 

Kapitel: 

Gute Karte 

1

 9. 

  „ 

Das Spiel ist gemacht 

22

10. 

  „ 

Das Wesen des Schattens 

43

11. 

  „ 

Dämmerung 

67

12. 

  „ 

Nacht 

74

13. 

  „ 

Zweiundfünfzig 

88

14. 

  „ 

Ausgestrickt 

108

15. 

  „ 

Die Schritte verhallen für immer 

128

Illustrationen-Verzeichniß.

Erster Theil.

SeiteTitel und Titelbild 1Die Postkutsche 14Der Schuhmacher 73Die Aehnlichkeit 119Glückwünsche 129

Zweiter Theil.

Der Aufenthalt am Brunnen 11Mr. Stryver in Tellsons Comptoir 64Das Leichenbegängniß des Spions 87Der Weinschank 100

Dritter Theil.

Die Mitschuldigen 12Der Sturm bricht los 34Zu geheimer Haft 87Das Klopfen an der Thür 154

Vierter Theil.

Zwiefaches Erkennen 3Nach der Verurtheilung 70

Zwei Städte.

Eine Erzählung in drei Büchern.

Von

Boz (Charles Dickens).

Mit

Sechszehn Illustrationen von Hablot K. Browne.

Aus dem Englischen von Julius Seybt.

ErsterTheil.

Leipzig

Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber.

1859.

Erstes Buch. Wiederauferstanden.

Erstes Kapitel.Die Periode.

Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Thorheit; es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens; es waren die Tage des Lichts, es waren die Tage der Finsterniß; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung. Wir hatten Alles zu erwarten, wir hatten Nichts zu erwarten. Wir gingen Alle schnurstracks dem Himmel zu, wir gingen Alle schnurstracks den andern Weg — kurz, die Zeit war insofern der gegenwärtigen gleich, als einige ihrer lärmendsten Kenner behaupteten, es könnte im Guten oder Bösen nur in Superlativen von ihr gesprochen werden.

Ein König mit einer großen Unterkiefer und eine Königin von gewöhnlichem Aussehen saßen auf dem Throne von England; ein König mit einer großen Unterkiefer und eine Königin mit einem schönen Gesicht saßen auf dem Throne von Frankreich. In beiden Ländern erkannten die Magnaten des Landes, für welche die Fische und Brote des Landes aufbewahrt werden, auf das Klarste, daß Alles auf ewig in bester Ordnung sei.

Es war das Jahr unseres Herrn 1775. England kamen in jener glücklichen Zeit Enthüllungen aus der andern Welt zu, ebenso wie jetzt. Mrs. Southcott hatte vor Kurzem ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, dessen erhabenes Tagen ein prophetischer Gemeiner aus der Leibgarde durch die Verkündigung gefeiert hatte, daß London und Westminster auf dem Punkte stünden, von der Erde verschlungen zu werden. Selbst das Cock-lane-Gespenst war seit einem vollen Dutzend Jahren zur Ruhe gegangen, nachdem es seine Botschaften durch Klopfen kundgethan, genau wie es die Geister des vorletzten Jahres thaten, so übernatürlich war ihr Mangel an Originalität. Einfache irdische Botschaften hatte neuerdings die englische Krone und das englische Volk von einem Congreß britischer Unterthanen in Amerika bekommen, die, seltsam genug, viel wichtiger für das Menschengeschlecht geworden sind, als alle Botschaften, welche von Geistern aus dem Cock-lane-Gelichter herstammen.

Frankreich, in Sachen der Geisterwelt weniger begünstigt, als ihre Schwester mit dem Schilde und dem Dreizack, rutschte ganz gemächlich bergab, machte Papiergeld und verthat es. Unter der Anleitung seiner christlichen Seelenhirten unterhielt es sich außerdem mit so menschenfreundlichen Thaten, wie z. B. mit dem Verurtheilen eines Jünglings, daß ihm die Hände abgehackt, die Zunge mit Zangen ausgerissen und er selbst lebendig verbrannt werde, weil er nicht vor einer Prozession schmutziger Mönche, die in seinem Gesichtsbereich in einer Entfernung von fünfzig bis sechszig Schritt vorbeigegangen, im Regen niedergekniet war. Es ist wohl möglich, daß, während dieser arme Junge hingerichtet ward, in den Waldungen Frankreichs und Norwegens Bäume wuchsen, die der Holzfäller Verhängniß schon gezeichnet hatte, um sie zu fällen und zu Brettern zu sägen, um daraus ein gewisses in schrecklicher Erinnerung lebendes bewegliches Gerüst, mit einem Sack und einem Messer daran, zu verfertigen. Es ist wohl möglich, daß unter dem hinfälligen Schuppen einiger Bebauer des schweren Bodens um Paris an demselben Tage unbehülfliche Karren standen, besprützt mit Straßenschmutz, beschnüffelt von Schweinen und dem Federvieh als Sitz dienend, welche der Pächter Tod bereits bestimmt hatte, seine Karren in der Revolution zu sein. Aber dieser Holzfäller und dieser Pächter arbeiteten zwar unaufhörlich, aber stumm, und Niemand hörte sie, wie sie leisen Schrittes sich herumbewegten, um so mehr, da es reine Gottlosigkeit und Hochverrath war, nur den Verdacht zu hegen, daß sie thätig sein könnten.

In England war kaum so viel Ordnung und Schutz von Leben und Eigenthum, daß die Nation sich sehr hätte dessen rühmen können. Verwegene Hauseinbrüche von Bewaffneten und Straßenraub kamen allnächtlich in der Hauptstadt selbst vor; Familien wurden öffentlich gewarnt, die Stadt nicht zu verlassen, ohne ihren Hausrath der Sicherheit wegen dem Möbelhändler zum Aufbewahren zu geben; der Straßenräuber im Dunkel der Nacht war bei Tage ein ehrsamer Bürger der City, der, wenn er von seinem Gevatter als „Capitain“ angehalten, erkannt und genannt ward, diesem ohne Weiteres durch den Kopf schoß und davonritt; die Postkutsche wurde von sieben Räubern angehalten, der Conducteur schoß drei todt und die anderen vier schossen dann den Conducteur selbst todt, „weil er alle seine Munition verschossen hatte“, worauf die Plünderung der Postkutsche in Frieden vor sich ging; den gewaltigen Potentaten, den Lord Mayor von London, hielt ein einziger Straßenräuber auf Turnham Green an und nahm ihm Angesichts seines Gefolges die Börse ab; in Londoner Gefängnissen kam es zu Gefechten zwischen Gefangenen und Schließern und die Majestät des Gesetzes feuerte mit Donnerbüchsen, geladen mit Schrot und Kugeln, unter die Gefangenen; Diebe schnitten an Hofcourtagen Diamantkreuze von dem Halse edler Lords; Musketiere marschirten nach St. Giles, um nach geschmuggelten Waaren zu suchen, und das zusammengelaufene Volk feuerte auf die Musketiere, und die Musketiere feuerten auf das zusammengelaufene Volk; und keines dieser Ereignisse hielt irgend Jemand für etwas Ungewöhnliches. Während sie vor sich gingen, war der Henker, immer geschäftig, und immer schlimmer als nutzlos, in beständiger Arbeit; jetzt hing er ganze Reihen von allerhand Verbrechern auf; dann richtete er Sonnabends einen Hauseinbrecher hin, der Dienstag gefangen worden war; jetzt brandmarkte er in Newgate Leute dutzendweise in die Hand und dann verbrannte er vor der Thür der Westminster-Halle Flugschriften; heute brachte er einen blutgierigen Mörder vom Leben zum Tode und morgen einen armseligen Wicht, der einem Bauernknecht sechs Pence gestohlen hatte.

Alle diese Dinge und tausend ähnliche geschahen in und um das liebe alte Jahr 1775. Von ihnen umgeben und während Holzfäller und Pächter unbeirrt fortarbeiteten, machten die Beiden mit dem großen Unterkiefer und die beiden Andern mit dem gewöhnlichen und dem schönen Gesicht Lärm genug in der Welt und machten ihre göttlichen Rechte mit hochfahrendem Sinne geltend. So führte das Jahr 1775 seine größten und Myriaden von kleinen Geschöpfen — die Geschöpfe dieser Geschichte unter den übrigen — die Straßen entlang, die vor ihnen lagen.

Zweites Kapitel.Die Postkutsche.

