Römische Ermittlungen - Bianca Palma - E-Book
SONDERANGEBOT

Römische Ermittlungen E-Book

Bianca Palma

3,8
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der jungen Geigerin Geraldine Dvorsky steht eine steile Karriere bevor. Doch diese endet abrupt, als sie sich bei einem Autounfall das Handgelenk bricht. Schuld an dem Unfall ist der Musikkritiker Federico Stronchetti, der kurz darauf am Fuß der Engelsburg ermordet aufgefunden wird. Sofort fällt der Verdacht auf die junge Geigerin. Doch Commissario Caselli stößt bei seinen Ermittlungen schnell auf weitere Verdächtige. Und noch während er immer neue Intrigen unter den exzentrischen Opernstars enthüllt, geschieht ein weiterer Mord ...

Commissario Alessandro Caselli ermittelt in Rom - ein eleganter Kriminalbeamter mit guten Manieren und Geschmack.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
3,8 (18 Bewertungen)
4
10
1
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog 12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940Vorschau

Über dieses Buch

Der jungen Geigerin Geraldine Dvorsky steht eine steile Karriere bevor. Doch diese endet abrupt, als sie sich bei einem Autounfall das Handgelenk bricht. Schuld an dem Unfall ist der Musikkritiker Federico Stronchetti, der kurz darauf am Fuß der Engelsburg ermordet aufgefunden wird. Sofort fällt der Verdacht auf die junge Geigerin. Doch Commissario Caselli stößt bei seinen Ermittlungen schnell auf weitere Verdächtige. Und noch während er immer neue Intrigen unter den exzentrischen Opernstars enthüllt, geschieht ein weiterer Mord …

Commissario Alessandro Caselli ermittelt in Rom – ein eleganter Kriminalbeamter mit guten Manieren und Geschmack.

 Über die Autorin

Bianca Palma studierte Musik und arbeitete als Dolmetscherin in Rom. Zeitweise lebte sie auch in Sizilien und einem sturmumwehten Bergdorf in Umbrien. Heute verbringt sie die Sommermonate in Italien, den Rest des Jahres lebt sie mit ihrem Jack Russel in Deutschland. Sie liebt Verdi, Wagner und die internationale Filmszene.

BIANCA PALMA

Römische

Ermittlungen

Ein Fall für Commissario Caselli

Kriminalroman

beTHRILLED

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beke Ritgen

Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/gyn9037 © istockphoto/sborisov

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2618-5

Bei diesem eBook handelt es sich um eine überarbeitete Neuauflage des bereits unter dem Titel »Römisches Requiem – Commissario Caselli hört Musik« erschienen Werks.

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

für Daisy Nathan-Margadonna

Prolog

Agadir. Ein junger Mann bog um eine weiße Häuserecke in eine Gasse. Durch eine blaue Tür verschwand er in einem schmalen Eingang und durchquerte den schattigen Innenhof, in dem ein Springbrunnen plätscherte und ein kühler Lufthauch feine Fontänen auf den Mosaikfußboden sprühte. Palmenblätter wogten im leichten Wind. An langen Büscheln leuchteten Datteln in der Abendsonne. Er roch die Meeresbrise und den zart betörenden Duft arabischen Jasmins, der üppig am unbehauenen Stein der Hauswand emporrankte.

Gezackte, kräftig grüne Pfefferminzblätter schwammen in einer geschnörkelten Kanne aus getriebenem Metall. Eine Berberfrau goss heißes Wasser nach, schüttete den Teeaufguss in zwei Gläser und gleich darauf wieder zurück in die Kanne. Sie wiederholte die Prozedur, dann gab sie einige Löffel weißen Zucker dazu und rührte um. Ihre Hände waren mit Silberringen und Ornamentzeichen geschmückt. Neben ihr brannte ein Windlicht. Sie hockte in der Mitte des Raums auf einem Teppich und winkte den jungen Mann zu sich heran. Er setzte sich. Sie nahm seine Hand und legte einen Elfenbeinring hinein. Dann umschloss sie seine Finger, lächelte und reichte ihm den heißen, süßen Minzetee. Sie saßen schweigend, bis aus den Lautsprechern des Minaretts die Stimme des Muezzins ertönte.

