Fliedersommer - Cathy Bramley - E-Book

Fliedersommer E-Book

Cathy Bramley

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Beschreibung

Holly Swifts größter Traum wird wahr, als ihr eine Stelle auf Wickham Hall angeboten wird. Gemeinsam mit Ben, der Hollys Herz auf Anhieb höherschlagen lässt, organisiert sie die schillernden Sommerfeste und Hochzeiten auf dem prächtigen Anwesen, das Zeit ihres Lebens ein besonderer Ort für sie war. Bereits als Kind ist sie durch die Gärten und Gänge des Schlosses gewandert. Doch welche Geheimnisse das Gemäuer wirklich für sie bereithält, muss Holly erst noch erfahren ...

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Das Buch

Holly Swifts größter Traum wird wahr, als ihr eine Stelle auf Wickham Hall angeboten wird. Gemeinsam mit Ben, der Hollys Herz auf Anhieb höherschlagen lässt, organisiert sie die schillernden Sommerfeste und Hochzeiten auf dem prächtigen Anwesen, das Zeit ihres Lebens ein besonderer Ort für sie war. Bereits als Kind ist sie durch die Gärten und Gänge des Schlosses gewandert. Doch welche Geheimnisse das Gemäuer wirklich für sie bereithält, muss Holly erst noch erfahren …

Die Autorin

Cathy Bramley lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und ihrem Hund in einem kleinen Dorf in Nottinghamshire. Sie war schon immer eine Leseratte und las früher oft mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Damit war erst Schluss, als ihr Mann ihr einen E-Reader mit Beleuchtung schenkte. Nachdem sie achtzehn Jahre lang eine Marketingagentur geleitet hatte, startete sie als Autorin noch einmal neu durch. Von ihrem Erfolg war sie dabei wohl als einzige selbst überrascht.

Lieferbare Titel

Wie Himbeeren im Sommer

CATHY BRAMLEY

FLIEDERSOMMER

ROMAN

Aus dem Englischen

von Franziska Heel

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel WICKHAM HALL.

Deutsche Erstausgabe 07/2017

Copyright © 2016 by Cathy Bramley

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München, unter Verwendung eines Motivs von © Photography by Greta Kenyon

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-20854-7V004

www.heyne.de

Für Tony, meinen strahlendsten Stern

Kapitel 1

Ich war ziemlich außer Atem, als ich um die Ecke in die Mill Lane einbog. Mein Mund war trocken, meine Lungen fühlten sich wie gequetscht an, und einer meiner Schnürsenkel löste sich. Doch ich war entschlossen, nicht langsamer zu werden.

»Komm schon, Holly«, murmelte ich vor mich hin, als die Ziellinie in mein Blickfeld rückte. »Du schaffst das. Beinahe da. Noch mal anstrengen!«

Die letzten einhundert Meter sprintete ich. Die frühe Junisonne schien warm auf meinen Rücken, und ich war trotz meiner leichten Bekleidung – T-Shirt und Shorts – verschwitzt. Jetzt allerdings hielt mich nichts mehr auf! Ich hatte die Schmerzgrenze überschritten, hatte das Ziel fast erreicht …

»Grundgütiger!«, rief Mrs. Fisher, meine ältere Nachbarin, als sie mit ihrem Einkaufswagen aus dem Gartentor trat. »Jetzt haben Sie mich aber erschreckt! So an mir vorbeizulaufen!«

»Entschuldigen Sie, Mrs. Fisher«, keuchte ich, während ich ihr gerade noch auswich. »Ein herrlicher Morgen, nicht wahr?«

»Wie geht es Ihrer Mutter?«, rief Mrs. Fisher hinter mir her.

»Gut, danke!«, rief ich über meine Schulter zurück. »Tut mir leid, kann nicht anhalten!«

Ich rannte bis zu unserem Gatter, die Arme triumphierend über den Kopf gestreckt, als ob ich ein unsichtbares Zielband durchgerissen hätte. Zum ersten Mal überhaupt hatte ich den ganzen Weg geschafft, ohne anzuhalten. Ich sprang über die Schachteln mit Abfall, die zum Recyceln nach draußen gestellt worden waren, und hielt dann atemlos vor der Haustür von Weaver’s Cottage an, dem honigfarbenen Reihenhaus, das ich mit meiner Mutter bewohnte.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr: fünf Kilometer in siebenundzwanzig Minuten. Eine persönliche Bestleistung und wirklich nicht übel für jemanden, der sich bis vor Kurzem lieber eine Schachtel mit Petit Fours (am liebsten die mit Zitrone) und die Fernbedienung geschnappt hatte, um es sich vor The Hotel Inspector bequem zu machen, statt Sport zu treiben.

Ich zog meinen Kopfhörer herunter und grinste vor mich hin, während Shakiras Hips Don’t Lie aus meinem iPod ertönte.

Du hast so was von recht, Shakira, dachte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Diese Hüften lügen garantiert nicht. Ein kompletter Monat voller Kuchen, in dem ich versucht hatte, einen Job zu finden, hatte absolut nichts für meine Hüften getan. Hoffentlich würde mein neues Fitness-Programm bald Wirkung zeigen. Fitter fühlte ich mich jedenfalls. Und was die Jobsuche betraf … Auch da wartete ich noch darauf, dass meine Anstrengungen Früchte trugen.

Einen Moment lang stand ich da, die Arme in die Hüften gestemmt, und rang nach Atem. Etwas Unkraut lugte zwischen den Bodenplatten hervor, und ich beugte mich herab, um es auszureißen. Ich nahm mir vor, heute ein paar Dinge zu erledigen, um das meiste aus den letzten Tagen meiner Arbeitslosigkeit zu machen. Vielleicht hatte Mum sogar Lust, mir zu helfen? Vorschlagen konnte ich es ja mal …

Vor fünf Wochen hatte man mir im Esprit Spa Resort gekündigt. Seitdem hatte ich mich mit vollem Elan auf die Arbeitssuche gestürzt. Trotzdem war mir noch genug Zeit geblieben, um mich in Weaver’s Cottage mit seinen niedrigen Decken und vollgestopften Zimmern etwas klaustrophobisch zu fühlen. Da meine Mutter nur eine Teilzeitbeschäftigung hatte, verbrachten wir viel zu viel Zeit miteinander, was allmählich anstrengend wurde.

Ich liebe Mum von ganzem Herzen und hätte alles für sie getan. Dazu gehört auch, ihre Eigenarten zu ertragen, seit ich denken kann. Aber auch ich bin nur ein Mensch, und mit ihr auf so engem Raum zusammenzuwohnen stellte meine Geduld wirklich auf eine ziemlich harte Probe.

Weshalb ich es auch so genoss, mir draußen die Beine zu vertreten. Laufen war mein Sicherheitsventil. Die Landstraßen um Wickham gaben mir den Raum, den ich brauchte, um Dampf abzulassen und in Ruhe nachzudenken.

Solange ich denken konnte, wollte ich in der Event-Branche arbeiten, bevorzugt in der für renommierte internationale Veranstaltungen. Es kann nicht schaden, sich hohe Ziele zu stecken, hatte ich gedacht. Leider sollten diese schon bald in unerreichbare Ferne rücken. Am Ende meines letzten Jahres an der Uni wurde klar, dass Mum ohne mich zu Hause nicht gut zurechtkam, und ich musste meine Pläne ändern. Nachdem ich drei Jahre lang in meinem Studentenwohnheim himmlisch minimalistisch gelebt hatte, kehrte ich nach Weaver’s Cottage zurück. Doch selbst wenn das meine Weltenbummler-Ambitionen erst einmal unmöglich machte, so hielt es mich keineswegs davon ab, weiterhin zu träumen.

Wickham war ein pittoreskes Dorf im Schatten von Stratford-upon-Avon, ein Juwel in der Krone des englischen Tourismus, sodass es zahlreiche geeignete Stellen für Einsteiger wie mich gab. Nachdem ich mich in einer Reihe von Jobs versucht hatte – unter anderem als Hotelrezeptionistin und als Ticketverkäuferin im Anne Hathaway’s Cottage –, bekam ich schließlich meine erste richtige Anstellung beim Esprit Spa Resort. Dort blieb ich drei Jahre und arbeitete mich zur Assistentin des Eventorganisators hoch.

Leider gerieten die Besitzer in finanzielle Schwierigkeiten, und das Resort musste schließen, wodurch ich in meine jetzige Lage geriet. Seitdem hatte ich mich wie eine Wahnsinnige um einen neuen Job bemüht. Ich wollte unbedingt im Event-Bereich bleiben. Aus diesem Grund wartete ich nun ungeduldig auf den Postboten. Denn unglaublicherweise war mein absoluter, hundertprozentiger, niemals wirklich anvisierter Traumjob nur einen Steinwurf von meinem Haus ausgeschrieben worden: Wickham Hall suchte nach einem neuen Assistenten für den Veranstaltungsmanager. Ich merkte, wie mein Herz allein bei dem Gedanken an das Elisabethanische Herrenhaus auf der anderen Seite von Wickham schneller schlug. Das herrschaftliche Anwesen war noch immer im Privatbesitz der Familie Fortescue und für seine zahlreichen beliebten Veranstaltungen bekannt. Das ist mein vorherbestimmtes Schicksal, hatte ich gedacht, als ich die Anzeige vor zwei Wochen in der Stratford Gazette entdeckte. Die Jobbeschreibung las sich, als wäre sie für mich geschrieben worden: akribisches Planungsgeschick, Detailgenauigkeit, ausgezeichnete Kommunikations- und Organisationsfähigkeiten sowie Erfahrung als Veranstaltungsorganisatorin. Die Stelle hätte passender nicht sein können!

