Zwischen zwei Welten - Norbert Nachtweih - E-Book

Zwischen zwei Welten E-Book

Norbert Nachtweih

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Beschreibung

Rein ins Taxi. Tür zu. Und los. Die Fahrt über die Galata-Brücke in Istanbul ist am 16. November 1976 die erste spektakuläre Flucht eines DDR-Profifußballers. Es ist die Republikflucht des Junioren-Nationalspielers Norbert Nachtweih, der danach bei Eintracht Frankfurt und Bayern München einer der erfolgreichsten Bundesliga-Profis der 1980er-Jahre wurde und vier Meistertitel, drei DFB-Pokalsiege und einen Europapokal-Triumph feierte. Wäre es nach Teamchef Franz Beckenbauer gegangen, hätte 1990 sogar der Weltmeistertitel hinzukommen können. Als früherer DDR-Auswahlspieler war Nachtweih aber für die legendäre DFB-Elf nicht spielberechtigt. Die Schatten seiner Flucht bekam zunächst vor allem die im Osten verbliebene Familie zu spüren. Nachtweih selbst holen sie erst spät ein, als er erstmals seine umfangreiche Stasi-Akte einsieht. Er erfährt von einer verwanzten Wohnung, unliebsamen Besuchen, falschen Freunden, wilden Anschuldigungen und Plänen, ihn zurück in die DDR zu holen. Und stolpert über den Zufall, dass ausgerechnet Wolf Biermann ihm bei seiner waghalsigen Flucht geholfen hat.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Dieses Buch widme ich meinenEnkeln Joel, Nela, Davi und Ella.

INHALT

DIE CHANCE VON BURSA

HARTE REALITÄT

IM WESTEN

GUT GENUG

BAYERN-LIKE

WENDEJAHRE

FEHLERKETTE

DAS GROSSE GLÜCK UND BITTERE ERKENNTNISSE

DIE CHANCE VON BURSA

Der Amerikaner in der Bar

Die Spätsommersonne ist ein Traum. Ich, der vielleicht größte Traumtänzer des deutschen Fußballs, stehe am Rande der großen Hotelterrasse. Die Millionenstadt Bursa liegt wie ein Teppich vor mir. Der sachte Wind weht den Ruf des Muezzins aus der berühmten Grünen Moschee herüber. Unten auf der Straße sucht eine muntere Hochzeitsgesellschaft den Weg in den Park. Weiter hinten erhebt sich das Uludag-Gebirge. Bis zu seinem Abriss 2016 wäre sogar das Atatürk-Stadion zu sehen gewesen. 45 Jahre nach meinem letzten Besuch bin ich dahin zurückgekehrt, wo das Abenteuer meines Lebens begann. Und bin auf einer Großbaustelle gelandet. Das Celik Palas Hotel, seit seiner Eröffnung in den 1920er-Jahren die erste Adresse für ausländische Besucher der Stadt, wird runderneuert. Inklusive des Hamams, ein großer Kuppelbau mit einem stattlichen Thermalbecken und einer selbst während des Umbaus atemberaubenden Akustik. Sogar die Stille klingt besonders. Angeblich kämen Künstler für Gesangsstunden hierher. Vor Jahren waren Liz Taylor und Audrey Hepburn da, noch früher Kemal Atatürk. Und die DDR-Olympiaauswahl, mit der ich im November 1976 in Bursa mein letztes Länderspiel gemacht habe. Die Reise in meine Vergangenheit beginnt genau hier.

Ganz ehrlich, ich habe kaum Erinnerungen an das alles. Ich weiß noch, dass ich an der Bar saß. Und ich weiß, dass die meisten meiner Mannschaftskameraden sich im Pool vergnügten. Aber ob wir als U21-Nationalmannschaft, in der anders als heute keine Jungmillionäre, sondern echte Junioren spielten, überhaupt in das Thermalbad durften? Keine Ahnung. Ich vermute, den Jungs wird der normale Pool mit Blick über die Stadt gereicht haben. So etwas kannten wir nicht von den Hotels, in denen wir üblicherweise übernachteten: zwischen Ostsee und Erzgebirge. Und schon gar nicht von unseren Vereinen wie meinem Halleschen FC Chemie, in denen wir noch Jugendspieler waren.

Wenige Stunden zuvor hatten wir gegen die Türkei ein 1:1-Unentschieden erreicht. Ich könnte jetzt sagen, dass ich der beste Mann auf dem Platz gewesen war. Aber das wäre gelogen. Denn auch an das Spiel habe ich kurioserweise keine Erinnerungen mehr. Es ist wie ausgelöscht. Schon komisch, weil sich in genau jenen Stunden mein Leben für immer veränderte. Ach, viel mehr: Ich beendete mein altes Leben auf einen Schlag und startete in ein Abenteuer, das eigentlich bis heute anhält.

Dieses Abenteuer beginnt an der Bar. Was ich noch weiß, ist, dass sich mein guter Freund Jürgen Pahl mit einem anderen Hotelgast sehr angeregt unterhielt. Jürgen, unser Torwart, war schon damals ein Außenseiter. Heute würde man sagen, ein Intellektueller, oder mit dem Abstand von ein paar Jahren und einem Augenzwinkern: ein Schwurbler. Aber egal, ich saß da, vor mir eine Cola, die wir von der Delegationsleitung des Fußballverbands genehmigt bekommen hatten. Neben mir Jürgen und ein Amerikaner.

Ein Amerikaner! Natürlich durften wir das nicht. Westkontakte waren den Auswahl- und Klubmannschaften bei Auslandsaufenthalten strengstens untersagt. Vor Reisen wurde uns das immer wieder eingeschärft. Oftmals kam ein Parteisekretär aus Halle zu uns ins Training, um uns auf Linie zu bringen und vor allem zu erklären, was die Imperialisten alles Böses mit uns vorhatten. Er zeigte dann Fotos, Ausschnitte aus der Bild-Zeitung und erzählte, wie das Verbrechen im Westen grassierte. Wie gefährlich es nachts auf den Straßen war. Schuld war immer der Kapitalismus. Der Westen und seine Bruderstaaten waren das Böse, wir die Guten. Schwarz-Weiß, ganz einfach.

An diesem Abend des 15. November 1976 war im Hotel gut was los. Die Türken hatten unsere Delegationsmitglieder unten im Saal des Hotels zu einem Bankett eingeladen. Was waren die nervös. Für den Empfang wollten sie sich rausputzen. Für uns bedeutete diese Ablenkung vor allem ein zweites Getränk. Ich weiß noch, dass ich immer wieder zwischen der Bar und einer Gruppe von Spielern pendelte. Und dass wir glücklich waren, mal eine echte Coca Cola zu trinken. Bier oder andere alkoholische Getränke waren uns strengstens untersagt. Und daran haben wir uns meistens gehalten. Währenddessen vertiefte sich Jürgen, der im Gegensatz zu mir gut Englisch sprach, immer mehr in das Gespräch mit dem Ami, einem Reiseleiter, der am nächsten Tag mit seiner Gruppe weiter nach Istanbul wollte. Ich verstand wenig, bekam aber mit, dass irgendwas verabredet wurde. Es muss 23.10 Uhr gewesen sein, alle anderen Spieler waren schon weg. Auch Jürgen und ich hätten schon seit zehn Minuten auf unseren Zimmern sein müssen, als die schwere Lifttür aufging und einige Delegationsmitglieder erschienen. Als sie uns sahen, zeigten sie mit dem Daumen zum Lift und sagten: „Das kostet!“

Für uns war damit Abpfiff. Ich sehe noch das Gesicht des Amerikaners vor mir, der nicht verstehen konnte, wie wir mit uns umspringen ließen. Uns hat das auch genervt, aber wir mussten uns das gefallen lassen. Als wir aufstanden, flüsterte der Amerikaner Jürgen etwas zu und zeigte uns den Schlüssel mit der Zimmernummer. Es war ein bisschen wie in einem Hollywoodfilm. Wir hatten also eine nächtliche Verabredung, eine streng geheime. Was mich vor eine gewisse Herausforderung stellte. Denn ich teilte mir mit Lutz Eigendorf das Zimmer. Er war Spieler des Stasiklubs BFC Dynamo Berlin. Ein paar Jahre später würde er als Republikflüchtling von der Stasi ermordet werden. Das konnte ich in diesem Moment aber nicht im Geringsten ahnen. Vielmehr war klar, dass ich gerade ihm, dem Spieler des Vereins von Erich Mielke, nichts von der heimlichen Verabredung erzählen konnte. Also sagte ich Lutz, ich würde noch einmal zu Jürgen ins Zimmer gehen. Das war so weit unverdächtig, und auch die Gefahr, dass Lutz mitkommen wollte, bestand nicht. Denn er war ein Einzelgänger.

