Zwickmühle - Dorothea Puschmann - E-Book

Zwickmühle E-Book

Dorothea Puschmann

4,6

Beschreibung

Eigentlich wollten Katharina Fröhlich und Julian Frey ihrem stressigen Job als Sicherheitsfachleute und private Ermittler für ein paar Tage entfliehen und einen wohlverdienten Kurzurlaub am Ammersee einschieben, als sie von einer alten Bekannten aus Münster um Hilfe gebeten werden. Ihr Mann Helge - ein ehrgeiziger, gerissener und umtriebiger Anwalt - wurde offenbar gekidnappt und ist seinen brutalen Peinigern nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Aus freundschaftlicher Verbundenheit übernehmen Julian und Katharina den Fall. Dann verschwindet ein weiterer Mann. Doch Fröhlich und Frey sehen zunächst keinen Zusammenhang zwischen ihrem Auftrag und der Zeitungsnotiz, die über das Verschwinden des Münsterschen Bauamtsleiters berichtet …

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Ähnliche


Dorothea Puschmann

Zwickmühle

Ein Münsterland-Krimi

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrektorat: Katja Ernst / Susanne Tachlinski

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Helmut Puschmann

ISBN 978-3-8392-3004-6

Widmung

Für Christina

Zitat

In der Täuschung lebt die Wahrheit fort

und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder hergestellt werden.

Friedrich Schiller

Prolog

Ein Traum, der sie immer wieder heimsucht: Wie in Zeitlupe rennt sie, die Arme nach vorn ausgestreckt, den Mund zum Schrei weit geöffnet. Voller Verzweiflung versucht sie, ihr Kind zu erreichen, stürzt mehrfach, richtet sich immer wieder auf. Hört ihre kleine Tochter rufen, ›Mama‹, doch wie von unsichtbaren Fäden gezogen entfernt sich das Kind immer weiter von ihr, bis es schließlich von einer Nebelwand verschluckt wird.

Sie sitzt in einem kleinen Laborraum auf einem harten Drehstuhl ohne Armlehnen.

»Wir müssen noch schnell einen Bluttest machen«, erklärt ihr die Schwester. »Sie sind spät dran, Ihr Termin war bereits vor einer halben Stunde!« Vorwurfsvoll sieht sie die junge Frau aus den Augenwinkeln an, während sie hektisch hantiert.

»Ich weiß«, gesteht diese. »Ich hatte plötzlich wieder große Bedenken, ob meine Entscheidung auch wirklich die richtige ist …« Die Schwester geht nicht weiter darauf ein, wahrscheinlich hört sie diesen oder ähnliche Sätze mehrfach täglich, seit vielen Jahren.

»So, das mit dem Blut hätten wir. Ich bringe Sie jetzt schnell ins Behandlungszimmer, und in einer Stunde haben Sie dann alles hinter sich.«

Im Raum, der kalt und kahl wirkt, soll sie sich unten herum ausziehen und auf den Stuhl legen. Ihre Handgelenke werden in den Armschalen links und rechts fixiert.

»Geht dann schneller«, murmelt die Schwester.

»Mund auf«, sagt sie dann, »und Zunge nach oben, das Valium muss darunter zergehen. In etwa 20 Minuten wird der Arzt kommen. Zur Unterhaltung stelle ich Ihnen noch ein bisschen Musik an.«

Eilig verlässt die Schwester das Zimmer und die junge Frau ist allein. Zittert vor Kälte.

Gegenüber an der Tür hängt ein bodenlanger Spiegel. Sie kann sich darin sehen. Schnell wendet sie den Blick ab. Tränen rinnen über ihre Wangen.

Aus einem Lautsprecher an der Wand ertönen jetzt deutsche Schnulzen. ›Schatzilein, du sollst nicht traurig sein‹.

Sie würde gern aufstehen und in einem tiefen Bodenloch verschwinden. Einfach für immer verschwinden. Doch sie kann sich nicht bewegen, ist starr wegen der festgebundenen Arme, aber auch vor Kälte und Angst. Sie wünscht sich, das Valium möge endlich Wirkung zeigen.

Die Tür fliegt auf, ein junger Mann in offenem, wehendem Arztkittel stürmt herein. Die Schwester, mit der sie bereits zu tun hatte, folgt ihm auf dem Fuß.

Der Mann fragt die Patientin, ohne sie anzusehen:

»Wie geht’s? Dann wollen wir gleich mal beginnen.«

Eine Antwort wartet er nicht ab, ergreift eines der parat liegenden Instrumente, setzt sich auf den Hocker und macht sich zwischen ihren Beinen zu schaffen.

»Aber das Valium, es hat doch noch gar nicht gewirkt!«, will sie rufen, doch ihre Worte gehen unter in Geräuschen, die sie zunächst an das Kratzen ihres großen Katers an der Tür, wenig später an einen Staubsauger erinnern.

Dann kommt der Schmerz. So entsetzlich, so bestialisch, als würde sich ein scharfes Messer in ihren Unterleib bohren.

Verzweifelt bäumt sie sich immer wieder auf, versucht, im Stuhl hochzurutschen, um dem entsetzlichen Zugriff ihres Peinigers zu entkommen.

Die Schwester drückt sie hinunter auf den Stuhl, hält sie fest wie mit Eisenklammern.