Außerdem kannte ich Wickham Hall wie meine Westentasche. Ich war dort gewesen, seit ich laufen konnte. Als ich klein war, hatte ich mir sogar vorgestellt, dort zu leben, und mir ausgemalt, in einem Himmelbett und mit einer eigenen Zofe aufzuwachen, mit der Garderobe einer Disney-Prinzessin und Hektar von Wiesen und Gärten ganz für mich allein …

Ich unterdrückte einen Seufzer. Tatsache war nämlich, dass ich trotz meiner Bewerbung, in die ich Herz und Seele gesteckt hatte, bisher noch nicht zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden war. Die Vorstellungsgespräche fanden diese Woche statt, ich hätte inzwischen also eine Antwort bekommen müssen. In diesem Moment fuhr der Postbote vorbei und schüttelte bei meinem hoffnungsvollen Blick nur entschuldigend den Kopf. Also war auch heute wieder nichts dabei. Das war – um es milde auszudrücken – ein ziemlicher Schlag. Es war wohl an der Zeit, den Traum zurück in die Schublade zu stecken und sich anderweitig umzuschauen. Meine Haut war inzwischen so weit abgekühlt, dass ich zu zittern begann. Ich rieb mit den Händen über meine Oberarme und drehte mich um, um reinzugehen.

Die Haustür klemmte wie erwartet. Ich drückte mit beiden Händen dagegen.

»Oh, warte! Ich rücke eben kurz was zur Seite!«, rief Mum. »Okay, jetzt kannst du reinkommen, Schatz!«

Ich streckte den Kopf durch den Türspalt und wurde vom Anblick meiner Mutter begrüßt, die zwischen Stapeln von Zeitungen und Tüten voller alter Klamotten am Fußende der Treppe kniete. Sie trug eines ihrer Lieblingssommerkleider, ein Schnäppchen aus dem gemeinnützigen Secondhandladen, in dem sie arbeitete.

»Entschuldige«, sagte ich und zwängte mich durch den Türspalt. Ich versuchte, das Chaos zu ignorieren, das sich mir bot, und mich stattdessen ausschließlich auf meine Mutter zu konzentrieren.

Mum und ich ähneln uns sehr. Wir sind gleich groß – oder besser gesagt: gleich klein – und blond. Während ihre Augen blau wie die meiner Großeltern sind, sind meine braun, was wahrscheinlich auf denjenigen zurückzuführen ist, »der niemals erwähnt werden darf«. Doch der größte Unterschied – und zugleich größtmöglicher Streitpunkt – ist Zeug. Mum hatte überall Zeug herumliegen. Ich nicht.

Jetzt gerade wühlte sie sich mal wieder durch ihre Sammlung unnützer Dinge.

»Hast du etwas verloren, Mum?« Nach der frischen Luft draußen schien es mir im Flur besonders stickig zu sein.

»Nicht ich, nein. Aber du«, erwiderte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht, wobei sie sich in ihrer Lesebrille verfing, die dauerhaft auf ihren blonden Locken saß.

»Ich?« Ich lächelte schwach. Ich versuchte immer zu vermeiden, etwas irgendwo in diesem Haus abzustellen. Denn dann fand man es möglicherweise nie wieder.

»Das muss irgendwo hier sein«, murmelte sie. Ohne weiter auf mich zu achten, durchsuchte sie einen Stapel Briefumschläge.

»Was?«

Sie schüttelte betrübt den Kopf.

Ich ließ mich auf der untersten Treppe nieder. »Mum«, sagte ich und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. »Lass mich die Post nehmen. Die brauchen wir nicht, das ist alles Werbung. Okay?«

Sie nahm einen weiteren Stapel in die Hand und sah ihn durch. »Du hättest einen Brief von Wickham Hall bekommen sollen. Eine Dame namens Pippa rief gerade an und wollte wissen, ob du ihn erhalten hast. Ich habe versucht, ihn zu finden, bevor du zurückkommst.« Sie ging in die Hocke und blickte mich schuldbewusst an. »Es ist meine Schuld, Holly. Er muss irgendwo in meinem Durcheinander untergegangen sein. Es tut mir so leid.«

Mum wirkte so niedergeschlagen, dass ich einen Moment lang brauchte, um zu begreifen, was sie da gerade gesagt hatte. Meine Augen weiteten sich, ich schluckte. Ich wagte kaum zu hoffen …

»O mein Gott, Pippa ist die Veranstaltungsmanagerin! Was hat sie gesagt?« Ich fasste nach Mums Händen und zwang sie, mich anzusehen. »Was genau hat sie gesagt?«

»Sie sagte, du hättest nicht auf ihren Brief geantwortet, und wollte wissen, ob du heute Nachmittag noch zu dem Vorstellungsgespräch kommen könntest.«

Mein Herz schwoll vor Glück, Hoffnung und reinster Freude an. Ich gab Mum einen Schmatzer auf die Wange und rannte nach oben, um zu duschen. Das Zeug vor der Tür konnte warten. Jetzt musste ich mich erst einmal um meinen Traumjob kümmern.

Um drei Uhr nachmittags wurde ich von Pippa Hargreaves, Veranstaltungsmanagerin von Wickham Hall, zu einem Stuhl am Ende eines langen Eichentischs geführt. Mein Magen spielte verrückt, und ich wusste, dass meine Wangen gerötet waren. Aber ich war an dem Ort, an dem ich sein sollte, und das war die Hauptsache.

»Danke, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, Holly.« Sie lächelte und setzte sich mir gegenüber. »Ich verstehe leider nicht, was mit Ihrer Einladung zum Vorstellungsgespräch passiert ist.«

Ich sah Pippa zu, wie sie uns zwei Gläser Wasser aus einer schweren Glaskaraffe füllte. Sie war etwa fünf Jahre älter als ich – vermutlich Mitte dreißig – und trug sorglos hochgesteckte Haare, ein Sommerkleid mit Blumenmuster und ein warmes Lächeln. Sie hatte ununterbrochen geredet, seitdem sie mich im Empfangsbereich am Fuß einer großen Eichentreppe begrüßt hatte, und ich hatte bereits jetzt das Gefühl, dass wir uns ausgezeichnet verstehen würden.

»Ich bin mir sicher, dass es nicht an Ihnen lag«, meinte ich und nahm das Wasserglas entgegen. »Wahrscheinlich ging der Brief in der Post verloren. Ich freue mich einfach so sehr, dass Sie angerufen haben! Die ganze Woche über habe ich sämtliche Daumen gedrückt, in der Hoffnung, eingeladen zu werden.«

Ich fühlte mich ein wenig schuldig dabei, dem Postboten den Verlust des Briefs anzukreiden. Wir hatten Pippas Brief schließlich nämlich doch noch gefunden. Er war in einem dicken, cremefarbenen Umschlag mit dem Familienwappen der Fortescues gewesen und offenbar irgendwie in einen alten Prospekt für Weihnachtskarten geraten, zusammen mit einer ungeöffneten Stromrechnung und einem Flyer von Mo’s Maids Putzservice. Aber das konnte ich ja wohl kaum ehrlich zugeben, oder?

»Gut. Irgendwo hier habe ich auch noch eine Kopie Ihrer Bewerbung.« Pippa strahlte mich an und zog einen unordentlichen Stapel Papiere zu sich.

Es juckte mir in den Fingern, ihr den Stapel wegzunehmen und mit den Papierrändern auf den Tisch zu klopfen, um ihn in Ordnung zu bringen. Stattdessen verschränkte ich meine Hände unterm Tisch und versuchte mich darauf zu konzentrieren, das beste Vorstellungsgespräch aller Zeiten hinzulegen.

»Hier haben wir es: Holly Swift«, erklärte sie und zog meinen Bewerbungsbrief hervor. Sie überflog meinen Lebenslauf, indem sie ihn stichpunktartig leise vorlas. »Universität … Abschluss in Hospitality-Management … sowohl allein als auch als Teil eines Teams gearbeitet … ausgezeichnetes Organisationstalent … Assistentin des Veranstaltungsorganisators im Esprit Hotel und Spa Resort – Esprit? Sehr nobel.« Sie hielt kurz inne und schaute auf. »Ich hatte vor, meinen Mann dieses Jahr für unseren siebten Hochzeitstag dorthin einzuladen. Wie schade, dass es zugemacht hat.«

»Fand ich auch.« Ich wollte lieber nicht zu sehr ins Detail gehen, was die Insolvenz meines alten Arbeitgebers anging. Besser, ich steuerte unsere Unterhaltung in positivere Gefilde. »Das Esprit war sehr modern und edel«, fuhr ich daher rasch fort. »Aber ich liebe die elisabethanische Schönheit von Wickham Hall. Der Ort verströmt geradezu Geschichte. Das lässt sich mit Glas und Glanz bei Esprit meiner Meinung nach überhaupt nicht vergleichen.«

Pippa lächelte und schaute wieder auf meine Unterlagen. Währenddessen sah ich mich um, damit ich mir alle Einzelheiten im Zimmer einprägen konnte, um später Mum davon zu erzählen. Dieser Teil des Herrenhauses war für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, aber er war genauso hinreißend wie die anderen Räume, die ich bei meinen früheren Besuchen gesehen hatte. Das Büro der Veranstaltungsorganisation lag im ersten Stock des Ostflügels. Irgendwo unter mir befanden sich Lord Fortescues private Büroräume. Allein der Gedanke ließ meine Knie weich werden. Ein echter Lord, ich könnte tatsächlich mit einem echten Lord zusammenarbeiten … Da hätte Mum aber etwas in ihrem Secondhandladen zu erzählen!