Als wir um eine Stunde nach Mitternacht zur verabredeten Zeit vor dem Zimmer des Amerikaners standen und vorsichtig klopften, machte er uns sofort auf. Er hatte auf uns gewartet. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whiskey. Ich erinnere mich, dass das Fenster seines riesigen Zimmers, vermutlich eine Suite, geöffnet war und die Gardinen sich leise im Wind bewegten. Und an die Flasche mit den bauchigen Gläsern auf dem Tisch erinnere ich mich auch. Einen Whiskey hatte ich bis dahin noch nie getrunken. Die ersten Schlucke vor einer Reise, mit der ich mein altes – noch junges – Leben hinter mir ließ. Ohne zu wissen, was mich erwarten würde.

Der Traum von der Bundesliga

Ein paar Monate zuvor in Halle an der Saale: Am oberen Boulevard befand sich damals einer meiner Lieblingsorte. Das Casino war eine Mischung aus Vereinskneipe und Verwaltungsgebäude. Unten die Gastwirtschaft, oben Büroräume und Wohnungen für Spieler. Hier, mitten in der Stadt zwischen Hauptbahnhof und Marktplatz, schlug damals das Herz des Halleschen FC Chemie. Getäfelte Wände, vergilbte Gardinen. Urgemütlich. Hier tranken unter der Woche Spieler und Fans an einem Tisch ihr Feierabendbier. In den 1970ern war das ein Wohlfühlort, denn zumindest dem Klub ging es gut. Ich war im Sommer 1971 gerade nach Halle gewechselt und spielte dort in der Jugend. Als Aufsteiger hatte sich der HFC als Oberliga-Dritter zum zweiten Mal für den Europapokal qualifiziert. In der ersten Runde des UEFA-Pokals schaffte Klaus Urbanczyk mit seinem Team ein 0:0 gegen den PSV Eindhoven. Vor dem Rückspiel ereignete sich dann die wahrscheinlich größte Katastrophe des DDR-Fußballs: Im Hotel in Eindhoven brach in der Nacht vor dem Rückspiel ein Brand aus. Beim Versuch, Mitspieler und andere Hotelgäste zu retten, zogen sich einige HFC-Spieler zum Teil schwere Verletzungen zu. Den Nachwuchsspieler Wolfgang Hoffmann haben sie nicht herausholen können, er kam nie aus Eindhoven zurück.

Als Nachwuchsspieler beim Oberligisten Hallescher FC Chemie ging es uns gut. Ziemlich gut. Und das war mir bewusst – mir war klar, dass ich ein privilegiertes Leben führe. Ich habe an der Kinder- und Jugendsportschule nach der zehnten Klasse den Abschluss gemacht und danach eine Lehre begonnen. In der Schule war ich nicht schlecht, trotz der häufigen Ausfälle wegen Trainingslagern und Junioren-Länderspielen. Das Leistungssportsystem der DDR bot hier einige Freiheiten, die ich alle genutzt habe. Und so habe ich nicht mehr gemacht als nötig. Im Englischunterricht war ich beispielsweise ein selten gesehener Gast. Oder, um ganz ehrlich zu sein: Englisch hieß für mich Freistunde. Ich war fast nie da. Wozu sollte ich Englisch einmal brauchen? Eine Antwort hatten die Verantwortlichen in der Kinder- und Jugendsportschule und im Verein darauf auch nicht. Also „easy going“, wie ich heute sagen würde.

Als ich den Schulabschluss in der Tasche hatte und die Lehre als Maschinen- und Anlagenmonteur begann, wurden die Freiheiten noch ein wenig größer. In der DDR hatte jeder Fußballer noch einen offiziellen Beruf. Aber richtig gearbeitet haben die allerwenigsten. Meist wurde die ohnehin geringe Arbeitszeit im Pausenraum mit Kaffee oder in der Chefetage des jeweiligen Kombinats verbracht. Das war nichts anderes als eine Art verschleierter Profifußball. Denn vom Halleschen FC Chemie bekam ich offiziell kein Gehalt, mein Grundeinkommen zahlte der Betrieb. Ob ich da an der Werkbank stand und in der Berufsschule saß oder nicht. Hinzu kamen Prämien für die Oberliga-Einsätze. Und dann bekamen alle Juniorennationalspieler noch regelmäßig Besuch vom „Berliner“ – zumindest haben wir den so genannt. Das war ein Parteifunktionär der SED, der uns regelmäßig besuchte und jedem Auswahlspieler ein Kuvert mit Bargeld in die Hand drückte. Bei mir waren da immer so 200 bis 250 Mark drin. Das war im Osten gutes Geld. Dazu gab es weitere Privilegien. Obst zum Beispiel. Während sich meine Eltern ein paarmal im Jahr für Bananen die Beine in den Bauch standen, da die Obst- und Gemüseläden in den Dörfern nur selten Südfrüchte im Angebot hatten, lebten wir im Überfluss. Wir wurden mit Apfelsinen und anderen begehrten Köstlichkeiten überhäuft, sodass ich bei meinen Wochenendbesuchen die heiße Ware aus Kuba (oder wo auch immer die Früchte herkamen) mit nach Polleben brachte. Damit aber nicht genug. Als Auswahlspieler bekamen wir auch noch Adidas-Schuhe, was ein echtes und vielleicht das wichtigste Statussymbol war. Denn die trugen am Ende nur die Nationalspieler. Alle anderen in der Oberliga mussten die DDR-Fußballschuhe von Ilmia tragen. Die wurden im thüringischen Stadtilm gefertigt und waren sicher nicht schlecht, aber am Ende nicht mehr als ein Verschnitt. Sie hatten entweder einen dicken Streifen wie Puma-Schuhe oder zwei schmale Streifen nebeneinander. Qualitativ konnten die Dinger mit den Adidas-Modellen natürlich nicht mithalten.

Als Fußballer war man schon wer. Alles zusammengenommen, mein Lehrlingsgehalt, die Prämien und die Umschläge des Berliners, kam ich schon mit 16, 17 Jahren im Monat auf knapp über 1000 Ostmark. Damit habe ich etwas mehr verdient als mein Vater, der Bergmann war. Zudem hatten wir kaum Kosten, nicht für die Zimmermiete, kaum für die Ernährung. Und so hatten wir genug, um auch in der Woche regelmäßig in Halle um die Häuser zu ziehen, auch wenn das Angebot überschaubar war. Halle war noch nicht die Studentenstadt wie heute, sondern eine graue Schlafstätte für Schichtarbeiter. Viele Hallenser, gerade diejenigen aus der in den 1960ern auf der grünen Wiese hochgezogenen Neustadt, waren Chemiearbeiter und wurden in aller Herrgottsfrühe mit Bussen in die Großbetriebe nach Leuna, Buna oder Schkopau gekarrt.

