Apfelherbst - Cathy Bramley - E-Book

Apfelherbst E-Book

Cathy Bramley

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Beschreibung

Es duftet nach Apfelkuchen, Zimt und Liebe

Gina arbeitet als Tagesmutter in einem urigen Cottage auf dem Gelände von Evergreen Manor, einem wunderschönen viktorianischen Anwesen, umringt von alten Apfelbäumen. Hier leben auch drei ältere Herrschaften, die den Trubel mit den Kindern genießen und für Gina zur Familie gehören. Als Gina auf der Straße mit dem attraktiven Amerikaner Dexter zusammenstößt, beginnt es sofort zu kribbeln. Doch dann erfährt sie, dass Dexter zu den Eigentümern von Evergreen Manor gehört, die das Anwesen verkaufen wollen. Sie setzt alles daran, dass sie und ihre Freunde hierbleiben dürfen. Während zwischen ihr und Dexter die Fetzen fliegen, muss Gina sich jedoch fragen: Kann sie ihr geliebtes Zuhause retten und ihr Herz noch dazu?

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Seitenzahl: 613

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Das Buch

»In das Welcome Cottage hatte ich mich sofort verliebt. Es gehörte zu Evergreen Manor, einem großen viktorianischen Haus am Rand des Dorfs, das auf halbem Weg den Berg hinauf lag. Früher war es einmal das Pförtnerhaus gewesen und stand am Fuß der langen Auffahrt zum Haupthaus. Es hatte zwei Schornsteine, alte Fenster, die aus lauter kleinen Glasrauten bestanden, und hübsche muschelförmige weiße Holzschindeln, wie Spitzentaschentücher, die alte Damen gerne in ihrem Ärmel trugen.

Violet Rose, meine betagte Vermieterin, lebte mit zwei Freunden in Evergreen Manor. Sie bezeichnete mich als ihre Lieblingsmieterin und ich sie als meine Lieblingsvermieterin. Ich wohnte jetzt seit zwei Jahren hier, und obwohl das Cottage winzig war, war es der perfekte Zufluchtsort für einen Neuanfang gewesen ...«

Die Autorin

Cathy Bramley lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und ihrem Hund in einem kleinen Dorf in Nottinghamshire. Sie war schon immer eine Leseratte und las früher oft mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Damit war erst Schluss, als ihr Mann ihr einen E-Reader mit Beleuchtung schenkte. Nachdem sie achtzehn Jahre lang eine Marketingagentur geleitet hatte, startete sie als Autorin noch einmal neu durch. Von ihrem Erfolg war sie dabei wohl als Einzige selbst überrascht. Mehr über die Autorin unter www.cathybramley.co.uk

Lieferbare Titel

Wie Himbeeren im Sommer

Fliedersommer

Der Brombeergarten

Zitronensommer

Cathy Bramley

Apfelherbst

Roman

Aus dem Englischen von Hanne Hammer

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Die Originalausgabe A Patchwork Family erschien erstmals 2020 bei Orion, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 09/2023

Copyright © 2020 by Cathy Bramley

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung von Stockfood / Irina Meliukh

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-28424-4V001

www.heyne.de

Für Isabel und Libby, in Liebe!

Mögt ihr immer so tanzen, als wenn euch niemand zuschaut.

Teil 1

Der erste Schritt

Kapitel 1

Das dürfte eine der schlechtesten Ideen gewesen sein, die ich je gehabt hatte. Ich sage, eine der schlechtesten, denn als ich damals auf der Mädchentoilette versuchte, mir mit Rosie Featherstones Ohrring ein Loch ins Ohr zu stechen, war das nicht gut ausgegangen. Die Narbe sah man immer noch. Und ihre übrigens auch.

Doch mich darauf einzulassen, ausgerechnet heute und ausgerechnet mit Eric in einem hübschen Restaurant zu Mittag zu essen, konnte damit durchaus mithalten. Hätte ich gewusst, dass es so schick sein würde, hätte ich mir etwas anderes angezogen und wäre nicht in der abgerissenen Jeans und dem gestreiften T-Shirt erschienen. Oder hätte die Einladung besser gar nicht erst angenommen. Es war Mitte September, und ich hatte geplant, mein Beet im Garten hinter dem Welcome Cottage winterfest zu machen, solange das Wetter noch annehmbar war. Doch dann war Eric mit einem offiziell aussehenden Briefumschlag aufgetaucht und hatte auf einem Mittagessen in Vinos Weinbar, nahe unserer alten Wohnung, bestanden.

Angespannt ging ich in Deckung, während er sich an dem Korken einer Sektflasche zu schaffen machte. Er begann langsam zu schwitzen und hatte die Hilfe des Sommeliers, der jetzt in der Nähe herumlungerte und selbstgefällig zusah, bereits äußerst schroff abgelehnt, wie ich fand. Ich zuckte zusammen, als der Korken schließlich knallte. Schaum lief aus der Flasche, und Eric goss uns ein Glas ein, wobei er äußerst zufrieden mit sich aussah.

»Prost!«, strahlte er, als er mit mir anstieß.

»Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob Sekt unter den gegebenen Umständen angemessen ist«, sagte ich und sah zu, wie er ein Drittel seines Glases in einem Zug leerte.

Er stieß mich in die Rippen. »Ach, komm schon, Gina, beenden wir es mit einem Paukenschlag.«

»Wo habe ich das nur schon einmal gehört?«, fragte ich und trank den ersten Schluck.

Er grinste. Er hatte es am Tag meines Auszugs gesagt. Damals hatte es keinen Paukenschlag gegeben, und das würde es auch jetzt nicht.

»Einen Versuch war es wert.«

Ich lachte über den resignierten Gesichtsausdruck, den er spaßeshalber aufsetzte. »Okay, Prost.«

Unterm Strich hatten wir eine gute Zeit gehabt. Es fiel mir nicht schwer, mich an die Gründe für unsere Trennung zu erinnern, aber es war nicht alles schlecht gewesen. Eric war in Ordnung, er war nur nicht der Richtige für mich. Ich war froh, dass wir noch zusammen lachen konnten.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er, und seine Stimme war für einen Moment ernst. »Ich dachte, dass wir den Anlass begießen sollten. Du hast doch immer gesagt, dass jede Errungenschaft gefeiert werden muss, egal, ob groß oder klein.«

Da musste ich ihm zustimmen.

Besonders bei Kindern war das wichtig. Ein Schwimmabzeichen, eine gute Note in einem Rechtschreibtest, der Aufstieg in eine höhere Lesestufe, selbst ein erfolgreicher Töpfchengang bei den Jüngeren, jeder Erfolg war ein Grund zum Feiern. Meiner Meinung nach reichte schon ein bisschen Ermutigung, um Zuversicht und Selbstvertrauen aufzubauen.

Eine vorbeikommende Kellnerin mit schwarzen Haaren und einem blassen Teint sah die Flasche Cava auf unserem Tisch und blieb stehen. »Ah, wie ich sehe, gibt es hier etwas zu feiern?«

»Äh, nein«, sagte ich leise, weil ich nicht wollte, dass sie die Aufmerksamkeit auf uns lenkte.

»Stimmt, das gibt es.« Eric legte mir den Arm um die Schultern und erwiderte ihr Lächeln. Ich unterdrückte ein Stöhnen. »Das ist ein ganz besonderer Tag für uns.«

Die Kellnerin sagte wieder »Ah«, informierte uns über die Suppe des Tages und ließ uns mit unseren Speisekarten allein.

»Warum hast du das gesagt?«, flüsterte ich und schüttelte seinen Arm ab. Die Frau am Nebentisch stieß ihre Begleitung an. »Die Leute sehen zu uns herüber. Sie warten darauf, dass du mir als Nächstes die Frage stellst.«

Er legte die Speisekarte zur Seite. »Ich denke, wir können sehr stolz auf uns sein. Wir haben geschafft, was viele Paare nicht geschafft haben.«

»Wir sind gerade geschieden worden. Das würde ich wohl kaum als einen der größten Lebenserfolge bezeichnen.«

»Freundschaftlich, Gina«, sagte er und legte seine Hand auf meine. »Das ist eine Leistung. Ich danke dir, dass du mir diese Trennung leicht gemacht hast.«

Ich lachte auf und zog meine Hand weg. »Soll das ein Kompliment sein?«

»Natürlich.« Er runzelte die Stirn.

»Das klingt, als wolltest du sagen, dass ich eine so furchtbare Ehefrau war, dass du erleichtert bist, mich los zu sein.«

Ich hatte es ihm leicht gemacht, nahm ich an. Auch wenn die Idee sich zu trennen von beiden Seiten gekommen war, hatte ich ihn die Bedingungen vorgeben lassen, als wäre ich der schuldige Part. Sachen einfach zuzustimmen war eine meiner schlechten Angewohnheiten, die ich fest vorhatte zu ändern. Sollte ich jemals wieder heiraten, würde ich alles anders machen. Meine Meinung vertreten und mich nicht einfach zu Dingen überreden lassen, nur weil es unkomplizierter war.