Mein Blick wanderte durch die Fenster zu Anlagen und zum Park hinaus. Der Garten war voller leuchtender Blumen und von breiten gepflasterten Wegen sowie verstreut aufragenden Formschnitthecken durchzogen. Ein Rasentraktor hinterließ breite grüne Streifen, während er über die gepflegten Grünflächen tuckerte, und in der Ferne war eine Dunstwolke von den Fontänen der Brunnen zu erkennen, die in Richtung Hirschpark sprudelten. Ich verspürte eine große Sehnsucht.

»Also, Holly, können Sie mir sagen, warum ich Ihnen die Stelle als meine Assistentin geben sollte?« Pippa lehnte sich zurück, verschränkte ihre Finger und lächelte.

Ich blinzelte sie an. »Also, ich …«

Einen Moment lang war mein Gehirn völlig leer. Gewöhnlich bereitete ich mich auf ein Vorstellungsgespräch mit intensiver Recherche, Plänen und Übungen vor. Doch dafür hatte ich heute keine Zeit gehabt.

Komm schon, Holly, das ist deine große Chance. Das ist die Herausforderung, auf die du gewartet hast.

Ich holte tief Luft und lehnte mich vor. »Weil das mein Traumjob ist und ich Ihnen garantieren kann, dass niemand diese Stelle so sehr will wie ich.«

Pippa legte lächelnd ihren Kopf zur Seite. »Wirklich?«

Ich blickte ihr direkt in die Augen und nickte. »Seit ich ein kleines Mädchen war, bin ich jedes Jahr mit meiner Mutter zum Sommerfest, zum Feuerwerk und zu den Weihnachtsfeierlichkeiten gekommen … Im Grunde zu jeder Veranstaltung.« Ich rückte etwas nach vorn und legte selbstbewusst meine Unterarme auf den Tisch. »Manchmal komme ich allein hierher«, gab ich zu und strich mir meinen blonden Bob hinter die Ohren, »nur um den Frieden, die Symmetrie des Gebäudes und die Anordnung des Gartens zu genießen …«

Und um dem Chaos in Weaver’s Cottage zu entkommen, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Ich kann ehrlich sagen, dass mir Wickham Hall der liebste Ort der Welt ist. Und die Vorstellung, Teil des Teams zu sein, das all diese wunderbaren Events möglich macht, erfüllt mich mit einer solchen Freude, dass ich mich kaum zurückhalten kann …«

War das zu dick aufgetragen? Pippa schien das zwar nicht zu denken, aber vielleicht sollte ich doch besser mit meinen Vorzügen weitermachen. Also hustete ich und zählte dann mithilfe meiner Finger auf: »Ich bin effizient und sehr organisiert, ich liebe Herausforderungen, und ich bin mir sicher, dass wir beide sehr von einer Zusammenarbeit profitieren würden.«

Ich lehnte mich zurück und atmete bebend aus. Vielleicht hatte ich es übertrieben, aber es war die Wahrheit, und die Wahrheit zu sagen konnte doch nicht falsch sein – oder?

Pippa lächelte. »Danke. Das kam von Herzen, Holly, das war eindeutig. Ihr Lebenslauf ist sehr eindrucksvoll, und es ist von Vorteil, dass Sie unsere Veranstaltungen bereits kennen.«

Wir sprachen noch eine Viertelstunde lang. Ich erzählte ihr von meiner persönlichen Situation, die mich in der Gegend verankerte, während sie mir die Aufgaben ihrer Assistentin schilderte. Sie berichtete mir auch von ihren vier Kindern – alle unter sechs, einschließlich eines Zwillingpärchens – und von dem alten Pfarrhaus, das sie, die Tochter eines Vikars, an ihre Kindheit erinnerte. Was für eine großartige Frau!

»Die Arbeit hier hat nichts Glamouröses, das sollten Sie wissen«, erklärte Pippa, wobei ihre Augen funkelten. »Wahrscheinlich klingt es so, aber hier in Wickham Hall Veranstaltungen zu organisieren, kann körperlich ziemlich anstrengend sein. Es ist nicht nur, dass man jeden Tag von einem Ende des riesigen Anwesens bis zum anderen und wieder zurück laufen muss, oft stellen wir auch selbst Stühle und Tische auf, schleppen Schachteln voller Broschüren, klettern auf Leitern, um Schilder anzubringen …«

»Das ist kein Problem für mich«, erwiderte ich und hatte das Gefühl, vielleicht etwas zu enthusiastisch zu klingen.

»Gut. Und für unsere Leistungen werden wir selten gelobt. Lord und Lady Fortescue repräsentieren Wickham Hall in der Öffentlichkeit. Die meiste Zeit werden wir gar nicht bemerkt.«

»Das ist mir absolut recht!« Ich hielt beide Hände hoch. »Ehrlich. Ich bin jemand, der gern im Hintergrund arbeitet. Geben Sie mir ein Klemmbrett und eine Liste mit Aufgaben, und ich bin in meinem Element.«

»Dann passt es ja«, entgegnete Pippa lachend.

Während sich Pippa ein paar Notizen am Rand meines Lebenslaufs machte, sah ich mich erneut um.

»Haben Sie noch Fragen?«, wollte Pippa mit gezücktem Füller wissen.

»O ja.« Ich konzentrierte mich wieder auf mein Gegenüber. »Wird es eine Art Vorstellungsrunde geben? Ich mache mich gerne mit den wichtigsten Angestellten und deren Aufgaben vertraut, ehe ich ins kalte Wasser springe.«

Pippas Augen funkelten amüsiert.

»Äh, ich meine, falls ich überhaupt genommen werde«, fügte ich hinzu.

»Natürlich.« Sie presste die Lippen aufeinander, und ich vermutete, dass sie ein Lächeln unterdrückte. »Ich bin mir sicher, dass wir einen Rundgang machen können, wo Sie alle Leute, mit denen Sie zu tun haben werden, kennenlernen. Weitere Fragen?«

»Noch eine.« Ich holte tief Luft. »Welche Aufstiegsmöglichkeiten gibt es hier?«

Pippa zog eine Grimasse. »Hier bei uns? Leider keine.« Sie schloss den Füllfederhalter und schob meine Bewerbung an die unterste Stelle des Stapels. »Es sei denn, ich gehe. Was ich nicht vorhabe. Wir sind ein kleines Team. Um genau zu sein, nur zwei. Und daran wird sich wohl auch in der Zukunft nichts ändern. Ist das alles?«

Ich schluckte und warf einen besorgten Blick auf die Bewerbungsbögen. War meine letzte Frage zu dreist gewesen? Aber ich war ehrgeizig, es konnte also nicht falsch sein, dass auch zu signalisieren.

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Ich tat es ihr gleich.

»Es freut mich sehr, das zu hören«, sagte ich.

Pippas Mund verzog sich zu einem Lächeln, und sie wies auf die Tür. »Ich bringe Sie hinaus.«

»Ich meine, dass Sie nicht vorhaben wegzugehen«, erklärte ich über meine Schulter hinweg, während ich den Gang entlanglief. »Ich glaube, wir wären ein tolles Team. Meinen Sie nicht?«

Sie lächelte noch immer. »Es gibt einige starke Kandidaten für diese Stelle, Holly. Ich muss mir überlegen, wer am besten passt.«

»Okay.« Ich nickte, während ich ihr innerlich positive »Nimm mich«-Signale sandte.

»Gut. Von hier finden Sie sicher selbst hinaus.« Pippa reichte mir die Hand. »Es freut mich sehr, Sie kennengelernt zu haben, Holly. Ich werde mich melden.«

»Wann wird das sein?«, fragte ich.

»Sie waren die letzte Kandidatin. Also sehr bald.«

»Vielen herzlichen Dank.« Ich strahlte und ließ ihre Hand widerstrebend los. »Ich freue mich darauf.«

Zu Hause rief ich Mum einen Gruß zu und rannte dann sofort in mein Zimmer hoch. In meinem Kopf herrschte Aufruhr, und mein Herz hämmerte noch immer wie wild. Ich brauchte ein paar Minuten allein an meinem Zufluchtsort, meiner Oase der Ruhe, fern vom Stress des restlichen Cottages, um meine Gedanken sammeln zu können.

Mein Zimmer hatte dieselbe Größe wie das meiner Mutter. Damit endeten auch schon die Ähnlichkeiten. Alle meine Möbel waren weiß: Ich hatte weiße Wände, weiße Bettwäsche und weiße Vorhänge. Alle Oberflächen waren frei, bis auf eine kleine Schale auf meiner Kommode, wo ich die Schlüssel deponierte. Ich mochte keine dekorativen Elemente, sondern nur Fotografien an den Wänden, die das Zimmer in zusammengefassten Collagen etwas auflockerten. Sie erinnerten mich an meine Zeit in der Schule und an der Universität sowie an die Urlaube mit meiner besten Freundin Esme.

»Wie ist es gelaufen?«, rief Mum zu mir hoch.

»Komme gleich!«, rief ich zurück. Ich öffnete den Kleiderschrank und zog mir Jeans und T-Shirt an. Ich hängte Kleid und Jacke auf, stellte meine Pumps auf ein eingebautes Schuhregal, schob mein Handy in die Hosentasche und rannte hinunter zu Mum.

»Oh, Mum«, sagte ich. »Ich will den Job unbedingt, und ich mag diese Pippa. Das Büro war auch wunderschön, holzverkleidet und mit hübschen kleinen Fenstern.«

»Dann drücke ich dir die Daumen, Schatz.« Mum tätschelte meinen Arm.