Wir Fußballer hatten es da besser. Also waren wir Stammgäste im Palette oder, wie wir sagten: „in der Palette“. Heute finden da immer noch Konzerte und Partys statt. Damals war es wahrscheinlich Halles einziger Nachtclub mit einer großen Bar, tollem Licht, Tanzflächen, Tischen und vor allem langen Öffnungszeiten. Ab und zu ging es auch schon mal handfest zur Sache, da mussten wir Fußballer wiederum aufpassen, um keinen weiteren Ärger zu kriegen. Ganz ehrlich: Dass mit dem Aufpassen ist mir nicht immer gelungen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem tatsächlich die Fäuste flogen. Ein Idiot hatte uns angemacht und ließ einfach nicht locker. Da ich, geschult durch Dorffeste in meiner Heimat und die Raufereien als Kind, das Handwerk beherrschte, verpasste ich dem Typen einen Volltreffer. Dumm nur, dass meine Hand irgendwann anfing, ordentlich zu schmerzen. Mir war klar, dass das Ärger nach sich ziehen würde. Und den konnte ich mir nicht leisten, da wir aufgrund unserer abendlichen Touren unter den Verantwortlichen des HFC nicht nur Freunde hatten. Sie hatten uns und nicht zuletzt mich auf dem Kieker. Ins Krankenhaus zu gehen, war also keine Option. Was sollte ich machen? Mir fiel nichts Besseres ein als bis zum nächsten Training zu warten, bei dem ich mich dann gleich am Anfang gekonnt fallen ließ. Genau auf die Hand. So ein Pech aber auch! Mit dieser Nummer bin ich damals gerade nochmal durchgekommen.

Neben der Palette war eben das Casino unsere Lieblingsadresse. Und mit ein paar Oberliga-Einsätzen auf dem Buckel und dem Wissen, dass wir unseren Weg beim HFC in den nächsten Jahren schon machen würden, veränderten sich unsere Gespräche. Jürgen Pahl, Burkhard Pingel und ich – wir alle spielten mittlerweile in der Olympia-Auswahl – stellten uns immer häufiger diese eine Frage: Sind wir gut genug für die Bundesliga? Heute weiß ich, dass wir vor allem reichlich naiv waren. Nicht wegen der Einschätzung unseres Leistungsvermögens, sondern mit Blick auf mögliche Mithörer. Im Casino ging vermutlich auch die Staatssicherheit ein und aus. Offiziell, aber auch inoffiziell. Da es auch ein Verwaltungsgebäude war, ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Räumlichkeiten sogar verwanzt waren. Aber wir drei jugendlichen Trottel saßen da und dachten laut darüber nach, ob wir das Zeug dazu hätten, mit Beckenbauer, Netzer und Körbel mitzuhalten. Ob und was die Stasi von uns mitbekommen hat, weiß ich bis heute nicht. Und ich werde es wohl nur erfahren, wenn ich mich dazu entscheide, mir meine Stasiakte anzusehen. Denn seit Jahren ringe ich mit mir, ob ich das tatsächlich machen soll. Will ich wissen, was da drinsteht, wer mich verraten und wegen was auch immer angeschwärzt hat?

Sportlich wurden wir schrittweise an die erste Mannschaft herangeführt, für die ich bis zu meiner Flucht immerhin 35 Oberliga-Partien bestritten habe. Wir waren die jungen Wilden, die eine Mannschaft wie unsere gut gebrauchen konnte. Wir waren so ein bisschen ein Versprechen für die Zukunft, um vielleicht auch mal wieder europäisch anklopfen zu können.

Derjenige, der sich aus unserer Gruppe am wenigsten Sorgen in Sachen möglicher Bundesliga-Tauglichkeit machen musste, war Burkhard Pingel. Ein riesiges Talent und dazu ein feiner Kerl. Zu meiner Zeit in Halle war er mein bester Freund und der ungekrönte König des HFC. Oder sagen wir besser Königssohn, mit Blick auf eine goldene Zukunft. Wir beide waren blond. Auffällig blond. Auch weil wir in der Phase fast alles gemeinsam gemacht haben, nannte man uns gern „die Zwillinge“. Im Gegensatz zu mir war er immer etwas zurückhaltender und vorsichtiger. Trotz seines großen fußballerischen Talents war auch er sich nicht sicher, ob er gut genug war für die Bundesliga. Diese Unsicherheit ist übrigens keine Koketterie. In den vergangenen Jahren habe ich viel darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass unsere Zweifel auch damit zu tun hatten, dass die Bundesliga einfach viel besser aussah. Während bei den Oberliga-Spielen, wenn es hochkam, drei Kameras herumstanden und Schwarz-weiß-Bilder lieferten, sah der Bundesliga-Fußball aus wie großes Kino. Es gab Nahaufnahmen, bei denen die Tricks und Finten richtig zur Geltung kamen, mit denen auch viel Atmosphäre eingefangen wurde, während bei uns jedes Spiel im Prinzip gleich aussah.

Der tatsächliche Qualitätsunterschied der beiden Systeme war vielleicht gar nicht so groß. Klar, individuell waren die Stars des Westfußballs den Sternchen aus dem Osten etwas überlegen. Aber für die breite Masse galt das nicht unbedingt. Zumal dort die Qualitäten des DDR-Fußballs zum Tragen kamen: Die Physis, die sehr gute technische Ausbildung und die klaren Vorgaben. Auf der einen Seite gab es also die gut bezahlten Freigeister, auf der anderen die in Stellung gebrachten kickenden Kollektive. Zwei Welten.

Wir drei waren uns in Sachen Bundesligatauglichkeit also nicht sicher. Aber wir sprachen immer mehr von der Bundesliga und malten uns aus, wie es sein würde, dort zu spielen. Und das vor allem aus sportlichen Gründen. Wobei wir ahnten, dass im Westen nicht nur der Fußball anders funktionierte. Ein prägendes Erlebnis war dabei ein Turnier mit einer Junioren-Nationalmannschaft in der Schweiz. Mit unserem Taschengeld, das wir für die Auslandsreisen bekamen, konnten wir nicht viel reißen. Als DDR-Fußballer waren wir zwar privilegiert, allein schon was das Reisen anging, aber sich als Sportler ein richtig schönes Leben aufzubauen, ging nur im Westen. Und so nahm bei jedem unserer Gespräche im Casino, in der Palette und manchmal auch beim Training unser Traum von der Bundesliga mehr und mehr Gestalt an. Wir wollten, wenn wir die Chance dazu bekämen, uns selbst beweisen, dass wir auch da drüben bestehen können.

Alles auf eine Karte

Zurück ins Hotel nach Bursa. Der Whiskey war kaum ausgetrunken, da klingelte schon der Wecker. Der Mannschaftsbus wartete. Mit ihm fuhren wir am Morgen nach Istanbul. Es sollte dann weiter über Budapest nach Ost-Berlin gehen. Am Mittag waren noch zwei Stunden Freizeit auf dem großen Basar in der türkischen Metropole vorgesehen. Ich guckte aus dem Fenster, während draußen alles nur so vorbeiflog: die Hänge mit den Obstbäumen, buntes Laub, karge Feldwege, riesige Plantagen, eine nach der anderen. Der Bus kurvte über die Landstraßen, Serpentinen hoch und wieder runter. Irgendwann war das Marmarameer zu sehen. Eine ausgebaute Fernstraße wie heute gab es damals nicht. Stattdessen ging es durch das Hinterland. Und das dauerte Ewigkeiten. Während draußen die Zeit still zu stehen schien, hatte ich ein Gewitter von Gedanken im Kopf. Machen oder nicht machen? Was, wenn irgendetwas schiefgeht? Was war das für ein Blick von Burkhard? Macht Jürgen einen Rückzieher? Beobachtet mich jemand? Ahnt einer was? Haben die uns in der Nacht vielleicht doch gesehen? Ist mir was anzumerken? Was passiert mit meinen Eltern, meinen Geschwistern? Mit mir? Will ich alles auf eine Karte setzen? Ich hatte doch ein gutes Leben, warum alles riskieren? War ich überhaupt gut genug für die Bundesliga? Dann dachte ich immer wieder an das Spiel des Vortages oder irgendetwas anderes, um nicht durchzudrehen.