Die Straße nach Dover war es, die in einer Freitagsnacht spät im November vor der ersten der Personen lag, mit welchen diese Geschichte zu thun hat. Die Straße nach Dover lag für diesen Mann vor der Dover Postkutsche, wie sie Shooter’s Hill hinauf rumpelte. Er ging wie die übrigen Passagiere bergab in dem Straßenschlamm, neben der Postkutsche her; nicht, weil sie die mindeste Vorliebe für Spazierengehen unter diesen Umständen hatten, sondern weil der Hügel so steil, der Schmutz so tief, und das Geschirr und die Kutsche so schwer waren, daß die Pferde schon dreimal stecken geblieben waren und einmal den Wagen quer über die Straße gezogen hatten, in der meuterischen Absicht, nach Blackheath umzukehren. Zügel und Peitsche und Kutsche und Conducteur hatten jedoch im Verein den Kriegsartikel verlesen, welcher ein sonst sehr zu Gunsten der Behauptung, daß einige Thiere mit Vernunft ausgestattet sind, sprechendes Thuen verbot; und das Gespann hatte capitulirt und war zu seiner Pflicht zurückgekehrt.

Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen wateten sie durch den dicken Schlamm und stolperten und wankten zuweilen, als ob sie in den größeren Gelenken in Stücke gehen wollten. So oft der Kutscher ihnen eine kurze Rast gestattete und sie mit einem beruhigenden Brr! So, so! anhielt, schüttelte das Handpferd von den beiden Stangenpferden heftig den Kopf mit Allem, was darumhing — als ein ungewöhnlich emphatisches Pferd entschieden seine Meinung aussprechend, daß die Kutsche gar nicht den Berg hinauf gebracht werden könnte. So oft das Stangenpferd sich so klappernd schüttelte, fuhr der Passagier zusammen, wie es einem nervenschwachen Passagier wohl geschehen mag und zeigte sich besorgt im Gemüthe.

Ein dampfender Nebel lag in allen Tiefen, und er war in seiner Verlassenheit den Hügel hinauf gewandert, wie ein böser Geist, der Ruhe sucht und keine findet. Feucht und kalt kam er durch die Luft langsam in kräuselnden Streifen herangezogen, die sichtbar einander folgten und übereinander stürzten, wie die Wellen eines ungesunden Meeres. Er war dick genug, um Alles, außer seinem eigenen Wirbel und ein Paar Ellen von der Straße, von dem Lichte der Kutschenlaternen abzusperren; und der Dunst von den sich abarbeitenden Pferden dampfte, als ob der Nebel erst daraus entstanden wäre.

Zwei andere Passagiere außer dem einen erstiegen neben der Postkutsche mühsam den Hügel. Alle drei waren bis an die Backen und über die Ohren eingewickelt und trugen hohe Reitstiefel. Keiner von den dreien hätte nach dem, was er sah, sagen können, wie die beiden andern aussahen, und jeder war unter fast so vielen Verhüllungen vor den Augen des Geistes, wie vor den Augen des Körpers seiner beiden Gefährten versteckt. In jenen Tagen hüteten sich die Reisenden gar sehr, nach kurzer Bekanntschaft einander Vertrauen zu schenken, denn Jeder, den man auf der Straße traf, konnte ein Räuber oder im Bunde mit Räubern sein. Was das Letztere betrifft, so war es das Allerwahrscheinlichste zu einer Zeit, wo jede Poststation und jede Schenke Jemand aufweisen konnte, der in des Capitains Sold stand; und diese Stufenleiter des Vertrauens ging vom Wirth bis herunter zum niedrigsten Stalljungen. So dachte der Conducteur der Dover-Postkutsche bei sich selbst in jener Freitagnacht im November 1775, wie er auf seinem ihm angewiesenen Posten hinten auf der Kutsche stand, in der eine geladene Donnerbüchse über sechs oder acht geladenen Reiterpistolen und einigen Säbeln lag.

Die Dover-Postkutsche war in ihrer gewöhnlichen gemüthlichen Stimmung, wo der Conducteur den Passagieren mißtraute, die Passagiere von einander und von dem Conducteur Arges dachten, Alle auf die Uebrigen einen Argwohn geworfen hatten und der Kutscher nur seiner Pferde sicher war; in Bezug auf welche Pferde er mit reinem Gewissen auf beide Testamente hätte schwören können, daß sie für die Reise nicht geeignet waren.

„Brr!“ sagte der Kutscher. „Brr! noch einmal ins Geschirr gelegt und ihr seid oben, und dann sollt ihr verdammt sein, denn es hat mir Mühe genug gekostet, euch so weit zu bringen! — Joe!“

„Heda“, erwiderte der Conducteur.

„Welche Zeit mag’s wohl sein, Joe?“

„Gute zehn Minuten über elf.“

„Teufel!“ rief ärgerlich der Kutscher aus, „und noch nicht auf der Höhe! Vorwärts!“

Das emphatische Pferd, von der Peitsche in einer höchst entschiedenen Verneinung unterbrochen, legte sich ins Geschirr und die drei anderen Pferde folgten. Noch einmal rumpelte die Dover-Kutsche fort und die hohen Reitstiefel der Passagiere wateten neben ihr her. Sie waren stehen geblieben, wie die Kutsche stehen blieb und hielten sich dicht bei einander. Wenn einer von den dreien keck genug gewesen wäre, einem andern vorzuschlagen, im Nebel und in der Nacht ein Wenig vorauszugehen, hätte er sich der nicht unwahrscheinlichen Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.

Die letzte Anstrengung brachte die Postkutsche bis auf die Höhe. Die Pferde machten Halt, um zu verschnaufen, und der Conducteur stieg ab, um das Rad für die Hinabfahrt zu hemmen, den Kutschenschlag aufzumachen und die Passagiere einsteigen zu lassen.

„Heda, Joe! Horch, Joe!“ rief der Kutscher warnend vom Bock herunter.

„Was meint Ihr, Tom?“

Sie lauschten Beide.

„Ein Reiter kommt im Galopp uns nach, Joe.“

„S’ ist ein Reiter in gestrecktem Galopp, Tom“, gab der Conducteur zurück, indem er die Kutschenthür losließ und rasch auf seinen Platz kletterte. „Ihr Herren! In des Königs Namen, Alle für Einen!“

Nach dieser eiligen, aber eindringlichen Aufforderung spannte er den Hahn seiner Donnerbüchse und stand kampfbereit da.

Der für diese Geschichte eingeschriebene Passagier stand auf dem Kutschentritt, im Einsteigen begriffen; die beiden anderen Passagiere waren dicht hinter ihm, um ihm zu folgen. Er blieb halb in der Kutsche und halb außerhalb derselben auf seinem Platze; die andern blieben auf der Straße unter ihm stehen. Sie alle sahen abwechselnd den Kutscher und den Conducteur an und horchten.

Der Kutscher sah zurück und der Conducteur sah zurück, und selbst das emphatische Handpferd spitzte die Ohren und sah zurück, ohne zu widersprechen.

Das durch das Aufhören des Rumpelns und Polterns der Kutsche eintretende Schweigen, verbunden mit dem Schweigen der Nacht, machte es wirklich still. Das Keuchen der Pferde theilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als ob sie sich in einem Zustande der Aufregung befände. Die Herzen der Passagiere schlugen laut genug, um gehört zu werden; aber jedenfalls die Ruhepause sprach hörbar von Leuten außer Athem und Leuten, die den Athem anhalten und deren Blut vor Erwartung rascher pulsirt.

Der Hufschlag eines scharf galoppirenden Pferdes kam den Hügel herauf immer näher und näher.

„Halloh!“ rief der Conducteur, so laut er brüllen konnte. „Heda! Steht, oder ich schieße!“

Das Pferd ward plötzlich angehalten und mit vielem Klatschen und Stampfen hörte man eine Mannsstimme aus dem Nebel herauf tönen: „Ist das die Dover-Post?“

„Kümmert Euch nicht drum, was es ist!“ erwiderte der Conducteur. „Wer seid Ihr?“

„Ist das die Dover-Post?“

„Warum wollt Ihr’s wissen?“

„Ich suche einen Passagier, wenn sie’s ist.“

„Wie heißt der Passagier?“

„Mr. Jarvis Lorry.“

Der uns wohlbekannte Passagier gab sofort kund, daß dies sein Name sei. Der Conducteur, der Kutscher und die beiden anderen Passagiere warfen argwöhnische Blicke auf ihn.