Auf der Arbeitsplatte standen eine Unzahl von Töpfen und Küchenutensilien – wie ein Brotbackautomat und eine Kaffeemühle, die sie aus dem Secondhandladen mitgebracht und nie benutzt hatte. Es gelang mir, in dem ganzen Durcheinander die Teekanne zu erspähen. »Ist noch Tee in der Kanne?«

»Ja, aber der ist inzwischen kalt«, sagte Mum. »Wie wäre es, wenn wir stattdessen gemeinsam ein Gläschen Pinot Grigio trinken, um dein Vorstellungsgespräch zu feiern?«

»Nein, danke. Noch habe ich den Job nicht«, meinte ich und trug den Wasserkessel zum Spülbecken hinüber. »Bleiben wir beim Tee und feiern dann, wenn und falls ich die Stelle kriege. Aber …« Ich zögerte, da ich wusste, dass ich für das, was ich sagen wollte, den richtigen Tonfall finden musste. »Ich habe mir gedacht, dass wir doch vielleicht ein bisschen die Sachen draußen im Flur wegräumen könnten, Mum. Dadurch wäre ich zum einen von dem Vorstellungsgespräch abgelenkt, zum anderen habe ich bald vielleicht nicht mehr so viel Zeit …«

Die Veränderung in ihrer Miene kam sofort und unmissverständlich. Ich hatte schon viele Male miterlebt, wie schnell der Rollladen herunterkam, sobald ich versuchte, einen vernünftigen Vorschlag zu machen.

Mum presste die Lippen aufeinander und schüttelte abwehrend den Kopf. »Da gibt es nichts wegzuräumen«, murmelte sie. »Ich brauche das alles. Außerdem habe ich heute Abend schon etwas zu tun. Und Tee möchte ich auch nicht, danke.«

Mir rutschte das Herz in die Hose, als sie an mir vorbeirauschte und im Wohnzimmer verschwand. Typisch Lucy Swift – es war immer das Gleiche. Sobald ich einen Vorschlag machte, um sie aus diesem Teufelskreis herauszuziehen, hatte sie auf wundersame Weise plötzlich etwas anderes Dringendes zu tun und verschwand.

Ich war versucht, ihr hinterherzurufen, doch noch ehe ich die Chance hatte, eine angemessen diplomatische Antwort zu formulieren, klingelte mein Handy.

»Holly Swift«, meldete ich mich. Bitte lass es Pippa sein, bitte …

»Holly, hallo. Hier Pippa Hargreaves. Gratuliere, Sie haben die Stelle.«

»Ja!«, rief ich und schlug mit der Faust in die Luft. »Vielen Dank. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«

Meine neue Chefin lachte leise in mein Ohr. »Das freut mich. Wann können Sie anfangen?«

»Jetzt?«, schlug ich vor.

Sie lachte erneut. »Es ist Freitagabend, Holly. Montagmorgen um neun Uhr reicht völlig. Ich treffe Sie dann im Empfangsbereich.«

»Punkt neun Uhr«, strahlte ich. »Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Wochenende, Boss.«

Kapitel 2

Es war eine kurze Fahrt bis nach Wickham Hall. Ein Wachmann – ein adretter älterer Mann in weiten Shorts und einer Regenjacke, an der ein Namensschild mit dem Namen Jim Badger angebracht war – winkte mich auf den Parkplatz für Angestellte.

Es war fünf vor neun. Mein Magen verkrampfte sich vor Aufregung, als ich Wickham Hall durch den Angestellteneingang betrat. Ich, hier, eine Angestellte! Wie herrlich! Ich setzte mich auf einen der Samtsessel im Empfangsbereich am Ende der breiten Treppe und wartete darauf, dass Pippa mich holen würde.

Beinahe im gleichen Moment piepte mein Handy. Ich fischte es aus meiner Tasche und musste grinsen, als ich sah, dass die Nachricht von Esme kam.

Genieße deinen ersten Tag! Ich bin mir sicher, dass Du sie mit deinen Klemmbrett-Fähigkeiten vom Tisch fegst!

Rasch tippte ich eine Antwort.

Danke, Esme. Und du hattest recht mit dem Kleid. Ich fühle mich darin voller Tatendrang!

Ha, wusste ich’s doch! Ich sollte in Hollywood die Stars einkleiden, hier ist meine Begabung total verschwendet. Bis später!

Ich stellte mein Handy auf lautlos, steckte es wieder in die Tasche und strich meinen Rock glatt. Esme hatte mich am Samstag überredet, ihn zu kaufen. Sie und ihre Mutter Bryony besaßen eine Boutique namens Joop in Hoxley, dem nächsten Dorf nach Wickham. Sie hatten herrliche Kleider, wenn auch etwas außerhalb meiner Preislage, selbst mit dem Preisnachlass meiner großzügigen Freundin. Bryony hatte die Begabung, sofort zu sehen, was an jemandem gut aussehen würde, und sobald sie mich einmal überredet hatte, das Kleid anzuprobieren, und Esme vorgeschlagen, den Saum etwas hoch zu nähen, war es auch schon um mich geschehen.

»Wie Coco Chanel schon sagte: ›Mode ist vergänglich, Stil niemals‹«, hatte Esme mit dem Mund voller Stecknadeln gesagt, während sie die Länge so abänderte, dass es zu meiner kleinen Statur passte.

Da es an diesem Tag tatsächlich vor allem um den ersten Eindruck ging, wollte ich natürlich unbedingt, dass sie sich an meinen Stil erinnerten.

Nervös stand ich auf und ging durch die Eingangshalle. Auf einem hohen, schmalen Pult lagen Broschüren aus. Ich las gerade über den Umbau einiger Außengebäude in eine Kunstgalerie, als zwei Frauen hereinkamen, eine in der weißen Arbeitskleidung einer Köchin, die andere in der Uniform einer Kellnerin. »Kümmert man sich schon um Sie?«, fragte mich die Köchin.

»Ja, danke.« Glaube ich jedenfalls, fügte ich innerlich hinzu und warf einen heimlichen Blick auf meine Armbanduhr. Zehn nach neun.

»Gut. Übrigens ein sehr hübsches Kleid.«

Treffer.

»Vielen Dank.« Ich strahlte, als sie weitergingen.

Tatsächlich schien niemand für mich zu kommen. Vielleicht war Pippa aufgehalten worden. Ich steckte die Broschüren in meine Tasche, um sie später Mum zu zeigen, und überlegte mir gerade, ob ich allein ins Büro hochgehen sollte, als ich eine matronenhafte Frau Ende sechzig entdeckte, die den Gang entlang auf mich zugeeilt kam. Ihre kurzen silbergrauen Haare waren in perfekte Wellen gelegt, eine Lesebrille hing an einer Kette auf ihrer Brust, und eine dieser Kameebroschen von Wedgwood war an ihrer Strickjacke befestigt. »Miss Swift?«, fragte sie kurz angebunden.

»Ja?« Ich sprang von dem Sessel auf.

»Ich bin Mrs. Beckwith, Lord Fortescues Privatsekretärin«, stellte sie sich vor und schüttelte mir kurz die Hand. »Willkommen in Wickham Hall. Ich wurde geschickt, um Sie abzuholen. Sie allen vorstellen und all das.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Und bitte nennen Sie mich Holly«, erwiderte ich mit einem Lächeln. Mrs. Beckwith erinnerte mich an meine alte Englischlehrerin, eine forsche Frau, die keinen Sinn für Unnötiges hatte und uns verbat, einen Satz mit »aber« zu beginnen. »Ist Pippa …«

»Pippa wird heute nicht da sein. Möglicherweise die ganze Woche nicht.« Mrs. Beckwith zeigte auf die Treppe. »Folgen Sie mir bitte zum Veranstaltungsbüro hinauf.«

Ich runzelte die Stirn. Wie schade. Ich hatte mich auf die gemeinsame Zeit mit Pippa gefreut. Und sie hatte mich doch einarbeiten wollen. Es war seltsam. Am Freitag hatte sie nicht erwähnt, dass sie in dieser Woche gar nicht da sein würde. Vielleicht konnte ich sie später anrufen.

»Sie ist doch hoffentlich nicht krank?«, fragte ich, während ich Mrs. Beckwith zum Fuß der Treppe folgte.

»Nein, das nicht. Es ist wohl eher ein familiärer Notfall«, erwiderte sie und begann in den ersten Stock hinaufzusteigen.

Was das wohl bedeutete? Die arme Pippa. Ich hätte Mrs. Beckwith am liebsten weitere Fragen gestellt, doch diese eilte die Stufen so schnell hinauf, dass ich mich anstrengen musste hinterherzukommen.

Oben führte ein dicker roter Teppich den Flur entlang. Auf der einen Wandseite waren eine Reihe Fenster eingelassen und auf der anderen große, weiß gestrichene Türen mit Messingknäufen. Die einzige Tür, die offen stand, war die zum Veranstaltungsbüro. Zu meinem Büro.

»Sie werden dieses Büro mit Pippa teilen. Machen Sie es sich bequem. Die Damentoilette ist den Korridor entlang. Und wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an. Die Telefonliste liegt in der obersten Schublade.«

»Danke.« Ich stand in der Mitte des Raums und sah mich neugierig um.

