Zweierlei Glück - Gunthard Weber - E-Book

Zweierlei Glück E-Book

Gunthard Weber

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Beschreibung

Dieses Buch handelt von den Bedingungen, die dazu beitragen, dass Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kindern mißlingen oder gelingen und sich vertiefen. Es handelt von "Ordnungen der Liebe", von Auswegen und guten Lösungen. Dabei geht es um ganz grundsätzliche Vorgänge des Menschseins und des Zusammenlebens in der Familie: Dazugehörendürfen und Ausgeklammertsein, das Nehmen der Eltern, die Ebenbürtigkeit in Paarbeziehungen, die Zustimmung zum eigenen Leben und Schicksal. Bert Hellingers Einsichten und Vorgehensweisen setzen Kräfte frei, wie sie in dieser Intensität selten erfahrbar werden. Besonders seine Ideen und Erkenntnisse über die Entstehung generationsübergreifender Verstrickungen eröffnen eine neue Dimension der Therapie traumatischer Familiengeschichten und übernommener Schicksalsanteile und Gefühle. Hellingers Lösungen durch das Familien-Stellen sind bewegend, verblüffend einfach und hoch wirksam.

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Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit

Gunthard Weber (Hrsg.)

Zweierlei Glück

Das klassische Familienstellen Bert Hellingers

Neunzehnte Auflage, 2023

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Neunzehnte Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0206-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8446-1 (ePUB)

© 1993, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Einleitung des Herausgebers

Zur 15. Auflage

Danksagung

I. Bedingungen für das Gelingen von Beziehungen

1. Die Bindung

2. Der Ausgleich von Geben und Nehmen

2.1 Das Glück richtet sich nach der Menge von Geben und Nehmen

2.2 Wenn ein Gefälle von Nehmen und Geben besteht

2.3 Wenn ein Ausgleich nicht möglich ist

2.4 Der Ausgleich im Negativen

2.5 Das schlimme und das gute Verzeihen

2.6 Vorbeugendes Leiden bei Trennungen

2.7 Verzicht auf Glück als Versuch des Ausgleichs

2.8 Die Zustimmung zum Schicksal

2.9 Zum Ausgleich ein Kind als Ablöse

3. Die Ordnung

II. Das Gewissen als Gleichgewichtssinn in Beziehungen

1. Das Gewissen wacht über die Bedingungen für Beziehungen

1.1 Gewissen und Bindung

1.2 Gewissen und Ausgleich

1.3 Gewissen und Ordnung

2. Das Zusammenspiel der Bedürfnisse nach Bindung, Ausgleich, Ordnung

3. Jedes System hat sein eigenes Gewissen

4. Das Ausgrenzen durch das Gewissen und seine Überwindung

5. Die Grenzen der Freiheit

III. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern

1. Die Eltern geben den Kindern das Leben

2. Das Ehren der Geber und der Gaben

3. Die Rangfolge in der Familie

4. Störungen der Ordnung zwischen Eltern und Kindern

4.1 Die Umkehrung der Ordnung von Nehmen und Geben

4.2 Das Ablehnen eines Elternteils

4.3 Wenn ein Kind ins Vertrauen gezogen wird

5. Das Nehmen von Vater und Mutter

6. Der Umgang mit den Verdiensten und den Verlusten der Eltern

7. Zu einigen Stationen des gemeinsamen Weges

7.1 (Nicht-)Werden wie die Eltern

7.2 Du darfst so werden wie dein Vater/deine Mutter

7.3 Regeln für die richtige Erziehung

7.4 Die Lösung von den Eltern und das Eigene

7.5 Die Suche nach Selbstverwirklichung und Erleuchtung

7.6 Sorgen für die alten Eltern

8. Spezielle Themen und Bereiche der Eltern-Kind-Beziehung

8.1 Das Verschweigen der Herkunft der Kinder

8.2 Der Uneheliche, der seine Brüder nicht kannte

8.3 Zu wem kommen die Kinder nach der Scheidung?

8.4 Die ehrenvolle und die gefährliche Adoption

8.5 Eine mutige Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder

9. Eltern und Kinder als Schicksalsgemeinschaft

IV. Über das Gelingen und Misslingen von Paarbeziehungen

1. Wie wir Männer und Frauen werden

1.1 Anima und Animus

1.2 Von wegen kleiner Unterschied

2. Das Fundament der Partnerschaft von Mann und Frau

2.1 Der Verzicht auf das andere Geschlecht in sich

2.2 Die Ebenbürtigkeit als Voraussetzung einer dauerhaften Paarbeziehung

2.3 Die Frau folgt dem Mann, und der Mann muss dem Weiblichen dienen

2.4 Das Verhältnis von Liebe und Ordnung

2.5 Wann ist die Partnerschaft auf Sand gebaut?

2.6 Die Verliebtheit ist blind, die Liebe ist wach

2.7 Wenn zwei Familientraditionen aufeinandertreffen

3. Die Bindung an den Partner

3.1 Die Bedeutung des Vollzugs der Liebe mit dem ganz Fleischlichen und Triebhaften

3.2 Das Begehren und das Gewähren

3.3 Der Verlust an Männlichem und Weiblichem in einer langdauernden Partnerschaft

3.4 Die Erneuerung des Männlichen und des Weiblichen

3.5 Mit der Anzahl der Partnerschaften nimmt die Bindung ab, das Glück nicht

3.6 Dreiecksbeziehungen

3.7 Eifersucht

3.8 Die Grenzen der Freiheit

4. Die Hinordnung der Paarbeziehung auf Kinder

4.1 Die Liebe zum Kind geht über die Liebe zum Partner

4.2 Der Verzicht auf Kinder

4.3 Künstliche Befruchtung

4.4 Die Bedeutung von Abtreibungen und was dann fällig ist

5. Trennungen

5.1 Wenn zwei nicht auseinandergehen können

5.2 Leichtfertige Trennung und ihre Folgen

V. Systemische Verstrickungen und ihre Lösungen

1. Die Sippschaft

2. Bedingungen für das Gedeihen der Sippschaft

2.1 Das Recht auf Zugehörigkeit

2.2 Das Gesetz der vollen Zahl

2.3 Das Gesetz des Vorrangs der Früheren

2.4 Die Anerkennung der Vergänglichkeit

3. Die Rangordnung der Familiensysteme

4. Das Sippengewissen

5. Versuche, einer ausgeklammerten Person zu ihrem Recht zu verhelfen

5.1 Das Wiederbeleben eines fremden Schicksals

5.2 Die doppelte Verschiebung

6. Lösung aus Verstrickungen

6.1 Finden, wer fehlt

6.2 Woran erkennt man Verstrickungen?

6.3 Den schlimmen durch den guten Ausgleich ersetzen

6.4 Gott geweiht zur Sühne

VI. Zur Praxis der systembezogenen Psychotherapie

1. Die therapeutische Haltung

1.1 Die ressourcenorientierte Wahrnehmung

1.2 Die Zurückhaltung

1.3 Die Kraft liegt beim Minimum

1.4 Auf die Lösung schauen

2. Therapeutische Orientierungen

2.1 Die Deutung ist vom Mantel nur der Zipfel

2.2 Die Neugier zerstört die Wirkung

2.3 Der richtige Zeitpunkt

2.4 Weg vom Drama!

2.5 Jeder ist gut

2.6 Verantwortung fällt zu

2.7 Das Leichte und das Schwere

2.8 Der Geist weht

2.9 Varianten des Glückes

2.10 Wahnhafte Verknüpfungen

2.11 Die Gültigkeit therapeutischer Aussagen

3. Spezifische Vorgehensweisen

3.1 Runden

3.2 Die unterbrochene Hinbewegung ans Ziel bringen

3.3 Das Aufstellen von Familienkonstellationen

3.4 Zusammenfassung: Beachtenswertes bei Familienaufstellungen

4. Spezielle Therapiebereiche

4.1 Der therapeutische Umgang mit Gefühlen

4.2 Der therapeutische Umgang mit Träumen

4.3 Der therapeutische Umgang mit »Widerständen«

4.4 Wenn Einsicht nicht hilft, hilft Leiden: Der therapeutische Umgang mit Symptomen

4.5 Leiden ist leichter als Handeln: Therapeutische Vignetten

VII. Die Hinbewegung zum Ganzen

Der Schöpfungs- und der Offenbarungsglaube

Der berufliche Weg Bert Hellingers

Über den Herausgeber

Einleitung des Herausgebers

In dem Gedicht »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration« – ich habe erst später erfahren, dass dieses ein wichtiges Buch für Bert Hellinger ist – beschreibt Bert Brecht, wie ein Zöllner Laotse seine Weisheit entreißt, bevor dieser sich in die Berge zurückzog:

Doch am vierten Tag im Felsgesteine

Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:

»Kostbarkeiten zu verzollen?« – »Keine«

Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:

»Er hat gelehrt.«

Und so war das auch erklärt.