Mein Ex-Mann sah verwirrt aus. »Ich meine einfach, dass ich mich von niemandem lieber scheiden lassen würde als von dir, wenn ich denn schon geschieden werden muss.«

»Eric!« Mir fiel die Kinnlade herunter. »Wer in einem Loch sitzt, sollte aufhören zu graben!«

Mich scheiden zu lassen war das Verwirrendste, Unangenehmste und Traurigste, das ich je getan hatte. Wir hatten keine Kinder, nicht einmal Haustiere, um die wir verhandeln mussten, auf beiden Seiten war also außer uns niemand involviert, was die Sache erheblich vereinfacht hatte. Aber es hatte trotzdem wehgetan, vor allem als ich aus unserer schönen Wohnung ausgezogen war. Eric hatte zwar gewollt, dass ich dort wohnen blieb, bis sie verkauft war, doch ich hatte uns beiden nicht getraut, dass wir es schaffen würden, platonisch zusammenzuleben: ihm nicht, weil er zweifelsfrei versucht hätte, mich davon zu überzeugen, dass es albern war, dass einer von uns auf dem Sofa schlief, nachdem wir jahrelang im selben Bett geschlafen hatten – und eins hätte unweigerlich zum anderen geführt. Und mir nicht, weil er mich in den Wahnsinn trieb, obwohl ich ihn noch liebte, und ich einen klaren Trennungsstrich brauchte. Jetzt waren wir offiziell geschieden, und keiner hatte dabei seine Würde eingebüßt. So ganz unrecht hatte er also nicht, das war eine Leistung, nahm ich an.

»Deine Haare sehen übrigens hübsch aus«, sagte er. Offensichtlich war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Themenwechsel wohl das Sicherste war. Er sah einem Tablett mit Essen hinterher, das auf seinem Weg zu einem anderen Tisch gerade an uns vorbeigetragen wurde.

Verlegen schob ich eine lockige Strähne hinter mein Ohr. »Danke.«

Den Sommer über hatte ich die Haare dunkelbraun gefärbt und mir lila Strähnchen machen lassen, doch jetzt, wo am Morgen ein frischer, kühler Hauch von Herbst in der Luft lag, hatten sie wieder ihren natürlichen rotblonden Ton.

»Ich hatte fast vergessen, welche Naturfarbe du hast«, fuhr er fort und schaute auf meinen Mittelscheitel. »Obwohl die grauen Strähnen schon ein Schock sind, mutig, dass du dazu stehst.« Er hob das Glas und trank schlürfend einen Schluck. »Aber das ist wohl so; du bist schließlich Mitte dreißig.«

»Ich bin vierunddreißig«, sagte ich und versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. »Und mehr als ein paar silberne Strähnen sind es auch nicht. Du bist schon vor sechs Jahren an den Seiten grau geworden.«

»Ja, aber ich bin ein …« Er sah meine hochgezogenen Augenbrauen, und das Wort »Mann« erstarb vermutlich auf seinen Lippen. Er räusperte sich. »Ein langweiliger, alter Scheißkerl, wenn es um Mode geht, der seit der Schulzeit dieselbe Frisur hat.«

Ich presste die Lippen zusammen. Das stimmte nicht ganz: Einmal hatte er versucht, David Beckhams längeren Look zu imitieren, aber alles wieder kurz schneiden lassen, als seine Freunde angefangen hatten, ihn »Shaggy« zu nennen, und jedes Mal das Scooby-Doo-Lied anstimmten, wenn er hereinkam.

»Während deine Haare schon mehr Farben gehabt haben als Josephs Technicolor Dreamcoat«, fuhr er fort.

Ich hatte mit siebzehn angefangen, mir die Haare zu färben, um meine Eltern zu provozieren, allerdings ohne Erfolg. Keiner von ihnen hatte es auch nur mit einem Wort kommentiert.

»Die Kinder lieben meine Haare, vor allem die Mädchen, sie fanden, dass ich wie eine Meerjungfrau ausgesehen habe, als sie im Frühjahr grün und blau waren.«

»Eine Meerjungfrau.« Eric kicherte. »Ich kann mir gut vorstellen, was deine Eltern davon halten würden.«

»Die überrascht nichts mehr.« Ich legte die Hand über das Glas, als Eric mir nachschenken wollte. Es tat immer noch weh, dass alles, was ich tat, bedeutungslos zu sein schien im Vergleich zu den Heldentaten meines älteren Bruders Howard, und inzwischen erzählte ich ihnen nicht mehr so viel.

»Läuft es gut in der Agentur?«, fragte ich und versuchte, das Gefühl der Ungerechtigkeit hinunterzuschlucken, das immer mit dem Gedanken an meine Eltern einherging.

»Sie boomt!«, antwortete er und sah sehr zufrieden mit sich aus.

Eric hatte noch vor unserer Zeit Teachers on Demand gegründet. Damals hatte er in einer Personalvermittlungsagentur gearbeitet und erkannt, dass Derbyshire jemanden gebrauchen konnte, der Lehrer auf Zeit an die Schulen in der Region vermittelte. Über die Jahre hatte er sich zu dem Spezialisten in diesem Feld etabliert.

»Schön für dich.« Ich hob mein Glas, ich freute mich für ihn. »Und das, obwohl der September immer so ruhig war.«

»Im Moment ist es auch ruhig. Das Schuljahr hat schließlich gerade erst begonnen. Die meisten Lehrer kommen noch zur Arbeit. Aber das wird sich schnell ändern.« Er rieb sich die Hände. »Stress, Krankheitsfälle, Husten und Erkältungen, Elternzeit … Es wird nicht lange dauern, und einer nach dem anderen fällt aus.«

»Arme Lehrer.« Ich schauderte, weil ich mich nur zu gut daran erinnerte.

Er zuckte die Schultern. »So ist das im Geschäftsleben. Niemand mag, wenn es ruhig ist, schon gar nicht über längere Zeit. Aber ich ruhe mich nicht auf meinen Lorbeeren aus.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um und beugte sich vor. »Ich habe die Gelegenheit, zu expandieren und zu diversifizieren. Es ist riskant, doch ich schätze, dass es das wert ist. Gut, dass du nicht mehr für mich arbeitest.«

»Mit dir arbeite!«, korrigierte ich ihn. »Ich war eine der Geschäftsführerinnen, und mir gehören noch immer zehn Prozent.«

Eric war der geschäftsführende Direktor, doch wenn ich zugestimmt hätte, ins Geschäft einzusteigen, statt weiter eine der vermittelbaren Lehrerinnen in seiner Kartei zu sein, wäre die Kontaktpflege mit den Lehrern in mein Ressort gefallen, während er sich um die Verträge mit den Schulen gekümmert hätte, wie er mir versichert hatte. Genau wie er mir auch versichert hatte, dass wir die Arbeit im Büro lassen und nicht mit nach Hause nehmen würden. Leider war es nicht so gekommen.

»Ja, natürlich, ich will auch nur sagen, dass du diese Chance als unsinnig abgetan hättest, weil du nicht bereit gewesen wärst, das Risiko einzugehen, und dann hätten wir diese Möglichkeit verpasst, uns zu vergrößern und mehr Profit zu machen.«

Er hatte nicht ganz unrecht; mir war es immer wichtig gewesen, nichts zu riskieren.

»Und du hättest natürlich auf meine Meinung gehört, nicht wahr?«, sagte ich. »Das wäre dann das erste Mal gewesen.«

»Wahrscheinlich nicht.« Zumindest hatte er den Anstand zu lachen. »Egal, lass uns nicht streiten. Schon gar nicht heute. Und was diese zehn Prozent angeht … Ich weiß, wir wollten beide einen klaren Schnitt, aber ich habe es nicht geschafft, das ganze Geld aufzutreiben, um dich auszuzahlen. Du kannst aber sicher sein, dass ich dir deine Anteile abkaufe, sobald ich flüssig bin.«

»Ich weiß«, sagte ich freundlich. Ich war versucht gewesen, ihm meine Anteile einfach so zu überlassen, doch mein Anwalt hatte darauf bestanden, dass ich mir meinen rechtmäßigen Anteil an unserem gemeinsamen Geschäft sicherte. Um Eric nicht unrecht zu tun, muss ich sagen, dass er gebettelt, sich Geld geliehen und alles bis an die Grenze zum Diebstahl getan hatte, um mich auszuzahlen. Er arbeitete hart, und ich zweifelte nicht daran, dass es nicht lange dauern würde, bis er genug verdient hatte, um mir das restliche Geld zu geben. Und bis dahin war ich durch die Scheidungsvereinbarung und die Anteile, die ich besaß, gut aufgestellt. Noch nie im Leben hatte ich so viel Geld gehabt.

»Und du? Wie sieht es in der Welt von Chicken Nuggets, Play-Doh-Knete und Windeln aus?« Eric drehte den Stil seines Glases zwischen seinen langen Fingern. Zeigefinger und Daumen waren kräftig, wie meine Mum bereits beim ersten Mal, als er meinen Eltern begegnet war, festgestellt hatte; ihrer Meinung nach bedeutete es, dass er ehrgeizig und karrierebewusst war, was Erich unglaublich geschmeichelt hatte. Dad hatte geschmunzelt und gemeint, dass er mit mir ein hartes Stück Arbeit vor sich habe, da ich meinen Beruf aufgegeben hatte und nichts dagegen hätte, mein Leben lang Ferien zu machen. Ich hatte mich beherrschen müssen, nicht mit ihm zu streiten – ich hatte überall auf der Welt gearbeitet, um meine Reisen zu finanzieren –, doch Eric hatte solidarisch seine Hand auf meine gelegt, und ich hatte, wie üblich, nichts gesagt.

