Zwischenland - Martin Merz - E-Book

Zwischenland E-Book

Martin Merz

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Beschreibung

Der Titel Zwischenland steht nicht nur als poetische Metapher für die vorliegende Textsammlung, er bezeichnet auch zugleich einen Standort, den Martin Merz während seines Lebens nie ganz verlassen hat. Der bekannte Schweizer Autor Klaus Merz sagt über das Schreiben seines früh verstorbenen behinderten Bruders: "Er blieb von allem Anfang an durch Krankheit in die Enge verwiesen, eine Enge, die er aber mit Hilfe seiner Sprache immer wieder sprengte. Davon legen seine Gedichte, die er direkt in die Maschine schrieb und nicht mehr veränderte, eindrücklich Zeugnis ab. In diesen Texten haben wir es mit Erfahrungen, gelebten und geträumten, mit zur Sprache gekommenen Hoch- und Abrechnungen eines im Wortsinn außerordentlichen Dichters zu tun, der bei aller märchenhaften Versponnenheit auch die Todesschwelle nie aus den Augen verlor. Im Frühjahr 1983 starb Martin Merz. 33jährig. Wer geht, bleibt in Bildern, heißt die Schlußzeile eines seiner Gedichte. Sie gilt jetzt für ihn." Die Gedichte und Prosatexte in 'Zwischenland' werden begleitet durch ein Vorwort von Klaus Merz und einem ausführlichen Essay der Literaturkritikerin Esbeth Pulver, die sich intensiv mit dem Werk der Dichterbrüder Martin und Klaus Merz auseinandergesetzt hat.

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Seitenzahl: 53

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Martin Merz: Zwischenland

Martin Merz

ZWISCHENLAND

Die gesammelten Gedichte

Mit einer Hommage von Klaus Merzund einem Nachwort von Elsbeth Pulver

Der Verlag dankt dem Regierungsrat des Kantons Aargau für die großzügige Unterstützung dieses Buches.

© 2003

HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu

unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag

freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3794-5

Umschlag: Benno Peter, Zeichnung von Heinz Egger

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Klaus Merz

SCHNELLER KANN MAN NICHT REISEN

Zum Gedicht „Nachtschatten“ meines Bruders Martin Merz

Nachtschatten

Salz ist im Meer.

Sterndämmer

reisst mich in die Tiefe.

Ich erwache

unter Stimmen,

die Lieder vom Meer

singen.

Grün leuchtend im

Grau des Regens

Bänder von Algen.

Braun falten Schnecken

die Fühler zum Gebet.

Der Sternenkranz

hat viele Lichter.

Stau vor dem Gotthardtunnel. Und beim mörderischen Radwechsel auf der italienischen Autobahn, Stunden später, bleiben die Sandalen im aufgeweichten Asphalt kleben. Die Fahrt zieht sich hin, bis wir, geteert und gerädert, gegen Abend endlich an der ligurischen Küste die Zimmer beziehen.

Aber all diese Strapazen erspart uns der Dichter und stellt uns schon mit dem ersten Satz in den Schatten. Ans Meer. Schneller kann man nicht reisen.

„Salz ist im Meer“, stellt er lapidar fest und reisst uns dann, noch bevor es in Wunden und Augen zu brennen anfängt, schnurstracks in die Tiefen seines Himmels hinab. Ohne Stau, ohne Schnorchel geraten wir in den Sog seiner Worte hinein. Aber wir haben ja alles dabei, was es für diesen Tauchgang braucht: Ein Gehör, zwei Augen, den geräumigen Kopf für die Bilder, ein Herz.

Wer auf dem Kopf gehe, habe den Himmel als Abgrund unter sich. Man erinnert sich unwillkürlich an den umwerfenden Satz aus Celans Büchnerrede. Und geht an ihm mit Lenz durchs Gebirg. — Oder sieht sich jetzt doch genötigt, dem innerfamiliären Interpreten ein wenig auf die Füsse zu schauen, weil man meint, da versteige sich einer. — Nein, da war bei diesem jungen Dichter aus dem Mittelland nichts mit Gehen und Steigen, sein Kopf war von Anfang an zu gross geraten, zu schwer, auch für eine ordentliche Schulbildung — jedoch mit Hallräumen versehen für die Lieder vom Meer.

Am ersten März 1974 hockt Martin am Tisch vor seiner meergrünen Olivetti und hackt den „Nachtschatten“, als diktiere ihm einer den Text, mit zwei Fingern aufs Blatt. Korrigiert wird im nachhinein, wie immer, kein Wort. Aber im Schreibfenster der Maschine zieht sich das abgewetzte Farbband nun unverhofft als grün leuchtende Alge durch den grauen Tag, und der Dichter kommt schreibend — und nur so — langsam wieder auf die Füsse. Er kriegt überwasser und entlässt uns, wie er uns zuvor mit dem ersten Satz in die Pflicht seiner Worte und Bilder genommen und in die Tiefe gerissen hat, mit einem augenzwinkernden letzten Satz rasch und ohne zu klammern — was nur absolut Schwindelfreien möglich ist aus der Zauberhaft seines Gedichts.