Doch Mann in einer heitren Regung

Fragte noch: »Hat er was rausgekriegt?«

Sprach der Knabe: »Dass das weiche Wasser in Bewegung

Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst, das Harte unterliegt.«

Schon viele Jahre bedauerte ich, dass es über Bert Hellingers Arbeit so gut wie nichts Nachlesbares gab, und ich wusste, dass es vielen anderen genauso ging. Verstehen konnte ich sein Zögern, etwas niederzuschreiben, an dem sich andere wie an Offenbarungen festhalten oder sich an ihrem Missverstehen laben könnten. »Der Geist weht«, sagt er. Schriftlich Geronnenes verliert allzu leicht den Bezug zum Lebendigen, wird verdinglicht, vereinfacht, unreflektiert verallgemeinert und so zu Schablonen und Leersätzen.

Meine Zweifel, ob das, was Bert Hellinger in den vielen Jahren, in denen er mit Gruppen arbeitete, entwickelte, in seinem Gehalt auch schriftlich mitteilbar ist, verringerten sich in dem Maße, in dem ich in meiner eigenen therapeutischen Arbeit feststellte, wie nützlich und bereichernd sich seine Ideen für mich und meine Klienten erwiesen.

Seine Absicht, sich mit 65 Jahren mehr aus seinem Berufsleben zurückzuziehen, verstärkte mein ganz persönliches Interesse, ihm noch einmal genau zusehen zu können, und bestärkte mich zu der vorliegenden Dienstleistung. Nun fragte ich ihn also 1990, ob er mir erlaube, ein »Zöllner« zu sein, und er stimmte zu.

Mein erster Plan war es, eines seiner mehrtägigen Lehrseminare mit Tonband und Video aufzuzeichnen und ein Transkript des Verlaufs herauszugeben. Nachdem ich aber ein zweites Seminar aufgenommen hatte, er mir sein Vortragsmanuskript »Ordnungen der Liebe« freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte und ich noch mehrere andere Quellen anzapfen konnte, ließ sich dieser Plan nicht mehr verwirklichen. Der vorliegende Band ist jetzt das Ergebnis des Versuchs, seine Ideen über Familienbeziehungen und über seine systembezogene Psychotherapie zusammenzufassen und einige Eindrücke von und Einblicke in sein konkretes therapeutisches Vorgehen zu geben.

Seine Ausführungen und seine Arbeit zu unterschiedlichsten Themenkreisen habe ich in sieben Kapiteln collagenhaft zusammengefügt. Dabei war mein Bestreben, Bert Hellinger selbst sozusagen im Originalton »sprechen« zu lassen, also so weit wie möglich die wörtliche Rede aus den Seminaren zu erhalten. Das habe ich auch deshalb getan, um die Leser immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass sie kein Lehrbuch lesen, sondern von mir ausgewählte Ausschnitte und Zusammenfassungen aus wenigen Seminaren. Ich habe mich jeder persönlichen Kommentierung auch dann enthalten, wenn sich seine Beschreibungen von meinen unterschieden. So kann sich jeder auf seine Weise mit dem Text auseinandersetzen. Alle Veränderungen, die ich vornahm, dienten ausschließlich der Verdichtung und der besseren Lesbarkeit des Textes.

Was hat mich nun bewogen, gerade die systemische Psychotherapie Bert Hellingers zu beschreiben? In den 70er Jahren nahm ich an vielen unterschiedlichen Workshops und Seminaren unterschiedlichster psychotherapeutischer Schulrichtungen und mit sehr unterschiedlichen Leitern und Leiterinnen teil. Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte. Mich beeindruckte sein genaues Hinschauen – ich empfand ihn als Schauenden –, und ich kenne keinen Therapeuten, der so schnell und präzise problemerhaltende Muster erkennt, effektiv unterbricht und zur rechten Zeit humor-, respekt- und liebevoll wichtige Veränderungen bewirkt und Erfahrungen in seelischen Bereichen ermöglicht, die sonst selten in der Psychotherapie angesprochen werden.

Als Teilnehmer in seinen Gruppen hatte ich aber zu wenig Abstand, mich darauf zu konzentrieren, wie er das bewirkte: Wie er zum Beispiel in den Runden »Gutes im Vorübergehen« anstößt, wie seine Geschichten aufgebaut sind, auf welche Weise er das Aufstellen von Familienkonstellationen (s. S. 230 ff.) auf das Notwendigste vereinfacht und verdichtet und so zu einem hochwirksamen therapeutischen Verfahren werden lässt. Auch seine Ideen über die Dynamik und die Hintergründe von tragischen Verstrickungen waren mir anfangs fremd, und ich stieß mich lange an der Art seiner Formulierungen, statt mich auf den Gehalt zu konzentrieren.

Menschen, die an seinen Seminaren teilnehmen, werden vor allem durch eine klare, herausfordernde, zumutende und orientierungsgebende, zugleich absichtslos-achtsame Begegnung mit ihm angesprochen. Er lässt sich aus der Distanz ganz ein. So kommt es zu keinen Verwicklungen. Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfasst, weil er bei jedem einzelne Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.

So sehr das, was er sagt, oft vergangenheitsbezogen erscheint, orientiert sich sein Gefühls- und Intuitionsradar immer in Richtung der befreienden Lösung, in Richtung dessen, was das noch nicht Verwirklichte möglich macht.

Die Aufstellungen der Familienkonstellationen entfalten ihre elementare Wirkkraft, weil dort eine präverbale Bildersprache gesprochen wird und weil dort wie in einem Übergangsritus Vergangenes, Abschied und Neuorientierung in einem verdichteten Zeitrahmen vereint sind.

Wie ich schon angedeutet habe, sind die Inhalte des Buches aber auch geeignet, Anlass zu Missverständnissen und zu skeptischen oder empörten Distanzierungen zu geben. Leichtgläubige können zudem verleitet werden, sich das Gelesene unreflektiert als Wissen anzueignen. Bert Hellinger zitierte einmal: »Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.« Die inhaltlichen Ausführungen Bert Hellingers sind von ihm oft so formuliert, als seien sie zeitlos und absolut gültig und als hätten sie ehernen Wahrheitscharakter. Schaut man ihm länger zu, stellt man fest, dass seine Aussagen nahezu immer von seiner Lebensweisheit und seiner Intuition geleitete, kontextbezogene therapeutische Handlungen sind, die ganz auf die jeweilige Person und die jeweiligen Vorgänge bezogen sind. Verfestigt man sie pauschal zu allgemeingültigen Aussagen und Rezepten, hat man von der Frucht nur noch die Schale. Wie er nach den Aufstellungen von Familienkonstellationen rät, das Lösungsbild erst einmal auf sich wirken zu lassen und nicht gleich etwas damit zu machen, ist es auch hier sinnvoll, seine Ideen erst einmal auf sich wirken zu lassen.

Beim Lesen der Fallbeispiele im Text können die Leser nachvollziehen, wie Bert Hellinger sich regelmäßig entzieht, wenn jemand das von ihm Gesagte vorschnell verallgemeinern will. Er wehrt sich allgemein dagegen, wenn man seine Gedanken und Vorgehensweisen in eine theoretische Form gießen will. »Die Theorie stört die Praxis.« Ich selbst enthalte mich auch eines solchen Versuches. Er selbst sieht seinen Ansatz als einen phänomenologischen. Für ihn ergibt die Anschauung der Vorgänge, was zu tun ist. »Ich stelle mich einer Situation, die dunkel ist und von der ich nicht weiß, was ist. Die Frage ist: Wie komme ich an eine Wirklichkeit, die dunkel ist? Ich tauche in ein schwingendes Feld, mit dem ich verbunden bin und das über mich hinausreicht. Etwas tritt dann in den lichten Bereich und offenbart etwas von dem Seienden. Ich setze mich dem aus und warte, dass mir etwas zukommt. Ein Bild dafür ist: Ich tappe im Dunkeln, taste die Wände entlang, bis ich eine Tür finde. Kommt eine ›Lichtung‹, suche ich das, wovon ich erleuchtet werde, in einem vollen Wort zu sagen, einem gefüllten Wort. Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß, wieso.«

Ich freue mich, wenn der Text Sie anregt, bewegt und vielleicht auch erfasst.

Gunthard Weber

Heidelberg, Dezember 1992

Zur 15. Auflage

Es kommt einem merkwürdig vor, ein Vorwort zu der 15. Auflage eines Buches zu schreiben, das man vor fünfzehn Jahren schrieb, an dem man nichts verändert hat und das inzwischen zu einem Klassiker avanciert ist und in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Die damalige intensive Beschäftigung mit Bert Hellingers Einsichten führte dazu, dass ich heute selbst vor allem mit dieser Methode arbeite. Immer noch und immer wieder staune ich über das, was während der Aufstellungen zu Tage tritt, und darüber, welche Wirkungen sie entfalten. Sicherlich habe ich inzwischen einen größeren Erfahrungsschatz. Ob ich noch genügend von außen auf diese Arbeit schauen kann, kann ich selbst kaum beurteilen.

Fakt ist, dass die Methode der Systemaufstellungen ihre erstaunliche Erfolgsgeschichte in der Zwischenzeit fortgeschrieben hat. Sie hat sich auf vielerlei kreative Weise differenziert und in unterschiedlichste Therapie-, Beratungs- und andere Lebens- und Arbeitskontexte verzweigt und dort Fuß gefasst. Wenn heute in vielen Ländern der Welt oft weit mehr als 500 Menschen zu Veranstaltungen über Familienaufstellungen kommen, ist das erstaunlich, ganz unabhängig davon, wie man das Phänomen interpretiert und bewertet. Heute gibt es auch hier in weiten Bevölkerungsteilen kaum noch jemanden, der noch nichts von dieser Arbeit gehört oder sie nicht selbst erfahren hat. Heftige Polarisierungen zwischen begeisterter Befürwortung und krasser Ablehnung konnten die kontinuierliche Verbreitung der Arbeit kaum beeinflussen, und selbst höchst kritische und abfällige Veröffentlichungen haben nur vorübergehend ihre Anziehungskraft gedämpft.