»Es läuft bestens, danke«, sagte ich und ignorierte seinen spöttischen Ton. »Ich habe meine maximale Auslastung fast erreicht.«

Im Prinzip durfte ich bis zu acht Kinder betreuen, doch ich hatte bei sechs aufgehört. Für mehr war mein Haus nicht groß genug. An lebhaften Tagen betete ich um trockenes Wetter, damit wir in den Garten konnten. Und mehr als zwei Babys gingen auch nicht, da es schlicht nicht möglich wäre, mit mehr als einem Doppelbuggy den Schulweg anzutreten.

»Gratuliere, Kinder zu betreuen ist einfach perfekt für dich«, sagte Eric in einem freundlichen, aber leicht bevormundenden Ton. »Ein leichtes Leben, kein Stress.«

Ich war es gewohnt, dass Eric sich verächtlich über meine Berufsentscheidung äußerte, doch nach unserer Trennung als Tagesmutter zu arbeiten, war die beste Entscheidung gewesen, die ich je getroffen hatte. Obwohl ich eigentlich Lehrerin war, hatte ich nur ein paar Jahre unterrichtet. Ich hatte die Kinder geliebt und es genossen, sie lernen zu sehen, doch das Schulsystem hatte ich gehasst; es hatte mich entmutigt, wie die Kinder schon mit sechs in Schubladen gesteckt wurden und unnütze Sachen lernen mussten, nur um Prüfungen zu bestehen.

»Ich würde es kaum als entspannten Tag bezeichnen, sich um acht Kinder unterschiedlichen Alters zu kümmern«, erwiderte ich. »Ich möchte dich einmal dabei erleben.«

»Danke, ich verzichte«, sagte er und zuckte zusammen. »Aber wenn du deine maximale Auslastung erreicht hast, kann sich das Unternehmen – wenn du es denn so nennen willst – doch nicht mehr entwickeln, nicht?«

Ich reagierte gereizt. »Ja, so nenne ich es. Und jedes Unternehmen kann sich irgendwie entwickeln.«

Er sah skeptisch aus. »Dein kleines Cottage schränkt die Größe deines Unternehmens doch automatisch ein. Es besteht kein Grund, vorauszudenken oder eine Erweiterung zu planen. Das geht einfach nicht, es sei denn, du ziehst um.«

»Lustig, dass du das sagst.« Ich studierte einen meiner Fingernägel. »Ich denke gerade über eine Erweiterung nach. Barnaby schreit förmlich nach weiteren Kinderbetreuungsplätzen. Vielleicht stelle ich sogar noch eine Mitarbeiterin ein.«

Ich hielt den Atem an; wo kam das denn jetzt her? Erst als wir gestern Morgen einen Spaziergang gemacht hatten, um die Enten zu füttern, hatte ich gedacht, wie glücklich ich mit meinem Leben doch war. Ich hatte eine entzückende Gruppe von Kindern, um die ich mich kümmerte, lebte in einem malerischen Cottage mit reizenden Nachbarn, und obwohl ich nie reich werden würde, genoss ich jeden chaotischen, klebrigen, lauten Tag.

Eric lachte. »Wo willst du die denn unterbringen? Ich kenne dein Haus; du könntest dich nicht mehr rühren.«

»Ich habe Pläne, Eric, große Pläne.« Ich tippte mir geheimnisvoll an die Nase und erwartete fast, dass sie nun doppelt so lang war wie vorher, wie bei Pinocchio. »Und jetzt, wo wir geschieden sind und mir das Geld ausgezahlt worden ist, hält mich nichts mehr zurück.«

Sobald ich herausgefunden hatte, wie diese großen Pläne denn aussehen sollten.

Erstaunt sah er mich an. »Schön für dich.«

»Und was meine Anteile an deiner Agentur betrifft, wenn das Geschäft so gut läuft, wie du sagst, werden meine Anteile ja auch im Wert steigen. Möglicherweise werden dich diese zehn Prozent ein kleines Vermögen kosten.«

»Äh, wie bitte?«, stotterte Eric geschockt.

Ich schlug die Speisekarte auf und versteckte mich dahinter, während ich in mich hineinlachte; das hatte er nicht erwartet.

»Möchten Sie bestellen?« Die Kellnerin war wieder da. Sie zog einen Block und einen Stift aus ihrer Schürzentasche.

»Geben Sie uns noch eine Minute.« Ich schlug die Speisekarte auf und überflog die kleinen Gerichte. Je eher dieses Mittagessen vorüber war, desto schneller konnte ich in mein neues und extrem glückliches Singledasein zurückkehren.

»Entschuldigung.« Eric, der sich offensichtlich bereits von meiner Ankündigung erholt hatte, knipste seinen Charme an. »Wir waren ganz in alte Erinnerungen vertieft.«

Er gab seine Speisekarte zurück, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. »Wir nehmen den Teller für zwei. Ich habe gesehen, wie einer an einen anderen Tisch gebracht wurde, Gina, das sah unglaublich aus.«

Ich sah ihn stumm an. Das war, in aller Kürze, der Grund, warum wir nicht mehr miteinander verheiratet waren. Er traf die Entscheidungen und erwartete, dass ich ihnen zustimmte.

»Spanisches Fleisch oder Meeresfrüchte?«, fragte die Kellnerin mit gezücktem Stift.

»Meeresfrüchte«, sagte Eric. »Sie liebt Meeresfrüchte.«

»Danke.« Die Kellnerin versuchte, mir die Speisekarte abzunehmen, doch ich hielt sie fest. Ich liebte Meeresfrüchte, doch die Tage, wo Eric mir gesagt hatte, was ich zu essen hatte, waren vorbei.

»Genau genommen würde sie gerne selbst auswählen, was sie isst. Ich hätte gerne den gegrillten Halloumi-Burger«, sagte ich, klappte die Speisekarte zu und gab sie der Kellnerin zurück.

Die Kellnerin grinste. »Gute Wahl. Und Sie, mein Herr? Möchten Sie immer noch die Platte?«

»Na ja, wenn meine Frau sich querstellt«, meckerte Eric.

»Ex-Frau«, sagte ich.

»Das meinte ich«, antwortete er mürrisch.

Die Kellnerin und ich sahen uns amüsiert an, während Eric sich umsah, um zu sehen, was die anderen Gäste so aßen, da er nicht einen Blick in die Speisekarte geworfen hatte.

»Wir feiern unsere Scheidung, daher der Cava«, sagte ich zu der Kellnerin.

Sie grinste. »An dem Tag sollten Sie definitiv das nehmen, worauf Sie Lust haben.«

»Eric, warum nehmen wir nicht beide den Halloumi-Burger?«, schlug ich vor. »Mit ein paar extra Zwiebelringen für dich.«

Er stimmte dem zu, und die Kellnerin verschwand, um unsere Bestellung an die Küche weiterzugeben.

»Das war peinlich«, murmelte er. »Wie du und Morticia euch gegen mich verbündet habt.«

»Das war nur, was du verdient hast.«

Er runzelte die Stirn. »Du hast mich immer für uns beide aussuchen lassen.«

»Es war einfacher so. Aber das war nicht notwendigerweise gut für mich.«

Ich sah meinen Ex-Mann an. Wir hatten beide Schuld am Ende unserer Ehe; das, was uns einmal am anderen angezogen hatte, war letztendlich das gewesen, was uns schließlich auseinandergebracht hatte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sich zu trennen, und die Zukunft sah für uns beide ziemlich gut aus. Es stimmte auch, was er vorhin gesagt hatte: Wir hatten geschafft, was viele Paare nicht schafften, und waren Freunde geblieben. Die meiste Zeit in den letzten zehn Jahren war er ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen, und ich bereute nichts, doch meine Tage als Mrs. Evans waren vorbei. Ich war wieder eine Moss, und es war an der Zeit zu sehen, was ich von diesem neuen Leben wollte.

»Du hast dich verändert«, sagte Eric verdrießlich. Er kippte fast das ganze Glas Cava in einem Zug hinunter.

»Das habe ich«, sagte ich, zufrieden mit mir selbst. »Und ich habe das Gefühl, dass das erst der Anfang ist.«

Kapitel 2

Der nächste Tag war ein Sonntag, und nach meinem Morgenlauf entlang des Treidelpfads machte ich es mir auf dem Sofa bequem, um meine Eltern anzurufen. Sie waren in eine Wohnung in einer Seniorenwohnanlage im Lake District gezogen. Ich sah sie nicht oft, doch ich achtete darauf, sie einmal in der Woche anzurufen und über mein Leben auf dem Laufenden zu halten. Obwohl es zurzeit eher andersherum lief; ihr soziales Leben klang sehr viel aufregender als meins.

Ich hätte es mir gar nicht erst bequem zu machen brauchen; sie waren auf dem Sprung, um in der Gegend um Windermere Müll aufzusammeln, doch Mum hatte noch Zeit, mich über Eric auszufragen.

»Wie fühlst du dich jetzt, wo ihr … du weißt schon …« Sie räusperte sich.

»Jetzt, wo wir offiziell geschieden sind?«, beendete ich den Satz für sie.

Ein bisschen, als wäre jemand gestorben; eine Scheidung hatte etwas von einem Trauerfall. Die Beziehung zwischen Eric und mir war tot und beerdigt. Ich hatte gestern sogar noch ein paar Tränen vergossen, nachdem ich von unserem Mittagessen zurückgekommen war.