Der Plan, der in der Nacht zuvor im Hotelzimmer des Amerikaners geschmiedet wurde, war einfach. Wir sollten ganz normal in den Mannschaftsbus einsteigen, mit der Truppe auf den Basar gehen, ein bisschen mitschwimmen, uns dann zurückfallen lassen und zu einem guten Zeitpunkt in ein Taxi steigen, um damit zu dem Amerikaner zu fahren. Mit ihm hatten wir im Hotelzimmer durchgerechnet, ob das Taschengeld, das wir von unserer Delegationsleitung bekommen hatten, für das Taxi ausreichen würde. Es passte. Jeder von uns bekam bei den Auslandsreisen für Anlässe wie den Basarbesuch immer ein wenig Bares, damit wir etwas mitbringen konnten. Große Reichtümer waren das natürlich nicht. Es war ungefähr so viel, dass es mit etwas Verhandlungsgeschick oder internen Tauschgeschäften für einen Ledermantel reichen sollte. Das war etwas, was es so in der DDR in den 70ern kaum gab. Echtes Leder war sauteuer und oft nur unter der Hand zu kriegen. Um so ein Stück zu bekommen, hast du Kontakte und deutlich mehr Kleingeld gebraucht. Aber klar war auch: Mit so einem Ledermantel hätten wir auf dem oberen Boulevard in Halle, wo das Casino war, oder in der Palette ganz schön was hergemacht.

Der amerikanische Reiseleiter war an diesem Tag ebenfalls nach Istanbul weitergereist. Wir kannten den Namen seines Hotels. Er hatte gesagt, er würde uns dort erwarten und alles Weitere regeln. Im Bus wollten wir kein unnötiges Wort wechseln. Keine Blicke austauschen. Nur keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. So hatten wir es besprochen.

Nach gut drei Stunden Fahrt hielt der Bus an einem großen Platz auf der europäischen Seite der Stadt, unweit der Hagia Sophia, die damals noch ein Museum war, und der Sultan-Ahmed-Moschee. Von dem Platz waren es vielleicht hundertfünfzig Meter bis zum großen Basar. In den Nebenstraßen standen einige Taxis. Bevor wir aussteigen durften, bekamen wir noch die üblichen Hinweise. Wahrgenommen habe ich davon nicht viel, zumindest kann ich mich nicht an Details erinnern.

Ich war nervös, Jürgen Pahl sicher auch. Nur Burkhard Pingel wusste bis dahin noch nichts. Ihn konnten wir erst jetzt informieren. Vor der Abfahrt oder im Bus wäre es viel zu gefährlich gewesen. Kaum waren wir drei unter uns, weihten wir ihn in den Plan mit dem Taxi und dem Amerikaner ein. Das war unsere Chance, von der wir seit vielen Monaten geträumt hatten. Unser Weg in die Bundesliga könnte genau hier beginnen. Hier, zwischen den Ledermantelhändlern, den Schuhverkäufern, den Teppichen und dem Tee. Nur noch rein ins Taxi und ab zum Amerikaner. An Burkhards Blick konnte ich aber erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte.

Noch vor dem eigentlichen Eingang zum Basar gab es wie heute auch ein paar kleine Geschäfte. Wir gingen in den erstbesten Laden rein. Und wieder raus. Da wurden wir auch schon von den nächsten Händlern angesprochen und standen dann bei denen im Laden. Es roch nach Leder, Teppichen, Holz und Tee. Während wir die Entscheidung unseres Lebens treffen mussten, wurden wir von den ganzen Händlern vollgelabert. Wir wurden immer unsicherer und nervöser. Burkhard sprach auf einmal von seinem Opa. Der sei krank, da könne er doch jetzt nicht einfach rübermachen. Ich war platt. Ich dachte, was kommt er jetzt mit seinem Opa?! In den vergangenen Monaten war es nie um den alten Herren gegangen. Nie. Aber jetzt. Ich wurde immer unsicherer. Und dann wurde uns auch noch Tee serviert. In jedem dieser Läden gab es Tee. Ich trinke aber keinen Tee, höchstens wenn ich krank bin. Aber in dem Moment war ich krank. Krank vor Unsicherheit, Zweifel und Angst. Natürlich tranken wir den Tee. Viel zu viel davon. Denn wir kamen nicht weiter. Nicht mit den verdammten Ledermänteln, den Teppichen, die wir sowieso nicht brauchten. Und nicht mit Burkhard.

Mit jeder weiteren Minute, die das Ganze dauerte, wuchsen die Zweifel. Langsam kam der Zeitpunkt der Abfahrt des Busses näher. Mir war klar: Wenn du noch länger darüber nachdenkst, machst du es nicht. Hätte Jürgen jetzt einen Rückzieher gemacht, wäre ich sofort dabei gewesen. Da unser verrückter Torwart aber fest entschlossen war, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, ließ ich mich mitreißen. Außerdem wollte ich nicht als Angsthase dastehen. Als derjenige, der in den Monaten zuvor immer die große Klappe hatte, aber wenn es dann drauf ankam, den Schwanz einzog. Aber ganz klar: Ohne Jürgen hätte ich das nicht gemacht, wofür ich ihm bis heute sehr, sehr dankbar bin. Die Entscheidung fiel in letzter Sekunde, länger hätten wir nicht warten können: Burkhard blieb auf dem Basar. Jürgen und ich stiegen ins nächste Taxi. Tür zu, Jürgen nannte als Ziel den Hotelnamen – und los. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Und zudem musste ich auch noch wie wahnsinnig pissen. Verfluchter Tee, verfluchte Lederjacken, verfluchter Opa.

Was mit Burkhard danach passierte, ist die Schattenseite meiner Flucht. Denn während Jürgen und ich den entscheidenden Schritt zur Erfüllung unseres Lebenstraumes machten, begann für Burkhard ein Albtraum. Es fing am vereinbarten Treffpunkt der Mannschaft an. Da war die Stimmung noch gut. Auch wenn zwei fehlten. Da es sich um Jürgen und mich handelte, war die naheliegende Erklärung, dass wir einfach die Zeit aus dem Blick verloren haben mussten – das hätte zu uns gepasst. Als unsere „Verspätung“ immer größer wurde, wurde gemutmaßt, dass wir uns verlaufen hätten. An „Republikflucht“ dachte da noch niemand. Das kam erst später.

Mit reichlich Verspätung fuhr die Mannschaft zum Flughafen. Und dann begann das große Theater. Die Linienmaschine musste warten, stand mit den übrigen Nationalspielern, der Delegation und den normalen Reisenden stundenlang auf dem Rollfeld. Denn längst war Ost-Berlin informiert, was dazu führte, dass nun die Drähte glühten und nicht nur die türkische Polizei nach uns suchte, sondern auch der KGB, also der russische Geheimdienst. Bei der Delegation herrschte riesiger Stress, plötzlich stand man unter einem irrsinnigen Druck. Den Delegationsmitgliedern wird klar gewesen sein, dass ihre Vereins- und Parteikarrieren genau hier und jetzt endeten. Immer mehr konzentrierte sich das Interesse nun auf Burkhard Pingel. Unser Mitspieler beim HFC, mein bester Kumpel. Mein Zwillingsbruder. Die ärmste Sau.