Es war ein ziemlich kleines Zimmer, dessen Fenster auf die Gärten hinausblickte und das gerade genügend Platz für zwei Schreibtische, einen Kopierer und einen Tisch mit Wasserkocher, Kaffeemaschine und Bechern hatte. Ich warf einen Blick auf die Schreibtische. Einer war leer bis auf einen Laptop und einen DIN-A4-BLock, während man den anderen kaum unter einem Berg von Papieren, Akten und Katalogen erkennen konnte.

»Du meine Güte, sie wird immer schlimmer«, lachte Mrs. Beckwith und trat zu dem chaotischen Schreibtisch. »Ich habe keine Ahnung, wie Pippa in diesem Durcheinander arbeiten kann.«

Ich atmete erleichtert auf, dass das nicht mein Schreibtisch sein sollte, und stellte meine Tasche auf dem leeren ab.

Würde Pippa etwas dagegen haben, wenn ich ihren in ihrer Abwesenheit aufräumte? Ich hatte wirklich keine Lust, die ganze Woche dieses Chaos mit ansehen zu müssen. Davon hatte ich zu Hause genug.

»Obwohl ich zugeben muss, dass sie immer sofort das findet, was sie gerade sucht«, fuhr Mrs. Beckwith fort und schüttelte den Kopf, während sie die Papiere durchsuchte. »Ah, hier haben wir es: der Plan für die Veranstaltungen im kommenden Jahr.« Sie nahm ein paar Unterlagen in die Hand und blätterte sie durch. Dann seufzte sie. »O je, hier steht aber nichts vom Kalender, für dessen Organisation Pippa zuständig ist. Und Lord Fortescue muss so bald wie möglich wissen, was vorn aufs Cover kommt. So wie es aussieht, hat sich Pippa noch nicht entschieden. Nun ja.« Sie lächelte mich erwartungsvoll an. »Jetzt können Sie das ja machen.«

»Natürlich.« Ich nickte. »Das sollte kein Problem darstellen.«

Wie schwer konnte das schon sein? Es gab bestimmt Unmengen von Dingen in Wickham Hall, die ein tolles Frontcover abgeben würden.

»Gut, dann kommen Sie gleich mit, dann stelle ich Ihnen alle wichtigen Leute vor, mit denen Sie zusammenarbeiten werden. Wir sollten keine Zeit verlieren.« Und schon marschierte sie durch die Tür.

Ich warf einen letzten Blick auf Pippas Tisch und die Papierberge, die sich dort planlos stapelten, und fragte mich, ob ich es schaffen würde, all das auszugraben, was ich für die kommende Woche brauchte.

»Äh … Mrs. Beckwith, was sind denn die Hauptveranstaltungen, auf die sich Wickham Hall gerade vorbereitet?«

Mrs. Beckwith wedelte ungeduldig mit der Hand, um mir zu bedeuten, mich zu beeilen. »Im Gehen reden, meine Liebe, im Gehen reden«, meinte sie. Wir eilten die Treppe wieder hinunter. »Nun, ich denke, dass es sich, nach Priorität geordnet, um folgende Events handelt: Hochzeit, Kalender, Sommerfest.«

»Ich wusste gar nicht, dass Wickham Hall auch Hochzeiten veranstaltet!«, sagte ich überrascht. Ich hatte auch nicht gewusst, dass ich Hochzeiten veranstalten sollte, wenn ich es mir genau überlegte. Ich hatte zwar schon einige Junggesellinnenabschiede organisiert, aber noch nie eine richtige Hochzeit.

Mrs. Beckwith schüttelte den Kopf. »Das tun wir gewöhnlich auch nicht, aber es geht um Miss Zaras Hochzeit.«

Natürlich, Lord und Lady Fortescues Tochter. Jetzt erinnerte ich mich, dass ich davon in den Klatschnachrichten der Stratford Gazette gelesen hatte. Sie heiratete irgendeinen Franzosen von einer Weindynastie mit eigenem Chateau. Noch in diesem Monat. Also war meine erste Veranstaltung eine gesellschaftlich extrem wichtige Hochzeit? Ich merkte, wie sich mir der Magen verkrampfte. Wie es aussah, würde es also ein nicht ganz so entspannter Einstieg in den neuen Job werden …

»Ich bin mir sicher, Pippa wird rechtzeitig zurück sein«, versuchte mich Mrs. Beckwith zu beruhigen.

Ich nickte zuversichtlich. Schließlich sollte die Hochzeit erst am Monatsende stattfinden. Welche Art von familiärem Notfall konnte so lange dauern?

Kapitel 3

»Leider habe ich nicht viel Zeit«, sagte Mrs. Beckwith. Für ihr Alter war sie sehr schnell: Ich musste im Laufschritt neben ihr herlaufen, um mithalten zu können.

»Da sind wir.« Mrs. Beckwith riss eine Tür auf, auf der »Privat« stand. Ich folgte ihr und fand mich in einem wunderschönen Büro wieder, das doppelt so groß wie Pippas und meins war.

Obgleich das Herrenhaus elisabethanisch war und die Fassade fast völlig unverändert geblieben war, hatte eine frühere Generation der Fortescues im achtzehnten Jahrhundert fast das ganze Gebäude im georgianischen Stil umgebaut. Ich war zwar keine Historikerin, aber in der Schule im Ort lernte man nicht gerade wenig über Wickham Hall und die Familie Fortescue.

Dieses Zimmer war hell und elegant. Die Wände waren in einem blassen Schlüsselblumengelb gehalten, die Decke hatte man stuckverziert, und in der Mitte hing ein schöner Kronleuchter. Zwischen zwei Fenstern stand ein üppiger Blumenschmuck auf einem Ständer, alle Möbel waren aus einem warmen, golden schimmernden Holz: von den Bücherregalen an einer Wand über die Schreibtische bis hin zu den Kommoden und den Aktenschränken. Das Büro strahlte Ordnung und Ruhe aus, und ich merkte, wie sich meine Schultern automatisch entspannten.

Eine Verbindungstür in den nächsten Raum stand offen, man konnte mehrere Stimmen hören, die miteinander sprachen.

Mrs. Beckwith legte einen Finger auf die Lippen und eilte zur Tür, um sie hastig zu schließen. »Lord und Lady Fortescue sind gerade im Gespräch mit der Bank«, erklärte sie flüsternd. Dann holte sie aus einer Schublade im Schreibtisch eine Kamera hervor.

Ich wartete in der Mitte des Zimmers und wagte nicht, einen Laut von mir zu geben. Mrs. Beckwith richtete sich auf und sprach dann in ein Walkie-Talkie: »Sheila an Nikki. Wo bist du? Over.«

Das Funkgerät knackte und zischte. »Nikki an Sheila. Beim Köpfeabschneiden auf der Terrasse. Warum? Over.«

»Bin auf dem Weg zu dir. Gartentour für einen Neuankömmling. Over.«

»Oh, verdammt …«

Mrs. Beckwith schnitt den Rest von Nikkis Kommentar ab, schob sich das Walkie-Talkie wieder an den Gürtel ihres Rocks und merkte, dass ich die Augenbrauen hochzog.

»Nikki Logan, unsere Hauptgärtnerin«, erklärte sie. »Machen Sie sich ihretwegen keine Gedanken. Hunde, die bellen, beißen nicht. Passen Sie nur auf ihre Gartenschere auf. Los, wir gehen sie suchen.« Sie drückte mir die Kamera in die Hand und sprintete los. »Kommen Sie.«

Dieses Mal ging es nicht zurück zum Angestellteneingang, sondern zum Ende des Flurs und dort durch eine schwere Holztür. Wir betraten ein Zimmer, das ich wiedererkannte. Er war auch für die Öffentlichkeit zugänglich.

»Oh, ich liebe diesen Raum«, flüsterte ich.

Er war groß und quadratisch, hatte tiefrot gestrichene Wände und wahrscheinlich die Größe des gesamten Erdgeschosses von Weaver’s Cottage. Trotz seiner Größe strahlte er etwas gemütlich Heimeliges aus. Überall standen kleine Tische, und um den riesigen Kamin waren bequem aussehende rote Sessel aufgestellt. Eine Unzahl von Familienfotos hingen an den Wänden: von viktorianischen Sepia-Aufnahmen bis zu jüngeren Bildern von Hochzeiten, Partys und Urlauben.

Ich finde immer, dass Familienfotografien wie Teile eines großen Puzzles sind, das unser Leben einfängt. Wenn man die Teile richtig zusammensetzt, hatte man das Puzzle gelöst.

In unserem Wohnzimmer befanden sich nur zwei gerahmte Schnappschüsse von Mum und mir, irgendwo vergraben in den Tiefen des Alkovens neben dem Kamin, sowie eine Aufnahme der Hochzeit meiner Großeltern mütterlicherseits. Bei meinem Puzzle fehlten noch einige Teile, so viel war klar.

Mrs. Beckwith lächelte mich an. Um ihre Augen zeigten sich Lachfalten. »Den Roten Salon? Ich auch. Sind Sie hier einmal an Weihnachten gewesen?«

»Ja«, sagte ich. »Mit meiner Mutter.«

Mum und ich besuchten Wickham Hall immer an Weihnachten; es gehörte zu unseren kleinen Traditionen. Wir bestellten in dem Café Mince Pies und Glühwein und gingen dann ins Herrenhaus, um uns die Weihnachtsdekorationen anzusehen. An den Festtagen war dieser Raum sogar noch gemütlicher, geschmückt mit Girlanden aus Efeu und Mistelzweigen. Auf dem Kaminsims standen Kerzen, im Kamin loderte ein heimeliges Feuer, und ein richtiger Christbaum stand in der Ecke.

Dieses Jahr würde ich tatsächlich jeden Tag hierherkommen können, falls ich dazu Lust hatte.