Bert Hellinger war immer und ist weiterhin für herausfordernde Überraschungen und Öffnungen in neue Bereiche und Dimensionen gut. Was er früher nie wollte, hat er inzwischen getan: eine Hellinger-Schule und eine Zeitschrift (»Hellinger-Zeit«) gegründet. Sein Erkenntnisweg, so scheint es mir, führte ihn in den letzten Jahren auf anderen Wegen zur Religiösität, Spiritualität und Mystik zurück, zu geistigen Bereichen, in denen sich Gegensätze aufzulösen scheinen. Was er jetzt »Geist« nennt, unterscheidet sich für mich nicht sehr von »Gott«, und sein Spätwerk, das »geistige Familien-Stellen«, führte ihn in Grenzbereiche angewandter Philosophie und geistigen Heilens, in denen gläubiges Sichanvertrauen und vorbehaltlose Zustimmung zu wesentlichen Elementen heilender Vorgänge und helfenden Geschehens werden. Die Sciencia Hellinger nennt er »eine Universalwissenschaft von den Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und der Liebe«. Es wirkt paradox: In seinen Versuchen geistiger Konzentration und Ausweitung und der Konzeptualisierung universaler Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten erlebe ich auch Eingegrenztes, Einsamkeit, Isolierung und Abschottung. Austausch scheint da kaum noch möglich oder erwünscht und kritische Reflexion wie überflüssig. Schade, finde ich.

Die vermittelbare und anschlussfähige Basis für die Anwendung des Familien-Stellens und der Systemaufstellungen im Therapie- und Beratungsbereich ist für mich das »klassische Familien-Stellen« geblieben, und es bleibt das außergewöhnliche Verdienst Bert Hellingers, hier in den 1980er und 1990er Jahren die grundlegenden und bahnbrechenden Einsichten und Vorgehensweisen geschaffen zu haben, die neue Horizonte des Verstehens und Wirkmöglichkeiten eröffneten. Ich begrüße sehr, dass der Carl-Auer Verlag jetzt fünf der grundlegenden Bücher zum »klassischen Familien-Stellen« in neuer Aufmachung in einem Schuber herausgebracht hat. Zweierlei Glück ist das erste in dieser Reihe. Hier finden alle, die von Berufs wegen mit menschlichen Beziehungen zu tun haben, ebenso wie interessierte Laien einen reichen Schatz an Einsichten zum Gelingen und Scheitern menschlicher Beziehungen und zu innovativen Veränderungsanstößen ebenso wie die grundlegenden Vorgehensweisen des Familien-Stellens.

Der Versuchung zu widerstehen, Zweierlei Glück noch einmal zu überarbeiten und die neueren Entwicklungen zu integrieren, fiel nicht schwer. Dieses Buch ist zu einem zentralen Ausgangspunkt in der Entwicklung der Aufstellungsarbeit geworden, und solche Meilensteine sollte man weder versetzen, noch renovieren oder verändern wollen. Es ist aber nicht allein die historische Dimension, die dieses Buch auszeichnet. Ich halte es weiterhin für eine gute und lebendige Einführung in eine Methode, die eine andere Sprache benutzt und damit zu neuen Verstehens- und Veränderungsprozessen in der Beratung und Therapie führt.

Gunthard Weber

Wiesloch, März 2007

Danksagung

Mein Dank gilt vor allem Bert Hellinger, der mich in meinem Vorhaben immer ermutigt und freundschaftlich unterstützt hat. Die Zusammenarbeit mit ihm hat mich bereichert und verändert. Danken möchte ich auch besonders den Kursteilnehmern und Kursteilnehmerinnen, die mir erlaubten, die Seminare aufzunehmen und für das Buch zu verwenden.

Viele andere haben ganz Wichtiges zu dem Buch beigetragen: Meine Frau, Nele Weber-Jensen, hat die Entstehung des Manuskriptes kritisch und liebevoll begleitet und mir viele Hinweise für eine Verdichtung des Textes gegeben. Gespräche mit Bernd Schmid, der sich selbst intensiv mit den Ideen Bert Hellingers auseinandersetzte, haben mir sehr geholfen, eine Außenperspektive zu bewahren. Otto Brink und Friedrich Ingwersen haben für mich Korrektur gelesen und mir wichtige Rückmeldungen gegeben. Wertschätzen möchte ich auch die Geduld und Bereitschaft zur Auseinandersetzung über die Inhalte, die mir Weiterbildungsteilnehmer entgegenbrachten, die in den Jahren 1991 und 1992 an Seminaren bei mir teilnahmen und die ich manchmal mit den neuen Ideen über Gebühr strapazierte. Margit Rodig schrieb alle Transkripte der Seminare. Maria Syska hat mit großer Kompetenz das Manuskript erstellt, und Susanne Guski hat der Endfassung den letzten Schliff gegeben. All diesen danke ich ebenso wie Melonie Drißner für die gute Satzgestaltung.

I. Bedingungen für das Gelingen von Beziehungen

Beziehungen dienen unserem Überleben und unserer Entfaltung, und sie nehmen uns zugleich für Ziele in die Pflicht, die jenseits unseres Wünschens und Wollens sind. Daher walten in Beziehungen Ordnungen und Mächte, die fördern und fordern, treiben und steuern, beglücken und begrenzen, und ob wir wollen oder nicht, wir sind ihnen ausgeliefert durch Trieb und Bedürfnis, durch Sehnsucht und Furcht und durch Leid.

Unsere Bezüge vergrößern sich in sich erweiternden Kreisen. Wir werden in eine enge Gruppe, die Ursprungsfamilie, hineingeboren, und das bestimmt unsere Beziehungen. Dann kommen weitere Systeme und schließlich ein universelles. In jedem dieser Systeme wirken die Ordnungen anders. Zu den uns vorgegebenen Bedingungen für das Gelingen von Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gehören: die Bindung, der Ausgleich zwischen Nehmen und Geben und die Ordnung.

1. Die Bindung

Wie ein Baum den Standort nicht bestimmt, auf dem er wächst, und wie er sich auf freiem Feld anders als im Wald entwickelt und im geschützten Tal anders als auf ungeschützter Höhe, so fügt ein Kind sich fraglos in die Ursprungsgruppe und hängt ihr an mit einer Kraft und Konsequenz, die nur mit einer Prägung zu vergleichen sind. Diese Bindung wird vom Kind als Liebe und als Glück erlebt, wie immer es in dieser Gruppe wird gedeihen können, oder auch verkümmern muss, und wie immer die Eltern sind und was sie sind. Das Kind weiß, dass es dort dazugehört, und dieses Wissen und diese Bindung ist Liebe. Ich nenne das Urliebe oder primäre Liebe. Diese Bindung geht so tief, dass das Kind sogar bereit ist, sein Leben und sein Glück der Bindung zuliebe zu opfern.

2. Der Ausgleich von Geben und Nehmen

»… Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt Wohl zufrieden zu Haus.«

Aus ›Brot und Wein‹ von Friedrich Hölderlin

In allen lebenden Systemen gibt es einen beständigen Ausgleich von antagonistischen Tendenzen. Das ist wie ein Naturgesetz. Der Ausgleich von Nehmen und Geben ist sozusagen nur eine Anwendung auf soziale Systeme.

Das Bedürfnis nach Ausgleich von Geben und Nehmen macht den Austausch in menschlichen Systemen möglich. Dieses Wechselspiel wird durch Nehmen und Geben in Gang gesetzt und gehalten und durch das allen Mitgliedern eines Systems gemeinsame Bedürfnis nach einem Gerechtigkeitsausgleich reguliert. Sobald ein Ausgleich erreicht ist, kann eine Beziehung zu Ende gehen. Das geschieht zum Beispiel, wenn man genau dasselbe zurückgibt, was man bekommen hat, oder sie kann durch erneutes Geben und Nehmen wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.

Der Vorgang ist folgender: Der Mann zum Beispiel gibt der Frau, und jetzt kommt die Frau dadurch, dass sie genommen hat, unter Druck. Wenn wir vom anderen also etwas bekommen haben, und sei es noch so schön, verlieren wir etwas von unserer Unabhängigkeit. Das Bedürfnis nach Ausgleich meldet sich sofort, und um den Druck loszuwerden, gibt die Frau dann dem Mann etwas zurück. Zur Vorsicht gibt sie ihm ein bisschen mehr, was wieder ein Ungleichgewicht entstehen lässt, und so setzt sich das fort. Geber und Nehmer haben beide keine Ruhe, bis es zu einem Ausgleich kommt, bis auch der Nehmer etwas gibt und der Geber etwas nimmt.