„Bleibt, wo Ihr seid“, rief der Conducteur der Stimme im Nebel zu, „weil, wenn ich einen Irrthum beginge, er während Eurer Lebenszeit nicht wieder gut gemacht werden könnte. Der Herr, der Lorry heißt, antworte auf der Stelle.“

„Was giebt’s?“ fragte darauf der Passagier, mit etwas zitternder Stimme. „Wer fragt nach mir? Ist es Jerry?“

„Mir gefällt Jerry’s Stimme nicht, wenn es Jerry ist“, brummte der Conducteur vor sich hin. „Er ist heiserer, als mir gefällt, der Jerry.“

„Ja, Mr. Lorry.“

„Was giebt’s?“

„Eine Depesche für Sie von drüben. Von T. u. Comp.“

„Ich kenne den Mann, Conducteur,“ sagte Mr. Lorry, indem er wieder auf die Straße hinabtrat, wobei ihm die beiden anderen Passagiere mehr rasch als höflich beistanden und darauf sofort in die Kutsche kletterten, die Thür zumachten und das Fenster hinaufzogen. „Er kann herankommen; es ist Alles in Ordnung.“

„Ich will das hoffen, gar zu sicher sieht es mir noch nicht aus“, sagte der Conducteur, immer noch vor sich hinbrummend. „Heda, Mann!“

„Nun ja, hier bin ich!“ sagte Jerry, noch heiserer als vorher.

„Kommt im Schritt heran! Hört Ihr’s? Und wenn Ihr Halfter an Eurem Sattel habt, so nehmt Euch in Acht, daß Ihr nicht mit der Hand ihnen zu nahe kommt. Denn ich bin ein Teufel im Falschverstehen, und wenn ich was falsch verstehe, so wird gleich Blei daraus. Nun wollen wir einmal sehen, wen wir haben.“

Ein Pferd und ein Reiter kamen langsam aus dem wirbelnden Nebel und an die Seite der Postkutsche, wo der Passagier stand. Der Reiter beugte sich herab und übergab, indem er den Conducteur ansah, dem Passagier ein kleines zusammengebrochenes Papier. Das Pferd des Reiters war außer Athem, und sowohl Pferd wie Reiter waren von den Hufen des Pferdes bis zu dem Hute des Mannes mit Koth bespritzt.

„Conducteur!“ sagte der Passagier in ruhigem und zuversichtlichem Geschäftstone.

Der wachsame Conducteur, mit der rechten Hand am Kolben der halb erhobenen Donnerbüchse, mit der linken am Rohr und mit dem Auge auf dem Reiter, antwortete kurz: „Sir!“

„Es ist Nichts zu fürchten. Ich bin von Tellson’s Bank. Ihr müßt Tellson’s Bank in London kennen. Ich reise in Geschäften nach Paris. Eine Krone Trinkgeld. Ich kann dies lesen?“

„Wenn Ihr rasch macht, Sir!“

Er brach den Brief beim Lichte der Kutschenlampe auf und las, erst für sich und dann laut: Warten Sie in Dover auf Mademoiselle. „Es ist nicht lang, wie Ihr seht, Conducteur. Jerry, sagt, meine Antwort wäre: Wiederauferstanden.“

Jerry fuhr im Sattel empor. „Das ist eine verwünscht seltsame Antwort“, sagte er mit seiner heisersten Stimme.

„Meldet, was ich gesagt habe und sie werden wissen, daß ich diesen Brief bekommen habe, so gut, als ob ich geschrieben hätte. Haltet Euch möglichst dazu. Gute Nacht!“

Die Postkutsche.

Mit diesen Worten machte der Passagier die Kutschenthür auf und stieg ein, ohne den mindesten Beistand von Seiten seiner Mitpassagiere zu finden, welche eiligst ihre Uhren und Geldbeutel in den Stiefeln versteckt hatten und sich jetzt alle schlafend stellten. Mit keiner bestimmteren Absicht, als der Gefahr zu entgehen, sich zu einem andern Verhalten entschließen zu müssen.

Die Kutsche rumpelte weiter und schwerere Wirbel Nebel umkräuselten sie, wie sie bergab zu fahren begann. Der Conducteur legte die Donnerbüchse bald wieder in die Waffenkiste, und nachdem er sich den übrigen Inhalt derselben betrachtet und nach den Pistolen, die er im Gürtel trug, gesehen hatte, sah er auch nach einem kleinern Kasten unter seinem Sitz, in welchem sich Hammer und Zange, ein Paar Fackeln und ein Feuerzeug befanden. Denn er war so vollständig ausgerüstet, daß, wenn der Wind die Kutschenlaternen ausgeblasen hätte, was manchmal geschah, er weiter Nichts zu thun brauchte, als sich einzuschließen, sich zu hüten, die Funken von Stahl und Stein in Stroh fallen zu lassen und mit leidlicher Sicherheit und Leichtigkeit (wenn er glücklich war) in fünf Minuten Licht zu machen.

„Tom!“ klang es halblaut über das Dach des Wagens.

„Was giebt’s, Joe?“

„Hörtet Ihr, was er sagte?“

„Ja wohl, Joe.“

„Habt Ihr was davon verstanden, Tom?“

„Ne, Joe.“

„Das trifft sich merkwürdig zusammen“, sagte der Conducteur nachdenklich vor sich hin, „denn ’s ist mir auch so gegangen.“

Jerry, im Nebel und in der Dunkelheit allein gelassen, stieg unterdessen ab, nicht nur seinem todtmüden Pferde zu Liebe, sondern auch, um sich die Kothflecken aus dem Gesicht zu wischen und den angesammelten Regen aus dem Hutrande, der etwa eine halbe Gallone halten mochte, zu schütteln. Nachdem er mit dem Zügel über dem Arm dagestanden hatte, bis man die Räder der Postkutsche nicht länger hörte und die Nacht wieder ganz still war, führte er langsam das Pferd den Hügel hinab.

„Nach dem scharfen Galopp vom Templethor, Alter, will ich’s deinen Vorderläufen nicht eher wieder zumuthen, als bis wir wieder auf ebenem Wege sind,“ sagte der heisere Bote mit einem Blicke auf sein Roß. „Wiederauferstanden. Das ist eine verteufelt seltsame Antwort. Das würde dir nicht allzu gut passen, Jerry! Nicht wahr, Jerry, du wärst verteufelt schlecht daran, wenn Wiederauferstehen Mode würde!“

Drittes Kapitel.Die Schatten der Nacht.

Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werthe Thatsache, daß jedes Menschen Wesen darnach angethan ist, ein tiefes Geheimniß und Räthsel für jedes andere zu sein. Ein feierlicher Gedanke, wenn ich bei Nacht in eine große Stadt komme, daß jedes dieser sich in dunkle Gruppen zusammendrängenden Häuser sein eigenes Geheimniß in sich schließt; daß jedes Zimmer in jedem derselben sein eigenes Geheimniß besitzt; daß jedes pulsirende Herz in den Hunderttausenden von Menschenbusen in einigen seiner Träume ein Geheimniß für das ihm am nächsten stehende Herz ist! Etwas von dem erhabenen Grauen, das der Tod einflößt, ist dem zuzuschreiben. Nicht mehr kann ich die Blätter dieses theuren Buches umwenden, das ich liebte, und vergeblich war die Hoffnung, es mit der Zeit ganz durchzulesen. Nicht mehr kann ich in die Tiefen dieses unergründlichen Wassers schauen, in welchem ich, als flüchtige Strahlen darauf fielen, einen Blick auf begrabene Schätze und andere versunkene Herrlichkeiten erhaschte. Es war beschlossen, daß das Buch sich auf immer und ewig verschließen sollte, als ich nur eine einzige Seite gelesen hatte. Es war beschlossen, daß ein ewiger Winterfrost das Wasser erstarren machen sollte, als das Licht noch auf seinem Spiegel spielte und ich, ohne Arges zu ahnen, am Ufer stand. Mein Freund ist todt, mein Nachbar ist todt, meine Geliebte, das Kleinod meiner Seele, ist todt; es ist die unerbittliche Besiegelung des Geheimnisses, welches immer in dieser Individualität war und welches ich bis an meines Lebens Ende in mir tragen werde. Giebt es auf einem einzigen der Friedhöfe der Stadt, durch welche ich gehe, einen Schlummernden, der unerforschlicher wäre, als mir ihre geschäftigen Bewohner in ihrer innersten Persönlichkeit sind, oder als ich ihnen bin?

Was nun dies, seine natürliche und nicht zu entfremdende Erbschaft betrifft, so besaß der berittene Bote davon genau so viel, wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann in London. Ebenso war’s mit den drei Passagieren, die in den engen Raum einer schwerfälligen, alten Postkutsche eingesperrt waren; sie waren einander so vollständig ein Geheimniß, als ob Jeder für sich in seiner eigenen sechs- oder sechszigspännigen Kutsche gesessen hätte, durch die ganze Breite einer Grafschaft von einander getrennt.