Eine Frau in der Uniform der Touristen-Guides, die feinen grauen Haare zu einem Knoten zusammengefasst, sprang von einem hohen Hocker herab, der neben der Tür stand. »Jemand Neues, Sheila?«

»Guten Morgen, Marjorie«, begrüßte Mrs. Beckwith sie. »Ja, das ist Holly Swift, Pippas neue Assistentin.« Als ich einen Schritt vortrat, um die Hand der älteren Dame zu schütteln, fuhr sie fort: »Marjorie ist für unser Team von Fremdenführern verantwortlich.«

»Hallo, meine Liebe. Wenn Sie irgendwann einmal die besonders ausführliche Tour für die Angestellten möchten, lassen Sie es mich wissen«, sagte Majorie und tippte sich an die Nase. »Ich zeige Ihnen gern alle meine Lieblingsorte.«

»Ich suche nach Dingen, die im neuen Kalender auftauchen können.« Ich wedelte mit der Kamera. »Deshalb komme ich sicher bald darauf zurück.«

»Vielleicht schon nach dem Mittagessen«, schlug Mrs. Beckwith vor und führte mich in Richtung der Terrassentüren. »Als Erstes kommt die Gartentour. Schade, dass es heute so hässliches Wetter ist.«

Ich schaute durchs Fenster. Das Wetter war tatsächlich nicht das beste. Seit meiner Ankunft hatte sich der Himmel verfinstert, und das Nieseln war zu einem stärkeren Regen geworden. Ich zog mir die Strickjacke enger um die Schultern, während Mrs. Beckwith die Tür öffnete und zu einem der Regenschirme griff, die daneben in einem Ständer standen. Als ich auf die mit Moos bedeckten Steinplatten am äußersten Rand einer breiten Terrasse trat, entdeckte ich auf der anderen Seite eine Gestalt mit einem breitkrempigen Lederhut, knielangen kakifarbenen Shorts und Wanderstiefeln. Er oder sie schnippelte an einem Busch aus pinkfarbenen Blüten in einer Pflanzvase herum, die auf einer Steinbalustrade thronte.

»Ich überlasse Sie hier den fähigen Händen unserer Hauptgärtnerin, Holly«, sagte Mrs. Beckwith, während sie mir den Regenschirm an den Arm hängte und mir auf die Schulter klopfte. »Machen Sie heute Vormittag gleich einige Bilder. Es ist immer interessant zu sehen, was einem neuen Mitglied unseres Teams so ins Auge sticht. Außerdem müssen wir uns wirklich um die Fotos für den Kalender kümmern.«

»Das mache ich gern«, meinte ich glücklich. Von dem Wetter einmal abgesehen, fand ich es eine sehr schöne Art, meinen ersten Vormittag zu verbringen, durch Wickham Halls wunderbare Gärten laufen und all das fotografieren zu dürfen, was mir auffiel.

Die Person mit dem Lederhut winkte uns zu und beobachtete mich dann, die Arme in die Hüften gestemmt, wie ich den Schirm aufspannte, um mich und die Kamera vor dem Regen zu schützen. Ich lief über die Terrasse und trat neben der Balustrade zu ihr. »Oh, ich liebe Geranien«, sagte ich und roch an den Blumen, die sie gerade bearbeitete. Um Nikkis erdige Hand zu schütteln, musste ich mir erst einmal den Schirmgriff unters Kinn klemmen. »Und die Farbe! An einem düsteren Tag wie heute scheint sie geradezu zu glühen. Sie haben etwas so Munteres, nicht wahr? Es freut mich übrigens, Sie kennenzulernen. Ich bin Holly Swift, Pippas neue Assistentin.«

Ich bin keine besonders gute Gärtnerin, aber Mum entwickelt manchmal auf einmal Begeisterung dafür. Deshalb auch die Töpfe vor unserer Haustür. Geranien sind eine der wenigen Blumenarten, die ich überhaupt erkenne.

Die Hauptgärtnerin von Wickham Hall warf mir einen verärgerten Blick zu. »Nikki Logan. Und das sind Pelargonien«, erwiderte sie und schnitt genüsslich eine weitere abgestorbene Blüte ab.

»Oh.« Ich stand etwas beschämt da und rückte dann näher, um so zu tun, als ob ich wüsste, wovon ich sprach. »Sieht aber ähnlich aus.«

»Nur für das ungeübte Auge.«

Hunde, die bellen, beißen nicht, wiederholte ich innerlich.

»Genau das habe ich«, meinte ich lachend. »Total ungeübte Augen. Ich lerne allerdings schnell, und wenn Sie Zeit haben, mich herumzuführen, dann würde ich gern ein paar Fotos für den neuen Kalender machen.«

Nikki holte tief Luft und warf einen misstrauischen Blick auf meine Kamera. Sie schien jedoch bereit zu sein einzulenken. »Einverstanden. Wenn Sie leuchtende Farben für Ihre Bilder wollen, dann kommen Sie mal mit.« Sie ließ die Gartenschere in einen Korb voller verwelkter Blätter und verblühter Blütenköpfe fallen und wischte sich die Hände an den Shorts ab.

»Danke«, sagte ich und lief neben ihr her. »Meine erste Aufgabe ist ein Bild für das Cover. Wenn Sie einen Vorschlag haben, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

»Und ich dachte, ich hätte viel zu tun«, murmelte sie und rollte mit den Augen. Doch in ihrer Stimme schwang eine leichte Belustigung mit, und falls das Nikkis Olivenzweig war, den sie mir damit reichte, dann nahm ich ihn gern an.

Ich hatte mich innerlich auf einen weiteren gehetzten Lauf durch das Anwesen eingestellt. Doch im Gegensatz zu Mrs. Beckwith führte mich Nikki langsam die Stufen hinab in die angelegten Gärten. Sie untersuchte jede Pflanze, nannte ihren lateinischen Namen und blieb alle paar Minuten stehen, um etwas verblühten Lavendel abzureißen oder Unkraut herauszuziehen.

»Es ist wie Hausarbeit, nur in einem größeren Rahmen«, sagte sie.

»Stimmt«, antwortete ich und dachte an den immer weniger werdenden Platz in unserem Wohnzimmer.

Wir liefen an einer breiten Blumenrabatte entlang, die neben einer niedrigen Hecke verlief. Hier blühten Blumen in allen Farbschattierungen: Duftige Gartenwicken rankten sich um gedrehte Weidenstöcke, zarte Rosen schlangen sich anmutig um Metallbögen, und der Flieder versprühte seinen lieblichen Duft. Nikki, die den Regen gar nicht zu bemerken schien, fuhr fort, im Vorübergehen Blätter abzuzupfen, Pflanzen wieder hochzubinden oder die Ranken der Kletterpflanzen zu befestigen.

»Also«, sagte ich, entschlossen, so viel wie möglich von ihr zu erfahren, solange ich die Gelegenheit dazu hatte, »können Sie mir vielleicht sagen, wie ein typischer Tag im Garten für Sie aussieht, Nikki?«

»Ha! Einen typischen Tag gibt es nicht. Genau das liebe ich auch an dieser …«

In diesem Moment rutschte ich auf einem nassen Blatt aus, gab einen Schrei von mir und fasste nach Nikkis Baumwollhemd. Während ich mit dem rechten Bein nach vorn rutschte, blieb das linke stehen. »Aua, oh, Entschuldigung!«

Nikki lachte laut auf und riss mich wieder hoch.

»Und ich dachte immer, dass ich keinen Spagat hinbekomme«, schnaubte ich ebenfalls lachend und rieb meinen Oberschenkel.

»Ein Ratschlag: Haben Sie hier immer ein paar feste Schuhe zur Hand – Turnschuhe, Gummistiefel, was auch immer. Diese zierlichen kleinen Dinger werden keine fünf Minuten überstehen«, sagte sie und schüttelte den Kopf über meine neuen weißen Ballerinas.

»Danke für den Tipp«, sagte ich. Insgeheim war ich froh, dass mein kleines Missgeschick offenbar das Eis zum Schmelzen gebracht hatte. »Ich hatte nicht erwartet, heute draußen zu sein.«

»Machen Sie davon ein Bild«, schlug Nikki vor, als wir an das Ende des Formalen Gartens kamen. »Es ist ein Formschnittelefant, an dem wir seit ein paar Jahren arbeiten. Sehen Sie ihn?«

Ich knipste ein paar Bilder, während sie erklärte, dass Lady Fortescue ein großer Freund von Formschnitthecken sei und wie es ihr, Nikki, gelungen sei, die neu entstehenden Zweige so zu schneiden, dass sie den Rüssel bildeten, und wie sie sich im Jahr zuvor immer darüber geärgert habe, wenn Besucher meinten, es sehe aus wie ein Nilpferd.

»Und noch ein letztes Bild mit Ihnen«, bat ich sie und blickte durch den Sucher.

Nikki tat mir den Gefallen. Sie nahm den Hut ab und zeigte so ihre kurzen honigfarbenen Haare. Sie grinste zu dem Elefanten hoch, als ich das Bild machte.

»Haben Sie schon immer in Herrenhäusern gearbeitet?«, wollte ich wissen, als ich ihr einen Kiesweg entlang zu einer bewaldeten Gegend folgte.

»Nein. Meine letzte Stelle war in der Villa eines Millionärs in der Nähe von Windsor«, sagte sie. »Total geschmacklos, aber der Garten war atemberaubend. Die Villa gehörte Will Simpson, einem früheren Musiker bei der Achtziger-Jahre-Band Role Play.«

Ich nickte. »Hatte die nicht sogar gerade eine Comeback-Tour?«

»Genau. Zwanzig Konzerte. Total ausverkauft. Ich war auf vier davon.«

»Wow. Dann sind Sie also ein großer Fan?«

»O ja.« Ihre Augen leuchteten.