Nachdem Jürgen und ich mit dem Taxi beim Hotel angekommen waren, nach dem Amerikaner gefragt hatten und dann vor seinem Zimmer standen, wirkte der ziemlich überrascht. Er bat uns aber sofort hinein. Sagte, dass er sich kurz umziehen müsse und wir dann zum amerikanischen Konsulat fahren würden. Als wir dort angekommen waren, schickten die Amerikaner erst einmal ein paar Mitarbeiter in geheimer Mission los, um unsere Delegation zu beobachten. Sie wollten wissen, wie diese Leute reagieren. Und dann auch gleich, wo wir denn in Amerika hinwollen würden. Ich schüttelte freundlich den Kopf und sagte nur: „Bundesliga.“ Meinte damit aber Deutschland. Für die Amerikaner war das kein Problem. Sie sagten, dass sie Kontakt zum westdeutschen Konsulat aufnehmen würden und wir dorthin könnten, sobald unsere Mannschaft die Türkei verlassen hatte. Bis dahin bekamen wir zu essen und zu trinken. Alle waren sehr freundlich und entspannt. Als wir dann später von einem Mitarbeiter des deutschen Konsulats abgeholt worden waren, riss der Kontakt zu dem amerikanischen Reiseführer ab. Ich kann mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern. Was schade ist, denn auch ihm habe ich alles zu verdanken, was danach passierte.

In Istanbul ging es ins bundesdeutsche Konsulat, das den türkischen Geheimdienst einschaltete. Ich habe so viel vergessen, aber keines dieser Gespräche. Das war wie im Film. Einer der Türken hatte einen prächtigen Schnurrbart und rauchte wie ein Schlot. Der Raum war so vollgequalmt, dass wir zum Teil die Wände nicht sehen konnten. Und dann wurde es zäh. Wir selbst hatten uns bis zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken darüber gemacht, ob uns die Türken vielleicht an die DDR ausliefern würden. Dann hätten wir dieses kleine Abenteuer teuer bezahlen müssen. Da sie aber der NATO angehörten, bestand diese Gefahr eigentlich nicht. Dennoch wirkten sie mit der Situation überfordert. Es dauerte Ewigkeiten. Am Ende wurde uns mitgeteilt, dass wir bei einem deutschen Pfarrer versteckt werden würden. Wir sollten uns unauffällig verhalten, nicht vor die Tür gehen, da niemand die Situation und vor allem die Reaktion der Russen und der DDR einschätzen konnte. Vermutet wurde, dass alle Geheimdienste nach uns suchen würden. Es herrschte Alarmzustand.

Jürgen und mir war aber schon am ersten Abend langweilig. Naja, und so sind wir beim Pfarrer abends ausgebüxt und haben ein, zwei Bier getrunken. Das war großartig und irgendwie auch komplett verrückt. Es sah aus wie in einem Film, wir waren am Bosporus, auf der Galata-Brücke und in den wuseligen Straßen und Gassen. Diese orientalische Metropole mit der fremden Sprache, den Rufen der Muezzins, den Gerüchen und dem Lärm überwältigte mich, zumal ich mit meinen 19 Jahren gerade einmal Halle mit seinen vielleicht 250.000 Einwohnern kannte. Außer zu irgendwelchen Fußballspielen war ich noch nicht einmal in Ost-Berlin gewesen. Wir müssen auch aufgefallen sein, im Istanbul der 1970er Jahre. Gerade ich, mit meinen etwas längeren blonden Haaren.

Dass es brenzlich war, erfuhren wir ein oder zwei Tage später. Wir waren am Taksim, dem großen Platz auf der europäischen Seite der Stadt, und sahen dort eine kleine Menschenansammlung. Die Leute standen vor einem Schaufenster und blickten auf ausgehängte Zeitungsseiten. Und wessen Bilder waren in der Zeitung? Genau, unsere. Die türkische Presse hatte Wind von unserer Flucht bekommen. Als wir unsere Fotos in der Zeitung sahen, liefen wir schnell wieder runter zum Wasser, wo wir uns in eine Bar setzten.

Das deutsche Konsulat war von unseren Ausflügen wenig begeistert und brachte uns nach drei Tagen zu einem anderen Pfarrer. Immer noch in Istanbul, aber weit entfernt vom Zentrum. Raus aus der Schusslinie. Hier waren wir zwar auch unterwegs, aber es war sicher nicht so gefährlich. Nach ungefähr zehn Tagen hieß es dann, wir würden zum Flughafen gebracht. Wir sollten uns auf zwei Autos aufteilen. Mit den beiden Wagen wurden wir bis auf das Rollfeld gebracht. Tür auf, Treppe hoch, tschüss Istanbul. Und vor allem: tschüss DDR!

Verrückt waren zwei Dinge. Im Flieger saßen wir neben einem Geschäftsmann aus West-Berlin, der Jürgen und mich offenbar erkannte und uns zu Hertha BSC vermitteln wollte. Er gab vor, er sei wegen uns in Istanbul gewesen. Und er wollte fragen, ob wir nicht Lust hätten, ein Probetraining bei der Hertha zu machen? Ob das stimmte? Keine Ahnung, aber nach West-Berlin wollten wir sowieso nicht. Ich erinnere mich genau an unsere Reaktion: Wir haben ihn gefragt, was mit ihm los sei? Wir gehen doch nicht nach West-Berlin, wo wir an jeder Ecke einen auf die Mütze bekommen könnten, um dann am Alexanderplatz im Osten wieder aufzuwachen. Nein danke!

Und dann ist da noch die Frage, die mich seither immer wieder beschäftigt: Warum hat die Stasi, der KGB oder wer auch immer keinen kurzen Prozess gemacht? In den Tagen in Istanbul waren Jürgen und ich Freiwild. Wie zwei naive Rehe hüpften wir quietschvergnügt über die Lichtung vom Bosporus und brachten uns immer wieder in Gefahr. Gab es eine Order aus Moskau oder Ost-Berlin? Oder waren die mit der Situation überfordert, dass zwei Fußballer ausgerissen waren? Oder waren wir als Talente des Halleschen FC einfach nicht bekannt genug? Oder hatten wir ein paar Schutzengel im Schlepptau?

Diesen Fragen bin ich nie nachgegangen. Erst aus Selbstschutz, und dann, seit der Wende, weil ich Angst hatte, zu viel zu erfahren. Zu viel von Mitspielern, Freunden und Bekannten. Von alten Nachbarn. Vielleicht sogar von nahen Verwandten.

HARTE REALITÄT

Mein großer Bruder

In Polleben ahnte am Tag nach dem Spiel gegen die Türken niemand etwas davon, was sich gerade am Bosporus abspielte. Niemand. Schon gar nicht meine Eltern. Hätte meine Mutter von unseren Phantastereien im halleschen Casino – gut genug für die Bundesliga und so – gewusst, sie hätte mich nicht mehr aus dem Haus gelassen. Ohne Quatsch. Ich wäre in einer Kammer gelandet, mit verriegelten und verrammelten Türen und Fenstern. Schicht im Schacht. Ich hätte ihr sogar zugetraut, dass sie mich bei der Polizei wegen Fluchtverdachts anzeigt. Nicht aus politischen Gründen, nur um sicherzugehen, dass ich nicht „rübermache“.

Die Nachricht von meiner Flucht in Istanbul traf meine Mutter wie ein Blitz. Eine Nachbarin kam angelaufen, stürmte ins Haus meiner Eltern in Polleben und erzählte aufgeregt, dass im Radio gemeldet würde, dass Norbert weg sei. Zwei Junioren-Auswahlspieler. Abgehauen. Bei der Nationalmannschaft. In Istanbul. Republikflucht. Politisches Asyl.

Das Gesicht meiner Mutter habe ich in diesem Moment nicht gesehen. Aber ich kann es mir bis heute lebhaft vorstellen. Es muss der größte Schock ihres Lebens gewesen sein. Aus heiterem Himmel hat sie erfahren, dass ihr Kind weg ist. Nicht tot, aber so ähnlich.