Der Bote ritt im bequemen Trab zurück und machte ziemlich oft bei Schenken an der Straße Halt, um zu trinken, wo er aber immer eine Neigung zeigte, seine Sache für sich und den Hut tief in die Stirn gezogen zu behalten. Er hatte Augen, welche zu dieser Neigung sehr gut paßten, schwarz, ohne Tiefe in Farbe oder Form, und viel zu nahe bei einander — als ob sie fürchteten, einzeln bei Etwas ertappt zu werden, wenn sie zu weit auseinander blieben. Unter einem dreieckigen Hut, gleich einem dreieckigen Spucknapf, und über einem großen Wickeltuch für das Kinn und den Hals, das fast bis zu dem Knie des Reiters herabfiel, hatten sie einen finstern Ausdruck. Wenn der Reiter anhielt, um zu trinken, schob er mit der linken Hand das Wickeltuch zurück, aber nur so lange, als er mit der rechten das Getränk hinuntergoß; sowie dies geschehen war, hüllte er sich wieder ein.

„Nein, Jerry, nein“, sagte der Bote, immer noch mit diesem einen Gegenstande beschäftigt. „Das paßte nicht für dich, Jerry. Jerry, für einen so ehrsamen Bürgersmann paßte das nicht ins Geschäft! Wiederauferstanden! Soll mich Der und Jener holen, wenn ich nicht glaube, er hatte Eins getrunken.“

Die Botschaft verursachte ihm so viel Kopfzerbrechen, daß er mehrere Male sich genöthigt sah, den Hut abzunehmen und sich hinter den Ohren zu kratzen. Außer auf dem Scheitel, der fast kahl war, hatte er steifes, schwarzes Haar, das in einzelnen Spitzen rund um ihn herumstand und niederwärts fast bis an seine breite, stumpfe Nase herabgewachsen war. Es war Schlosserarbeit so ähnlich und sah so viel mehr dem Rande einer mit starken eisernen Spitzen besetzten Mauer, als einem wohlbehaarten Kopfe ähnlich, daß der geschickteste Bockspringer sich geweigert haben würde, einen Sprung über ihn zu wagen.

Während er mit der Botschaft, die er dem Nachtwächter in seinem Schilderhaus an der Thür von Tellson’s Bank am Tempelthor übergeben sollte, welcher sie höheren Behörden drinnen zu überbringen hatte, zurücktrabte, nahmen die Schatten der Nacht vor ihm solche Gestalten an, wie sie aus der Botschaft entstanden, und nahmen für das Pferd Gestalten an, wie sie aus dessen Privatveranlassungen zur Unruhe hervorgingen. Sie schienen zahlreich zu sein, denn es scheute vor jedem Schatten auf der Straße.

Unterdessen rumpelte, polterte und ächzte die Postkutsche auf ihrem langweiligen Wege mit ihren drei unerforschlichen Passagieren weiter. Auch diesen zeigten sich die Schatten der Nacht in den Gestalten, welche ihre halbschlummernden Augen und herumschweifenden Gedanken ihnen eingaben.

Tellson’s Bank spielte in der Postkutsche eine große Rolle. Wie der Bankpassagier — den einen Arm in die lederne Schleife gelegt, welche ihr Möglichstes that, ihn abzuhalten, auf den nächsten Passagier zu fallen und ihn in eine Ecke zu schieben, so oft die Kutsche einen ganz besondern Stoß erhielt — auf seinem Platze mit halbgeschlossenen Augen nickte, wurden die kleinen Kutschenfenster und die matt durch dieselben schimmernden Kutschenlaternen und der in seinen Mantel gehüllte Passagier gegenüber die Bank, die ganz gewaltige Geschäfte machte. Das Klappern des Geschirres wurde zum Geldklimpern und binnen fünf Minuten wurden mehr Tratten honorirt, als selbst Tellson’s Bank mit aller ihrer Kundschaft im Auslande und im Inlande jemals in der dreifachen Zeit bezahlt hatte. Alsdann thaten sich vor ihm die festen Keller unter der Bank mit den kostbaren Vorräthen und Geheimnissen, welche der Passagier wußte (und er wußte nicht wenige derselben), vor ihm auf, und er ging mit großen Schlüsseln und dem schwach brennenden Lichte hinein und fand Alles sicher und unbesehen und unverrathen, gerade, wie er es zuletzt gefunden.

Aber obgleich die Bank ihm fast immer Gesellschaft leistete und obgleich die Kutsche (in einer verwirrten Weise, wie das Schmerzgefühl unter dem Einflusse eines Opiats) sich nie von ihm trennte, blieb auch noch eine andere Reihe von Eindrücken die ganze Nacht hindurch lebendig. Er war unterwegs, um Jemanden aus einer Gruft herauszuholen.

Welches von den vielen Gesichtern, die sich ihm zeigten, das wahre Gesicht des Begrabenen sei, verriethen die Schatten der Nacht nicht; aber sie waren alle Gesichter eines Mannes von fünfundvierzig Jahren und unterschieden sich hauptsächlich in den Leidenschaften, welche sie ausdrückten und in dem Grauenhaften ihres abgelebten und elenden Aussehens. Stolz, Verachtung, Herausforderung, Trotz, Unterwürfigkeit, Jammer folgten auf einander; ebenso viele Abstufungen von eingefallenen Wangen, leichenhafter Farbe, abgezehrten Händen und Gesichtern. Aber im Ganzen war das Gesicht ein Gesicht und jedes Haupt war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der Passagier aus seinem Halbschlummer heraus dieses Gespenst: „Wie lange begraben?“

Die Antwort war immer dieselbe: „Fast achtzehn Jahre.“

„Sie hatten alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?“

„Lange, lange schon.“

„Sie wissen, daß Sie wiederauferstanden sind?“

„So höre ich sagen.“

„Ich hoffe, Sie treten gern wieder ins Leben ein?“

„Das weiß ich nicht.“

„Soll ich sie Ihnen zeigen?“

„Wollen Sie sie sehen?“

Die Antworten auf diese Fragen lauteten verschieden und widersprechend. Manchmal lautete sie mit gebrochener Stimme: „Warten Sie! Es könnte mein Tod sein, wenn ich sie zu früh sähe.“ Manchmal kam sie mit einem Strom von rührenden Thränen und lautete dann: „Bringen Sie mich zu ihr.“ Manchmal war sie von weitgeöffneten Augen und verwirrten Blicken begleitet und war dann: „Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt.“

Nach dieser Unterhaltung im Traum fing der Passagier in seinem Weiterträumen an zu graben und zu graben und zu graben — bald mit einem Spaten oder mit einem großen Schlüssel, oder mit den Händen — um den Unglücklichen auszugraben. Wie er endlich wieder, mit Erde um Gesicht und Haar, herausgeholt war, zerfiel er urplötzlich in Staub. Dann fuhr der Passagier aus seinem Halbschlummer auf und ließ das Fenster herab, um die Wirklichkeit des Nebels und Regens auf seiner Backe zu fühlen.

Aber selbst wenn seine wachen Augen den Nebel und Regen, den sich vorwärts bewegenden Streifen Licht von der Laterne und die in Stößen zurückweichenden Hecken an der Straße sahen, mischten sich die Schatten der Nacht außerhalb der Kutsche in den Zug der Schatten der Nacht innerhalb derselben. Das wirkliche Bankhaus am Tempelthor, das wirkliche Geschäft des gestrigen Tages, die wirklichen Kassenräume, der wirkliche Bote, der ihm nachgeschickt worden und die wirkliche Botschaft, die er zurückgeschickt hatte, waren alle vorhanden. Aber mitten unter ihnen tauchte das gespenstische Gesicht empor und er mußte es wieder anreden.

„Wie lange begraben?“

„Fast achtzehn Jahre.“

„Ich hoffe, Sie treten gern wieder ins Leben ein?“

„Das weiß ich nicht.“

Graben, graben, graben, bis eine ungeduldige Bewegung von einem der Passagiere ihn ermahnte, das Fenster in die Höhe zu ziehen, den Arm wieder fest und sicher in die lederne Schleife zu legen und über die beiden schlummernden Gestalten zu speculiren, bis seine Gedanken wieder von ihnen abkamen und sich wieder unmerklich der Bank und dem Grabe zuwendeten.

„Wie lange begraben?“

„Fast achtzehn Jahre.“

„Sie hatten alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?“

„Lange, lange schon.“

Die Worte klangen ihm immer noch im Ohre, als ob sie eben erst gesprochen worden — so deutlich, als er jemals gesprochene Worte hatte nachklingen hören —, als der müde Passagier zum Bewußtsein des Tageslichtes aufwachte und fand, daß die Schatten der Nacht verschwunden waren.