Dann kann sie die Schmerzen nicht mehr ertragen und schreit los. Schreit, bis sie einen Lappen zwischen die Zähne gesteckt bekommt wie einen Knebel und das Gefühl hat, gleich ersticken zu müssen.

Die Schwester schaut sie prüfend an: »Geht’s jetzt? Kann ich loslassen?«

Die junge Frau nickt, rollt angstvoll mit den Augen. Der Schweiß läuft ihr in Strömen übers Gesicht.

Der Arzt murmelt: »Bin gleich fertig, gleich ist es für Sie vorüber!«

Sie will sich etwas entspannen. Plötzlich beginnt ihr Bauch sich aufzublähen. Die Schmerzen, die jetzt jede Faser ihres Körpers zu erfassen scheinen, sind unbeschreiblich.

Die junge Frau schreit auf, dass es weithin zu hören sein muss. Ruft nach ihrer Mutter, die schon seit vielen Jahren tot ist, wimmert, betet. Verliert schließlich beinahe das Bewusstsein.

Nach einer ihr endlos erscheinenden Zeit lassen die qualvollen Schmerzen nach, ihr Bauch findet allmählich wieder zur Normalgröße zurück.

»Sie können jetzt aufstehen und sich wieder anziehen«, sagt die Schwester.

Der Arzt hat das Zimmer bereits verlassen. Er hat sie nicht begrüßt, sich ihr nicht vorgestellt, sich nicht von ihr verabschiedet.

»Wie bitte?«, fragt sie benommen. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe gefragt, ob Sie sich noch eine Weile hinlegen möchten oder lieber ins Wartezimmer zurückwollen?«

Die junge Frau versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, entscheidet sich für das Wartezimmer. Dort wartet ein Freund, der sie begleitet hat. Niemand anderen hätte sie bitten können, mit ihr zu kommen.

Auf Beinen wie aus Wackelpudding wankt sie zurück. Verläuft sich immer wieder, muss zwischendurch pausieren, bricht vor Schwäche auf dem Flur fast zusammen.

Irgendeine Besucherin hat schließlich Mitleid, stützt sie und bringt sie zurück ins Wartezimmer.

Die Zeit heilt alle Wunden? Nein, das vermag sie nicht. Sie kann manchmal dafür sorgen, dass das vernarbte Gewebe nicht ganz so heftig schmerzt. Sie kann erreichen, dass wir für eine kurze Zeit eine Art Betäubung oder Narkose erfahren, das ist aber auch alles. Und selbst in diesem entspannteren Zustand ist das Erlebte nicht gänzlich ausgeschaltet, sondern schleicht beharrlich durch den Nebel der Erinnerungen.

1. Kapitel

›Münchner Morgen‹

Schmuck- und Diamanten-Raub in allerletzter Minute verhindert!

݆beraus mutiger Fahrgast stellte fliehenden Dieb und verhinderte, dass der mit einer Beute im Wert von mehreren Millionen Euro entkommen konnte.

Der Juwelier, der im Intercity Hamburg-München von einem Dieb erst brutal zusammengeschlagen und dann gefesselt worden war, befindet sich inzwischen auf dem Weg der Besserung.

Den Mitreisenden, der beherzt die Verfolgung des aus dem Zug geflohenen Diebes aufgenommen hatte, erwartet eine attraktive Belohnung!

Der mutige Fahrgast war der Privatdetektiv Julian Frey, 36, der mit seiner Lebensgefährtin Katharina Fröhlich, 34, (beide ehemalige Kriminalhauptkommissare) im Zug zu einer Tagung nach München unterwegs war, als es plötzlich während der Fahrt erst zu dem Überfall und dann zu einer turbulenten Verfolgungsjagd kam.

Julian Frey und Katharina Fröhlich führen gemeinsam die angesehene Detektei Fröhlich & Frey in Münster/Westfalen. Zusätzlich beraten sie Firmen und Geschäfte, wie sie ihre Gebäude und Anlagen möglichst einbruchsicher ausrüsten können.

Frey war früher beim Raub- und Einbruchsdezernat, Fröhlich in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität.

Im Anschluss an die Tagung haben die beiden vor, einen Kurzurlaub anzuhängen, den sie in der Umgebung von München verbringen wollen.‹

Julian legt die Zeitung zur Seite, lächelt mich verschmitzt an.

»Abgesehen von dieser fantastischen Werbung für uns und unsere Detektei, auch abgesehen davon, dass sich die Berichterstattung in einigen Punkten nicht ganz an die Fakten gehalten hat – wie fandest du mich?«

Inzwischen halten wir uns in einer kleinen, gemütlichen Ferienanlage am Ammersee auf und genießen auf unserer Terrasse mit Seeblick die Morgensonne und ein fürstliches Frühstück.

Die Geschehnisse des letzten Tages kann ich immer noch nicht fassen. Es ging alles so schnell im Zug.

Diese blutüberströmte Menschenattrappe auf der Toilette, auf die wir alle hereingefallen waren, und die wirklich nur zur Ablenkung der Mitreisenden dienen sollte. Ein Komplize des Täters hatte sie dort unbemerkt vor Abfahrt des Zuges deponiert. Dann die wilde Verfolgungsjagd, die der Dieb und ich uns im Zug lieferten. Und plötzlich wurde die Notbremse gezogen.

Infolge dieses abrupten Bremsvorgangs wurde ich mit dem Kopf voran und mit voller Wucht gegen einen metallenen Türgriff geschleudert.