Die Demut der Schnecken, dieser eigenartig langsamen, ziemlich ortsgebundenen und doch autonomen Wesen, kommt über ihn. Und die Lichter der Gestirne, der anderen Welten treten jetzt deutlich aus ihrem anfänglichen Dämmer hervor: Sie markieren auch, eigenartig versöhnlich, die schillernden Stirnen der vielen Kostgänger des Herrn. Von ihm. Von uns.

Aigues-Mortes, 1971 (Foto: Selma Merz)

Gedichte eines Kindes, 1968

Zwei Welten

Ich schwebe in zwei Welten.

Meine zweite Welt öffnet sich,

wenn andere Schlaf suchen.

Meine Gedanken leben,

wenn ich sie in meiner Stimme

ihre Worte suchen lasse.

Mitten in Nacht und Stille

werden die Gedanken zu Worten.

Ich lebe in zwei verschiedenen Welten.

Jede kennt die Gedanken der anderen.

Ich werfe die Samen aus,

die diese Welten erblühen lassen:

die Worte und Taten im Licht des Tages,

die Gedanken in der Finsternis.

Der Schlaf löscht das Licht des Tages.

Ich werde im Traum

die Gestalten erkennen.

Staunen

Ich staune

über die Traumzeit,

die mich sucht.

Traumzeit

auf dem leuchtenden Zifferblatt

einer Uhr,

die still steht.

Ihr Stillstehn

ist schön.

Man denkt nicht an die Wirklichkeit.

Es würde mir leid tun.

Das Staunen meiner Kindheit:

Etwas,

das ich nie vergessen kann.

Zerbrochen

Ich

zwischen Tagen fast

auf Flügeln schwebend.

Meine Tränen zu Perlen erstarrt,

und eine Kette daraus gefügt.

Sie ist auf den Boden gefallen

und zerbrochen.

Alle Träume sind tot,

die Kette der Tränen

nicht mehr hier.

Ich werde sie nicht suchen.

Licht

Die Kerze,

die im Dunkel leuchtet

und die ich nie sah.

Ein Kranker

flieht aus der Angstwelt.

Er sucht

die versunkenen Spuren

seines Glücks.

Nur Steine

Gefühllos.

Ich schleppe mich durch die Tage.

Was mich drückt:

Es sind Steine für die Lebensmauer,

an denen ich schwer

zu tragen habe.

Ich baue mir aus ihnen

eine undurchdringliche

Mauer.

Ich suche die Tage,

da die andern tot sind,

in die Träume zu steigen,

für die keine Zeit war.

Alles von Gestalten umgeben,

die mir ihre Pforte öffnen.

Schmetterlinge sehend,

die ich im Traum singen hörte.

Ich verstand sie nicht.

Schritte

Dort, wo

die Tage ihre Namen nicht kennen,

tönen die Schritte

so, als wären sie

untergegangen.

Untergegangen

und in toten Wegen

fortgeworfen worden.

Tote Wege,

deren Spuren

in weiter Vergangenheit

noch sichtbar sind.

Sichtbar und doch

unbeschreitbar,

dass es nicht von Vernunft zeugt,

wenn wir uns nähern würden.

Im Garten

Herbst.

Die Blätter der Bäume

sind abgefallen.

Wenn der Mantel der Bitterkeit

fällt

und die Fragen nach dem Tod

nicht mehr ängstlich gestellt werden,

suche ich den Weg,

der noch begehbar ist.

Regentag

Ich schreite durch die nassen Strassen

und weiss doch nicht warum.

Es ist das zwecklose Schreiten über Wege,

die man längstens kennt.

Durch die alten Strassen und Gässchen,

wo jeder dich beim Namen ruft.

Doch, kommst du wieder nach Hause, so

sagst du:

Ich war an der Luft.

Parkmusik

Wir treffen uns

an der ersten Ecke

der unbevölkerten Strasse.

Er kommt,

und wir gehen zu zweit

in den nahen Stadtpark.

Wir sind ganz allein.

Eine Kapelle spielt.

Die Figuren des Brunnens

werden lebendig

und beginnen

ihren stummen

Tanz.

Gespräch in der Höhle

Das Wasser in Felswänden tropft,

tropft monoton.

Sonst alles still.

Die Herzschläge werden hörbar.

Eine Fledermaus

hängt leblos

von der Decke herab.