Dazu ein Beispiel:

In Afrika wurde ein Missionar in eine andere Gegend versetzt. Am Morgen der Abreise kam ein Mann zu ihm, der schon mehrere Stunden zu Fuß unterwegs gewesen war, um ihm zum Abschied ein kleines Geldgeschenk zu machen. Der Wert des Geldgeschenkes war etwa dreißig Pfennige. Der Missionar sah, dass der Mann ihm danken wollte, denn er hatte ihn während einer Krankheit ein paarmal in seinem Kral besucht, und er wusste auch, dass diese dreißig Pfennige für ihn eine große Summe waren. Er war schon versucht, es ihm zurückzugeben, ja, ihm sogar noch einiges dazuzuschenken. Doch dann besann er sich, nahm das Geld und dankte.

2.1 Das Glück richtet sich nach der Menge von Geben und Nehmen

Das Glück in einer Beziehung hängt ab vom Umsatz von Nehmen und Geben. Der kleine Umsatz bringt nur kleinen Gewinn. Je größer der Umsatz, desto tiefer das Glück. Das hat aber einen großen Nachteil – es bindet noch mehr. Wer Freiheit will, darf nur ganz wenig geben und nehmen und ganz wenig hin- und herfließen lassen.

Das ist wie beim Gehen. Wir bleiben stehen, wenn wir das Gleichgewicht festhalten, und wir schreiten voran, wenn wir es dauernd verlieren und wieder gewinnen.

Der große Umsatz von Nehmen und Geben wird von einem Gefühl der Freude und der Fülle begleitet. Dieses Glück fällt einem nicht in den Schoß, es wird gemacht. Wenn der Austausch bei großem Umsatz ausgeglichen ist, haben wir ein Gefühl von Leichtigkeit, von Gerechtigkeit und Frieden. Von den vielen Möglichkeiten, Unschuld zu erfahren, ist sie die wohl befreiendste und schönste.

2.2 Wenn ein Gefälle von Nehmen und Geben besteht

Geben ohne zu nehmen

Einen Anspruch zu haben, ist ein schönes Gefühl, und weil es so ein schönes Gefühl ist, halten es manche gern fest. Lieber halten sie den Anspruch aufrecht, als sich von anderen etwas geben zu lassen, gleichsam nach dem Motto: Lieber sollst du dich verpflichtet fühlen, als ich. Oft geschieht das sogar in bester Absicht, und diese Haltung steht hoch im Ansehen. Wir kennen es als Helferideal. Auch bei Psychotherapeuten ist es verbreitet. Sie sind zum Beispiel nicht bereit, sich in Psychotherapien zu freuen, als kleinen Ausgleich für die Mühe, die sie sich machen. Dann wird es mühsam, und dann ist es auch nicht mehr ausgeglichen. Wenn jedoch jemand gibt, ohne zu nehmen, wollen andere nach einer Weile nichts mehr von ihm haben. Diese Haltung ist also beziehungsfeindlich, denn wer nur geben will, hält an einer Überlegenheit fest und verweigert den anderen so die Ebenbürtigkeit. Für Beziehungen ist sehr wichtig, dass man nicht mehr gibt, als man bereit ist zu nehmen und der andere fähig ist zurückzugeben. Dadurch wird sofort ein Maß gesetzt, wie weit man gehen kann.

Wenn zum Beispiel eine reiche Frau einen armen Mann heiratet, dann geht das oft nicht gut, weil sie immer die Gebende ist und der Mann nicht zurückgeben kann; er wird dann böse. Böse wird immer der, der den Ausgleich nicht erreichen kann. Bezahlt eine Frau ihrem Mann das Studium, wird der Mann, wenn er mit dem Studium fertig ist, die Frau verlassen. Er kann nämlich nicht mehr ebenbürtig werden, es sei denn, er zahlt alles mit Heller und Zinsen zurück. Dann ist er wieder frei, dann kann die Beziehung weitergehen. Heiratet ein Mann, der die Zukunft hinter sich hat, eine Frau, die die Zukunft vor sich hat, dann geht das schief. Die Frau wird sich an dem Mann rächen. Der Mann weiß, dass sie das kann, und deshalb wird er auch nicht eingreifen. Umgekehrt gilt natürlich das Gleiche.

Die Weigerung zu nehmen

Manche wollen ihre Unschuld bewahren, indem sie sich weigern zu nehmen. Dann sind sie zu nichts verpflichtet, und oft kommen sie sich dann besonders oder besser vor. Sie leben aber auf Sparflamme und fühlen sich dementsprechend leer und unzufrieden. Dieser Haltung begegnen wir bei vielen Depressiven. Ihre Weigerung zu nehmen bezieht sich zuerst auf einen ihrer Eltern und überträgt sich später auf andere Beziehungen und die guten Dinge der Welt. Deshalb sind auch viele Vegetarier depressiv, und manche Aussteiger nehmen auch nicht, damit sie nicht geben müssen.

Kleine Makel

Ein Gefälle besteht bezüglich des Ausgleichs auch dann, wenn nur einer der Partner bei der Eheschließung einen »Makel« hat. Eine Frau, die zum Beispiel ein uneheliches Kind mit in die Ehe bringt, heiratet am besten auch jemanden, der auch einen Makel hat. Dann können sie glücklich werden. Hat er aber keinen Makel, wird sie ihm böse werden, weil sie nie ebenbürtig werden kann. Drum prüfe, wer sich ewig bindet …

2.3 Wenn ein Ausgleich nicht möglich ist

Zwischen Eltern und Kindern

Der bisher beschriebene Ausgleich von Nehmen und Geben ist nur unter Ebenbürtigen möglich. Zwischen Eltern und Kindern ist das anders. Kinder können Eltern nichts Gleichwertiges zurückgeben. Sie möchten es gerne, können es aber nicht. Es herrscht ein nicht aufhebbares Gefälle von Nehmen und Geben. Zwar bekommen Eltern auch etwas von ihren Kindern und Lehrer etwas von ihren Schülern, das Ungleichgewicht wird dadurch aber nicht aufgehoben, sondern nur gemildert. Den Eltern gegenüber bleiben die Kinder immer in der Schuld, und daher kommen sie auch nicht von ihnen los. So wird die Bindung der Kinder an die Eltern durch das Bedürfnis nach Ausgleich, gerade weil es unerfüllbar bleibt, zusätzlich gefestigt und gestärkt. Die andere Wirkung ist, dass die Kinder später aus der Verpflichtung herausdrängen, und das hilft dann bei der Trennung von den Eltern. Wenn einer etwas nicht ausgleichen kann, drängt er weg.

Der Ausweg ist, dass Kinder das, was sie von den Eltern bekommen haben, weitergeben, und zwar in erster Linie an die eigenen Kinder, also an die nächste Generation, oder in einem Engagement für andere. Wer diesen Ausweg wahrnimmt und weitergibt, kann viel von den Eltern nehmen.

Was zwischen Eltern und Kindern und zwischen Lehrern und Schülern gilt, das gilt auch sonst. Wo immer ein Ausgleich durch Zurückgeben und Austausch nicht (mehr) möglich und angemessen ist, können wir uns von Verpflichtung und Schuld doch noch entlasten, wenn wir von dem Empfangenen weitergeben. So fügen sich alle, ob sie nun geben oder nehmen, der gleichen Ordnung und dem gleichen Gesetz.

Börries von Münchhausen beschreibt das in einem Gedicht:

Der goldene Ball

Was auch an Liebe mir vom Vater ward,

Ich hab’s ihm nicht vergolten, denn ich habe

als Kind noch nicht erkannt den Wert der Gabe

und ward als Mann dem Manne gleich und hart.

Nun wächst ein Sohn mir auf, so heißgeliebt

wie keiner, dran ein Vaterherz gehangen,

und ich vergelte, was ich einst empfangen,

an dem, der mir’s nicht gab – noch wiedergibt.

Denn wenn er Mann ist und wie Männer denkt,

wird er, wie ich, die eignen Wege gehen,

sehnsüchtig werde ich, doch neidlos sehen,

wenn er, was mir gebührt, dem Enkel schenkt. –

Weithin im Saal der Zeiten sieht mein Blick

dem Spiel des Lebens zu, gefasst und heiter,

den goldnen Ball wirft jeder lächelnd weiter,

– und keiner gab den goldnen Ball zurück!

Danken als Ausgleich

Eine letzte Möglichkeit des Ausgleichs von Nehmen und Geben ist das Danken. Dabei muss man beachten, dass das Danke-Sagen oft ein Ersatz für Danken ist. Das »Dankeschön« ist die billige Art des Dankens. Danken heißt: Ich nehme es mit Freude, und ich nehme es mit Liebe, und das ist dann eine hohe Würdigung des anderen. Wenn ich jemand etwas schenke, und er packt es aus, und seine Augen strahlen, dann genügt es oft. Ein »Dankeschön« fügt dem dann oft kaum noch etwas hinzu. Im Danken drücke ich mich nicht vor dem Geben, und doch ist es manchmal die dem Nehmen einzig angemessene Antwort, zum Beispiel für einen Behinderten, für einen Kranken, für einen Sterbenden, für ein kleines Kind und manchmal auch für einen Liebenden.