Meine Kindheit war traumhaft. Geboren wurde ich am 4. Juni 1957 in Sangerhausen. Damals wie heute eine Kreisstadt, ungefähr 60 Kilometer westlich von Halle. Wir haben zunächst auch in Sangerhausen gewohnt. In einer normalen Arbeitersiedlung. Mein Vater war Bergmann und meine Mutter hat in den Mifa-Werken gearbeitet. Mifa war eine der beiden Fahrradmarken in der DDR. Diamant stellte die teureren Räder her, Mifa die Drahtesel für jedermann. Meine Mutter war dort in der Produktion tätig. Gewohnt haben wir einfach. Aber es war alles da: Vor dem Haus konnten wir Fußball spielen. Doch dort waren meist die Älteren. Hinter dem Haus, wo die Frauen die Wäsche aufhängten, haben wir Kleineren uns Spielfelder mit Toren zurechtgemacht. Was anderes hatten und brauchten wir nicht.

Im Juni 1963 bekam ich zu meinem sechsten Geburtstag einen Lederball. Einen richtigen Lederball. Das war in der DDR, zumindest in den Verhältnissen, in denen ich groß geworden bin, etwas ganz Besonderes. Den Ball habe ich nicht aus den Augen gelassen, gehegt und mit Lederfett gepflegt. Und natürlich habe ich ihn mit zum Kicken genommen, gerade dann, wenn wir zehn Minuten zu Fuß zum Vereinsgelände von Motor Sangerhausen liefen. Das war gleich hinter den Mifa-Werken. Bei dem Verein habe ich dann auch in der jüngsten Nachwuchsmannschaft gespielt.

Mein Vater selber hat bis zu einer Knieverletzung in der Betriebsmannschaft seiner Bergleute gekickt. Die haben zwar nur unregelmäßig gespielt, aber dafür waren die Feste umso besser. Nach einem Spieltag kam er gern mal ordentlich beschwipst nach Hause. Meine beiden Brüder haben sich nie sonderlich viel aus Fußball gemacht. Uwe, der sechs Jahre älter war als ich, war Boxer. In einer Baracke neben dem Fußballplatz von Motor Sangerhausen hatten die Faustkämpfer ihre Trainingsstätte. Das war Uwes Ding, zumindest das Training dort und da Zeit zu verbringen. Auf Wettkämpfe und allzu viele Regeln hatte er keine Lust. Mein zwei Jahre älterer Bruder Hein war zwar auch in meiner Fußballmannschaft, aber das fußballerische Talent war zwischen uns ungerecht verteilt. Meine große Schwester Jutta trug zu Hause die Verantwortung. Da meine Eltern beide arbeiteten, führte sie das Kommando. Wenn uns Jungs das zu viel wurde, sind wir raus. Dann hatte wieder Uwe das Sagen. Mit ihm und seinen Freunden sind wir dann häufig an die Helme, ein nahegelegener kleiner Fluss. Und dort hatten wir unseren Spaß: nackig baden, Fische fangen und grillen.

Das Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern war sehr gut, die Familienbande waren intakt. Als mein Opa in Polleben gestorben war, verließen wir die Kreisstadt und zogen aufs Land. Polleben liegt idyllisch und verschlafen in einer Talsenke. In fast jeder Richtung waren die Abraumhalden zu sehen. Große, pyramidenartig aufgetürmte Schlackeberge, das Ergebnis harter Arbeit. Schon vor 600 Jahren wurde in dieser Gegend Kupferschieferbergbau betrieben. Aus vielen kleinen Abraumhalden sind in DDR-Zeiten dann riesige Spitzkegelhalden geworden. Wir wollten vor allem meiner Oma mit den Tieren helfen und zudem hatten wir dort für uns als Familie einfach mehr Platz. Wir lebten nun auf einem Mini-Bauernhof. Wir hatten Schweine, Hühner, Gänse und über 50 Karnickel. Zudem wurde im Garten noch alles Mögliche angebaut: Tomaten, Gurken, sogar Stachelbeeren hatten wir. Wie so viele andere Leute in den ländlichen Regionen der DDR waren wir Selbstversorger. Im Keller stapelten sich die selbst eingekochten Gläser mit Obst, in der Räucherkammer lagen die selbst geschlachteten Fleisch- und Wurstwaren. Bis auf Mehl und Zucker und vielleicht mal Brot und Brötchen mussten wir nicht viel kaufen.

Polleben war ein Wohlfühlort, 1960 wurde die Gemeinde sogar als schönstes sozialistisches Dorf des Landes ausgezeichnet. Statt Autos, die in den 1960er-Jahren noch Seltenheitswert hatten, waren auf den kleinen Straßen rund ums Haus alle möglichen Tiere unterwegs: Hunde, wilde Katzen, aber auch Hühner und Gänse. Und natürlich wir Kinder. Einen Steinwurf entfernt war das Freibad – mehr oder weniger ein Pool, so klein, wie es war. Aber es war umgeben von einer schönen Wiese mit ein paar Bäumen. Ein traumhafter Ort, wo sich die Leute trafen. Wäre ich nicht Fußballer geworden, wäre ich gern der Bademeister gewesen. Aber es sollte anders kommen.

In Polleben habe ich auch Fußball gespielt, bei unserem kleinen Fußballverein im Ort. Richtig große Erfolge hatten wir keine, dafür jede Menge Spaß. Wir waren eine echte Dorftruppe und ich war der, der die Tore schießen musste. Stark waren wir besonders in der Halle, weil wir da nicht so viele Spieler brauchten. Mit Traktor Polleben sind wir in meinen Altersklassen regelmäßig Hallenmeister im Kreis geworden, weshalb wir zu den Bezirksmeisterschaften fahren durften, wo dann die deutlich größeren Klubs mit von der Partie waren. Bei diesen Turnieren in Halle wurde ich relativ früh gesichtet. Zudem spielte ich auch in der Schüler-Kreisauswahl. Einmal die Woche bekam ich daher ein Extra-Training in Eisleben, der nächstgelegenen größeren Stadt. Der Liga-Alltag fand aber in Polleben statt, mit den Nachbarskindern und auch mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Hein. Es war herrlich. Zu den Auswärtsspielen sind wir meistens mit dem Fahrrad gefahren. Da es im Mansfeldischen, unweit vom Harz, schon recht hügelig ist, waren etliche dieser Fahrten im Grunde eigene Trainingseinheiten. Berg hoch, wieder runter, ins nächste Tal und nach dem Spiel wieder zurück. Meistens nahm ich das uralte Rad meines Großvaters. Ein riesengroßes Stahlross, an dem fast alles klapperte. Manchmal wurde uns aber auch die Ehre zuteil, chauffiert zu werden. Dafür gab es einen LKW mit zwei Sitzbänken aus Holz auf der Ladefläche. Der Motor tuckerte wie der von einem Traktor. Aufbau-Wagen hieß die Kiste. Damit konnten wir natürlich Eindruck schinden, so etwas hatte nicht jeder Verein. Und wenn wir an unserem Ziel ankamen, waren wir auch praktisch aufgewärmt: Jeder Muskel war mehrmals durchgeschüttelt worden. In meiner Liga bin ich sportlich auf jeden Fall aufgefallen. Auch in der Kreisauswahl, mit der wir dann an Bezirksmeisterschaften teilnahmen. Auch da hatte ich als Stürmer einen klaren Auftrag: „Norbert, Tore machen.“

Je älter ich wurde, desto kleiner wurde Polleben. Aus rein sportlicher Sicht. Der normale Weg war, delegiert zu werden, und so wechselte ich in der Jugend zur BSG Mansfeld-Kombinat Eisleben. Dort konnte ich etwas höherklassiger spielen und hatte zum ersten Mal einen richtig guten Trainer. Aber der Aufwand war schon enorm. Meistens bin ich die sieben Kilometer mit dem Rad zum Training gefahren. Manchmal auch mit dem Bus. An den Wochenenden, an denen kaum Busse fuhren, wurde ich sogar mit dem Taxi abgeholt. Heute kann ich nicht mehr sagen, weshalb ich nach knapp zwei Jahren wieder zurück zum Verein nach Polleben gegangen bin. Es gab weder sportliche noch disziplinarische Gründe. Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Und es war auch nicht so, dass ich das Gefühl hatte, irgendeine Chance vertan zu haben. Später einmal als Fußballer Karriere zu machen, hatte ich jedenfalls nicht im Sinn. Ich habe gespielt, weil es Spaß machte. Mir fiel das alles leicht, technisch war ich immer schon gut: Ich konnte gut dribbeln, gut schießen und war schnell. Beidfüßig war ich auch, weil ich das für mich trainiert hatte. Völlig aus eigenem Antrieb heraus. Denn mir fiel bei Fußball-Fernsehübertragungen auf, dass die meisten Kicker alles immer nur mit einem Fuß machten. Warum nicht mit beiden, habe ich mich gefragt, und hab im Training instinktiv mal alles mit links und am nächsten Tag alles mit rechts gemacht. Am Ende war ich beidfüßig.