»Mir geht es gut«, sagte ich fröhlich. »Wirklich gut. Das Leben geht weiter.«

Ich hatte nicht vor, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich wusste, dass sie und Dad von mir enttäuscht waren. In ihren Augen hatte ich es beruflich zu nichts gebracht, und jetzt war ich nicht einmal mehr glücklich verheiratet. Ich hatte versagt und das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.

»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Mum, sie klang verlegen. »Eine Scheidung ist heutzutage nichts mehr, weswegen man sich schämen muss. Und es ist auch noch nicht zu spät, wieder jemanden zu finden; du kannst immer noch Kinder bekommen.«

»Ich habe ein ganzes Haus voller Kinder« erinnerte ich sie. »Und bald bin ich sowieso viel zu beschäftigt für einen Mann.«

»Oh?«

Genau in dem Moment wurde sie von Dad unterbrochen, der fragte, wo die gelben Westen für die Abfallsammler seien, und sie beendete das Gespräch, bevor ich ihr die gleiche Geschichte von meinen Expansionsplänen erzählen konnte, die ich Eric erzählt hatte.

Gestern war es eine aus dem Moment geborene Ansage gewesen, die mich genauso überrascht hatte wie Eric, doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass die Zeit für eine Expansion vielleicht genau richtig war. Vielleicht sollte ich mich rückhaltlos für etwas engagieren und ernsthaft an meiner ewigen Das-reicht-erst-einmal-Einstellung arbeiten. Ich hatte das Cottage gemietet und meine Geschäftsidee umgesetzt, ohne viel darüber nachzudenken. Beide Entscheidungen waren gut gewesen, doch jetzt, wo meine Scheidung endgültig war, sollte ich anfangen, richtige Pläne zu machen.

In das Cottage hatte ich mich sofort verliebt, als ich das Bild im Fenster des Immobilienmaklers erblickte. Es gehörte zu Evergreen Manor, einem großen viktorianischen Haus am Rand des Dorfs, das auf halbem Weg den Berg hinauf lag. Früher war es einmal das Pförtnerhaus gewesen und stand am Fuß der langen Auffahrt zum Haupthaus. Es hatte zwei Schornsteine, alte Fenster, die aus lauter kleinen Glasrauten bestanden, und hübsche muschelförmige weiße Holzschindeln, wie Spitzentaschentücher, die alte Damen gerne in ihrem Ärmel trugen.

Violet Rose, meine betagte Vermieterin, lebte mit zwei Freunden in Evergreen Manor. Sie bezeichnete mich als ihre Lieblingsmieterin und ich sie als meine Lieblingsvermieterin.

Ich wohnte jetzt seit zwei Jahren hier, und obwohl das Cottage winzig war, war es der perfekte Zufluchtsort für einen Neuanfang gewesen und um im Singledasein Fuß zu fassen.

Bis jetzt war das Geld knapp gewesen, und ich hatte nicht viel für eine gemütliche Einrichtung ausgeben können. Doch wenn dein Arbeitstag daraus bestand, Essen von den Wänden zu kratzen und zu bereuen, die Knete mit blauer Lebensmittelfarbe versetzt zu haben, machte es auch keinen Sinn, nach Schöner-Wohnen-Standards zu streben. Ikea war mein bester Freund gewesen, als ich das Cottage eingerichtet hatte: leicht zu reinigende Tische und Stühle, waschbare Sofabezüge, unzählige Plastikkisten für Bücher und Spielsachen und billige, fröhliche Teppiche, Kissen und Vorhänge. Die Ausstattung stand ein wenig im Widerspruch zu der viktorianischen Architektur mit den hohen Decken, den gefliesten Böden, den eleganten Türrahmen und dem originalen Kamin, doch was sein musste, musste sein, wenn eine Horde winziger Krieger täglich durch dein Zuhause tobte.

Oben war es ruhiger. Mein Schlafzimmer war eine Kombination aus alt und neu: Überwürfe und Kissen auf der tiefen Fensterbank, auf der ich gerne saß und las, in Grau- und Rosatönen, antike Holzmöbel, die ich aus dem Haus meiner Eltern gerettet hatte, als sie sich verkleinert hatten, und frische, weiße Laken auf dem Bett. Es war mein Zufluchtsort nach einem hektischen Tag, und ich liebte es. Es gab noch ein zweites Zimmer mit einem Schlafsofa und einem Reisebett für meine jüngsten Schützlinge sowie einer Wickelkommode und einer Kiste mit Notkleidung zum Wechseln.

Das Badezimmer war ebenfalls oben. Was würde ich jetzt, wo der kleine Arlo übte, aufs Töpfchen zu gehen, für eine Toilette im Erdgeschoss geben; ich hatte den Eindruck, dass wir die Hälfte des Tages die Treppe hinauf und hinunter liefen, denn wenn erst einer meinte zu müssen, mussten alle.

Vielleicht hatte mein Aufenthalt im Welcome Cottage ja sein Ende erreicht, dachte ich und riss mich aus meiner Tagträumerei. Eric hatte recht, es verwandelte sich langsam in eine Sardinenbüchse. Vielleicht war es an der Zeit, ein Haus zu kaufen, das genauso so komfortabel, aber groß genug für meinen plötzlichen Plan zu expandieren war. Ich schaltete meinen Laptop an, googelte »zum Verkauf stehende Häuser in Barnaby« und machte mich auf eine virtuelle Häuserjagd. Vielleicht fand ich ja etwas, das noch besser war als das Welcome Cottage.

*

Am folgenden Nachmittag hatte ich, bis es Zeit war, die Größeren aus der Schule abzuholen, nur ein Baby zu betreuen. Harris war sieben Monate alt, ein blonder, stämmiger Junge und in der Regel ein Sonnenschein. Seine Mutter arbeitete erst seit ein paar Wochen wieder halbtags, und ich hatte so ein Gefühl, dass ihr die Trennung schwerer fiel als ihm; er hatte viel Spaß bei mir.

Im Moment machte er oben sein Nickerchen, und ich schaltete das Babyfon ein und nahm meine Online-Haussuche wieder auf. Im Dorf gab es nichts Passendes; ich hatte das Suchgebiet bereits erweitern müssen. Das war ein Problem, denn die Kinder, die zu mir kamen, waren alle aus dem Ort, und die, die meine Betreuung nach der Schule in Anspruch nahmen, ebenfalls. Wenn ich aus Barnaby wegzog, würden die Eltern es sich zweimal überlegen, ob sie meine Dienste in Anspruch nehmen sollten – wohl kaum der beste Expansionsplan, den man sich vorstellen konnte.

Schade, dass das Cottage nicht einfach ein Zimmer mehr hatte, dachte ich, während ich durch die Bilder von unpassenden Häusern scrollte. Ein paar Minuten später leuchtete das Babyfon wie ein Weihnachtsbaum, Harris war aufgewacht. Ich schaltete den Laptop aus, steckte ihn zurück in seine Hülle und stellte ihn außer Reichweite.

»Hallo, junger Mann«, sagte ich zu dem strahlenden Baby in dem Kinderbett und rümpfte die Nase. »Braucht da jemand eine frische Windel?«

»Bababa.« Harris hüpfte auf und ab. Er freute sich, mich zu sehen, und ich machte schnell ein Foto für sein Tagebuch und gab ihm einen Kuss auf den Kopf, als ich ihn hochnahm.

Zwei Minuten später war er wieder sauber. Er belohnte mich für meine Bemühungen, indem er mich an den Haaren zog und das sehr lustig fand.

»Na, hör mal«, sagte ich und klaubte seine Finger aus meinen Haaren. »Lass uns raus in die Sonne gehen und den Damen in Evergreen Manor einen Besuch abstatten; vielleicht können sie mir ja bei dem Hausproblem helfen.«

Ich packte meine Tasche, um die Kinder aus der Schule abzuholen, steckte Harris in sein Babytragetuch und verließ das Haus durch die Hintertür. Im Gartenzaun war ein Tor, durch das ich direkten Zugang zum Grundstück von Evergreen Manor hatte. Während Harris meine Zeigefinger fest umklammert hielt, machten wir uns im Herbstsonnenschein auf den Weg, überquerten den Rasen und gingen um das Haus herum am Gemüsebeet vorbei zur Hintertür. Gewöhnlich besuchte ich meine Nachbarn nicht, wenn die Kinder da waren. Violet und Delphine waren Lehrerinnen im Ruhestand und an Kinder gewöhnt, doch Bing war das nicht und hatte einmal gewitzelt, dass er Kinder liebe, aber kein ganzes auf einmal verspeisen könne.

Aus dem Hühnerstall, der neben drei Apfelbäumen am Rand des Rasens stand, kam ein gehöriger Lärm. Die Holztüren standen offen und daneben lag ein Haufen feuchtes Stroh. Die Hühner huschten überall herum und protestierten, als wollte jemand sie bestehlen, und hinten aus dem Stall war Gesang zu hören.

»Five, six, seven o’clock, da-da-da-dah. Nine, ten, eleven o’clock, da-da-da-dah. We’re gonna rock da-dah-da-dah.«

Ich lächelte vor mich hin. Es war klar, wer das war.

»Das ist Bing«, sagte ich zu Harris, der mir aufgeregt die Fersen gegen die Oberschenkel schlug. »Er singt seinen Hühnern wieder etwas vor. Was sagen die Hühner? Gack-gack-gack.«

Ich ging gerade in die Knie, damit Harris die Hühner besser sehen konnte, als Bing aus dem Stall auftauchte. Er hatte ein paar Eier in der Hand und war voller Stroh, doch hinter seinem Grizzlybärenbart verbarg sich ein warmes Lächeln.