Hier kommt neben dem Bedürfnis nach Ausgleich auch jene elementare Liebe mit ins Spiel, welche die Mitglieder eines sozialen Systems anzieht und zusammenhält. Diese Liebe begleitet das Nehmen und Geben, und sie geht ihm voraus. Wer dankt, der anerkennt: Du gibst mir, unabhängig davon, ob ich es dir je zurückgeben kann, und ich nehme es von dir als ein Geschenk. Wer den Dank annimmt, sagt: Deine Liebe und die Anerkennung meiner Gabe sind mir mehr als alles, was du sonst noch für mich tun magst. Im Danken bestätigen wir uns daher nicht nur mit dem, was wir einander geben, sondern auch mit dem, was wir füreinander sind.

Hierzu eine kleine Geschichte:

Gottes würdig

Jemand fühlte sich Gott zu großem Dank verpflichtet, weil er aus lebensbedrohender Gefahr gerettet worden war. Er fragte einen Freund, was er nun tun solle, damit sein Dank auch gotteswürdig sei. Der aber erzählte ihm eine Geschichte:

Ein Mann liebte von Herzen eine Frau, und er bat sie, sie möge ihn doch heiraten. Sie aber hatte anderes im Sinn. Als sie eines Tages zusammen die Straße überqueren wollten, hätte ein Auto die Frau fast überfahren, wenn ihr Begleiter sie nicht noch geistesgegenwärtig zurückgerissen hätte. Darauf wandte sie sich ihm zu und sagte: Jetzt werde ich dich heiraten.

»Was denkst du, wie dieser Mann sich da gefühlt hat?«, fragte jetzt der Freund. Der andere aber, statt zu antworten, verzog nur unwillig seinen Mund. »Siehst du«, sagte der Freund, »vielleicht ergeht es so auch Gott mit dir.«

Wenn Wiedergutmachung nicht mehr möglich ist

Schuld und Schaden nehmen ein schicksalhaftes Ausmaß an, wenn jemand an Leib und Leben oder Eigentum so sehr zu Schaden kam, dass kein Ersatz mehr möglich ist. Keine Sühne oder sonstige Tat kann dann wieder Ausgleich schaffen, hier bleiben dem Täter wie dem Opfer nur die Ohnmacht und die Unterwerfung, was immer auch das eigene Los ist.

2.4 Der Ausgleich im Negativen

Ich wiederhole: Schuld als Verpflichtung und Unschuld als Anspruch und Entlastung stehen im Dienste des Austausches und halten unsere Beziehungen in Gang. Es ist eine gute Schuld und eine gute Unschuld, durch die wir uns gegenseitig fördern und im Guten verbinden. Das Bedürfnis nach Ausgleich und ausgleichender Gerechtigkeit wirkt aber nicht nur im Positiven, sondern auch im Negativen. Also, wenn mir jemand etwas antut im System, gegen das ich mich nicht wehren kann, oder wenn er etwas für sich in Anspruch nimmt, was mir schadet oder wehtun muss, habe ich das Bedürfnis nach Ausgleich. Beide, Täter und Opfer, unterliegen diesem Bedürfnis. Das Opfer hat darauf Anspruch, und der Täter weiß sich dazu verpflichtet. Doch diesmal ist der Ausgleich zum gegenseitigen Schaden, denn nach der Tat sinnt auch der Unschuldige Böses. Er will dem Schuldigen schaden, wie der ihm geschadet hat, und ihm ein Leid antun, das seinem eigenen entspricht, vielleicht sogar etwas mehr. Das verbindet auch sehr innig.

Erst wenn sie beide, der Schuldige und sein Opfer, gleichermaßen böse waren und gleich viel gelitten und verloren haben, sind sie sich wieder ebenbürtig. Dann ist zwischen ihnen wieder Frieden und Versöhnung möglich.

Ein Beispiel:

Ein Mann erzählte einem Freund, seit zwanzig Jahren trage seine Frau ihm nach, dass er nur wenige Tage nach der Hochzeit mit seinen Eltern sechs Wochen in Urlaub gefahren war und sie allein zurückgelassen hatte. Alles gute Zureden und sich entschuldigen und um Verzeihung bitten habe nichts gebracht. Der Freund erwiderte: Am besten sagst du ihr, sie darf sich etwas wünschen oder etwas für sich tun, das dich nicht weniger kostet, als was es sie damals gekostet hat. Der Mann begriff sofort und strahlte. Jetzt hatte er den Schlüssel, der auch schloss.

Beim Schlimmen darf es etwas weniger sein

Auch hier gilt: Wenn mir jemand etwas antut, und ich tue ihm genauso viel an, ist die Beziehung zu Ende. Tue ich ihm ein bisschen weniger an, ist nicht nur der Gerechtigkeit Genüge getan, sondern auch der Liebe. Manchmal muss man jemand böse sein, um die Beziehung zu retten. Das ist dann aber ein Bösewerden mit Liebe, weil ihm die Beziehung wichtig ist. Wer böse wird mit Hass, der überschreitet die Grenze und gibt dem anderen das Recht, sein Bösesein zu steigern. Wenn es um den negativen Ausgleich geht, fühlen wir die Unschuld als Recht auf Rache und Schuld als Furcht vor Rache.

Ich wiederhole: Damit Beziehungen weitergehen können, gilt der einfache und plausible Grundsatz: Beim Positiven gibt man zur Vorsicht ein bisschen mehr, beim Negativen zur Vorsicht ein bisschen weniger zurück. Wenn Eltern den Kindern etwas antun, dürfen Kinder den Eltern nicht zum Ausgleich auch etwas Schlimmes antun. Das Kind hat kein Recht dazu, was immer die Eltern tun. Dafür ist das Gefälle zu groß.

Das Fordern von Sühne

Wir halten den Schuldigen für um so schuldiger und seine Tat für um so schlimmer, je wehrloser und ohnmächtiger sein Opfer ist. Doch nach der bösen Tat bleibt auch das Opfer selten wehrlos. Es könnte handeln und vom Täter Recht und Sühne fordern, die der Schuld ein Ende setzen und einen neuen Anfang möglich machen würde. Oft pflegt es aber den Anspruch und das Recht, dem anderen dafür zu grollen.

Wenn es aber nicht selbst handelt, dann übernehmen andere das für ihn, doch mit dem Unterschied, dass dann sowohl Schaden wie Unrecht, das andere in seinem Namen und für ihn stellvertretend anderen antun, viel größer werden, als wenn es selbst sein Recht und seine Rache in die Hand genommen hätte. Wo Unschuldige lieber leiden als handeln, gibt es daher bald mehr Opfer und Böse als zuvor. Die Vorstellung ist illusorisch, wir könnten unbeteiligt bleiben und der Schuld entgehen, wenn wir nur an der Unschuld und an ihrer Ohnmacht festhalten, statt uns der Schuld und ihren Folgen so zu stellen, dass sie zu Ende kommen und dann auch ihre gute Kraft entfalten kann.

2.5 Das schlimme und das gute Verzeihen

Eine ähnliche Wirkung wie die Aufrechterhaltung der Ohnmacht hat auch das schnelle Verzeihen, das zum Ersatz für eine fällige Auseinandersetzung wird und den Konflikt, statt ihn zu lösen, zudeckt und verschiebt. So wirkt auch das überhebliche Verzeihen, wenn jemand mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit dem Schuldigen die Schuld erlässt, als hätte er ein Recht dazu. Wenn zum Beispiel der eine dem anderen etwas antut, und der verzeiht ihm, dann muss der Sünder gehen. Er bleibt sonst nur ein kleines Licht, das nicht mehr ebenbürtig werden kann. Wenn es zu einer wirklichen Versöhnung kommen soll, dann hat der Unschuldige nicht nur den Anspruch auf Wiedergutmachung und Sühne, er hat auch die Pflicht, sie zu fordern. Sonst wird er selbst am Schuldigen schuldig. Und der Schuldige hat nicht nur die Pflicht, die Folgen seiner Tat zu tragen, er hat auch das Recht darauf.

Ein Beispiel:

Ein Mann und eine Frau, schon verheiratet, verlieben sich. Als die Frau bald schwanger wird, lassen sie sich von ihren früheren Partnern scheiden und gehen eine neue Ehe miteinander ein. Die Frau war vorher kinderlos. Der Mann jedoch hatte aus erster Ehe eine kleine Tochter, die er bei der Mutter ließ. Beide fühlten sich der ersten Frau des Mannes und seinem Kind gegenüber schuldig, und ihre große Sehnsucht war, die Frau möge ihnen doch verzeihen. In Wahrheit war sie ihnen böse, denn für ihrer beiden Vorteil bezahlte sie mit ihrem Kind den Preis.

Als sie nun mit einem Freunde über ihre große Sehnsucht redeten, bat er sie, sie möchten sich doch einmal vorstellen, wie es ihnen erginge, wenn ihnen diese Frau wirklich verzeihen würde. Da merkten sie, dass sie den Folgen ihrer Schuld bis jetzt noch ausgewichen waren und dass ihr Wunsch, Verzeihung zu erhalten, der Würde und dem Anspruch aller widersprach. Sie entschlossen sich, der ersten Frau und ihrem Kind gegenüber zuzugeben, dass sie ihnen um ihres neuen Glückes willen das Höchste abverlangt hatten, und dass sie sich ihren Forderungen stellen würden. Doch sie blieben auch bei ihrer Wahl.