Und schließlich Julian, den ich noch in Münster glaubte und der wegen beruflicher Verpflichtungen eigentlich erst am nächsten Tag nachkommen wollte. Der aber urplötzlich auf der Bildfläche erschienen war, den Dieb samt Beute fest im Griff. Ein Moment, den ich zu gern fotografisch festgehalten hätte!

Der Zweck meiner Münchner Reise war ein Vortrag über neueste Entwicklungen bei Alarmanlagen und anderen Sicherheitssystemen. Leider habe ich das Referat absagen müssen. Trotz der vielen Eisbeutel, die mir Julian besorgt hatte, war das Wachsen einer gehörigen Beule auf meiner Stirn nicht mehr aufzuhalten gewesen. Schlimmer noch als das zugegeben wenig dekorative Horn aber waren die Kopfschmerzen, die mich anschließend plagten.

Ohne Julians bravourösen Einsatz wäre es ein höchst ärgerlicher Verdienstausfall gewesen. So aber, angesichts der Belohnung, ließ sich dieser Verlust natürlich gut verschmerzen.

»Du warst großartig«, gebe ich neidlos zu. »Und wie meistens zur rechten Zeit an der richtigen Stelle!«

»Wenn mein Kunde nicht umdisponiert hätte«, wendet er ein, »und hätte ich nicht im letzten Moment noch den Zug in –«

Ich küsse ihn schnell und er ist still. »Sei nicht so bescheiden. Du warst da, das allein zählt. Mich würde aber schon interessieren, so ganz am Rande, wie hast du das mit dem fantastischen Zeitungsbericht gedeichselt? Das letzte Mal, als wir eine Anzeige dieser Größe in der Zeitung hatten, erhielten wir anschließend eine Rechnung über etliche Tausend Euro!«

Julian tut so, als verstünde er mich nicht.

»Gedeichselt? Ach so, jetzt weiß ich, was du meinst. Also, da war dieses blutjunge, bildhübsche Geschöpf, diese wissensdurstige Reporterin mit den wunderschönen –«

»Das reicht, um mir eine Vorstellung machen zu können«, unterbreche ich ihn schmunzelnd.

»Wie geht es deinem Kopf jetzt?« Besorgt schaut er mich an.

»Abgesehen von der Beule bin ich fast wieder wie neu.«

Ich lache und ziehe ihn an mich. Er fragt: »Was meinst du, haben wir uns nicht trotzdem noch etwas Bettruhe verdient, nach all den Strapazen?«

»Dreh dich nicht um!«, flüstere ich. Wenn ich das richtig sehe, haben wir sehr neugierige Nachbarn. Das Fenster ist schon geöffnet und die Gardine bewegt sich unaufhörlich. Wollen wir für sie ein bisschen Theater spielen?«

Julian grinst und nickt zustimmend.

Laut und scheinbar entsetzt rufe ich: »Du wirst doch nicht schon wieder Gelüste haben?«

»Also bitte, was heißt denn hier schon wieder?«

Julian tut ein wenig beleidigt, geht auf mein Spielchen ein.

»Das letzte Mal liegt nun schon über drei Tage zurück!«

»Nein!«, rufe ich und schlage in gespieltem Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen. »Das kann doch nicht wahr sein. Schon wieder drei Tage ohne Sex, da müssen wir schnellstens Abhilfe schaffen!«

Bevor ich mich auf seinen Schoß setze, ihm zugewandt, ziehe ich noch schnell den aufgespannten Sonnenschirm nah zu uns heran.

Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich wahr, wie sich die Gardine nebenan teilt. Die Köpfe eines älteren, weißhaarigen Paares tauchen hintereinander auf, und ich höre den alten Herrn wispern: »Bist du sicher, dass das die beiden aus der Zeitung sind?«

»Sicher sind sie das! Schau dir doch bloß mal die schlanke, durchtrainierte Figur des jungen Mannes an!«

Ein ausgezeichnetes Gehör ist wichtig in unserem Geschäft.

Langsam, sichtlich voller Genuss und Vorfreude knöpfe ich Julians Hemd auf.

»Katinka, was hast du jetzt mit dem jungen, gut durchtrainierten Typen vor?«, raunt er und lächelt unverschämt verführerisch. »Du möchtest doch hoffentlich nicht, dass ich hier und jetzt einen Striptease hinlege?«

»Warum eigentlich nicht? Wir sollten den beiden Alten auch etwas gönnen! Kommst du an den Sonnenschirm?«, frage ich leise. »Du knöpfst gleich meine Bluse auf. Bevor du aber unten beim letzten Knopf ankommst, musst du den Schirm blitzschnell knicken! Ich möchte nämlich nicht, dass dem alten Herrn wegen meines barbusigen Anblicks etwas zustößt. Er lehnt sich bereits so weit aus dem Fenster, dass ich mir ernsthaft Sorgen um sein Gleichgewicht mache.«

Julian ist schon ganz rot im Gesicht, unterdrückt das Lachen nur unter Aufbietung aller Kräfte.

»In Ordnung, Süße, lass uns anfangen!«

Er nimmt sich nicht die Zeit, meine Seidenbluse aufzuknöpfen. Seine Hände fahren unter dieses lästige Oberteil und streifen es mir flugs über den Kopf. Gut, dass ich mir vor der Reise noch diesen hinreißenden, wenn auch sündhaft teuren BH geleistet habe. Das Modell trägt den verheißungsvollen Namen ›Fleurs de Pommier‹.