»Hallo, meine Liebe! Schaut mal her, Mädchen«, sagte er zu den Hühnern, steckte sich die Eier in die Tasche und griff nach seinem Gehstock, »wir haben Besuch. Lass das Baby nicht fallen, Gina. Die Hühner fressen alles.«

»Ich hatte nicht vor, ihn fallen zu lassen.« Trotzdem hielt ich ihn fester. »Wir wollten Violet und Delphine besuchen, sind sie drinnen?«

»Sind sie. Irgendwo im Haus. Als ich sie zuletzt gesehen habe, haben sie ein Riesentheater um irgendwelche Kleider gemacht.« Hinkend kam er zu uns herüber. Er stand auf der Warteliste für eine Hüft-OP, doch es dauerte so lange, dass er schon gewitzelt hatte, sie würden ihn dafür ausgraben müssen, wenn es in diesem Tempo weiterging.

Ich unterdrückte ein Kichern, betrachtete sein mottenzerfressenes Hemd, die an den Knien abgewetzte Hose und die Gummistiefel mit den großen Löchern an den Zehen. Das Bing viel Theater um seine Kleidung machte, konnte man ihm wirklich nicht vorwerfen.

»Und wer ist der Kleine, häh? Er ist von hier, nicht, oder ist es eine sie?« Er zeigte mit dem Ende seines Stocks auf das Baby.

»Das ist Harris, und er ist aus dem Ort. Seine Mama arbeitet als Arzthelferin.«

»Glücklicher Bursche, hier aufwachsen zu dürfen«, sagte Bing und tätschelte dem Kleinen den Kopf, als wäre er ein Hund. »Ich bin von Birmingham hierher evakuiert worden, weißt du. Glückliche Erinnerungen sind das.«

»Ich weiß, du hast mir davon erzählt«, sagte ich und warf einen schnellen Blick auf meine Uhr. Bings Geschichten waren spannend, doch wenn er erst einmal anfing zu erzählen, kam man nicht mehr weg, und ich wollte Violets Rat, bevor ich zur Schule musste.

»Ich war erst sechs«, sagte er und stützte beide Hände auf den Stock. »Stell dir das mal vor, von deiner Mutter getrennt zu werden, mit sechs! Nach zwei Monaten haben sie mich nach Hause geschickt, weil sich nichts getan hat. Sitzkrieg nannten sie das.«

»Und dann bist du mit acht wiedergekommen«, sagte ich, »und hast Jack Rose, Violets Bruder, kennengelernt.«

»Haha, genau!«, lachte er. Seine Augen waren immer noch scharf und klar, obwohl er über achtzig war. »Wir waren Freunde fürs Leben, Jack und ich.« Er machte ein trauriges Gesicht und rieb sich die Nase mit der Rückseite der Hand. »Ich vermisse ihn immer noch, den alten Burschen.«

»Natürlich tust du das.« Ich hatte Glück, ich hatte noch nie jemanden verloren, der mir sehr nahestand. Meine Großeltern waren vor meiner Geburt verstorben, und alle anderen in unserer kleinen Familie waren noch da. Ich hatte nicht einmal den Verlust eines Haustiers erlebt; mein Bruder Howard war Allergiker, und mein Weihnachtswunsch, ein Hund oder ein Kätzchen, war deshalb nie in Erfüllung gegangen.

»Wir gehen mal rein, wenn das in Ordnung ist, ja?«, sagte ich. »Bevor ich wieder losmuss.«

»Mach das, meine Liebe«, sagte Bing und lächelte wieder. Er zeigte auf die offenen Terrassentüren. »Und erinnere die Mädchen daran, dass mein Kumpel Stanley gleich zum Kartenspielen kommt. Sie sollten also sehen, dass sie was anhaben. Wir wollen doch nicht, dass der alte Junge beim Anblick eines Strumpfbundes einen Herzinfarkt bekommt, nicht wahr, Harris?«

Das Baby lachte wie aufs Stichwort, und Bing gab mir ein paar Eier, die ich irgendwie in meine Jackentasche gesteckt bekam.

Ich ging in die Küche und rief, doch niemand antwortete. Ich liebte diesen Raum; er war ungefähr dreimal so groß wie meine Küche. An den Terrassentüren blätterte die Farbe ab, und zwei der unteren Glasscheiben hatten einen Sprung, doch jetzt wurden sie von blau-weiß karierten Türstoppern in der Form von Hunden offen gehalten und alles sah sehr einladend aus. Durch die Bakelitgriffe an den frei stehenden Schränken, das Steingutgeschirr auf der Kommode und den uralt aussehenden Herd kam ich mir immer vor, als wäre ich am Set von Ruf die Hebamme oder unter der Treppe in Downtown Abbey. Doch trotz des abgenutzten Inventars und der uralten Haushaltsgeräte war es ein freundlicher Ort; das ganze Haus strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus und schaffte es immer, meine Laune zu heben. Und wenn ich mich nicht irrte, hatte jemand gebacken; eine süße Würze lag in der Luft.

»Komm nicht ins Nähzimmer, Bing Kershaw, hörst du?«, erklang eine Stimme aus den Tiefen des Hauses.

»Das ist nicht Bing, ich bin’s, Gina«, rief ich, ging durch die Küche und warf einen Blick in die Diele. »Mit Harris. Ich kann wiederkommen, falls es jetzt nicht passt.«

Die Diele war eine Studie in verblichener Eleganz. Lange Samtvorhänge an einer aufwendigen Vorhangleiste rahmten eine große Eingangstür mit einem farbigen Oberlicht ein. Die Bodenfliesen waren schwarz-weiß wie ein Schachbrett, ein abgenutzter Samtsessel stand am Fuß der Treppe, und eine Standuhr aus wunderschönem poliertem Holz thronte majestätisch über allem.

»Oh, ausgezeichnet, es ist Gina mit dem Baby!«, sagte eine durchdringende Stimme.

»Komm herein, meine Liebe!«, fügte eine andere, höhere hinzu.

Delphines winziges Gesicht, das von einem weißen Bob eingerahmt wurde, blickte durch einen Spalt in der Tür. Die Halbbrille, die an einer Kette befestigt war, saß auf der Nasenspitze.

»Sieh ihn dir an, den kleinen Engel!«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme und kam auf uns zu. Harris griff nach ihren Fingern, entdeckte die vielen Silberringe und zog sie sofort in seinen Mund. »Darf ich ihn mal halten?«

»Vielleicht solltest du die erst herausnehmen«, sagte ich und zeigte auf die Stecknadeln, die in ihrer rosa Leinentunika steckten.

»Mein Gott, natürlich!« Delphine schnitt eine Grimasse und führte mich in das kleine Zimmer.

»Willst du das arme Kind punktieren, Delph?«, fragte Violet.

Sie stand auf einem kleinen, gepolsterten Stuhl neben dem Kamin. Ihre obere Hälfte war in lila Stoff gehüllt, während die stämmigen, blassen Beine nackt waren. Sie war genauso breit wie hoch, hatte eine Mähne aus stahlgrauen Locken und ihr Busen erinnerte an den Bug eines Schiffes.

»Ach, sei doch still«, sagte Delphine und schlug spielerisch nach ihrer Freundin. »Sonst mache ich deine Hose zu eng und zwinge dich zu einer weiteren Diät.«

»Diät – ha«, sagte Violet. »Ein Tag ohne Butter ist ein verschwendeter Tag, wenn du mich fragst. Das Gleiche gilt übrigens für Kuchen. Und wo wir gerade davon reden …« Sie sah Delphine hoffnungsvoll an.

»Ich habe alle Hände voll zu tun«, erwiderte Delphine mit süßer Stimme. »Aber ich nehme gern eine Tasse Tee, wenn du ihn machst.«

»Ich bin das Mannequin, du erinnerst dich?«, erwiderte Violet und schwenkte den Arm in der Luft. »Ich darf mich nicht bewegen. Und leider dauert dieser verdammte Job eine Ewigkeit.«

»Ich war noch nie hier drinnen«, sagte ich und drehte mich einmal um mich selbst, als Delphine sich von den tödlichen Waffen befreit und mir Harris abgenommen hatte. Er wurde von Woche zu Woche schwerer. »Was für ein wunderschöner Raum.«

Vieles darin schien noch im Originalzustand zu sein; die hohe Decke, der wundervolle Kristallleuchter in der Mitte und die schönen Stuckelemente. Der untere Teil der Wände hatte eine warme Holzvertäfelung, und da das Haus höher gelegen war als mein Cottage, bot es einen wundervollen Blick auf das Dorf Barnaby und die Berge des Derbyshire Peak District in der Ferne.