Es gibt auch ein gutes Verzeihen, das dem Schuldigen seine Würde lässt und auch die eigene wahrt. Dazu gehört, dass der Unschuldige in seiner Forderung nach Ausgleich nicht an die äußerste Grenze geht und dass er die Wiedergutmachung und Sühne des Schuldigen auch annimmt. Ohne dieses gute Verzeihen gibt es keine Versöhnung.

Auch dazu ein Beispiel:

Eine Frau hatte ihren Mann wegen eines Liebhabers verlassen, und es kam zur Scheidung. Nach vielen Jahren tat es der Frau leid. Sie spürte, wie sehr sie ihren Mann noch liebte, und sie wäre gerne wieder seine Frau geworden, zumal er seitdem allein geblieben war. Da sie sich schuldig fühlte, traute sie sich nicht, ihn darum zu bitten. Als sie dann doch mit ihm darüber sprach, wollte er sich nicht äußern, nicht dafür und nicht dagegen. Sie einigten sich aber, die Sache mit einem Dritten zu besprechen. Dieser fragte zu Beginn den Mann, was er in der Sitzung für sich haben wolle. Der lächelte nur hintergründig und sagte: Ein Aha-Erlebnis. Dann fragte er die Frau, was sie dem Mann zu bieten habe, damit er wieder gerne zu ihr ziehen würde. Sie hatte sich das Ganze allzu einfach vorgestellt, und ihr Angebot blieb unverbindlich. Kein Wunder, dass das auf den Mann ganz ohne Eindruck blieb.

Der Dritte zeigte ihr, dass sie vor allem anerkennen müsse, dass sie ihrem Mann damals wehgetan hatte. Und er müsse sehen, dass sie bereit sei, das ihm geschehene Unrecht wieder gutzumachen. Die Frau besann sich eine Weile, blickte ihrem Mann in die Augen und sagte: Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Ich möchte wieder deine Frau sein, und ich werde dich so lieben und für dich sorgen, dass du dich freuen und dich auf mich verlassen kannst.

Doch der Mann rührte sich noch immer nicht. Da sagte der andere zu ihm: Es muss dir damals sehr wehgetan haben, und du willst es nicht ein zweites Mal erleben. Da wurden seine Augen langsam feucht, und der andere fuhr fort: Jemand wie du, dem so viel Schlimmes zugemutet wurde, der fühlt sich oft dem anderen moralisch überlegen, der nimmt für sich das Recht in Anspruch, den anderen zurückzuweisen, so als brauche er ihn nicht. Und er fügte hinzu: Gegen solche Unschuld hat der Schuldige keine Chance. Da riss es ihn, und er lächelte, als fühle er sich ertappt. Er wandte sich seiner Frau zu und schaute ihr in die Augen.

Es kostet fünfzig Mark, sagte der Dritte, denn er war Psychotherapeut, und jetzt verschwindet, und ich will nicht wissen, wie es ausgegangen ist.

Es ist aber schlimm ausgegangen. Ein Jahr später rief sie mich an und sagte, sie habe Krebs, ob sie zu einer Sitzung kommen könne. Sie kamen beide, und ich fragte sie, ob sie eine Vorstellung davon habe, was ihre Krankheit auslöste. Da sagte sie, sie habe immer nur wie eine Maschine funktioniert, und ich sagte: »Nein, das ist es nicht. Noch etwas anderes?« Sie überlegte und sagte dann: »Ja, ich wurde von meinem Mann schwanger. Er wollte, dass ich das Kind abtreibe, und ich habe es gemacht.« Da sagte ich: »Das ist es! Du hättest ihn in diesem Moment verlassen müssen.« Jetzt war die Situation genau umgekehrt. Jetzt war sie die Unschuldige und er der Schuldige. Er hat von ihr etwas verlangt, was über ihre Kräfte ging, und sie hat dem zugestimmt, um die Beziehung nicht zu gefährden. Das habe ich ihnen dargelegt und ihr gesagt: »Du musst dich jetzt von dem Mann trennen und zu deiner Schuld stehen und zu deinem Schmerz und im Andenken an das Kind was Gutes tun.« Sie fragte mich: »Können wir das nicht gemeinsam?« Ich sagte: »Ja.« Er aber rührte sich nicht und zeigte keine Bewegung. Dann sind sie gegangen. Sie meldete sich dann noch einmal für einen Kurs bei mir an. Vier Wochen vor dem Kurs rief mich der Sohn an und teilte mit, dass sie gestorben sei. Das war das Ende.

2.6 Vorbeugendes Leiden bei Trennungen

Aus Angst vor Vorwürfen und aus Angst, dem anderen wehzutun, lassen sich manche, bevor sie sich trennen, lange Zeit leiden, so viel, dass es den Schmerz des anderen aufwiegt, als hätten sie dann mehr Berechtigung zu dem Schritt. Deshalb dauern die Scheidungsprozesse so lange. Meistens will derjenige ja für sich nur einen größeren, neuen Bereich, ein größeres, neues Territorium, und er fühlt sich unfrei und gefangen, weil er das nicht beginnen kann, ohne einem anderen zu schaden oder ihm wehzutun.

Wenn er sich dann endlich trennt, hat nicht nur er die Chance und das Risiko des neuen Anfangs, auch der andere hat unversehens neue Möglichkeiten. Verschließt sich der andere aber und verharrt in seinem Schmerz, macht er es damit dem anderen schwerer, seinen neuen Weg zu gehen. Nimmt er jedoch die neue Chance wahr, dann gibt er auch dem anderen Freiheit und Entlastung. Von allen Weisen, anderen zu verzeihen, ist sie für mich die schönste. Sie versöhnt, selbst wenn die Trennung bleibt.

2.7 Verzicht auf Glück als Versuch des Ausgleichs

Was innerhalb von Beziehungen für das Gelingen richtig und wichtig ist, wird oft in unzulässiger Weise auf andere Zusammenhänge übertragen, in denen es absurd wird, zum Beispiel auf Gott und das Schicksal. Wenn einer einen Gewinn hat und ein anderer in dem selben Zusammenhang einen Verlust, wird das in der Seele miteinander in Verbindung gebracht, und es entsteht ein Bedürfnis nach Ausgleich, als sei das eine auf Kosten des anderen da. Dann geschehen schlimme Dinge.

Kommt zum Beispiel ein Vater gesund aus dem Krieg oder aus der Gefangenschaft heim, wo andere umkamen, kommt plötzlich eine Tochter auf die Idee, dafür zu bezahlen, dass der Vater heimkehrte, oder der Vater selbst nimmt nicht mehr viel vom Leben. Oder jemand wird aus Lebensgefahr gerettet und fängt dann an, mit einem Symptom zu bezahlen, oder er schränkt sich ein. Weitverbreitet sind diese Vorgänge auch bei Juden, die das Naziregime überlebten und sich nun nicht mehr trauen, das Glück zu nehmen, wo so viele ein schlimmes Schicksal hatten. Gibt es in der Familie ein behindertes Kind, trauen sich die anderen gesunden Geschwister oft nicht, ihre Gesundheit und ihr Glück zu nehmen, weil sie die Fantasie entwickeln, sie hätten ihre Gesundheit und ihr Glück auf Kosten des kranken Kindes. Sie versuchen das dann auszugleichen, indem sie sich auch krank (z. B. depressiv) zeigen oder sich auf andere Weise in ihren Möglichkeiten einengen. Diese Dynamik ist wie eine innere Entlastung. Solchen Vorgängen begegnen wir häufig in Psychotherapien.

Der Verzicht auf diese Art Ausgleich fordert, dass ich auf eine Metaebene gehe und trotz des Drucks auf Ausgleich eine ganz andere Lösung suche. Die Lösung ist, das Leben, das Glück, die Gesundheit als Geschenk zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen. Das ist eine demütige Position. Die Position, es ausgleichen zu wollen, ist anmaßend. Derjenige maßt sich an, für etwas, das geschenkt ist, zu bezahlen.

Eine kleine Geschichte dazu:

Der doppelte Ausgleich

Eine Frau hatte einen guten Mann, und er schenkte ihr zu Weihnachten eine wunderschöne goldene Halskette. Sie packte sie aus und sagte:

»Eine wunderschöne Kette!« Dann fragte sie: »Was hat die denn gekostet?« Er sagte: »Fünftausend Mark.« – »Und wo hast du sie gekauft?« – »Beim Juwelier Bernhard.«

Nach den Festtagen ist sie zum Juwelier Bernhard gegangen und hat ihm noch einmal fünftausend Mark gegeben. So etwas gibt es – in Bezug auf das Schicksal.

Es entsteht also Verwirrung, wenn etwas Gültiges über den Kreis hinaus angewandt wird, in dem es sinnvoll ist. Ähnlich ist es auch, wenn jemand eine fremde Schuld auf sich nimmt und dafür bezahlt.

Ein Beispiel:

Ein Ehepaar zeugt vorehelich einen Sohn, und es kommt zur Muss-Heirat. Die Eltern sind in der Ehe unglücklich. Jetzt nimmt der Sohn die Schuld auf sich und lässt sich leiden, um als Ausgleich für das Unglück der Eltern, das sie durch ihn haben, zu bezahlen. Das Nehmen und Danken, es als Geschenk nehmen, ohne dafür zu bezahlen, ist die Lösung und ein ganz besonderer Vollzug. Dieses Danken ist eine innere Haltung. Es geht nicht auf irgendetwas oder irgendjemand hin. Ein Bild, das ich dafür gebrauche, ist: Jemand steigt in einen Fluss, und der Fluss trägt ihn ans andere Ufer, und dann steigt er wieder ans Land und verneigt sich vor dem Fluss. Doch dem Fluss ist das egal. Das ist Danken.