Begehrlich fährt Julian mit einem Finger am Spitzenbesatz des Dessous entlang und zieht entschlossen einen Träger herunter. Derweil bemühe ich mich ungeduldig, die Schließe seines Jeans-Gürtels zu öffnen, weil der Hosenstoff allmählich sichtbar spannt.

Wir kommen nicht mehr dazu, den Sonnenschirm zum Schutz gegen die neugierigen Blicke der Nachbarn einzusetzen, sondern flüchten wenige Augenblicke später kichernd in unsere Ferienwohnung. Welch herbe Enttäuschung für die Zuschauer!

Die Melodie von ›We are the champions‹ ertönt und weckt uns. Es ist Julians Handy. Behaglich räkelt er sich im Bett und wirft dabei einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.

»Grundgütiger, fast schon Mittag!«

Sein blonder Haarschopf ist zerzaust, was ihm ausgesprochen gut steht, ihn noch jünger erscheinen lässt. Dennoch müsste ich bei nächster Gelegenheit mal wieder Hand anlegen und seine Haare etwas stutzen und in Form bringen. Seit ein Friseur es geschafft hatte, Julian, wie dieser es auszudrücken pflegt, auf dem Kopf regelrecht zu verstümmeln, lässt er sich nur noch von mir die Haare schneiden. Eine große Ehre einerseits, eine schwere Verantwortung andererseits. Ich hoffe sehr, ich kann ihn eines Tages wieder dazu bringen, Vertrauen zu einem Experten zu fassen. Den Haarschnitt damals fand ich gar nicht so grässlich, zumindest nicht so schlimm, dass es Julians extreme Reaktion gerechtfertigt hätte. Er war nur eben einfallslos und vor allem viel zu kurz ausgefallen. Etwas, das Julian absolut nicht ausstehen kann. Vermutlich ein Kindheitstrauma.

Jetzt angelt er nach Boxershorts und Jeans, die zusammen mit weiteren Kleidungsstücken verstreut auf dem Boden vor dem Bett liegen, zieht das Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick aufs Display.

»Es ist Claudia. Was meinst du, soll ich rangehen?«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie uns anrufen würde, wenn es um etwas völlig Belangloses ginge«, antworte ich. »Nimm das Gespräch lieber an.«

Julian meldet sich: »Hallo, Claudia«, und lauscht dann konzentriert mit geschlossenen Augen.

Die beiden kennen sich schon seit Studienzeiten, haben sich durch gemeinsame Bekannte immer wieder getroffen und sich schließlich angefreundet. Claudia ist Kinderärztin geworden, arbeitet überwiegend halbtags in einer Gemeinschaftspraxis. Ihr Mann Helge ist Anwalt und Notar. Anwalt mit zahlreichen, meist eigenartigen Nebengeschäften. Schon seit geraumer Zeit gibt es zunehmend Gerüchte, die besagen, es ginge bei seinen Geschäften immer weniger mit rechten Dingen zu. Außerdem scheint er seine Finger überall dort mit im Spiel zu haben, wo es für ihn von finanziellem Nutzen sein könnte.

Mit Claudia komme ich gut klar, aber mit Helge gerate ich regelmäßig in Streit, wenn wir uns treffen. Für mich ist er einer von diesen gerissenen und gewissenlosen Rechtsverdrehern, denen man einfach alles zutraut. Sogar die Zusammenarbeit mit der Mafia.

Julian unterbricht Claudia nur wenige Male, um kurze, knappe Fragen zu stellen. Im Laufe des Gesprächs klingt ihre Stimme immer aufgebrachter.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, Claudia, solange wir nichts Genaues wissen«, versucht er sie zu beruhigen.

Sie spricht jetzt so laut, dass ich aus einem Meter Entfernung problemlos mithören kann. Immer wieder bricht sie ab, schluchzt.

Während ich ins Bad gehe, höre ich Julian noch sagen: »Claudia … beruhige dich doch. Claudia, hör mir zu! Sicher helfen wir dir, keine Frage. Ich bespreche das mit Kathrin und sage dir dann sofort Bescheid.«

Wenig später klopft er leise an die Tür.

»Katinka?«

»Es ist offen, du kannst reinkommen!«, rufe ich. »Was ist passiert?«

Seine Haltung, wie er im Türrahmen lehnt, und die leicht schuldbewusste Mine verraten mir, dass unser Kurzurlaub wohl früher als geplant seinem Ende entgegengeht. Außerdem nennt er mich nur in ganz besonderen Fällen ›Katinka‹, zum Beispiel, wenn er mich um etwas bitten möchte. Ein solcher Fall scheint wohl gerade eingetreten zu sein.