Das erste große Turnier, das ich als Fernsehzuschauer bewusst miterlebte, war die Weltmeisterschaft 1966 in England. Damals war ich neun. Ich erinnere mich, wie mich Vater rief, als ich gerade mit einer Nachbarin draußen auf der Kopfsteinpflasterstraße Federball spielte. „Reinkommen“, hat er gesagt, „jetzt läuft Fußball.“ Von da an habe ich immer alles geschaut, was im Fernsehen kam. In erster Linie meine ich damit die ARD-Übertragungen. Das ZDF konnten wir in Polleben nicht empfangen. Das war vielleicht das größte Manko im Vergleich zu unserem vorigen Leben in Sangerhausen. In die Stadt hat es das Antennensignal problemlos geschafft, aber nicht mehr zu uns ins Tal. Überflüssig zu erwähnen, dass wir als treue und stolze DDR-Bürger das Westfernsehen eigentlich ignorieren mussten. Den Teufel haben wir getan! Und natürlich haben wir der BRD-Auswahl die Daumen gedrückt. Die DDR war in der Qualifikation an Ungarn gescheitert. Damit war der Blick auf die Leistungen des späteren Finalteilnehmers frei.

Später durfte ich sogar unter der Woche abends die Europapokal-Übertragungen anschauen. Dafür hat mein Vater großzügig Ausnahmen von der sonst geltenden Schlafenszeit gemacht. Zumal ich als Schüler in Polleben nie Probleme machte. Im Gegenteil: Ich gehörte immer zu den Besten in der Klasse, obwohl ich nie mehr als nötig für die Schule machte. Mein Trick war, dass ich im Unterricht gut aufpasste. Was ich da mitbekam, reichte, um am Ende gut abzuschneiden.

An der Pollebener Schule war ich ohnehin der Hahn im Korb. Die Lehrer liebten mich. Und ich genoss auch einige Freiheiten. So hatte ich in unserem Klassenraum im Erdgeschoss den besten Fensterplatz, der gerade in den warmen Monaten Gold wert war. Denn bei schweren Klassenarbeiten schrieb ich manches Mal Fragen auf einen kleinen Zettel, den ich an ältere Schüler weitergab, die vor dem Fenster standen. Und nach ein paar Minuten bekam ich die Antworten durchs Fenster hereingereicht.

Mein sportliches Talent war mein großes Plus. In der DDR wurde großer Wert auf Wettkämpfe aller Art gelegt. Überall haben wir als Schule mitgemacht. Ich war immer dabei. Von den klassischen Leichtathletik-Disziplinen über den modernen Dreikampf, der aus Laufen, Schießen und Schwimmen bestand, bis hin zu den Ballsportarten. Zeitweise war ich sogar in unserem Schießsportverein in Polleben. Dessen Schießstand war in der oberen Etage unserer Schule. Die Medaillen und Urkunden zu den Erfolgen aus den ganzen Wettkämpfen gab es dann meistens beim Fahnenappell auf unserem Schulhof. Das war immer ein furchtbar feierlicher Akt. Klassenweise nahmen wir Aufstellung, vorne stand der Direktor. Und im Schatten der DDR-Fahne und der Flagge der Thälmann-Pioniere wurden die Besten unseres Schülerkollektivs ausgezeichnet. Ohne Übertreibung: Ich habe so viele Auszeichnungen bekommen, ich konnte das gar nicht alles nach Hause tragen.

In meiner Freizeit haben wir Kirschen geklaut. Oder Äpfel. In jedem Fall musste ein kleiner Nervenkitzel dabei sein. Dann schmeckte das Obst, das wir gewöhnlich in rauen Mengen selbst zu Hause hatten, umso besser. Der Rest spielte sich zwischen dem Kino, der Schule, dem Freibad, dem Fußballplatz und den Wiesen rund ums Dorf ab. Und natürlich haben wir auch Mist gebaut, aber alles im Rahmen.

Bei meinem ältesten Bruder Uwe war dieser Rahmen schon immer etwas weiter gesteckt. Uwe war seit frühester Jugend auf Krawall gebürstet. Als wir noch in Sangerhausen wohnten, war er im Boxverein aktiv. Wettkämpfe oder Medaillen interessierten ihn aber nicht. Er wollte nur lernen, seine Fäuste richtig einzusetzen. Und das konnte er. Dazu war er ein mächtiger Brocken, breite Schultern und sehr kräftige Arme. Ein Freund vieler oder großer Worte war er nicht, was man ihm auch ansah. In dieser Zeit kam es öfter zu Schlägereien. In einem der Dörfer im Umland war an einem Tag am Wochenende eigentlich immer Disko – mal bei uns „offem Saal“, wie es hieß, oder eben woanders. Und dann kam es irgendwann fast zwangsläufig zur Schlägerei. Die Dorfrüpel von dort gegen die anderen. Im Prinzip war das Sport. Mit meinen 13 Jahren war ich da mehr oder weniger Zaungast. Aber ich weiß, wie meine Mutter darunter gelitten hat. In den Nächten, in denen wir Kinder unterwegs waren, hat sie kein Auge zugemacht. Sie saß in der Küche und wartete. Am längsten musste sie auf Uwe warten. Und nicht selten kam er mit zerrissenen und blutverschmierten Klamotten nach Hause. Wobei: Uwe hat immer mehr ausgeteilt, als er einsteckte.

Mit 19 Jahren bekam mein Bruder die Quittung. An diesem Abend war in Polleben Tanz, es floss eine Menge Bier und natürlich flogen die Fäuste. So, dass die Polizei gerufen wurde. Uwe war das egal und er machte bei den Beamten weiter. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Die Strafe dafür hieß: ein Jahr Arbeitslager in Bautzen. Ich wusste nicht viel darüber, aber ich hatte gehört, dass Bautzen die schlimmste Ausfahrt war, die du in der DDR nehmen konntest. Für uns als Familie war das hart. Und natürlich bestätigten sich unsere Befürchtungen: Er kam härter wieder raus, als er rein ging. Viel härter. Wobei er über seine Erlebnisse in Bautzen kaum gesprochen hat. Als er nach einem Jahr wieder nach Hause kam und in der Küche stand, zog er nur sein Hemd aus: Er war überall tätowiert. Im Knast haben sie das selber gemacht. Es sah furchtbar aus. Dass es nicht noch schlimmer kam, lag an Anita. Sie ist Uwes Lebensglück. Die Frau an seiner Seite. Damals und heute. Sie hatte es nie leicht, aber sie hat es geschafft, dass der brodelnde Vulkan zur Ruhe kam und abkühlte. Als Uwe aus dem Knast zurückkam, war ich auf dem Sprung in den echten Fußball.