Er klomm die Stufen zum Turm und trat aus dem kuppelförmigen Torbogen auf das Dachplateau des Hauses, das nur von dreieckigen gekalkten Zinnen begrenzt wurde. Er stellte sich an den äußersten Rand und blickte auf das Meer. Kein Mensch, kein Schiff nur endloses Wasser bis zum Horizont. Lilablau, fast wie Lavendel, von atemberaubender Intensität. Sein weißer Kaftan flatterte im Wind. Er blieb stehen, bis das erste Abendrot den Horizont aprikosenfarben färbte und Venus neben der Mondsichel aufging. Er nahm Abschied. Morgen würde er zurück nach Europa reisen und ein neues Leben beginnen.

1

Einige Jahre später. Es war ein ganz normaler Arbeitstag. Caselli würde am Vormittag in sein Büro in der römischen Questura gehen und einen Aktenstapel auf seinem Schreibtisch vorfinden. Jede Woche kamen ein, zwei Fälle hinzu, meistens eine Messerstecherei an der Stazione Termini oder ein Delikt, begangen in den kahlen Betonburgen Prima Valle am Stadtrand. Nun war sein Vorgesetzter seit Längerem krank, und Casellis sorgfältig verfasste Berichte blieben in der Ablage liegen. Die römische Polizei war überlastet, litt an chronischem Personalmangel. Niemand hatte eine Vertretung für Vice-Questore Ruggiero Di Verdacchiano geschickt. Caselli war später dran als sonst. Man hatte ihn mitten in der Nacht wegen eines Routinefalls aus dem Bett geholt; deshalb hatte er sich erlaubt, länger zu schlafen. Er hätte auch den Tag ganz freinehmen können, aber das ließ sein Pflichtgefühl nicht zu. Caselli wischte sich mit einem Handtuch die Rasierschaumreste vom Kinn und schraubte das Rasierwasser auf. Er schüttete ein paar ordentliche Spritzer in die hohle Hand und klopfte die Handflächen auf seine gereizte Haut. Dann ging er ins Schlafzimmer, zog ein weißes Hemd über und schlug den Kragen hoch, um die Krawatte zu binden. Im Ankleidespiegel entdeckte er seine Knie und die knochigen, etwas krummen Schienbeine. Wie Christus am Kreuz, hatte seine Mutter immer gesagt. Er zog die Kniestrümpfe höher und freute sich am weichen, elastischen Garn. Er hatte sie bei seinem Herrenausstatter in der Via del Gambero gekauft. Teuer waren sie gewesen, aber er legte Wert auf Qualität und eine gepflegte Erscheinung. Was man von seinem Sergente nicht behaupten konnte. Caselli hob eine Augenbraue. Raffaele Scurzi sah doch stets aus, als hätte er zwei Nächte lang nicht geschlafen. Wann hatte er ihn überhaupt das letzte Mal gesehen? Scurzi erschien eher sporadisch zum Dienst. Ein typischer Fall von Vetternwirtschaft. Sein Onkel kannte den Polizeipräsidenten, und schon war alles geregelt. Scurzi erhielt ein gesichertes Einkommen und machte, was er wollte. Caselli hatte diesbezüglich gegenüber seinem Vorgesetzten eine Bemerkung fallen lassen und sich anhören müssen, er solle etwas sozialer denken. Es gäbe auch Polizeibeamte, die mit ihrem Gehalt eine mehrköpfige Familie ernähren müssten, dazu gehöre Scurzi. Schließlich habe es nicht jeder so schön wie er und könne sein Junggesellendasein in vollen Zügen genießen, oder gebe es etwa eine gebrechliche Mutter zu unterstützen? Nein, selbst damit konnte Caselli nicht dienen. Er nahm seine Hose vom Herrendiener. Er war allein, und Di Verdacchiano beneidete ihn anscheinend darum, obwohl es Casellis Meinung nach nichts gab, worum er zu beneiden gewesen wäre. Er hätte gern eine Familie gehabt. Caselli setzte sich aufs Bett, um seine Schnürsenkel zu binden. Die Bemerkung des Vice-Questore hatte ihm klargemacht, wie die Dinge lagen, daher verlor er kein Wort mehr über Scurzis Dienstauffassung. Und eigentlich tat er ja eine ganze Menge, der arme Junge. Soweit Caselli wusste, arbeitete er morgens ein paar Stunden bei der städtischen Müllabfuhr in der Verwaltung und schaute dann später in der Bar seiner Cousins an der Piazza Cavour vorbei, um ein bisschen auszuhelfen, zwischen zehn und elf, wenn das Heer römischer Angestellter en bloc aus Büros, Behörden und Ministerien strömte, um sich mit caffé & cornetto zu stärken. Nach elf hatte Caselli gute Chancen, seinen Assistenten per Handy zu erwischen, wenn es denn sein musste. Dann kam die Mittagspause, und am Nachmittag saß Scurzi immer pünktlich hinter seinem Schreibtisch in der Questura mit schuldbewusstem Gesicht und den besten Absichten, seinen Dienst zu tun.