»Helge ist offensichtlich vor zwei oder drei Tagen entführt worden. Und nun sieht es so aus, als schickten die Entführer ihn seiner Frau portionsweise zurück. Heute kam ein Teil eines Fingers mit der Post. Er stammt von Helges Ringfinger. Claudia hat ihn an einer kleinen Narbe erkannt. Sie ist ziemlich fertig mit den Nerven.«

Ich bin entsetzt. »Gibt es ein Schreiben dazu?«

Julian nickt. »Allerdings nur mit drei Sätzen: ›Wir haben Ihren Mann in unserer Gewalt. Wenn Sie die Polizei einschalten, verlängert das nur unnötig das Leiden Ihres Mannes. Weitere Anweisungen folgen!‹

Claudia hat erzählt, Helge sei in den vergangenen Wochen schon mehrfach bedroht worden. Telefonisch, aber auch per Brief. Alles anonym natürlich.«

»Früher oder später musste das ja passieren.« Eine leichte Häme in meiner Stimme ist unüberhörbar. »Bei seinen zahlreichen dubiosen Geschäften! Ich vermute, Claudia hat keine Ahnung, worum es gehen könnte?«

»Sie sagt, über seine Arbeit hätten sie schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Ich nehme an, er wollte sie nicht in etwas hineinziehen. Ist es in Ordnung für dich, wenn wir heute noch zurückfliegen?«

»Natürlich«, antworte ich, »Claudia braucht jetzt Unterstützung und gute Freunde.«

»Sie wird uns bitten, den Fall zu übernehmen«, sagt Julian. »Sie hat so etwas angedeutet.«

Ich bin überrascht und skeptisch. »Wir? Meinst du wirklich, wir können in einem solchen Fall die Polizei außen vor lassen? Ist es nicht viel zu riskant und gefährlich, allein zu ermitteln?«

»Wir hören uns erst mal alles ganz genau an, wenn wir bei Claudia sind«, schlägt Julian vor, »und entscheiden dann gemeinsam.«

Damit bin ich einverstanden. Eins interessiert mich aber noch.

»Für den Fall, dass wir in Claudias Auftrag ermitteln, betrachtest du das dann als einen reinen Freundschaftsdienst?«

Julian schaut mich beschwörend an. »Aber Kathrin, ich kann doch von Claudia kein Geld verlangen! Sie ist doch eine Freundin!«

»Schon«, sage ich gedehnt, »aber Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps. Und private Ermittlungen sind doch nun mal unsere Arbeit, und wir leben davon. Außerdem trifft es ja keine ganz armen Leute.«

»Hm«, brummt Julian und ich sehe ihm förmlich an, wie sehr es ihm gegen den Strich gehen würde, von Claudia Geld für unsere Hilfe anzunehmen. »Aber nur, wenn sie es ausdrücklich anbietet.«

»Na gut, einverstanden. Ich wollte dich lediglich daran erinnern, ich bin nicht Mutter Theresa und du nicht der Heilige Nikolaus. Auch wenn es vielleicht manchmal bei flüchtiger Betrachtung den Anschein haben mag. Außerdem bin ich, nicht zuletzt auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin, der Kassenwart. Wegen deines mitfühlenden Wesens und deiner spendablen Art, die ich durchaus auch zu schätzen weiß. Nicht, dass du mich missverstehst.«

Julian grinst verlegen. »Wer gibt, dem wird gegeben«, verkündet er in einem Ton, als spräche er soeben von einer Kirchenkanzel herunter. »Außerdem haben wir doch gerade diese fantastische Belohnung für unseren besonderen Einsatz im Zug bekommen. Ich dachte, dafür könnten wir auch wieder etwas abgeben.«

»Das ist sehr weise«, gebe ich zu, »und auch edel von dir gedacht. So sei es denn!«

Während ich nach dem Telefonhörer greife, um mich nach einem Flug für heute Abend nach Hause zu erkundigen, verschwindet Julian lachend in Richtung Küche, wo er wenig später laut zu rumoren beginnt. Er wird einen fantastischen Salat für uns zaubern. Einen unserer Lieblingssalate, der aber schnell zubereitet ist. Und niemand macht ihn so gut wie Julian! Die Zutaten hat er gestern Abend noch schnell im nächstgelegenen Ort besorgt.

»Unser Flieger steigt 18.15 Uhr«, informiere ich ihn wenig später, »das bedeutet leider, wir haben nicht mehr viel Zeit. Es wäre schön, wenn wir nach dem Essen wenigstens noch einen kleinen Spaziergang am See machen könnten. Wir reisen sonst wieder ab, ohne überhaupt etwas von der Umgebung gesehen zu haben.«

»Sei nicht traurig, Katinka, mir tut es ja auch leid.«

Julian nimmt mich in den Arm, während er mit der freien Hand das Dressing mit einem Schneebesen leicht verschlägt.

»Wir holen unseren Urlaub nach, ganz bestimmt. Und dann wird uns niemand stören, das verspreche ich dir.«

»Ist schon in Ordnung.« Seufzend stibitze ich mir mit den Fingern ein paar Gurkenscheiben aus der großen Salatschüssel. »Wären wir in Not, würden wir uns schließlich auch über die Hilfe und Unterstützung unserer Freunde freuen. Und nun lass uns essen, ich habe einen Bärenhunger!«

»Schmeckt ja wie zu Hause. Wie hast du denn das hinbekommen?«, frage ich nach einigen Bissen begeistert.

»In dem kleinen Geschäft hatten sie zufällig unser Olivenöl, das ›Períptero‹. Ich habe eine Miniflasche mitgebracht.«

»Kathrin«, ruft Julian nach dem Essen aus dem Wohnzimmer, während ich in der kleinen Küche schnell den Abwasch erledige, »hast du eine Ahnung, wo die Tüte mit den Minischokoriegeln hingeraten ist, die ich gestern Abend unter anderem mitgebracht hatte? Ich habe schon fast die ganze Ferienwohnung auf den Kopf gestellt!«

»Vielleicht hast du wieder geschlafwandelt und die Packung ist dir dabei in die Hände gefallen«, schlage ich vor und stecke meinen Kopf durch die halb geöffnete Küchentür, um seine Reaktion zu beobachten.