In meinen Jugendmannschaften schoss ich alles kurz und klein. Ich vermute, ich habe in einer Saison 70 oder 80 Tore geschossen. Ohne große Mühe. Bei einem Hallenturnier in Wolfen, an dem wir mit der Kreisauswahl teilnahmen, wurde ich von Leuten vom Halleschen FC Chemie angesprochen. Die sagten, ich solle an die Sportschule nach Halle kommen. Mit 14 Jahren änderte sich dadurch mein ganzes Leben: Statt im beschaulichen Polleben lebte ich jetzt in der Bezirksstadt. Samstags kam ich nach den Spielen mit meiner HFC-Jugendmannschaft zurück nach Hause. Knapp 30 Stunden Familie, Heimat, Freunde. Den Rest der Woche ging es um Fußball. Wenn wir auch am Sonntag ein Spiel hatten, stellte das für mich oft ein Problem dar, weil zu dieser Zeit der Bus öfter mal gar nicht kam, nicht hielt oder sich verspätete. Mir half der Mann meiner ehemaligen Klassenlehrerin, Frau Stückler. Sie und ihr Mann waren unsere Nachbarn. Und Herr Stückler arbeitete, glaube ich, auch an meiner alten Pollebener Schule. Auf jeden Fall besaß er ein Auto und fuhr mich. Ich musste nur fragen.

Diese Fahrten in dem Wartburg waren echter Luxus. Zumal es in dem Wagen schon ein Autoradio gab. Die gut halbstündige Fahrt verging wie im Flug. Wir unterhielten uns über den bevorstehenden Gegner. Und natürlich über die Schule und mein Leben in Halle. Dazu lief Musik. Ich merkte, wie stolz er und seine Frau waren, dass ich es aus unserem Dorf bis nach Halle und an die Sportschule geschafft hatte. Ich glaube, Herr Stückler mochte mich, und ich war ihm sehr dankbar, denn er hat mir ungemein geholfen. Ohne ihn und seine Absicherung bei Busausfällen hätte ich die Wochenenden mit Sonntagsspielen auch im Internat verbringen müssen.

Schulisch lief es nicht mehr so gut. Ich kam zwar durch, machte aber nicht mehr als nötig. Es blieb ja kaum Zeit. Neben dem sportlichen Programm an der Sportschule hatten wir das Vereinstraining, die Ligaspiele und dann kamen immer noch die Maßnahmen mit den DDR-Auswahlmannschaften dazu, für die ich nun auch noch nominiert wurde.

In Halle wehte ein anderer Wind. Als ich das erste Mal die Kabine auf dem Trainingsgelände am Gimritzer Damm betrat, lag dort ein Typ auf den Holzbänken und schlief. Die Beine lang, den Kopf auf den verschränkten Armen abgelegt. Das war Jürgen Pahl. Mein späterer Mannschaftskamerad, mit dem ich Jahre später in das Abenteuer meines Lebens aufbrechen sollte. Das lag damals natürlich noch außerhalb jeder Vorstellung. Jürgen kam aus Teuchern, einer Kleinstadt zwischen Leipzig und Gera, was bedeutete, dass Familienbesuche an den Wochenenden keine einfache Angelegenheit waren. Ich schaute den schlafenden Typen vorsichtig an und musste etwas schlucken. Jürgen war schon damals ein ziemlicher Büffel. Und mir war alles andere als wohl dabei, so einen als erste Amtshandlung aus den süßen Träumen zu holen. Aber zu spät, ich stand da in der Kabine. Und Jürgen kam langsam zu sich. Ganz gemütlich, ganz ruhig, nicht aggressiv, aber irgendwie komisch. Viele Worte haben wir nicht gewechselt, zumal er der Torhüter des Jahrgangs über mir war. Wenig später bekam ich mit, dass Jürgen im Ruf stand, ein etwas schräger Vogel zu sein. Er galt als Einzelgänger und etwas sonderbar, was man noch heute vielen Torhütern und Linksaußen nachsagt. Wir hatten zunächst einmal wenig miteinander zu tun, was sich mit den Berufungen zur U19- und U21-Nationalmannschaft allerdings änderte.

Mein bester Freund wurde sehr schnell Burkhard Pingel. Ein Riesentalent, ein Zauberfuß. Mit ihm habe ich nahezu alles gemeinsam gemacht während meiner Zeit in Halle. „Zwillinge“ haben sie uns genannt. Und es lag sicher auch an ihm, dass ich in Halle nie Heimweh nach Polleben hatte. So wie es war, war es gut. Ich kam zurecht und konnte mich mit der neuen Situation gut anfreunden.

Das Verhältnis zu meiner Familie blieb dennoch herzlich und innig. Auch wenn wir uns von nun an nur noch wenig gesehen haben. Aber wenn ich da war, habe ich die Zeit mit meinen Geschwistern und meinen Eltern intensiv genutzt. Diese paar Stunden in der Woche, die ich in Polleben hatte, waren etwas ganz Besonderes. Ich tauchte ab in meine späte Kindheit, jeder Schritt war vertraut, jedes Gesicht bekannt. Während meine Welt immer größer und anders wurde, änderte sich in meiner Heimat nichts. Das gab mir Halt. Die Höhepunkte waren die großen Feste, allen voran Weihnachten. Bei uns gab es die Tradition, dass nach der Bescherung die Frauen ins Wohnzimmer gingen, um Fernsehen zu schauen. Wir Männer, auch ich als Jugendlicher, sind in der Küche geblieben und haben mit meinem Vater und meinen zwei Brüdern Skat gespielt. Das hatte mir mein Vater schon vor der Grundschule beigebracht und ich war ziemlich gut darin. So gab es für mich zweimal Geschenke, einmal ganz normal am Nachmittag bei der Bescherung, das zweite Mal am Abend, wo natürlich um ein bisschen Geld gespielt wurde. Mein Vater wirkte an diesen Abenden so, als sei er stolz auf mich, auch wenn ich ihn und seine anderen Söhne nass gemacht habe. Er hat das nie so gesagt, aber das musste er auch nicht.

Es war aber auch nicht immer Festtagsstimmung im Hause Nachtweih. Mein Vater konnte auch mal laut werden. Auch mir gegenüber. Zum Beispiel wegen meiner langen Haare, die ich als Jugendlicher später trug. So etwas gefiel ihm gar nicht, das passte nicht in seine Welt. Aber eben in meine, und ich war standhaft genug, solche Konflikte auch einmal auszufechten. Zumal ich den Großteil der Woche meine Beine ohnehin nicht unter den väterlichen Küchentisch stellte, was vieles einfacher machte.

Im Nachhinein kann ich sagen, dass die Zeit in Halle und das Leben in der Sportschule für mich eine gute Vorbereitung auf das waren, was noch kommen sollte. Denn ich war es seit meinen Jugendtagen gewohnt, mehr oder weniger allein klarzukommen. Zumindest ohne die regelmäßige Mutterliebe, den Zoff mit den Geschwistern oder den anerkennenden Blick des Vaters. Unfreiwilliger Nebeneffekt des DDR-Sportfördersystem war diese Selbstständigkeit beziehungsweise das frühe Erwachsenwerden.

Meine Eltern wiederum waren auf all das weniger vorbereitet, was ihnen ab dem 16. November 1976 bevorstand. Meine Flucht in Istanbul erschütterte ihr Leben wie ein Erdbeben. Zumal sie für die damalige Zeit fast schon zu den Alten zählten: Mein Vater war 50 und meine Mutter 46, in der DDR und insbesondere auf dem Dorf waren die Rente und ein mehr als ruhiger Lebensabend damit nicht mehr fern. Dank mir herrschte nun aber Aufregung in und um den kleinen Bauernhof in Polleben. Als hätte der freche Norbert alle Gatter- und Käfigtüren aufgerissen, um mit wildem Geschrei alle Tiere aufzuschrecken.