Ein Beispiel:

Jugendfreunde mussten zusammen in den Krieg, erlebten unbeschreibliche Gefahren, und zwei von ihnen kamen unversehrt zurück. Doch der eine war sehr still geworden, denn das Wichtigste, was er erlebt hatte, war die Errettung. Ihm war das ganze weitere Leben wie ein Geschenk. Der andere aber saß oft am Stammtisch und prahlte mit seinen Heldentaten und den Gefahren, denen er entronnen war. Es war, als hätte er das alles umsonst erlebt.

PETRA Ich kenne jemand, der ist als kleiner Junge von seinem Bruder aus dem Schnee gerettet worden. Dieser ältere Bruder ist später von den Nazis umgebracht worden. Der jüngere Bruder hatte dann immer das Gefühl, er kann nicht leben und er darf nicht leben.

BERT HELLINGER Das hat aber nur damit zu tun, dass der eine umgekommen ist. Da ist der Satz wichtig: Du bist tot. Ich lebe noch ein bisschen, dann sterbe ich auch. Und da wäre noch möglich, dass er sagt: Ich verneige mich vor deinem Schicksal, und du bleibst immer mein Bruder.

Sühnen als blinder Ausgleich: wenn eine Mutter bei der Geburt eines Kindes stirbt

Das Sühnen ist auch ein Versuch des Ausgleichs, aber es ist ein blinder, ein triebhafter, der ohne Steuerung geschieht. Besonders häufig sieht man diesen Ausgleichsversuch in Familien, in denen eine Mutter bei der Geburt eines Kindes starb. Das Kind, das überlebt, ist natürlich unschuldig am Tod der Mutter. Niemand käme auf den Gedanken, es deswegen zur Rechenschaft zu ziehen, und doch bringt dem Kind das Wissen um seine Unschuld keine Erleichterung. Als soziales Wesen weiß es, dass es in ein System eingebunden ist, in welchem es sein Leben auf Kosten des Lebens seiner Mutter bekommen hat. Es kann nicht anders, als sein Leben immer im Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter zu sehen, und es wird den Druck der Schuld nie los. Was nach solch einem tragischen Ereignis oft passiert, ist eine schlimme Dynamik. Die Situation wird so gedeutet, als habe der Mann mit seiner Triebhaftigkeit die Frau umgebracht, sie sozusagen seinen Trieben geopfert. Dabei sind sich ja die Eltern des Risikos des Vollzugs der Liebe bewusst und haben dem Risiko bewusst zugestimmt. Diese Mordfantasien entwerten auch die Frauen und sind ein Vergehen an deren Würde. Bei der Aufstellung solcher Konstellationen haben die Frauen keine Anklage gegen den Mann und sind sich ihrer Würde voll bewusst.

Die Vorstellung von Mord aber führt dazu, dass Jungen in nachfolgenden Generationen – und dieses Ereignis wirkt oft über viele Generationen nach – dafür sühnen. Oft bringen sich noch Enkel und Urenkel wegen des Todes einer solchen Frau um. Das ist eine primitive, uralte und blinde Form des Ausgleichs: Einer geht, und zum Ausgleich muss ein anderer gehen. Sobald man etwas zur Sühne tut, geht die Achtung verloren. Manche verzichten dann auf Partnerschaft und Kinder, indem sie zum Beispiel Priester werden oder eine Frau heiraten, die keine Kinder mehr bekommen kann. Ein solcher Tod im System macht Angst, und aus Angst wird das Ereignis häufig verschwiegen. Das ist die schlimmste Ausklammerung in einem System und die folgenschwerste.

Schränkt sich das geborene Kind aber nun ein oder bringt es sich um, dann war das Opfer der Frau ja umsonst, und sie wird dann auch noch für das Unglück des Kindes verantwortlich gemacht.

Die Lösung ist, dass in dem System diese Frau einen geachteten Platz bekommt und das Kind zur Mutter sagt: Wenn du schon dein Leben bei meiner Geburt verloren hast, dann soll es nicht umsonst gewesen sein. Gerade weil es dich so viel gekostet hat, zeige ich dir, dass es sich gelohnt hat. Ich nehme das Leben zu dem Preis, den es dich gekostet hat und den es mich kostet, und mache etwas daraus, dir zum Andenken.

Das ist die gleiche Liebe, aber in einer anderen Richtung. Dann wird der Druck der schicksalhaften Schuld zum Motor und zu einer Kraft für das Leben, und dann sind Taten möglich, die andere niemals zustande brächten. Das bringt Versöhnung und Frieden, und dann hat das Opfer der Mutter eine gute Wirkung.

Ein Beispiel aus einem Seminar:

Alexis erzählt, dass sein Vater schon einmal verheiratet war und die Frau bei der Geburt des ersten Kindes zusammen mit dem Kind starb. In der Konstellation der Ursprungsfamilie schauen beide Söhne und die Eltern in eine Richtung.

BERT HELLINGER Das ist ganz klar, die Eltern und die beiden Söhne schauen auf die erste Frau und das Kind. (Der holt diese Mutter und das Kind in die Konstellation und stellt sie gegenüber den Eltern und Söhnen auf. Die Familie nickt erleichtert.) Das ist schon die Lösung.

Später stellt er das Kind und die Mutter rechts neben den Vater und die Söhne gegenüber, und schließlich stellt er das gestorbene Kind als ältestes rechts neben den Söhnen auf. Er kommt dann auf die lebensgefährliche Krankheit des Bruders von Alexis zu sprechen.

BERT HELLINGER Aus der Konstellation kann man sehen, dass die Krankheit deines Bruders vielleicht eine systemische Bedeutung hat, und es würde deinem Bruder helfen, wenn du ihm davon erzählst. Der ist vielleicht mit dem Verstorbenen verbunden. Und wenn der im Bild steht, kann er vielleicht auch stehen.

2.8 Die Zustimmung zum Schicksal

Es gibt auch einen Anteil des schicksalhaften Schlimmen, der zu mir selbst gehört, zum Beispiel eine Erbkrankheit, eine Kriegsverstümmelung oder schlimme Umstände in der Kindheit. Begehre ich gegen dieses nicht veränderbare Schicksal auf und hadere ich mit ihm, indem ich Ärger und Anspruch wachhalte oder nach Schuldigen suche oder es nicht in mein Leben hineinnehme, kann es auch nicht seine Kraft entfalten.

So wie ich in unverdienter Weise und ohne mein Zutun gerettet werden kann, also ein Geschenk erhalten kann, das andere nicht bekommen, muss ich auch zustimmen, wenn von mir gefordert wird, die Folgen von Negativem, das ohne mein Verschulden geschah, zu tragen. Das Schicksal kümmert sich weder um unsere Ansprüche noch um unsere Wiedergutmachung.

Als einziger Ausweg bei schicksalhafter Schuld bleibt mir die Unterwerfung, das Sichfügen in einen undurchschaubaren, übermächtigen Zusammenhang, sei es nun zu meinem Glück oder Unglück. Die solchem Handeln zugrundeliegende Haltung nenne ich Demut. Sie erlaubt es mir, mein Leben und mein Glück so zu nehmen, wie es mir zufällt und solange es dauert, unabhängig von dem Preis, den andere dafür bezahlt haben. Sie lässt mich auch dem schweren Schicksal zustimmen, wenn ich an der Reihe bin. Diese Demut macht Ernst mit der Erfahrung, dass nicht ich das Schicksal bestimme, sondern das Schicksal mich. Und sie ist die der schicksalhaften Schuld und Unschuld gemäße Antwort und macht mich den Opfern ebenbürtig. Sie erlaubt mir, sie zu ehren, nicht indem ich das wegwerfe oder einschränke, was ich auf ihre »Kosten« bekommen habe, sondern gerade dadurch, dass ich es trotz des hohen Preises auch nehme und dann anderen davon etwas weitergebe. Sühnen macht Achtung zunichte, und Achtung macht Sühne überflüssig. Der Ausgleich ist dann, dass das Sichfügen in mir zu einer Kraftquelle wird. Das ist dann der positive Ausgleich, und das ist immer etwas, was zum Guten wirkt.

Ein Beispiel:

Ein junger Mann, Unternehmer und Alleinvertreter eines Produktes in seinem Land, kommt mit einem Sportwagen vorgefahren und erzählt von seinen Erfolgen. Es ist offensichtlich, dass er etwas kann, und er hat einen unwiderstehlichen Charme. Aber er trinkt, und sein Buchhalter macht ihn darauf aufmerksam, dass er zu viel Geld für private Zwecke aus der Firma nimmt und das Unternehmen dadurch gefährdet. Trotz seiner bisherigen Erfolge hat er es insgeheim doch darauf abgesehen, wieder alles zu verlieren. Es stellt sich heraus, dass seine Mutter ihren ersten Mann weggeschickt hatte, weil sie ihn für einen Schlappschwanz hielt. Dann heiratete sie den Vater dieses jungen Mannes und brachte den Sohn aus der ersten Ehe in die neue Ehe mit. Dieser durfte seinen leiblichen Vater nicht mehr sehen und hatte bis zu diesem Tag keine Verbindung zu ihm aufgenommen. Er wusste nicht einmal, ob er noch lebte.