»Und warum sind Sie von dort weg?«, fragte ich und blieb stehen, um ein Bild von einer Rose zu machen, die wild über einen alten Baumstumpf wuchs. »Klingt doch eigentlich nach Ihrem Traumjob.«

»Die Dinge haben sich verändert. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehen.« Sie zuckte mit den Achseln, führte mich von dem Weg und durch den nassen Rasen. »Die schwierigste Entscheidung, die ich jemals treffen musste. Aber zum Glück ging damals gerade der frühere Gärtner der Fortescues in Rente, und sie erinnerten sich daran, meinen Garten auf der Chelsea Flower Show gesehen zu haben. Also riefen sie mich an. Das war vor fünf Jahren. Und ich habe es nie bereut, Will – ich meine die Simpsons – verlassen zu haben. Es war die richtige Entscheidung.«

»Sie hätten jedenfalls zu keinem herrlicheren Ort kommen können«, fand ich. Mir fiel auf, dass sie ein wenig traurig klang. »Es muss sehr befriedigend sein, seinen Garten der Öffentlichkeit zeigen zu können.«

»Das ist es. Da haben Sie recht.« Nikki grinste. »Und die Fortescues und die Angestellten hier sind tolle Leute.«

»Das ist gut zu wissen«, sagte ich. »Pippa scheint wunderbar zu sein, wobei ich sie natürlich bisher nur ganz kurz kennengelernt habe.«

»Sie ist toll. Hier entlang.« Sie zeigte auf eine Gruppe hoher Bäume mit breiten Stämmen.

»Ich will nicht neugierig sein«, begann ich vorsichtig, »aber ist bei Pippa alles in Ordnung?«

»Nicht wirklich.« Nikki schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. »Sie ist am Samstagmorgen aufgewacht und musste feststellen, dass ihr Mann mit dem Au-pair durchgebrannt ist.«

»Was? Gott, die arme Pippa! Und die armen Kinder.« Pippa tat mir sooo leid – vor allem, wenn ich daran dachte, wie begeistert sie noch am Freitag von ihrer Familie gesprochen hatte.

Nikki nickte finster. »Ich könnte mich so was von aufregen über dieses Au-pair! Verheiratete Männer sollten absolut tabu sein. Ohne Ausnahme. Und was ihn betrifft …« Nikki schürzte die Lippen. »Hoffentlich schneidet Pippa in diesem Moment allen seinen Anzügen die Ärmel ab. Schauen Sie mal hier …« Sie kniete sich hin und bat mich, dasselbe zu tun, damit ich besser sehen konnte. »Sie haben Glück, ich war mir nicht sicher, ob noch welche übrig sind. Was halten Sie von denen?«

Ich folgte ihrem Zeigefinger. Zwischen dem Gras wuchs der leuchtendste blaue Mohn, den ich jemals gesehen hatte. Seine hauchzarten Blütenblätter hatten eine so intensive Farbe, dass sie beinahe unwirklich schienen.

»Die sind ja fantastisch«, flüsterte ich und hob die Kamera. »Ein echtes Himmelsblau.«

»Großartig, nicht wahr? Das ist blauer Scheinmohn aus dem Himalaja. Ich werde nie vergessen, als ich sie in meinem ersten Jahr zum ersten Mal hier entdeckte. Es war fast so, als hätte ich einen geheimen Schatz gefunden. Die Leute kommen teilweise von überall hierher, allein um sie zu sehen.«

Ich musste über den Stolz in ihrer Stimme lächeln.

In dem Fall war es wohl das Beste, so viele Bilder wie möglich aufzunehmen, während der Mohn noch blühte. Nikki ließ mich die Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln knipsen. Ich holte sie dann beim Blätterfischen am großen Brunnen wieder ein, der den Beginn der Kaskade bis zum Hirschpark hinunter bildete.

»Gehört das alles hier zu Ihren Aufgaben?«, fragte ich und ließ den Blick über die vielen Hektar Land um uns herum schweifen.

Sie nickte. »Ich bin zuständig für die Formalen Gärten, die wilde Blumenwiese, den Küchengarten, in dem Sachen für das Café wachsen, den Irrgarten, die Polytunnel und natürlich die Gewächshäuser. Ich züchte Pflanzen für das Haus und ein paar für den Laden … Kurz gesagt, kümmere ich mich um alles, was keine Kuh, kein Pferd und keine Rehe draufstehen hat.«

»Wow«, sagte ich. »Das ist für eine Person aber eine große Verantwortung.«

»Im Lauf der Jahre wurde dieser Ort zu meinem Leben.« Sie ließ eine Handvoll feuchter Blätter auf den Boden fallen und tauchte ihre Hand wieder ins Wasser. »In gewisser Weise auch zu meiner Familie. Und natürlich habe ich Angestellte und eine fantastische Gruppe Freiwilliger.« Sie schaute sich um. »Ich soll Sie als Nächstes zum Café bringen, damit Sie dort die Leute kennenlernen. Ich pflanze heute aus, aber eine halbe Stunde hätte ich noch, wenn Sie gern einen kurzen Rundgang machen würden.«

»Ja, sehr gern«, erwiderte ich.

Ich musterte sie heimlich, während sie sich die Hände an ihren Shorts abwischte. Mrs. Beckwith hatte recht: Unter der rauen Schale lag ein weicher Kern, und ich hatte das Gefühl, als ob wir, auch ohne dass ich etwas über das Gärtnern wusste, gut miteinander auskommen würden.

Wie versprochen näherten wir uns eine halbe Stunde später dem Coach House Café. Zum Glück hatte der Regen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen, und der blaue Himmel zeigte sich, sodass das Gras bereits im Sonnenschein dampfte.

»Das war ein wunderbarer Rundgang«, sagte ich zu Nikki, als wir den Vorplatz betraten. »Ich bin schon oft durch die Gärten gelaufen, aber ich wusste bisher nicht, wie viel Planung und Pflege in beinahe jede Pflanze hier gesteckt wird.«

»Ein dankbares Publikum ist immer etwas Schönes.« Nikki strahlte. »Sie können jederzeit wiederkommen.«

Allein im Freien zu sein hatte mir gutgetan. Vielleicht sollten Mum und ich öfter mal rauskommen, um die Spannung etwas abzubauen, die sich unweigerlich aufbaute, wenn wir drinnen wegen ihres Zeugs aneinandergerieten …

»Sie finden Jenny Plum in der Küche.« Nikki legte ihre Hand auf meine Schulter und lenkte mich in Richtung Café. »Durch diesen Eingang, dann nach der Schwingtür suchen, auf der ›Nur für Personal‹ steht, und da wird sie irgendwo sein. Sie können sie nicht verfehlen.«

»Okay. Und danke noch einmal, Nikki.«

»Na klar.« Nikki lächelte. »Und vergessen Sie den blauen Scheinmohn nicht. Ich finde, der würde sich ganz prächtig auf dem Cover des nächstjährigen Kalenders machen. Meinen Sie nicht?« Sie zwinkerte mir zu und schlenderte dann davon, die Hände in den Taschen vergraben.

Der Mohn würde tatsächlich ein eindrucksvolles Cover abgeben. Ich scrollte durch die Bilder auf der Kamera. Was für eine großartige Idee – die mir auch noch ein paar Pluspunkte bei meiner neuen Bekannten einheimsen würde. Eine Win-win-Situation! Ich lächelte, als ich die Türen zum Café aufstieß. Lord Fortescue würde sehr zufrieden mit mir sein.

Kapitel 4

Das unwiderstehliche Aroma von frisch Gebackenem ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich war schon immer gern hier gewesen. Der schlichte Scheunenstil hatte etwas ausgesprochen Einladendes, die Bedienung war freundlich und das Essen ein Gedicht. Auch heute war das Café voller Gäste, die Tee und Kuchen sowie andere Leckereien genossen. Geräusche von klirrendem Geschirr und Stimmengewirr erfüllten die warme, etwas feuchte Luft. Ich ließ meinen Schirm in einen Ständer neben der Tür gleiten und wollte gerade durch die Schwingtür fürs Personal treten, als diese schwungvoll von einer Kellnerin aufgestoßen wurde, die in jeder Hand einen voll beladenen Teller trug. Hastig sprang ich beiseite.

»Tut mir leid«, sagte sie, als sie sich zu mir umdrehte und mich mit einem so breiten Lächeln bedachte, dass es beinahe hinter ihren rosigen Wangen zu verschwinden schien. »Jetzt hätte ich Sie beinahe mit Tomatensuppe übergossen. Oh, Sie sind das! Wir haben uns doch schon heute Morgen im Empfang getroffen. Ich erinnere mich an Ihr schönes Kleid.«

Ich erkannte in ihr die Kellnerin von einigen Stunden zuvor. »Finde ich da drinnen irgendwo Jenny Plum?«

Die Frau wies mit dem Kopf in Richtung Küche. »Ja, Sie können sie gar nicht verfehlen.«

Was wohl so auffallend an Jenny Plum sein mochte, überlegte ich und trat diesmal mit mehr Vorsicht durch die Schwingtür.