Er ließ das Fenster herab und sah hinaus auf die aufgehende Sonne. Vor ihm lag ein Abhang Ackerland mit einem Pflug darauf, noch auf derselben Stelle, wo die Pferde gestern Abend ausgespannt worden waren; darüber ein stilles Niederholz, in welchem viele Blätter von brennendem Roth und goldenem Gelb noch auf den Büschen hingen. Obgleich der Erdboden kalt und feucht war, war doch der Himmel heiter und die Sonne ging hell, ruhig und schön auf.

„Achtzehn Jahre!“ sagte der Passagier, die Augen der Sonne zugewendet. „Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben!“

Viertes Kapitel.Die Vorbereitung.

Als die Postkutsche im Laufe des Vormittags allmälig nach Dover gelangt war, machte der Oberkellner des Hotels zum „König Georg“ den Kutschenschlag auf, wie es seine Gewohnheit war. Er that es mit einer gewissen Feierlichkeit, denn eine Reise in der Postkutsche von London im Winter war eine Heldenthat, wegen der man einem kühnen Reisenden gratuliren durfte.

Es war jetzt aber nur noch ein kühner Reisender zum Gratuliren übrig; denn die beiden andern waren an verschiedenen Orten unterwegs ausgestiegen. Das kellerartige Innere der Kutsche mit dem feuchten und schmutzigen Stroh, dem unangenehmen Geruch und der Finsterniß sah eher wie ein großer Hundestall aus. Mr. Lorry, der Passagier, sah, wie er, mit einzelnen Strohhalmen behangen, das zottige Wickeltuch nachschleppte und mit schlappem Hut und schmutzigen Stiefeln herausstieg, eher wie ein großer Hund aus.

„Geht morgen ein Packetschiff nach Calais ab, Kellner?“

„Ja, Sir, wenn sich das Wetter hält und der Wind leidlich günstig wird. Fluth wird ziemlich scharf gegen zwei Uhr Nachmittags eintreten, Sir. Ein Bett, Sir?“

„Ich gehe nicht vor Nachts schlafen; aber ich will ein Schlafzimmer und einen Barbier.“

„Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier herauf, Sir, wenn’s beliebt. Nummer zwei! Den Mantelsack des Herrn und warmes Wasser nach Nummer zwei. Zieht dem Herrn in Nummer zwei die Stiefeln aus. (Es brennt dort schon ein gutes Steinkohlenfeuer, Sir.) Ein Barbier für Nummer zwei. Rührt Euch, für Nummer zwei!“

Da Nummer zwei immer für Postpassagiere bestimmt war und Postpassagiere immer vom Kopf bis zum Fuß dick eingewickelt waren, so hatte für die Inwohner des Königs Georg dieses Zimmer das merkwürdig Interessante, daß, obgleich man nur eine Art Mensch hineingehen sah, alle verschiedenen Arten von Menschen wieder heraustraten. Daher hielten sich auch ein anderer Kellner und zwei Portiers und verschiedene Stubenmädchen und die Wirthin aus Zufall an verschiedenen Punkten des Weges zwischen Nummer zwei und dem Frühstückszimmer auf, als ein Herr von etwa sechszig Jahren in einem ziemlich getragenen, aber sehr gut gehaltenen braunen Anzug mit großen Aufschlägen an den Armen und großen Patten über den Taschen zum Frühstück wieder aus Nummer zwei kam.

Das Frühstückszimmer hatte an diesem Vormittag keinen andern Gast als den Herrn im braunen Anzug. Sein Frühstückstisch stand vor dem Feuer und wie er da saß, während der Schimmer der Flamme auf ihn fiel und er auf das Frühstück wartete, saß er so still, daß man hätte glauben können, er säße für sein Bild.

Er sah so ordentlich und methodisch aus, wie er dasaß, eine Hand auf jedes Knie gelegt, während eine laute Uhr eine eintönige Predigt unter seiner langen Schooßweste pickte, als ob sie ihren Ernst und ihre Langlebigkeit gegen Leichtsinn und die Vergänglichkeit des raschen Feuers einsetzte. Er hatte ein gutes Bein und war etwas eitel darauf, denn seine braunen Strümpfe saßen glatt und knapp und waren von feinem Gewebe; auch Schuhe und Schnallen waren, obgleich einfach, doch schmuck. Er trug eine merkwürdige kleine, saubergehaltene, lockige, flachsblonde Perrücke, die wohl von natürlichem Haar gemacht sein mochte, aber weit mehr aussah, als wäre sie von Fäden aus Seide oder Glas gesponnen. Seine Wäsche, obgleich nicht so fein, um mit seinen Strümpfen übereinzustimmen, war so weiß wie der Kamm der Wellen, welche an dem nahen Strande zerschellten, oder wie die Segel, die fern draußen auf dem Meere im Sonnenschein glänzten. Das für gewöhnlich gefaßte und ruhige Gesicht beleuchteten immer noch unter der seltsamen Perrücke hervor ein Paar feuchte, glänzende Augen, deren Eigenthümer in vergangenen Zeiten einige Mühe gehabt haben muß, ihnen den ruhigen und zurückhaltenden Ausdruck von Tellsons Bank zu geben. Seine Wangen hatten eine gesunde Farbe und das Gesicht, obgleich gefurcht, zeigte wenig Spuren von Sorgen. Aber vielleicht waren die unverheiratheten vertrauten Commis von Tellsons Bank vornehmlich von den Sorgen anderer Leute in Anspruch genommen und vielleicht lassen sich Sorgen zweiter Hand, wie Kleider zweiter Hand, besser an- und ablegen.

Um einem Mann, der für sein Bild sitzt, ganz ähnlich zu werden, schlief jetzt Mr. Lorry ein. Das Erscheinen des Frühstücks weckte ihn wieder auf und er sagte zum Kellner, als er den Stuhl näher an den Tisch setzte:

„Halten Sie ein Zimmer bereit für eine junge Dame, die hier jede Stunde eintreffen kann. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry oder vielleicht auch nur nach einem Herrn von Tellsons Bank. Bitte, melden Sie es mir.“

„Ja, Sir, Tellsons Bank in London, Sir.“

„Ja.“

„Ja, Sir. Wir haben oft die Ehre, Herren aus Ihrem Hause auf ihren Reisen zwischen London und Paris zu beherbergen, Sir. Sehr viel unterwegs, Sir, die Herren Tellson u. Comp.“

„Ja. Wir sind ebenso gut ein französisches wie ein englisches Haus.“

„Ja, Sir. Sie selbst reisen wohl nicht viel, Sir?“

„In der letzten Zeit nicht. Es sind fünfzehn Jahre, seitdem wir — seitdem ich zum letzten Male von Frankreich herüber kam.“

„Wirklich, Sir. Das war vor meiner Zeit hier, Sir. Vor unseres Herrn Zeit hier, Sir. Der „König Georg“ hatte damals einen andern Besitzer, Sir.“

„Ich glaube, ja.“

„Aber ich möchte schon was Ordentliches wetten, Sir, daß ein Haus, wie Tellson u. Comp., nicht vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren geblüht hat?“

„Sie können das verdreifachen und hundertfünfzig Jahre sagen und nicht weit von der Wahrheit sein.“

„Wirklich, Sir?“

Mit bewunderndem Gesicht trat der Kellner von dem Tisch zurück, legte die Serviette von dem rechten Arm auf den linken, nahm eine behagliche Stellung an und sah dem Gaste, wie er aß und trank, zu. Wie von einem Observatorium oder Wartthurm. Ganz, wie es seit unvordenklichen Zeiten bei Kellnern Gebrauch ist.

Als Mr. Lorry mit seinem Frühstück fertig war, machte er einen kleinen Spatziergang nach dem Strande. Die kleine Stadt Dover mit ihren engen und krummen Gäßchen versteckte sich allseits vor dem Strande und steckte den Kopf in die Kreideklippen, wie ein Meerstrauß. Der Strand war eine Wüste von Meereswellen und Steinen, die wild über einander kollerten, und das Meer that, was ihm gefiel, und was ihm gefiel, war Zerstörung. Es donnerte gegen die Stadt und es donnerte gegen die Klippen und zertrümmerte durch seine wüthenden Schläge die Küste. Die Luft zwischen den Häusern hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte glauben können, kranke Fische gingen darin baden, wie kranke Menschen in das Meer baden gehen. Im Hafen beschäftigte man sich mit etwas Fischerei und sehr viel Herumwandern bei Nacht und seewärts Gucken: vorzüglich zu den Stunden, wo die Fluth fast ihren Höhepunkt erreicht hatte. Kleine Handelsleute, deren Geschäft sehr still ging, brachten es manchmal ganz unerklärlicherweise zu großem Reichthum und es war merkwürdig, daß Niemand in der Nachbarschaft einen Laternenmann ausstehen konnte.