Er unterbricht seine Suche, hat gerade die dicken, schweren Sofakissen hochgehoben, um darunter und dahinter nachzusehen. Entgeistert starrt er mich an.

»War ein Scherz«, sage ich und habe dabei ein rabenschwarzes Gewissen. »Warum hast du mich nicht sofort gefragt? Ich weiß nämlich, wo die Tüte, beziehungsweise ihr Inhalt, abgeblieben ist.«

»Lass mich raten«, er grinst breit. »Da du ziemlich schuldbewusst dreinschaust, nehme ich an, der Inhalt ruht hier?«

Er steht inzwischen ganz nah vor mir. Nicht ein Blatt Papier passt mehr dazwischen. Seine Hände streichen über meinen Bauch und die Hüften.

»Sieht man es schon?«, frage ich kleinlaut.

Er schüttelt den Kopf. »Höchstens zweiter Monat.«

Um in der uns verbleibenden kurzen Zeit mehr von der Landschaft sehen zu können, haben wir uns kurzerhand Räder ausgeliehen.

Während wir gemächlich in die Pedale treten, vermeiden wir ganz bewusst, über Berufliches zu reden, genießen die letzten Stunden, die wir in dieser schönen Atmosphäre noch verbringen können.

Die Wasseroberfläche des Ammersees glitzert auf ganz besondere, fast geheimnisvolle Weise in einem milden Licht, wirkt beinahe silbern. Die Sonne und große Teile des Himmels sind mit zarten Schleierwolken verhangen.

Es ist Anfang Mai, und während die Frühlingsboten sich im Münsterland nach dem nassen, kalten Winter noch nicht blicken lassen, leuchten hier sämtliche Büsche und Bäume in zartem Lichtgrün, das es nur in dieser wundervollen Jahreszeit gibt.

Die bunten Tupfer der Frühlingsblüher auf den Wiesen und in den Gärten der zahlreichen alten Villen wirken, als habe ein Maler sie soeben mit leichter Hand nach Lust und Laune gesetzt.

Ich mache Tulpen, Narzissen und Vergissmeinnicht aus, Rhododendren, Goldregen und Clematis. Alles scheint sich wie in einem Wettstreit überblühen zu wollen.

Aus einem der Gärten dringt der intensive Duft von Maiglöckchen zu uns herüber.

In der frisch gestrichenen, weißen Villa nebenan hat heute ein Café mit Gartenbetrieb und Blick auf den See neu eröffnet. Unübersehbar weist ein großes Schild darauf hin. Zur Feier des Tages gibt es kostenlosen Kaffeeausschank. Das kleine, mit Spitzengardinchen und altem Mobiliar nostalgisch eingerichtete Café wirkt urgemütlich. Ein appetitanregender Kuchen- und Kaffeeduft erfüllt die Luft.

»Ich fürchte, wir haben keine Zeit mehr«, stelle ich bedauernd fest, als Julian sein Tempo deutlich verlangsamt und ich seinen sehnsüchtigen Blick beobachte. Kaffee und Kuchen kann er selten widerstehen. Außerdem habe ich ihn ja um seine Schokoriegel gebracht.

Er schaut kurz auf seine Uhr. »Stimmt, das wird zeitlich zu knapp. Aber wir könnten uns wenigstens zwei Stückchen Torte mitnehmen. Was meinst du?«

»Na klar! Ich bin zwar noch satt, aber ein bisschen was Süßes schaffe ich noch. Such du für mich was aus. Am besten etwas mit Obst. Ich warte draußen und behalte die Räder im Auge.«

»Dass du noch satt bist, kann ich mir lebhaft vorstellen. Wäre ich auch nach so einer Schachtel …«

Ähnliches werde ich mir in nächster Zeit wohl noch etliche Male anhören müssen.

Kurze Zeit später ist er mit einem Kuchentablett von den Ausmaßen einer Trabbi-Kühlerhaube wieder zurück.

»Oh nein! Du hast also wieder mal den gesamten Bestand aufgekauft«, stelle ich schmunzelnd fest.

»Ich hab den Kuchen probieren dürfen, er schmeckt einfach fantastisch. Du wirst mir zustimmen. Vor allem der Erdbeerstrudel ist eine Sünde wert. So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Er ist eine Spezialität des Cafés!«

»Und was wir nicht aufessen können«, schlage ich vor, »geben wir nach gegenüber zu den beiden Alten. Du weißt ja, in dieser Phase des Lebens nimmt man Süßigkeiten gern anstatt …«

»Du bist aber ganz schön gehässig.« Julian kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Wir kehren um. Die Luft ist so klar, dass wir mühelos das Wettersteingebirge mit der Zugspitze erkennen können. Diese großartige Aussicht weist eindeutig auf Fönwetter hin.