»Das war früher einmal ein Esszimmer, das nie genutzt worden ist«, sagte Delphine, während sie an Harris’ Nacken schnupperte. Ich lächelte; ich kannte das von mir, der Geruch eines Babys hatte etwas Unwiderstehliches. »Und das Licht ist so gut, dass Violet vorgeschlagen hat, dass ich es als Nähzimmer nutze. Das ist der reinste Luxus; ich liebe diesen Raum. Im Haus meiner Eltern musste ich meinen ganzen Kram, wie meine Mutter sich ausgedrückt hat, in meinem Schlafzimmer unterbringen.«

Ich wusste von Violet, dass sie und Delphine sich kennengelernt hatten, als beide an derselben Mädchenschule unterrichtet hatten. Dort waren sie Freundinnen geworden. Delphine war das einzige Kind strenger Eltern gewesen und hatte sie gepflegt, als sie älter geworden waren. Nachdem ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hatte und die Demenz ihrer Mutter immer schlimmer geworden war, hatte sie nur noch stundenweise unterrichtet. Schließlich war es ihr zu viel geworden, und sie hatte ihr Elternhaus verkauft, um die Pflege ihrer Eltern bezahlen zu können, und ohne ein Zuhause dagestanden. Violet hatte damals darauf bestanden, dass sie nach Evergreen Manor zog, ein Umzug, der ihnen beiden gutgetan hatte und immer noch tat.

»Mutter hat erzählt, dass das früher einmal das Schwesternzimmer war, als das Gebäude als Krankenhaus genutzt wurde«, fügte Violet hinzu. »Es wird erzählt, dass sie einmal meinen Stiefvater hier hereingeschmuggelt hat, um ihm die Haare zu schneiden. Er hat gesagt, dass er sich an dem Tag in sie verliebt hat. Setz dich doch, meine Liebe.«

»Deine Mutter war Krankenschwester?«, fragte ich und wählte den Platz am Fenster, um die Aussicht zu genießen. Ich saß auf einem wunderschönen, mit Chintz bezogenen Kissen, das perfekt zu der Steinfensterbank passte. Ein paar andere Kissen in passenden Tönen stützten meinen Rücken.

»Mir schlafen langsam die Füße ein hier oben«, Violet hob erst den einen Fuß und dann den anderen. »Ja, sie war Krankenschwester, Gina. Mein leiblicher Vater war ein Unteroffizier in der Armee und ist leider bei der Landung am D-Day im Kampf gestorben. Mein Stiefvater ist hierher gebracht worden, um sich zu erholen, nachdem man ihn über dem Kanal abgeschossen hatte. Er und meine Mutter haben sich dann nach dem Krieg wiedergetroffen und am Tag der Befreiung geheiratet.«

»Tragisch. Aber sehr romantisch«, sagte Delphine und drückte ihre Wange an Harris’ Wange, während sie mit ihm durch den Raum tanzte.

»Mein Gott, Delphus, reiß dich zusammen«, kicherte Violet. »Dem Kind wird noch ganz schlecht.«

Aus Harris’ Mund lief wirklich weißer Sabber, den ich ihm jedoch abwischen konnte, bevor er auf Delphines Oberteil landete.

»Oh, Liebling, das ist meine Schuld«, murmelte Delphine und setzte sich mit ihm hin. »Ich bin so ein ungeschickter Tölpel.«

Ich unterdrückte ein Lächeln; sie war zierlich und anmutig und die am wenigsten ungeschickte Person, die ich kannte.

»Die Anprobe ist vorbei, ja?«, mokierte sich Violet. »Das Baby hat die Sache beendet?«

»Entschuldigung«, sagte ich. »Soll ich ihn dir wieder abnehmen, Delphine, damit du weitermachen kannst? Ich habe nur hereingeschaut, weil ich euren Rat brauche.«

»Neeein!«, schrie sie und hielt Harris fester. Sie saß jetzt auf dem Teppich und hatte Harris vor sich, der ihr die Beine tätschelte.

Violet lachte. »Ich schätze deine Chancen, ihn zurückzubekommen, sind nicht sehr groß, Gina. Außerdem habe ich die Nase voll davon, ihr Nadelkissen zu sein, und sehne mich nach einer Tasse Tee. Ich bin total ausgetrocknet. Sei so lieb und hilf mir herunter.«

Violet schnaubte und schnaufte, als ich ihr beim Abstieg von dem Stuhl half.

»Was soll das werden?«, fragte ich. »Das ist eine wunderschöne Farbe.«

Einen Moment herrschte Schweigen, bevor Delphine sich über Harris beugte, um ihn mit weiteren Küssen zu bedecken. Das arme Kind hatte Lippenstiftabdrücke im ganzen Gesicht.

»Ein Hosenanzug«, antwortete Violet. »Angeblich. Aber sie braucht ziemlich lange. Wenn das so weitergeht, wird er nicht fertig bis …«

»Ich habe mich für das Violett entschieden, weil der Amethyst für Gleichgewicht und Frieden steht«, sagte Delphine, »und die Ungeduld vertreiben soll.«

Sie sah mich an und runzelte wissend die Stirn.

»Oha, Fräulein Schlaumeier«, sagte Violet, schmunzelte aber, während sie sich behutsam bewegte, um nicht von den Stecknadeln gepikst zu werden, die das Kleidungsstück zusammenhielten. Sie verschwand hinter dem Paravent in der Ecke, um sich umzuziehen.

Harris begann angesichts der ganzen Küsserei zu protestieren, und Delphine stand auf und lief mit ihm im Zimmer herum.

»Wir vermissen Kinder, jetzt, wo wir keine Lehrerinnen mehr sind, nicht, Delph?«, sagte Violet hinter dem Paravent. »Keine von uns hat enge Familienangehörige. Die nächsten Kinder sind die meiner Großnichte und leben am anderen Ende des Landes, sodass wir sie nie zu Gesicht bekommen.«

»Stimmt«, sagte Delphine seufzend.

Mein Blick fiel auf eine große Tasche mit Stofffetzen, die neben Delphines Nähmaschine stand. »Die sind großartig«, sagte ich und hob Reste von Taft, Samt und bedruckter Baumwolle hoch. »Die Kinder wären begeistert, damit spielen zu dürfen.«

»Wirklich?« Delphines Gesicht leuchtete auf. »Dann solltest du sie mitnehmen. Wir werfen sie sonst nur weg.«

»Das ist so lieb von dir«, sagte ich. »Wenn es in Ordnung ist, lasse ich sie für den Moment aber noch hier und überlege erst einmal, was wir damit machen können. Vielleicht kannst du mir ja helfen, für einen der Nachmittage etwas zu planen? Du hast doch einmal Handarbeit unterrichtet, nicht?«

»Ja, aber … du meine Güte.« Ihre Augen wurden ganz groß. »Es ist lange her, dass ich etwas mit Kindern gemacht habe.«

»Denk darüber nach«, sagte ich; ich wollte sie nicht drängen. »Nichts zu Kompliziertes, irgendwas, das schnell geht und Spaß macht.«

»Ich sage ihr immer wieder, dass sie Nähunterricht geben soll, sie ist so begabt, und wir haben so viel Platz«, meldete sich Violet zu Wort.

Delphine rümpfte die Nase. »Glaubst du, dass sich jemand dafür interessieren würde? Kleider, Vorhänge und so etwas selber zu machen, ist heute doch eine vergessene Kunst.«

»Dann wird es höchste Zeit, dass sie wiederentdeckt wird«, sagte Violet und tauchte in einem weiten, gelben Kleid und mit einem riesigen Anhänger in Form eines Oktopus wieder auf. »Wir waren die Generation, die sich was einfallen lassen und Dinge geflickt hat, wir müssen diese Fähigkeiten weitergeben, bevor es zu spät ist.«

»Zu spät?« Delphine sah beleidigt aus. »Entschuldige mal! Da ist noch ganz schön viel Leben in dem alten Mädchen!«

Violet lächelte ihre Freundin an. »Freut mich, das zu hören«, sagte sie weich und klatschte in die Hände. »Aber wo sind meine Manieren? Es ist drei Uhr, Gina, es ist Teezeit, und ich werde meinen selbst gebackenen Gewürzkuchen aufschneiden. Wir gehen morgen für ein paar Tage wandern, und das ist der perfekte Kuchen für so eine Unternehmung: er ist gut transportierbar, sättigend und wird mit jedem Tag besser.«

»Drei? Schon?«, rief ich, nahm Delphine Harris ab und steckte ihn wieder in das Tragetuch. »Ich muss los, oder ich komme zu spät, um die Kinder von der Schule abzuholen.«

»Dann solltest du dich sputen.« Violet scheuchte mich aus dem Zimmer und öffnete mir die Haustür.

»Aber was wolltest du eigentlich für einen Rat?«, rief mir Delphine hinterher.

Verdammt, das hatte ich ganz vergessen.

»Das hat Zeit«, rief ich, während ich bereits die Auffahrt hinunterlief. »Hebt mir ein Stück von dem Gewürzkuchen auf!«

Kapitel 3

Violet und Delphine waren den Rest der Woche unterwegs, sodass ich keine Gelegenheit hatte, sie auszufragen. Mit meiner Haussuche war ich nicht weitergekommen, und im Ort gab es nichts Brauchbares. Das Ganze war ein bisschen frustrierend; in ein größeres Haus zu ziehen, wäre die schnellste und einfachste Möglichkeit, mein kleines Unternehmen zu erweitern. Und nicht mehr zur Miete zu wohnen, würde mir helfen, dauerhaft Wurzeln zu schlagen. Ich wollte meinen Plan unbedingt vorantreiben. Seit ich mich von Eric getrennt hatte, hatte ich auf der Stelle getreten, und ich merkte, dass ich eine Herausforderung brauchte.