Wie der Tag sich zum Abend neigte und die Luft, die zu Zeiten hell genug gewesen war, um die französische Küste erblicken zu lassen, sich wieder mit Dunst und Nebel füllte, schien sich auch Mr. Lorry’s Stirn wieder zu umwölken. Als es dunkel war und er vor dem Feuer im Frühstückszimmer saß und auf sein Essen wartete, wie er auf sein Frühstück gewartet hatte, war sein Geist eifrig beschäftigt, in den rothglühenden Kohlen zu graben, zu graben, zu graben.

Eine Flasche guten Rothweins nach dem Essen schadet einem in den glühenden Kohlen Grabenden nichts, außer daß sie eine Neigung hat, ihn seine Arbeit vergessen zu machen. Mr. Lorry war eine lange Zeit unbeschäftigt geblieben und hatte soeben sein letztes Glas Wein mit einer so vollständigen Befriedigung eingeschenkt, als man nur bei einem ältlichen Herrn von lebhafter Gesichtsfarbe erwarten konnte, der seine Flasche ausgetrunken hat, als ein Wagen die enge Straße heraufrasselte und in den Hof des Gasthauses einfuhr.

Er setzte das Glas unberührt wieder hin. „Das ist Mamsell!“ sagte er.

Nach sehr wenig Minuten trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angekommen sei und sich glücklich schätzen werde, den Herrn von Tellsons zu sehen.

„So bald?“

Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen, wollte jetzt Nichts essen und wünschte sehr angelegentlich, den Herrn von Tellsons-Bank sofort zu sprechen, wenn es ihn nicht belästige.

Der Herr von Tellsons konnte weiter Nichts thun, als sein Glas mit einer Miene hülfloser Verzweiflung austrinken, seine seltsame kleine Flachsperrücke an den Ohren zurecht rücken und dem Kellner nach Miß Manettens Zimmer folgen. Es war ein großes dunkles Zimmer, mit schwarzen Roßhaarmöbeln ausgestattet und mit schweren dunkeln Tischen. Diese waren so oft geölt und wieder geölt worden, bis die beiden hohen Leuchter auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers sich düster von jedem Blatte wiederspiegelten, als ob sie in tiefen Grüften von schwarzem Mahagony begraben lägen und kein erwähnenswerthes Licht von ihnen erwartet werden könnte, bis sie ausgegraben worden.

So dämmerig dunkel war das Zimmer, daß Mr. Lorry, während er vorsichtig über den abgeschabten türkischen Teppich schritt, glaubte, Miß Manette befinde sich für den Augenblick in einem Nebenzimmer, bis er die beiden hohen Leuchter passirt hatte und an dem Tisch zwischen ihnen und dem Feuer eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn Jahren in einem Reitmantel, und den Reisestrohhut an seinem Bande immer noch in der Hand haltend, stehen sah, zu seinem Empfange bereit. Wie seine Augen auf die kleine hübsche Gestalt mit vollen goldenen Locken, einem blauen Augenpaar, das dem seinen mit forschendem Blick begegnete und einer Stirn von merkwürdiger Fähigkeit (wenn man ihre Jugend und ihre Glätte bedenkt), sich in einem Ausdruck zusammenzuziehen, der nicht ganz Verlegenheit, oder Verwunderung, oder Erschrecken, oder nur aufgeweckte, gefesselte Aufmerksamkeit war, obgleich er alle diese vier Ausdrücke in sich schloß — als seine Augen auf alles Dieses fielen, wurde plötzlich das Bild eines Kindes in ihm lebendig, das er in einer kalten Nacht, wo der Hagel in schweren Schauern hernieder rauschte und die See hoch ging, auf der Ueberfahrt über denselben Canal auf den Armen getragen hatte. Das Bild schwand wieder, ungefähr wie ein Hauch von der Fläche des hohen Pfeilerspiegels hinter ihr, auf dessen Rahmen eine Procession von Mohren-Amoretten, mehrere ohne Kopf, und alle Krüppel, schwarze Körbe mit Früchten vom todten Meer schwarzen Göttinnen darboten, und er begrüßte Miß Manette mit einer förmlichen Verbeugung.

„Bitte, nehmen Sie Platz, Sir,“ sagte sie mit einer sehr hellen und angenehmen jugendlichen Stimme, und ein wenig, aber sehr wenig fremd im Accent.

„Ich küsse Ihnen die Hand, Miß,“ sagte Mr. Lorry, mit der Höflichkeit einer entschwundenen Zeit, während er seine förmliche Verbeugung wiederholte und Platz nahm.

„Ich erhielt gestern einen Brief von der Bank, Sir, mit der Nachricht, daß eine neue Kunde — oder Entdeckung —“

„Das Wort ist unwesentlich, Miß; eins ist so gut wie das andere.“

„— in Bezug auf das kleine Vermögen meines armen Vaters — den ich nie gesehen habe — der schon so lange todt ist —“

Mr. Lorry rückte in seinem Stuhle hin und her und warf einen beunruhigten Blick nach der Procession von Mohren-Amoretten. Als ob sie mit ihren albernen Körben Jemandem Hülfe bringen könnten!

„— für mich eine Reise nach Paris nothwendig machte, um mich dort in Einvernehmen mit einem Herrn von der Bank zu setzen, der zu diesem Zwecke nach Paris unterwegs ist.“

„Das bin ich selbst.“

„Das dacht’ ich mir, Sir.“

Sie machte ihm einen Knix. (Junge Damen knixten damals noch.) Mit einem sich hübsch ausdrückenden Wunsch ihn merken zu lassen, daß sie fühle, wie viel älter und weiser er sei, als sie.

Er antwortete abermals mit einer Verbeugung.

„Ich antwortete der Bank, Sir, daß, da diejenigen, die es wissen, und die so gütig sind, mir mit ihrem Rathe beizustehen, eine Reise nach Frankreich für nothwendig hielten, ich, als eine Waise und ohne einen Freund, der mich begleiten könnte, mich sehr verpflichtet fühlen würde, wenn ich mich während der Reise unter den Schutz dieses würdigen Herrn stellen dürfte. Der Herr war bereits von London abgereist, aber ich glaube, ein Bote wurde ihm nachgeschickt, ihn um die Gefälligkeit zu bitten, mich hier zu erwarten.“

„Mir ist das Glück zu Theil geworden,“ sagte Mr. Lorry, „mit dem Auftrage betraut zu werden. Ich werde mich noch glücklicher schätzen, ihn auszuführen.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sir. Ich danke Ihnen auf das Herzlichste. Man sagte mir auf der Bank, der Herr werde mir die Einzelnheiten des Geschäfts auseinandersetzen und ich müßte mich darauf gefaßt machen, etwas sehr Ueberraschendes zu hören. Ich habe mein Möglichstes gethan, mich darauf vorzubereiten und bin natürlich sehr begierig, das Nähere zu erfahren.“

„Natürlich,“ sagte Mr. Lorry. „Ja — ich —“

Nach einer Pause setzte er hinzu, während er sich die flachsblonde Perrücke über den Ohren zurecht rückte:

„Der Anfang ist sehr schwer.“

Er fing nicht an, sondern begegnete in seiner Unentschiedenheit ihrem Blick. Die jugendliche Stirn nahm wieder jenen eigenthümlichen Ausdruck an — aber er war nicht blos eigenthümlich, sondern auch hübsch und charakteristisch — und die Dame erhob die Hand, als ob sie mit einer unwillkürlichen Bewegung einen vorübereilenden Schatten aufhielte.

„Habe ich Sie früher nie gekannt, Sir?“

„O nein,“ sagte Mr. Lorry, indem er die Hände mit einem ablehnenden Lächeln ausbreitete.