»Ein herrliches Fleckchen Erde«, schwärme ich. »Wirklich zu schade, dass wir schon so schnell wieder abreisen müssen. Aber wir sollten unbedingt wieder herkommen. Was meinst du?«

Julian stimmt mir zu. »Auf jeden Fall! Wir werden es für das nächste Frühjahr vormerken, dann aber einen längeren Zeitraum einplanen. Wenn es uns im nächsten Jahr noch genauso gut gefällt, könnten wir darüber nachdenken, uns hier in ein oder zwei Jahren vielleicht eine kleines Urlaubsdomizil zu kaufen. Hari und Krishna würden begeistert sein.«

Die beiden sind unsere wahrhaft originellen Haustiere, ein Graupapageiweibchen und ein Karthäuserkater, die wir zurzeit zu Nachbarn in Pflege gegeben haben.

»Oh ja, das wäre natürlich wunderbar!« Diese Aussicht begeistert mich. Sie macht es mir wesentlich leichter, Abschied zu nehmen.

2. Kapitel

Nach der Landung auf dem Flughafen Münster-Osnabrück nehmen wir ein Taxi und lassen uns zum Hauptbahnhof Münster bringen. Dort in der Nähe, bei Bekannten, hatte Julian wenige Tage zuvor auf die Schnelle unseren Wagen parken dürfen. Da sie gerade nicht zu Hause sind, schreibt er ihnen eine kurze Nachricht und wirft sie in den Briefkasten.

Unmittelbar danach geht es weiter über die Hafen- und Moltkestraße, in südwestlicher Richtung stadtauswärts zum Aasee, in die Levin-Schücking-Allee, die etliche Hundert Meter direkt entlang des Ufers verläuft. Ein enorm beliebtes Ausflugsziel, das auch wir gern nutzen, wenn wir keine Zeit für längere Touren haben. Segelschule, Allwetterzoo, Pferdemuseum, Planetarium und Mühlenhof-Freilichtmuseum bieten eine Menge Abwechslung. Darüber hinaus erfuhr der Aasee vor wenigen Jahren viel zusätzliches Interesse, als sich das schwarze Schwanenweibchen Petra auf dem See niederließ. Es erblickte ein weißes Tretboot von der Form eines Schwans, verliebte sich spontan und schwamm dem Boot viele Monate in treuer Anhänglichkeit hinterher.

Wir sehen Claudia bereits von Weitem. Unruhig läuft sie vor ihrem Haus auf dem Bürgersteig hin und her. Wahrscheinlich hat sie es drinnen nicht mehr ausgehalten.

Trotz ihrer imposanten Größe ist die weiße, von Grund auf sanierte Jugendstil-Villa mit ihren kunstvollen Stuckarbeiten und Verzierungen ein sehr einladend und gemütlich wirkendes Haus. In der großzügigen, gepflegten Gartenanlage gibt es noch uralte Bäume. Das ist selten heutzutage, der Trend geht leider zum Abholzen und Verheizen dieser herrlichen Zeugen lang vergangener Tage. Ob den Menschen, die jetzt so leichtfertig mit unseren Holzbeständen umgehen, wohl klar ist, wie lange eine Buche, Kastanie, Eiche, Linde oder Kiefer braucht, um es auf solch eine ansehnliche Größe zu bringen? Viele von uns werden es schon nicht mehr erleben.

Claudia winkt erleichtert, als Julian mit quietschenden Reifen anhält.

»Angeber, elendiger!«, tadle ich ihn, bevor wir aussteigen.

»Ich weiß.« Mir zuliebe tut er zerknirscht. »Du kennst mich ja, manchmal kommt es einfach so über mich. Dabei ist die Domestikation bei mir doch bisher relativ erfolgreich verlaufen!«

»Eben, du sagst es: relativ«, frotzle ich. »Wir sprechen uns diesbezüglich noch.«

»Ich bin unendlich froh, dass ihr so schnell kommen konntet!«

Claudia sieht mitgenommen aus. Ihre schwer zu bändigende lange, fast schwarze Lockenpracht umrahmt ihren Kopf wie eine Löwenmähne. Verquollene, rot geweinte Augen zeugen davon, dass sie diese seit zwei oder drei Tagen und ebenso vielen Nächten nicht mehr zugemacht hat.

Die schwarze Hose ist zerknittert, ein Paar ausgetretene Leinenschuhe und das nicht mehr ganz weiße Polohemd haben auch schon frischere Zeiten gesehen. Claudia scheint es zurzeit egal zu sein, wie sie aussieht.

Mich rührt ihr jammervoller Anblick, und nachdem Julian sie umarmt hat, drücke auch ich Claudia für einen kurzen Moment fest an mich.

Wie es mir wohl gehen würde, hätte man Julian entführt? Schnell schüttle ich diesen schrecklichen Gedanken ab. Wir sind hier, um Claudia zu helfen!

»Kommt rein«, bittet sie uns. »Ich habe gerade frischen Kaffee gemacht. Ihr trinkt doch sicher eine Tasse mit?«

»Gern«, wir nicken zustimmend. So schnell werden wir wohl heute nicht ins Bett kommen.

Entführerschreiben und das halb in Alufolie eingeschlagene Fingerglied dekorieren auf unschöne Weise Helges polierten Nussbaum-Schreibtisch. Ein aufwändig geschnitztes und ansonsten penibel aufgeräumtes, antikes Prachtstück aus der Jugendstilzeit. Es steht als Blickfang vor einem der großen Terrassenfenster.

Ich frage mich, was sich Claudia dabei gedacht haben könnte, die beiden Objekte ausgerechnet dort zu platzieren.