In den vergangenen zwei Jahren, in denen wir gewartet hatten, dass unsere einvernehmliche Scheidung rechtskräftig wurde, hatte ich ein bescheidenes Leben geführt. Jetzt, wo mir mein Anteil aus dem ehelichen Vermögen ausbezahlt worden war, warf ich auch nicht mit Geld um mich, doch ich musste mir ein neues Leben aufbauen. Unsere Ehe war zu Ende, ich war wieder Miss Gina Moss, und die Zeit war reif für einen Neuanfang.

Es war Freitagnachmittag, und da einige Eltern heute Morgen angerufen hatten, um mich davon zu unterrichten, dass ihre Kinder einen Infekt hatten, hatte ich einen dieser seltenen ruhigen Tage. Ich musste nur nachher Noah von der Schule abholen.

Noah war sieben und kam nicht regelmäßig zu mir. Sein Vater Gabe arbeitete lange, und Gabes Freundin Rosie (die auch eine meiner ältesten Freundinnen war) holte ihn gewöhnlich von der Schule ab. Noah verbrachte dann eine Stunde in ihrem Café, bis sie schloss. Heute hatte sie allerdings einen Termin und mich gebeten, dass ich mich um ihn kümmerte.

Nach ein paar Stunden, in denen ich meine Büroarbeit erledigte, schloss ich das Cottage ab und machte mich auf den Weg zur Dorfschule von Barnaby.

Auf dem Schulhof traf ich meine Freundin und Tagesmutter-Kollegin Paige. »Hey, Gina, kannst du mal in meine Tasche greifen und mir ein Taschentuch herausholen? Ich habe keine Hand frei, und Tabithas Nase läuft.«

Paige hatte Tabitha auf dem Arm, während sie einen Zwillingsbuggy hin und her schob, damit das andere Kind darin weiterschlief.

»Klar.« Ich griff in die Tasche ihrer weichen Wolljacke und fragte mich wie üblich, wie sie es schaffte, immer so gepflegt auszusehen. Selbst jetzt, wo ich mich den ganzen Tag um kein Kind hatte kümmern müssen, sah ich im Vergleich zu ihr aus, als käme ich gerade aus dem Bett.

»Oh, die arme Kleine, was für eine fiese Erkältung«, sagte ich und wischte ihr mit dem Taschentuch sorgfältig das Gesicht ab. »Bitte schön, Liebes.«

»Je weiter der Tag voranschreitet, desto schlechter geht es ihr. Ihr Dad hat sich furchtbar entschuldigt, als er sie heute Morgen brachte, hat mich allerdings angefleht, dass er sie dalassen kann. Die meiste Zeit habe ich sie auf dem Schoß gehabt«, sagte Paige seufzend. »Glücklicherweise hat Otis sich selbst beschäftigt. Allerdings sieht das Haus aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen; vor lauter Spielsachen siehst du den Teppich nicht mehr.«

Ich lachte. »Bei mir sieht es genauso schlimm aus, und ich war allein. Komm, gib sie mir mal.«

Tabitha protestierte leicht, doch ich steckte sie unter meine Jacke und ließ sie ihren Kopf an meinen Hals schmiegen.

»Danke.« Paige schüttelte ihren Arm aus. »Oh, sieh dir das an, sie ist auf der Stelle eingeschlafen, du bist ein Genie.«

Tabithas Augen waren wirklich zu, die Finger hatte sie in meinem Haar vergraben.

»Oh, wie süß«, murmelte ich.

»Ich bin mir sicher, das liegt an deinen großen Möpsen«, lachte Paige. »Die sind sehr viel gemütlicher als meine flachen Spiegeleier. Du hast so ein Glück.«

»Wie auch immer«, sagte ich. Ich war es gewöhnt, dass sie ihre härteste Kritikerin war. »Ich finde, du siehst großartig aus.«

»Dann solltest du mal deine Augen testen lassen.« Sie trat näher zu mir heran und sah sich über die Schulter. »Hast du Mr. Colby schon gesehen? Wow!«

Die Mitglieder des Schulaufsichtsgremiums hatten den Kindern letzte Woche einen Brief mit der Ankündigung mit nach Hause gegeben, dass Mrs. Birchnall, die seit Ewigkeiten Schulleiterin war, den Rest des Herbstschuljahrs aus persönlichen Gründen nicht anwesend sein und man versuchen würde, so schnell wie möglich einen vorübergehenden Ersatz zu finden. Offensichtlich war das gelungen.

»Noch nicht. Erzähl mir alles.«

Paige zufolge hatte er das Aussehen eines Promifußballers und Augen, die dir das Gefühl gaben, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein.

»Mensch, sieht der gut aus in einem Anzug.« Sie senkte die Stimme und schnaubte. »Und ich würde wetten, er sieht ohne noch besser aus. Ich frage mich, ob er Single ist?«

»Hey«, sagte ich, »du bist verheiratet.«

»Stimmt.« Sie grinste mich spitzbübisch an. »Du aber nicht!«

»Hör auf«, warnte ich sie. »Ich kann es echt nicht brauchen, dass all meine Freundinnen versuchen, mich zu verkuppeln, jetzt, wo meine Scheidung endlich rechtskräftig ist. Ich bin nicht eure arme Single-Freundin, die aus ihrem einsamen Dasein gerettet werden muss.«

»Botschaft angekommen«, sagte Paige und salutierte zum Spaß. »Ich würde aber trotzdem gerne wissen, ob er noch zu haben ist. Einfach so.«

»In Ordnung«, räumte ich ein, »aber nur damit das klar ist, ich will erst mal keine Dates. Ich muss mir darüber klar werden, wie ich mich nach Eric beruflich aufstellen möchte und will nicht, dass mein Urteil durch einen Mann getrübt wird.«

Paiges Brauen schossen nach oben. »Oh. Hörst du als Tagesmutter auf?«

»Nein, definitiv nicht, ich liebe meinen Job. Aber genug von mir, wie geht es dir?«, fragte ich, während ich einer Frau zulächelte, die ich kannte. »Ethan ist letzte Woche an die Uni gegangen, nicht?«

Paige stöhnte; sie tat mir aufrichtig leid. Sie hatte zwei Kinder, und jetzt waren beide aus dem Haus.

»Ich vermisse ihn mehr, als ich dir sagen kann. Das Nest ist jetzt offiziell leer, und es ist schrecklich.«

»Das tut mir so leid, meine Liebe«, sagte ich und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Es wird besser werden.«

Genau in dem Moment schellte es, und die Erwachsenen um uns herum setzten sich in Bewegung, um ihren Nachwuchs einzusammeln.

»Ich weiß«, sagte sie schniefend, »doch Hannah macht ihren Master in London und hat nicht vor, wieder nach Hause zu kommen, und jetzt ist Ethan auch weg. Es fühlt sich so an, als hätte ich sie für immer verloren, und Nigel scheint das alles überhaupt nicht zu tangieren.«

»Wie wäre es, wenn wir mit all unseren Kindern ein Picknick veranstalten, bevor es dafür zu kalt ist?«, schlug ich vor, um sie aufzuheitern. »So können wir etwas Zeit miteinander verbringen.«

Die Türen gingen auf, und hundertfünfzig kleine Menschen stürmten heraus. Der Geräuschpegel stieg dementsprechend an.

Sie lächelte mich mit feuchten Augen an. »Das würde mir sehr gefallen. Lass uns einen Termin ausmachen …« Sie unterbrach sich und holte tief Luft, während sie nach meinem Arm griff. »Guck! Da ist Mr. Colby. Barnabys Idris Elba.«

Ich folgte Paiges Blick und sah ihn. Es war unmöglich, das nicht zu tun. Bis jetzt hatte es nur zwei Männer an der Schule gegeben: Mr. Beecher, den betagten Hausmeister, und Mr. Duncan, einen Fliege tragenden Musiklehrer. Mr. Colby hatte mit keinem von ihnen Ähnlichkeit.

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich.

»Er sieht zu dir rüber«, sagte Paige.

»Wohl eher zu dir«, spöttelte ich.

Mr. Colby hob die Hand. Paige und ich sahen einander an.

»O mein Gott, er kommt herüber. Schnell, gib mir Tabitha«, sagte sie.

Ich gab ihr das schlafende Kleinkind zurück, und Paige musterte mich. »Wuschel dir mal durch die Haare, und versteck den Sabberfleck auf deiner Jacke.«

Selbst wenn ich ihrem Rat hätte folgen wollen, hätte ich keine Gelegenheit dazu gehabt, weil Noah in mich hineinlief und dabei mein Schambein traf, sodass ich beinahe zu Boden ging.

»Aua«, ich zuckte vor Schmerz zusammen und beugte mich zu ihm hinunter, um ihm gleichzeitig einen Kuss zu geben und die Beine übereinanderzuschlagen. »Manche weiblichen Körperteile sind ein bisschen empfindlich, weißt du.«

»Hallo? Mrs. Evans?«, sagte eine tiefe Stimme neben mir.

Ich richtete mich auf, um den Schulleiter zu begrüßen, der so tat, als hätte er nicht gehört, wie ich gerade von meinen weiblichen Körperteilen geredet hatte.

»Miss Moss«, korrigierte ihn Paige. »Sie ist Single.«

Mein Gesicht begann zu glühen.

»Ich bin Beau Colby, der vorübergehende Schulleiter.« Er streckte mir die Hand hin, und ich ergriff sie.

»Gina?« Noah zog an meinem Ärmel. »Du bist ganz rot im Gesicht.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Paige die Lippen zusammenpresste, um nicht zu lachen, während sie Löcher in die Trinkpäckchen für die zwei Kinder stach, die sie abholen wollte.