Zwischen den Augenbrauen und gerade über dem Mädchennäschen, dessen Umrisse so zart und fein waren, als man sich nur denken konnte, vertiefte sich der Ausdruck, wie sie gedankenvoll auf dem Stuhle Platz nahm, neben dem sie bisher gestanden hatte. Er beobachtete sie, wie sie nachdachte, und fuhr in dem Augenblicke, wo sie wieder den Blick erhob, fort:

„In Ihrem Adoptivvaterlande, glaube ich, kann ich nichts Besseres thun, als Sie als eine junge englische Dame, Miß Manette anzureden?“

„Haben Sie die Güte, Sir!“

„Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann. Ich habe einen Geschäftsauftrag auszuführen. Während Sie denselben anhören, bitte ich, mich nur als eine Sprechmaschine zu betrachten, — ich bin wahrhaftig nicht viel mehr. Ich will Ihnen, mit Ihrer Erlaubniß, die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.“

„Geschichte!“

Er schien absichtlich das von ihr wiederholte Wort nicht zu verstehen, als er eilig hinzusetzte: „Ja, von einem unserer Kunden; im Banquiergeschäft nennen wir die Leute so, mit denen wir zu thun haben. Er war ein französischer Herr; ein Gelehrter; ein Herr von vielen Kenntnissen — ein Arzt.“

„Nicht aus Beauvais?“

„Doch ja, aus Beauvais. Wie Monsieur Manette, Ihr Vater, war der Herr aus Beauvais. Wie Monsieur Manette, Ihr Vater, hatte der Herr in Paris großen Ruf und großes Ansehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort zu kennen. Wir standen in Geschäftsbeziehungen zu einander, aber in vertraulichen. Ich war damals in unserm französischen Hause und zwar wohl — ach, schon seit zwanzig Jahren.“

„Damals — darf ich fragen, wann das war, Sir?“

„Vor zwanzig Jahren, Miß. Er verheirathete sich mit einer englischen Dame, für die ich mit als Vormund eintrat. Seine Angelegenheiten, wie die Angelegenheiten vieler anderer französischer Herren und französischer Familien, befanden sich ganz in Tellson’s Händen. In einer ähnlichen Weise bin ich Vormund oder Curator in der einen oder der andern Art für eine Menge, ach, eine Menge unserer Kunden gewesen. Das sind reine Geschäftsverhältnisse, Miß; es ist keine Freundschaft dabei, kein persönliches Interesse, kein Herz. Ich bin im Verlaufe meines Geschäftslebens von Einem zum Andern gegangen, gerade wie ich im Verlaufe meines Geschäftstages von einem unserer Kunden zum andern gehe; mit Einem Worte, ich habe keine Gefühle; ich bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren —“

„Aber das ist meines Vaters Geschichte, Sir, und ich fange an zu glauben,“ — die merkwürdig nachdenkliche Stirne wendete sich ihm noch nachdenklicher zu — „daß, als ich als Waise zurückblieb, obgleich meine Mutter meinen Vater nur zwei Jahre überlebte, Sie mich nach England gebracht haben. Ich bin fast überzeugt, daß Sie es waren.“

Mr. Lorry nahm das zögernde Händchen, das sich ihm vertrauend entgegenstreckte und drückte es mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Er führte die junge Dame dann wieder nach ihrem Stuhle, blieb hinter demselben stehen, die Stuhllehne mit der linken Hand fassend und die Rechte abwechselnd gebrauchend, um sich das Kinn zu streichen, die Perrücke an den Ohren zurechtzurücken, oder seinen Worten Nachdruck zu geben, und sah hernieder in ihr Gesicht, während sie zu dem seinigen hinaufschaute.

„Miß Manette, ich weiß. Und Sie werden anerkennen, wie wahr ich vorhin gesprochen habe, als ich sagte, ich hätte keine Gefühle und alle Beziehungen, in denen ich zu meinen Mitmenschen stehe, seien reine Geschäftsbeziehungen, wenn Sie bedenken, daß ich Sie seitdem nie gesehen habe. Nein; Sie sind seitdem das Mündel von Tellsons Haus gewesen und ich war seitdem in andern Geschäften von Tellsons Haus beschäftigt. Gefühle! Ich habe keine Zeit und keine Gelegenheit dazu. Ich verbringe mein ganzes Leben, Miß, mit dem Drehen einer ungeheuren geldmachenden Drehrolle.“

Nachdem Mr. Lorry diese seltsame Beschreibung der täglichen Routine seines Geschäftslebens gegeben, drückte er seine flachsblonde Perrücke mit beiden Händen auf dem Kopfe fest, — was ganz unnöthig war, denn Nichts konnte fester und glatter sitzen, als die Perrücke — und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

„Soweit also, Miß, wie Sie richtig bemerkt haben, wäre dies die Geschichte Ihres vielbeklagten Vaters. Aber jetzt kommt der Unterschied. Wenn Ihr Vater nicht gestorben wäre, als er starb — erschrecken Sie nicht! wie Sie auffahren!“

Sie fuhr in der That auf. Und sie faßte seine Hand mit ihren beiden Händen krampfhaft.

„Bitte,“ sagte Mr. Lorry in besänftigendem Tone, indem seine linke Hand die Stuhllehne losließ und sich auf die bittenden Finger legte, welche sich so heftig zitternd an ihn anklammerten. „Bitte, beruhigen Sie sich — eine reine Geschäftssache — wie ich eben sagte.“

Der Ausdruck ihres Blickes brachte ihn so außer Fassung, daß er inne hielt und erst nach einer verlegenen Pause wieder anfing:

„Wie ich eben sagte — wenn Monsieur Manette nicht gestorben wäre; wenn er plötzlich und spurlos verschwunden wäre; wenn man ihn entführt hätte; wenn es schwer gewesen wäre, zu errathen, nach welchem schrecklichen Ort, obgleich der größte Scharfsinn keine Spur von ihm entdecken konnte; wenn er unter seinen Landsleuten irgend einen Feind hatte, welcher ein Vorrecht ausüben konnte, von dem zu meiner Zeit die kühnsten Leute drüben kaum in einem Flüstern zu sprechen wagten — z. B. das Vorrecht, unterzeichnete Verhaftsbefehle mit jedem Namen nach Belieben auszufüllen und den so Verhafteten auf jede beliebige Zeit der Vergessenheit eines Kerkers anheimzugeben; wenn seine Frau den König, die Königin, den Hof, die Geistlichkeit um Nachrichten von ihm angefleht hätte und Alles vergeblich; — dann wäre die Geschichte Ihres Vaters die Geschichte dieses unglücklichen Herrn, des Arztes von Beauvais.“

„Ich bitte Sie angelegentlichst, mir mehr zu sagen, Sir.“

„Ich werde gleich fortfahren. Können Sie es ertragen?“

„Ich kann Alles eher ertragen, als die Ungewißheit, in der Sie mich jetzt lassen.“

„Sie sprechen gefaßt und Sie sind wirklich gefaßt. Das ist gut!“ Obgleich sich in seinen Worten viel mehr Beruhigung aussprach, als in seinen Mienen. „Eine reine Geschäftssache. Betrachten Sie es als eine reine Geschäftssache — als eine Sache, die abgewickelt werden muß. Wenn die Gattin dieses Arztes, obgleich eine Dame von großem Muthe und starkem Charakter, unter diesem Unglück so schwer gelitten hätte, ehe ihr Kind geboren ward —“

„Das Kind war eine Tochter, Sir.“

„Eine Tochter. Eine — eine reine Geschäftssache. Beunruhigen Sie sich nicht, Miß, wenn die arme Dame vor der Geburt ihres Kindes so schwer gelitten hätte, daß sie zu dem Entschlusse kam, das arme Kind mit der Erbschaft nur des kleinsten Theils der Folter zu verschonen, deren Qual sie gekannt hatte, indem sie die Tochter in dem Glauben erzog, ihr Vater sei gestorben — nein, knien Sie nicht! In des Himmels Namen, knien Sie nicht vor mir.“

„Die Wahrheit. O guter, lieber Herr, wenn Sie ein Herz haben, die Wahrheit!“

„— reine Geschäftssache. Sie bringen mich ganz in Verwirrung, und wie kann ich eine Geschäftssache verhandeln, wenn ich in Verwirrung bin? Wir müssen ruhig und kaltblütig bleiben. Wenn Sie z. B. jetzt gütigst sagen wollten, wie viel neun mal neun Pence sind oder wieviel Schillinge zwanzig Guineen geben, so würde das für mich sehr erfreulich sein. Ich würde dann viel ruhiger sein über Ihren Gemüthszustand.“

Ohne unmittelbar diese Ansprache zu beantworten, saß sie so still, als er sie sehr sanft aufgehoben hatte, und die Hände, welche immer noch krampfhaft die seinigen umklammerten, zitterten so viel weniger, als vorhin, daß sich Mr. Jarvis Lorry etwas beruhigter fühlte.

„So ist’s recht, so ist’s recht. Muth! Geschäft! Sie haben ein Geschäft zu verrichten; ein nützliches Geschäft. Miß Manette, Ihre Mutter machte das so mit Ihnen. Und als sie starb — ich glaube an gebrochenem Herzen — nachdem sie nie müde geworden war, ihre vergeblichen Nachforschungen nach Ihrem Vater fortzusetzen, ließ sie Sie, ein zweijähriges Kind, zurück, daß Sie zu einer blühenden, schönen und glücklichen Jungfrau heranwüchsen, ohne die düstere Sorge, in beständiger Ungewißheit zu leben, ob Ihr Vater bald im Gefängniß verkümmerte oder lange, lange Jahre traurig dahinsiechte.“

Wie er diese Worte sprach, blickte er mit bewunderndem Mitleid auf das reiche, goldene Haar herab, als ob er bei sich dächte, daß es schon mit Grau durchzogen sein könnte. „Sie wissen, daß Ihre Eltern nicht sehr reich waren und daß das, was sie hatten, Ihrer Mutter und Ihnen gesichert wurde. Geld oder anderes Vermögen ist nicht entdeckt worden, aber —“

Er fühlte, daß die Händchen sich krampfhafter schlossen und hielt inne. Der Ausdruck auf der Stirn, der seine Aufmerksamkeit so sehr auf sich gezogen hatte, hatte sich zu einem Ausdruck der Seelenqual und des Schreckens vertieft.