Daneben fällt mir ein gerahmtes Foto ins Auge; es zeigt Helge in stolzer Pose auf einer etwas protzigen, aber durchaus rassigen BMW GS, einem geländetauglichen Motorrad.

Auch Julians Blick wandert zum Schreibtisch.

»Den Brief habe ich sofort in eine Klarsichthülle gesteckt, als ich merkte, worum es geht«, erklärt Claudia.

»Sehr gut«, lobt Julian.

Er zieht Einmalhandschuhe aus seiner Tasche, streift sie sich über und spreizt dann mit spitzen Fingern die Alufolie auseinander.

Das abgehackte, kleine menschliche Körperteil – bleich, runzelig, tot – sieht in höchstem Maße widerlich aus!

Ich bekomme Gänsehaut, gleichzeitig läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.

»Und du bist ganz sicher, dass dieses Fingerglied von Helge stammt?«, fragt Julian.

»Ziemlich sicher. Du kennst doch auch die kleine Narbe an seinem Ringfinger. Die hat er sich vor ein paar Jahren zugezogen, als er mit dem Ehering irgendwo hängen geblieben ist.«

Julian nickt. »Ja, ich erinnere mich. Das war an einem defekten Zaun.«

Dann schnüffelt er ein bisschen. »Das Teilchen sollten wir jetzt aber schleunigst kühl lagern. Ihr habt sicher nichts dagegen, wenn ich das übernehme?«

Ich schüttle wortlos den Kopf.

Claudia rollen Tränen über die Wangen. Noch bevor ich ihr ein Tempo reichen kann, zieht sie ein Taschentuch von der Größe eines Baby-Badehandtuchs aus der Hosentasche.

Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man das als Clown-Nummer präsentieren. Helges Initialen in entsprechend imposanter Größe darauf sind unübersehbar. Schnell wende ich mich ab, presse die Lippen zusammen, muss für einen Moment mühsam ein Lachen unterdrücken.

»Komm, leg dich hin. Versuche, ein bisschen zu entspannen. Du bist ja nun nicht mehr allein.« Sanft, aber energisch drücke ich Claudia in die Kissen auf dem schwarzen Ledersofa, nachdem ich eine der herumliegenden Decken darauf ausgebreitet habe.

Sie lässt es zu. Auch, dass ich ihre Beine hochlege und sie zudecke. Erschöpft schließt sie für einen Augenblick die Augen.

»Danke, das tut gut. Ihr seid so lieb zu mir.«

Julian kommt mit einem Tablett aus der Küche.

Drei von Helges Keramikbechern mit den allseits bekannten Affen-Motiven – nichts sagen, nichts hören, nichts sehen – sind mit dampfendem Kaffee gefüllt. Auf einem Teller hat Julian im Handumdrehen einige Käse- und Wurstschnittchen, Cornichons, grüne Oliven und Cherry-Tomaten arrangiert.

»Langt ordentlich zu, wir müssen bei Kräften bleiben«, ermuntert er uns und greift nach einem Schnittchen mit Käse.

Claudia weigert sich zunächst, isst aber schließlich mit, nachdem wir sie mehrfach aufgefordert haben. Wahrscheinlich damit wir Ruhe geben.

»Und du hast wirklich keinen blassen Schimmer?«, frage ich sie nach dem Essen. »Nicht den allerkleinsten Anhaltspunkt, warum jemand Helge entführt haben sollte?«

Sie schüttelt den Kopf. »Helge hat in letzter Zeit nur noch wenig über seine Arbeit oder Geschäfte gesprochen. Ich gebe zu, irgendwann hat es mich auch nicht mehr besonders interessiert, was er treibt, und ich habe nicht mehr gefragt. Außerdem gibt es in unserer Praxis genügend Problemfälle, sodass ich den Kopf ohnehin voll habe.«

»Und als ihr noch mehr miteinander geredet habt?«, bohre ich hartnäckig weiter.

Claudia überlegt. »Er war schon immer sehr ehrgeizig, hat etliche Beratertätigkeiten in verschiedenen Firmen und sitzt wohl auch in deren Aufsichtsräten. Helge fehlt bei keinem wichtigen Event. Wegen der Kontakte hat er sogar das Golfspielen angefangen.«

Sie verdreht die Augen. »Könnt ihr euch vorstellen, wie ich mich bei den Treffen der sogenannten Golfdamen fühle? Ich halte mich zwar so oft wie möglich raus, aber manchmal muss ich eben in den sauren Apfel beißen und meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen.«

»Was ist mit den anderen Drohbriefen?«, erkundigt sich Julian. »Du hast erwähnt, Helge sei bereits mehrfach bedroht worden.«

Claudia hebt ratlos die Schultern. »Er hat sie immer gleich vernichtet. Hat gelacht und sie dann sofort in seinem Zimmer in den Aktenvernichter gesteckt. Er wollte damit auf gar keinen Fall zur Polizei gehen, wollte sie noch nicht einmal mir zeigen. Ein einziges Mal nur konnte ich einen kurzen Blick auf eines der Schreiben werfen.«

»Und, was stand darauf?«, frage ich gespannt.

»›Wenn du den Mund aufmachst, bist du so gut wie tot!‹Der Satz bestand aus einzelnen, völlig unterschiedlichen, farbigen Buchstaben, wie aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Ein typisches Erpresserschreiben eben.«