Die Küche war ein riesiger Raum, von dem im Moment allerdings nur etwa ein Viertel benutzt wurde. Die hohen Ziegelwände waren weiß gestrichen. Oberhalb der Edelstahlarbeitsflächen, der riesigen Öfen und Herde hingen gewaltige Abzugshauben. Sie unterteilten die Küche in drei Gänge. Der einzige Hinweis auf das Alter des Gebäudes war die Reihe von Bleiglasfenstern an einer Seite.

»Hallo?« Ich wagte mich zu einer kleinen Gruppe von drei Leuten, die in der Nähe der Tür schnippelten, rührten und Teller stapelten. »Ich suche Jenny.«

Ein junges Mädchen holte gerade ein Blech mit winzigen Küchlein aus dem Ofen und stellte es vorsichtig ab. Sie wollte mir gerade antworten, als die Stimme einer Frau vom anderen Ende des Raumes herüberschallte: »Sind diese Spargel-Tartes fertig, Rachel?«

»Oui, Chef!«, rief das Mädchen und hob sie mit einem Pfannenheber vom Blech. »Das ist Jenny«, fügte sie mit leiserer Stimme an mich gewandt hinzu. »Im hinteren Eck.«

Ich dankte ihr und ging auf den Gang zu. Dort entdeckte ich eine Frau, die, in einen weißen Nebel gehüllt, über einer Arbeitsplatte emporragte. Sie war auffallend groß und hatte leuchtend auberginefarbene Haare, von denen einige ihrem Haarnetz entschlüpft waren. Sie war tatsächlich jemand, den man nicht übersah.

Ich steuerte also auf sie zu, als ich einen Mann bemerkte, der Mitte zwanzig sein musste und eine schmal geschnittene dunkelgraue Hose und spitze Schuhe trug. Er saß auf einem Hocker und lehnte mit den Ellbogen auf der Arbeitsplatte, auf der Jenny etwas mit einem winzig kleinen Nudelholz machte. »Offenbar hat heute die Neue angefangen«, knurrte der Mann mit unüberhörbarer Feindseligkeit.

»Ach, Andy. Jetzt lass gut sein!« Jenny drohte ihm mit dem Nudelholz. »Pippa wird ihre Gründe gehabt haben, sich für sie zu entscheiden.«

Fürmich. Sie redeten über mich! Meine Nackenhaare stellten sich auf, und ich blieb ruckartig und wie angewurzelt stehen.

»Mehr Puderzucker«, verlangte Jenny.

Andy hob einen Metalldeckel hoch und überschüttete das, womit sie gerade beschäftigt war, mit einer großen Ladung Puderzucker. Erneut stieg eine weiße Wolke in die Luft.

Was mache ich jetzt? Sollte ich mich umdrehen und wieder gehen – oder so tun, als hätte ich nichts gehört? Sollte ich Andy vielleicht sogar mit seiner Äußerung konfrontieren?

»Tut mir leid, Jenny. Aber es ergibt einfach keinen Sinn.« Er richtete sich auf, lehnte sich mit einer Hüfte an die Theke und zog seinen Pferdeschwanz ein wenig enger. Dann verschränkte er die Arme. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seiner Körpersprache und dem Tonfall nach zu urteilen, war er voller Vorwürfe. »Ich meine das ernst. Ich habe die Erfahrung, das Auftreten, die Redegewandtheit … Der Job hätte gerechterweise mir gehört.«

»Nur hat er das offensichtlich doch nicht getan, was?« Jenny lachte, wobei ihre schmalen Schultern vor Heiterkeit zuckten.

Ach, was soll’s. Ich konnte nicht den ganzen Tag hier herumstehen, und es würde noch peinlicher werden, wenn man mich beim Lauschen erwischte. Ich räusperte mich lautstark, und die beiden drehten sich zu mir um.

»Hi«, sagte ich und trat zwischen sie. »Ich bin Holly Swift.«

Jenny und Andy warfen sich einen Blick zu, ehe Jenny mir ihre zuckerbedeckte Hand entgegenstreckte. »Leider nicht ganz sauber.«

Ich war mir nicht sicher, ob sie damit ihre Finger oder die seltsame Situation meinte, in der wir uns befanden. Doch ich nahm dennoch ihre Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich und wandte mich dann Andy zu, von dem ich hoffte, dass auch er mir die Hand geben würde.

Er schob seine Hände jedoch unter seine Achseln und schaute mich nur finster an. »Dieser Job war mehr oder weniger mir versprochen«, knurrte er.

Jenny schnaubte belustigt. »Du brichst mir das Herz, Sonnenschein, ganz ehrlich. Also, jetzt verschwinde lieber wieder in deinem Laden und falte ein paar teure Decken zusammen, okay? Hier, nimm das mit«, fügte sie noch hinzu und legte etwas in seine Hand. »Marzipanzitrone, als Zeichen der bittersüßen Wirklichkeit.«

»Wie auch immer«, murmelte er und stolzierte aus der Küche, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen.

Ich atmete hörbar aus. »Scheint nicht mein größter Fan zu sein.«

»Momentan nicht, nein.« Jenny machte ein bedauerndes Gesicht. »Tut mir leid, dass Sie das mit anhören mussten.«

»Ist schon in Ordnung«, meinte ich leichthin. Allerdings störte es mich schon, dass Andy nicht gut auf mich zu sprechen war. Ich versuchte immer, mit allen Kollegen zurechtzukommen. »Besser vorgewarnt als unwissend. Ehrlich gesagt tut er mir fast ein bisschen leid.«

»Eine gute Einstellung. Und er muss Ihnen nicht leidtun. Wie ich schon zu ihm sagte: Pippa wird ihre Gründe gehabt haben.«

Ich lächelte sie dankbar an und sah dann zu, wie sie sich wieder dem essbaren Kunstwerk zuwandte, das sie gerade herstellte. Sie nahm erneut das winzige Nudelholz in die Hand, rollte etwas Marzipan aus und schnitt es in der Form eines Einhorns aus. Das hob sie vorsichtig mit einem breiten Messer hoch und legte es zwischen zwei andere, die sich bereits auf einem großen Kuchen befanden.

»Das sieht fantastisch aus. Was ist das?«

»Das?« Sie wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht und lächelte. »Das ist eine Marzipantorte – ein elisabethanischer Nachtisch, die damalige Version des Marzipans. Jetzt muss nur noch der Glitzer dazu.«

Ich beobachtete, wie sie schimmerndes, essbares Blattgold aus einem Päckchen nahm und sorgfältig einen Schild auf die Torte legte.

»Das ist das Familienwappen, nicht wahr?«, fragte ich, während sie mit einem kleinen Pinsel das Horn eines Einhorns glatt strich.

»Genau. Ich hoffe, das nächste Herrenhaus, für das ich arbeiten werde, hat ein leichteres Wappen.« Sie grinste.

»Wie viel würde mich ein Stück davon kosten?« Ich dachte sehnsüchtig an meine Mittagspause. »Ich wette, Blattgold ist nicht gerade billig.«

»Tut mir leid, aber das ist nicht fürs Café bestimmt.« Jenny sah mich entschuldigend an. »Das ist das Hauptstück für einen Vortrag, den ich später für das Women’s Institute über elisabethanische Zuckerbankette halte. Ich bringe die Torte jetzt hoch. Sie können mich begleiten, wenn Sie Lust haben.«

»Sehr gern. Könnte ich davon dann auch ein paar Aufnahmen für den Kalender machen, wenn ich schon einmal hier bin?«

Ihre Augen weiteten sich. »Für den Kalender? Aber natürlich, mit dem größten Vergnügen. Geben Sie mir noch einen Moment!«

Ich wartete, während sie ihrem Küchenpersonal ein paar Anweisungen gab, Rachels Küchlein probierte und die Marzipantorte in eine Schachtel tat. »Schaffen Sie das?«, fragte sie und legte mir im nächsten Augenblick drei schwere Kuchenschachteln in den Arm, ohne meine Antwort abzuwarten. »Gehen wir.«

Wir verließen die Küche durch eine Tür, die direkt in das Hauptgebäude führte. Dort kamen wir an einer Gruppe ausländischer Touristen vorbei, die gerade Fotos von den Buntglasfenstern im Gang machte, geleiteten eine alte Dame zum Ausgang, die sich verlaufen hatte, und gingen schließlich in den zweiten Stock hinauf.

»Halten Sie Ihren Vortrag denn nicht in der Küche?« Ich war ganz außer Atem, als wir die letzte Treppe hinaufstiegen, und versuchte verzweifelt, den Turm aus Schachteln in meinen Armen nicht fallen zu lassen.

Jenny schüttelte den Kopf und öffnete schwungvoll eine Tür. »Tada! Ich benutze die Lange Galerie.«

Ich folgte ihr, stellte die Schachteln auf einem kleinen Tisch ab und pfiff leise. »Wow!« Langsam drehte ich mich einmal um die eigene Achse, um den herrlichen Raum ganz auf mich wirken zu lassen. »Das ist ja riesig. Einfach toll.«

Auf der einen Seite befanden sich hohe Koppelfenster mit jeweils einer tiefen, gepolsterten Fensterbank davor. Die Lange Galerie lag in der Mitte des Gebäudes, sodass man von hier aus einen eindrucksvollen Ausblick auf die Kieseinfahrt und das Pförtnerhaus am anderen Ende hatte. Die gegenüberliegende Wand war voller Alkoven, in denen Kunstgegenstände standen, die durch Glasscheiben vor übereifrigen Besuchern geschützt wurden.

Jenny nahm ihr weißes Haarnetz ab, und eine wahre Fülle glatter Haare fiel ihr auf die Schultern. Ich hatte ja bereits ein paar Strähnen gesehen, aber diese Masse war wahrhaftig spektakulär.