Der junge Unternehmer merkte, dass er sich nicht traute, auf Dauer Erfolg zu haben, weil er meinte, dass er sein Leben dem Unglück seines Bruders verdanke. Er fand folgende Lösung: Als Erstes konnte er anerkennen, dass die Ehe seiner Eltern und sein eigenes Leben in einem schicksalhaften Zusammenhang standen mit dem Verlust, den sein Bruder und dessen Vater erleiden mussten. Zweitens konnte er sein Glück trotzdem bejahen und den anderen sagen, dass auch er sich ihnen als gleichberechtigt und ebenbürtig zumuten werde. Drittens war er bereit, seinem Bruder einen besonderen Dienst zu erweisen als Anerkennung seiner Bereitschaft, Nehmen und Geben auszugleichen. Er nahm sich vor, den verschollenen Vater seines Bruders ausfindig zu machen und ein Wiedersehen der beiden zu vermitteln.

BERT HELLINGER Jetzt komme ich noch einmal zu der Dynamik, die vorher angesprochen wurde. Du hast geschildert, dass deine Mutter depressiv geworden ist nach deiner Geburt. Dann ist die Tendenz, dass das Kind dafür bezahlt.

MANUELA Ist das ähnlich, wenn die Mutter eine Wochenbettpsychose bekommt?

BERT HELLINGER Ja, das kann ähnlich sein, dass das Kind dann meint, dafür bezahlen zu müssen. Es fühlt sich immer dann schuldig, wenn die Mutter bei seiner Geburt einen Schaden erleidet.

Ich habe noch ein anderes Beispiel:

Ein Gruppenmitglied, ein Mann mittleren Alters, ließ es sich in der Gruppe nicht gut gehen. Er verhielt sich merkwürdig und zeigte wenig Einfühlungsvermögen. Heraus kam, dass seine Mutter bei seiner Geburt einen Beckenbruch erlitten hatte. In der Aufstellung seiner Herkunftsfamilie stellte er sich ganz nach außen. Die Mutter war jedoch bereit, den Preis dafür zu bezahlen, aber das Kind konnte das nicht annehmen, weil der Preis so hoch war.

Was das Kind dann tun kann, ist, es zu würdigen. Also: »Liebe Mama, ich nehm es zu dem Preis, den es dich gekostet hat, und gerade deshalb halte ich es in Ehren und mache etwas daraus, dir zur Freude. Es soll nicht umsonst gewesen sein. Gerade weil es dich so viel gekostet hat, zeige ich dir, dass es sich gelohnt hat.« So ist es auch für die Mutter viel entlastender. Sonst ist es ja doppelt schlimm für sie. Wenn es gut ausgegangen ist, kann sie auch leichter tragen, was war.

Nicht selten kommt es auch vor, dass jemand nach einer überraschenden Errettung wie tot weiterlebt, so, als habe er das Leben schon abgeschlossen.

Ein Beispiel:

In einem Kurs war ein netter Kerl, er saß aber meist wie leblos da. Dann hab ich mit ihm eine Altersregression gemacht, und als er fünf Jahre alt war, sah er sich im Bett liegen, und an seiner Schulter war eine große Geschwulst gewachsen. Die Ärzte standen mit besorgter Miene um das Bett herum, und in diesem Augenblick ist er innerlich gestorben. Er wurde dann operiert, und es stellte sich heraus, dass der Tumor gutartig war. Er hatte innerlich aber schon mit seinem Leben abgeschlossen und lebte leblos weiter. Gemäß ist dann, dass so einer für seine Errettung dankt, indem er das Geschenk des Lebens neu annimmt und etwas damit macht.

2.9 Zum Ausgleich ein Kind als Ablöse

Es kommt relativ häufig vor, dass bei einer Trennung zum Ausgleich ein Kind abgegeben wird, zum Beispiel dass eine Tochter aus zweiter Ehe zum ersten Mann geht. Wenn sich die Mutter einen anderen Mann nimmt, dann muss dafür bezahlt werden. Eine Möglichkeit ist, dass sie dem ersten dafür die Tochter gibt. Damit ist es sozusagen beglichen. Oft wird ein Kind auch als Ablöse bezahlt, wenn die Eltern der Frau sie nicht heiraten lassen wollten. Sie gibt dann manchmal ihren Eltern ihr erstes Kind. Keiner weiß wieso, es ist aber die Ablöse, die sie zahlt. Dann darf die Frau ihren Mann behalten. Das Kind kann dann sagen: Ich tue es gerne, aber du bist meine Oma, und das ist meine Mutter. Wir werden dieser Dynamik noch einmal beim Inzest begegnen.

ALEXIS Was ich in Griechenland oft gesehen habe, ist, dass ein Kind an eine kinderlose, aber reiche, verheiratete Schwester abgegeben wird, eine Schwester, die die ganze Familie unterstützt.

BERT HELLINGER Das Kind muss dann sagen: Ich tu’s gerne für euch alle. Dann kann es das machen und wird auch frei von einem eventuellen Vorwurf.

3. Die Ordnung

Die dritte Grundbedingung für das Gelingen von Beziehungen ist die Ordnung. Damit meine ich zuerst die Regeln, die das Zusammenleben einer Gruppe in feste Bahnen lenken. In allen länger dauernden Beziehungen entwickeln sich gemeinsame Normen, Riten, Überzeugungen und Tabus, die dann für alle verbindlich werden. So wird aus Beziehungen ein System mit Ordnung und Struktur. Das ist die eher vordergründige und vereinbarte Ordnung. Dahinter wirken Ordnungen, die vorgegeben sind und die sich der Vereinbarkeit entziehen.

II. Das Gewissen als Gleichgewichtssinn in Beziehungen

Wenn immer wir in Beziehungen treten, werden wir gesteuert von einem inneren Sinn, der automatisch reagiert, wenn wir etwas tun, was der Beziehung schaden oder sie gefährden könnte. Es gibt also so etwas wie ein inneres Organ für systemisches Verhalten, ähnlich wie wir ein inneres Organ haben für das Gleichgewichtsverhalten. Sobald wir aus dem Gleichgewicht fallen, bringt uns das Unlustgefühl, das aus dem Fallen kommt, zurück ins Gleichgewicht. Also, das Gleichgewicht wird geregelt durch Unlust und Lust. Wenn wir im Gleichgewicht sind, ist es angenehm, ein Lustgefühl. Wenn wir aus dem Gleichgewicht fallen, ist das ein Unlustgefühl, und das Unlustgefühl zeigt uns die Grenze auf, an der wir uns verändern müssen, damit kein Unglück passiert. Ähnliches gilt in Systemen und Beziehungen.

In Beziehungen gelten gewisse Ordnungen. Wenn ich mit denen im Einklang bin und in Folge dessen in der Beziehung bleiben darf, fühle ich mich unschuldig und im Gleichgewicht. Sobald wir aber von den Bedingungen für das Gelingen abweichen und die Beziehung gefährden, entstehen Unlustgefühle, die wie ein Reflex wirken und uns zur Umkehr zwingen. Das wird dann als Schuld erlebt. Die Instanz, die darüber wacht, wie ein Ausgleichsorgan, nennen wir Gewissen.

Man muss wissen, dass wir Schuld und Unschuld in der Regel nur in Beziehungen erfahren. Schuld ist also auf den anderen bezogen. Schuldig fühle ich mich, wenn ich etwas tue, was der Beziehung zu anderen schadet, und unschuldig, wenn ich etwas tue, was der Beziehung zu anderen nützt. Das Gewissen bindet uns an die für das Überleben wichtige Gruppe, was immer die Bedingungen sind, die sie uns setzt. Es steht nicht über dieser Gruppe und nicht über ihrem Glauben oder Aberglauben. Es steht in ihren Diensten.

1. Das Gewissen wacht über die Bedingungen für Beziehungen

Das Gewissen wacht über die Bedingungen, die für Beziehungen wichtig sind, nämlich über die Bindung, über den Ausgleich von Nehmen und Geben und über die Ordnung. Eine Beziehung kann nur gelingen, wenn diese drei Bedingungen zugleich erfüllt sind. Es gibt keine Bindung ohne Ausgleich und ohne Ordnung. Es gibt keinen Ausgleich ohne Bindung und Ordnung, und es gibt keine Ordnung ohne Bindung und Ausgleich. Diese Bedingungen werden in der Seele als elementare Bedürfnisse erlebt. Das Gewissen steht im Dienste aller drei Bedürfnisse, und jedes dieser drei Bedürfnisse wird durch ein eigenes Gefühl von Schuld und Unschuld durchgesetzt. Deshalb unterscheidet sich unsere Erfahrung von Schuld je nachdem, ob sich die Schuld auf die Bindung, auf den Ausgleich oder auf die Ordnung bezieht, und daher fühlen wir die Schuld und Unschuld anders, je nach dem Ziel und dem Bedürfnis, dem sie dienen.

1.1 Gewissen und Bindung