»Können wir gehen?«, fragte Noah.

»Wenn es für dich in Ordnung ist, Noah«, sagte Mr. Colby, »müssten ich und …«

»Gina«, kam ihm Paige schamlos zu Hilfe und streckte ihm die Hand hin. »Und ich bin Paige.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er schüttelte höflich ihre Hand und sah wieder mich an. »Wäre das für Sie in Ordnung, Gina?«

»Natürlich.« Um ehrlich zu sein, war er so nett, dass ich auch zugestimmt hätte, die Jungentoilette sauber zu machen, hätte er mich darum gebeten.

Paige gab einen kleinen Quietschlaut von sich, als wir uns verabschiedeten und machte mir hinter Mr. Colbys Rücken ein Zeichen, sie so bald wie möglich anzurufen.

»Nicht wieder in die Schule«, seufzte Noah müde, als wir zurück in das Gebäude gingen.

»Weißt du eigentlich, dass Miss Cresswell heute Geburtstag hat, Noah?«, fragte Mr. Colby. »Und dass sie einen ganz fantastischen Schokoladenkuchen für uns gebacken hat, um ihn mit uns im Lehrerzimmer zu essen.«

Noahs Augen strahlten. »Das ist mein Lieblingskuchen.«

»Meiner auch«, lachte Mr. Colby und zerzauste Noah das Haar. »Zum Glück ist noch etwas davon da.«

Die Schulsekretärin führte Noah ins Lehrerzimmer, damit er sich etwas Kuchen nehmen konnte, und Mr. Colby bot mir einen Platz in seinem Büro an.

»Das letzte Mal, dass ich hier war, bin ich ausgeschimpft worden, weil ich ein paar Plastiklineale zerbrochen hatte«, sagte ich und sah mich um. Der Blick durch die großen viktorianischen Fenster auf den kleinen Lehrerparkplatz war noch derselbe, doch früher war das Zimmer voller dunkler Holzmöbel und metallener Aktenschränke gewesen; nun dominierte helles Holz, und die Stühle waren aus Chrom und schwarzem Leder.

Er lachte, zog sein Jackett aus und hängte es an einen Haken hinter der Tür. Sein Hemd saß perfekt über den breiten Schultern; ich ging davon aus, dass er darunter ziemlich ansehnlich war. Ich rief mich zur Ordnung: ich war schlimmer als Paige.

»Dann wird es Sie freuen zu hören, dass Sie diesmal nicht in Schwierigkeiten stecken.«

Er holte eine Aktenmappe aus seinem Schreibtisch und ließ sich auf den Platz mir gegenüber fallen. »Ich hoffe, dass Sie der Schule helfen können.«

»Ich? Ich bin nur eine Tagesmutter, Mr. Colby, ich habe nicht einmal ein Kind an der Schule.«

»Beau, bitte«, insistierte er. »Und Eltern vertrauen ihre kostbaren Kinder nicht einfach irgendwem an, deshalb sollten Sie das, was Sie zu ihrer Betreuung und ihrem Wohlbefinden beitragen, nicht unterschätzen. Meiner Meinung nach sind Ihre Dienste eine Erweiterung dessen, was wir in der Schule anbieten.«

»Danke.« Ich war überrascht; es kam selten vor, dass man etwas anderes als einen besseren Babysitter in uns sah.

»Außerdem habe ich mir erlaubt, Sie in der Liste der registrierten Tagesmütter nachzuschlagen. Sie sind ausgebildete Lehrerin, was auch der Grund ist, weshalb ich dachte, dass Sie uns helfen könnten.«

»Sie haben wirklich Ihre Hausaufgaben gemacht.«

»Das tue ich immer.« Er lachte und zeigte mir seine wunderbaren weißen Zähne. Der Mann war praktisch perfekt. »Alles, was ich von meinen Kindern erwarte, tue ich auch selbst.«

»Wie viele Kinder haben Sie denn?«, sagte ich und versuchte, nicht enttäuscht auszusehen.

Ein Schatten zog über sein Gesicht, gefolgt von einem rauen Lachen. »Keine. Ich hätte Schüler sagen sollen. Ich selbst habe keine.«

Ich lächelte. »Das passiert mir auch dauernd, und da ich am Montag geschieden worden bin, werde ich in nächster Zeit wohl auch keine bekommen.«

Beau runzelte die Stirn. »Tut mir leid, das zu hören.«

»Es war eine freundschaftliche Scheidung, aber …« Ich zögerte, als unerwartet Gefühle in mir aufstiegen.

»Ich lebe auch in Scheidung«, sagte er schroff mit der Andeutung eines Lächelns. »Auch wenn meine alles andere als freundschaftlich verläuft. Noch vor sechs Monaten war ich glücklich verheiratet, und wir erwarteten unser erstes Kind. Ich dachte, mein Leben könnte nicht besser werden. Dann sind wir in der einundzwanzigsten Woche zu der anstehenden Ultraschalluntersuchung gegangen, und Andrea ist in Tränen ausgebrochen und hat mir gesagt, dass das Baby genau wie sein Vater aussieht. Aber dass ich nicht der Vater bin.«

Ich sah ihn schockiert an. Der arme Mann. Wie niederschmetternd, sich in sein ungeborenes Kind zu verlieben und dann zu hören, dass man nicht der Vater ist. »Es tut mir so leid. Ihre Frau muss verrückt sein, Sie zu betrügen.«

»Danke.« Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Ich möchte mich auch bei Ihnen entschuldigen. Ich kenne Sie erst fünf Minuten und erzähle Ihnen einfach so von meinem unseligen Privatleben. Normalerweise bin ich nicht so indiskret. Machen Sie den neuen Job dafür verantwortlich. In meinem Kopf herrscht das reinste Chaos.«

»Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, versicherte ich ihm. »Warum sagen Sie mir nicht einfach, weshalb ich hier bin?«

»Natürlich.« Er setzte sich aufrechter hin und räusperte sich. »Eine neue Familie ist nach Barnaby gezogen. Mrs. Fletcher und ihre Zwillinge, die in die dritte Klasse gehen. Mrs. Fletcher war heute Morgen auf einen Besuch mit den Mädchen hier, um sie mit dem Gebäude, den Lehrern und allem vertraut zu machen, bevor sie am Montag anfangen.«

»Eine gute Idee. Ich bin mir sicher, dass sie nicht lange brauchen werden, um sich einzugewöhnen; meiner Erfahrung nach passen sich Kinder sehr schnell an, und als Zwillinge haben sie auch noch einander.«

»Meine Priorität ist es mich zu versichern, dass sich die Mädchen in unserer Obhut und Betreuung gut entwickeln.«

»Und wie kann ich da helfen?«, fragte ich.

»Mrs. Flechter plant, nach einer Berufspause wieder halbtags zu arbeiten und braucht nach der Schule Unterstützung.«

»Ich habe viel zu tun, doch je nach dem, um welche Tage es sich handelt, werde ich mein Bestes tun, ihre Kinder unterzubringen«, sagte ich und fragte mich, warum er mich für etwas so Unkompliziertes in sein Büro gebeten hatte. »Bitte, sagen Sie ihr, dass sie mich am Montag nach der Schule auf dem Schulhof antrifft, oder geben Sie ihr meine Telefonnummer.«

»Das werde ich. Mrs. Fletcher möchte jedoch, dass Sie noch eins wissen, sodass sie es nicht vor Lily und Isabel ansprechen muss. Lily spricht im Moment leider nicht.«

Jetzt ergab das Ganze langsam Sinn. Kein Wunder, dass der Schulleiter involviert war. »Gar nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Bis auf unverständliche Worte zu ihrer Schwester, die diese dann weitergibt, leidet sie an selektivem Mutismus. Die Mädchen müssen behutsam behandelt werden, und da Ihr Name bei meinem ersten Treffen mit der Schulbehörde als angesehene Tagesmutter und ehemalige Lehrerin gefallen ist, habe ich gehofft, dass Ihnen eine solche Situation vielleicht vertraut ist?«

»Das muss ich leider verneinen.« Ich ging in Gedanken zu meinen Tagen als Lehrerin zurück. An meiner Schule hatte es Kinder mit diversen psychischen Störungen gegeben, doch diese war mir noch nicht untergekommen.

Beau sah enttäuscht aus. »Mrs. Fletcher meinte, dass sie es versteht, wenn Sie die Mädchen lieber nicht nehmen wollen.«

»Natürlich nehme ich sie«, sagte ich und fragte mich, was wohl der Grund für Lilys Problem war. »Die Mädchen sind mir mehr als willkommen.«

»Vorausgesetzt, Sie haben Platz«, erinnerte mich Beau.

Erics Bemerkung zu meinen beengten Wohnverhältnissen fiel mir wieder ein.

»Wir bekommen das hin«, sagte ich und ging im Geist meinen Stundenplan nach Lücken durch. »Ich freue mich darauf, die Mädchen nächste Woche kennenzulernen.«

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sagte Beau.

Wir standen auf und gaben uns die Hand.

»Und was meine mangelnde Erfahrung mit selektivem Mutismus angeht, habe ich ja das Wochenende, um mich darüber zu informieren und ein paar Strategien zu entwickeln, wie ich den beiden Mädchen helfen kann, dass sie sich so problemlos wie möglich in Barnaby einleben«, versicherte ich ihm.