„Aber er — er ist gefunden worden. Er lebt. Sehr verändert, wie nur zu wahrscheinlich ist; möglicherweise nur ein traurigster Rest von dem, was er war, obgleich wir das Beste hoffen wollen. Aber er lebt doch noch. Ihr Vater hat eine Zuflucht in dem Hause eines alten Dieners in Paris gefunden und dorthin gehen wir: ich, um ihn womöglich zu identificiren; Sie, um ihn dem Leben, der Liebe, der häuslichen Pflege und dem häuslichen Glück wiederzugeben.“

Ein Schauer überlief ihren Körper und ging auf ihn über. Sie sagte mit leiser, deutlicher, von feierlichem Grauen gedämpfter Stimme, als ob sie es in einem Traume sagte:

„Ich soll seinen Geist sehen! Es wird sein Geist sein — nicht er selbst!“

Mr. Lorry rieb in stiller Fassung die Hände, welche sich an seinen Arm klammerten. „So, so! Nur ruhig, nur ruhig! Sie wissen jetzt das Beste und das Schlimmste. Sie sind unterwegs zu dem armen Dulder und bei glücklicher See- und Landreise werden Sie bald an seiner geliebten Seite sein.“

Sie wiederholte mit derselben, von feierlichem Grauen gedämpften Stimme. „Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen, aber sein Geist hat mich nie heimgesucht!“

„Nur noch Eins,“ sagte Mr. Lorry, mit besonderem Nachdruck, um damit in wohlthuender Weise ihre Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken; „man hat ihn unter einem andern Namen gefunden; sein eigener ist seit langer Zeit vergessen oder verborgen gehalten worden. Es wäre schlimmer als nutzlos, danach zu forschen; schlimmer als nutzlos, zu fragen, ob er selbst seit Jahren vergessen oder absichtlich als Gefangener festgehalten wurde. Es wäre schlimmer als nutzlos, jetzt überhaupt Nachforschungen anzustellen, weil es gefährlich wäre. Besser kein Wort weiter von der Sache zu sagen und ihn wenigstens auf einige Zeit aus Frankreich zu entfernen. Selbst ich, so sicher ich als ein Engländer bin und selbst Tellsons, so wichtig sie für den französischen Credit sind, vermeiden, die Sache nur mit Einem Worte zu erwähnen. Ich habe auch kein Zettelchen Schriftliches, was sich darauf bezieht, bei mir. Es ist ganz und gar eine Sendung im geheimen Dienst. Meine Beglaubigungsschreiben, Notizen und Aufzeichnungen sind alle in der Einen Zeile zusammengefaßt „Wiederauferstanden“; was sonst wer weiß was sagen kann. Aber was ist das! Sie hört kein Wort! Miß Manette!“

Ganz regungslos und stumm und nicht einmal in ihren Stuhl zurückgesunken saß sie gänzlich gefühllos da, mit offenen und auf ihn gehefteten Augen und mit dem letzten Ausdruck auf ihrer Stirn wie eingeschnitten, oder wie eingebrannt. So krampfhaft hielt sie noch seinen Arm umklammert, daß er aus Furcht, ihr wehe zu thun, gar nicht wagte, sich von ihr los zu machen; deshalb rief er, ohne sich zu bewegen, laut um Hülfe.

Eine wild aussehende Frau, von der Mr. Lorry sogar in seiner Aufregung bemerkte, daß sie über und über roth war und rothes Haar hatte, und nach einer merkwürdigen, knapp anliegenden Mode gekleidet war und auf ihrem Kopf einen höchst wunderbaren Hut hatte, ungefähr von der Form eines hölzernen Metzenmaßes, oder eines großen Stiltonkäses, kam der Bedienung des Wirthshauses ein gut Stück voraus in das Zimmer gelaufen und schlichtete bald die Frage seiner Loslösung von der armen jungen Dame dadurch, daß sie eine muskulöse, sonnenverbrannte Hand auf seine Brust legte und ihn mit einem Schub an die nächste Wand warf.

(„Ich denke wirklich, das muß ein Mann sein!“ sagte Mr. Lorry athemlos bei sich, während er an die Wand flog.)

„Wo habt ihr denn die Augen!“ herrschte diese Gestalt die Bedienung des Gasthauses an. „Warum lauft ihr nicht und holt das Nöthige, anstatt hier zu stehen und mich anzustarren? Ich bin doch nichts so Merkwürdiges? Warum lauft ihr nicht und holt, was nöthig ist? Ihr sollt es schon kriegen, wenn ihr nicht auf der Stelle Riechsalz, kaltes Wasser und Essig bringt, und rasch!“

Sofort zerstreute sich die Dienerschaft, um diese Wiederbelebungsmittel herbeizuschaffen und sie legte sanft die Kranke auf ein Sopha und behandelte sie mit großer Geschicklichkeit und Zärtlichkeit. Sie nannte sie nur „mein Schäfchen!“ und „mein Täubchen!“ und breitete mit großem Stolz und großer Sorglichkeit ihr goldnes Haar auf ihren Schultern aus.

„Und Sie Brauner da!“ sagte sie, sich voller Zorn gegen Mr. Lorry wendend; „konnten Sie ihr nicht, was Sie ihr zu sagen hatten, sagen, ohne sie zum Tod zu erschrecken? Sehen Sie sie nur an, mit ihrem hübschen blassen Gesichtchen und ihren kalten Händen. Nennen Sie das ein Banquier sein?“

Mr. Lorry kam so ganz außer Fassung durch eine so schwierig zu beantwortende Frage, daß er nur von Weitem mit viel schwächerer Theilnahme und Demuth zusehen konnte, während die starke Frau, nachdem sie die Dienerschaft des Gasthauses durch die geheimnißvolle Androhung „es sie kriegen zu lassen,“ wenn sie neugierig und unthätig dablieben, davongescheucht hatte, durch ihre geschickten Bemühungen die Jungfrau nach und nach wieder zu sich brachte und zuletzt liebkosend ihr mattes Haupt an ihren Busen legte.

„Ich hoffe, sie wird sich jetzt erholen,“ sagte Mr. Lorry.

„Sie Braunem hat sie’s nicht zu danken, wenn sie sich wieder erholt. Mein Herzensschatz!“

„Ich hoffe,“ sagte Mr. Lorry, nach einer neuen Pause schwacher Theilnahme und Demuth, „daß Sie Miß Manette nach Frankreich begleiten?“

„Sehr wahrscheinlich, nicht wahr?“ entgegnete die starke Frau. „Wenn es jemals beabsichtigt gewesen wäre, daß ich über’s Salzwasser gehen sollte, glauben Sie dann, daß die Vorsehung mir meine Heimath auf einer Insel angewiesen hätte?“

Da dies eine andere schwer zu beantwortende Frage war, so zog sich Mr. Jarvis Lorry zurück, um sie sich zu überlegen.

Fünftes Kapitel.Der Weinschank.

Ein großes Faß Wein war auf die Straße gefallen und geplatzt. Der Unfall war beim Abladen geschehen; das Faß war mit großer Raschheit heruntergerollt, die Reifen waren gesprungen und es lag auf dem Pflaster, unmittelbar vor der Thür des Weinschanks, zertrümmert wie eine zerknackte Nuß.

Alle Leute der Nachbarschaft hatten ihre Beschäftigung oder ihr Nichtsthun unterbrochen, um herbeizueilen und den Wein zu trinken. Das holprige, aus unregelmäßigen Steinen zusammengesetzte Pflaster der Straße, das mit seinen nach allen Seiten gerichteten Spitzen, wie man hätte meinen sollen, ausdrücklich bestimmt war, jedes lebendige Wesen, das ihnen zu nahe kam, lahm zu machen, hatte den Wein in kleine Pfützen vertheilt; und um diese standen, je nach der Größe, größere oder kleinere Gruppen. Einige Männer knieten nieder, schöpften mit beiden zusammengehaltenen Händen die Flüssigkeit auf, und schlürften oder versuchten