Das alles ging ihm durch den Kopf, während er sich mit besonderer Sorgfalt fertig machte. Heute Abend würde er nur kurz nach Hause kommen, um sein Jackett zu wechseln. Er wollte ein Konzert in der Philharmonie besuchen. Es war nicht leicht, an Konzertkarten für das Orchester Santa Cecilia zu kommen, und diesmal war es besonders schwer gewesen. Die Gastsolistin, eine junge Deutsche, hatte im letzten Jahr die Aufmerksamkeit der Presse auf sich gezogen. Man bescheinigte ihr eine große Begabung, und Caselli freute sich auf den Abend. Zuletzt schlüpfte er in seine dunkelblaue Barbourjacke mit braunem Kordkragen, verließ seine Wohnung und schloss die Tür ab.

*

Als er mit seinem Wagen im Verkehrschaos auf der Piazza Venezia steckte, klingelte sein Mobiltelefon. Er drückte eine Taste, die Verbindung war schlecht. »Scurzi«, verstand er, »Autounfall« und »Villa Medici«.

Zwanzig Minuten später fuhr Caselli mit seinem Fiat Punto, dank Passierschein, der rechts unter der Windschutzscheibe klebte, die Via Gregoriana hinauf. Vor dem Hotel Hassler, oberhalb der Spanischen Treppe, schnellte ein silbergrauer Jaguar heran und nahm ihm die Vorfahrt. Caselli trat ruckartig auf die Bremse und betätigte energisch den elektrischen Fensterheber. Hinter dem Steuer des Jaguars saß ein Mann mit klassischem Profil und dunklen Haaren. Caselli erkannte ihn. Es war der Dirigent David Franceschini. Man sah den Dirigenten öfter in Rom. Er bewohnte mit seiner Familie eine luxuriöse Villa auf dem Aventin. Caselli kannte ihn aus Konzerten in Santa Cecilia. Auch heute Abend würde er dirigieren. Caselli ließ die Seitenscheibe wieder hochfahren. Franceschini hob die Hand. Er hatte bemerkt, dass er Casellis Wagen geschnitten hatte und entschuldigte sich. Caselli nickte und fuhr weiter. Kurz darauf erreichte er die Villa Medici und sah Scurzi. Er stand neben dem Kanonenkugelbrunnen unter einer Pinie und machte ein sorgenvolles Gesicht. Ein Stück weiter zog ein Abschleppwagen der Straßenwacht einen uralten Fiat Panda auf die Rampe. Caselli fuhr rechts ran und stieß die Beifahrertür auf. Scurzi überquerte die Straße.

»Was ist denn passiert? Verletzt sind Sie nicht, oder?« Er sah seinen Assistenten prüfend an.

Scurzi beugte sich zu ihm. »Mir ist ein Touristenbus hinten draufgefahren. Blechschaden, ausgerechnet jetzt, wo Marcella doch dauernd zu den Voruntersuchungen muss!«

Wie Caselli wusste, erwartete Scurzis Frau ihr viertes Kind.

»Über eine Stunde hat mich der Abschleppdienst warten lassen, aber jetzt ist alles geregelt.« Scurzi setzte sich auf den Beifahrersitz. »Deshalb habe ich Sie angerufen, um Bescheid zu geben, dass es später wird …«, meinte er. Er zog die Wagentür zu und griff nach dem Sicherheitsgurt.

»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht ins nächste Krankenhaus bringen soll? Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung.«

»Nein, mir geht’s gut. Nichts passiert. Gott sei Dank. Ich war ja angeschnallt.« Scurzi lehnte sich in den Sitz zurück.

»Piazza Cavour liegt aber nicht auf meinem Weg«, sagte Caselli knapp und blickte nach hinten, um sich in den Verkehr einzufädeln. Nach dem Anruf des Sergente hatte er sich große Sorgen gemacht. Er war gleich zum Unfallort gefahren und hatte erleichtert aufgeatmet, als er Scurzi heil unter der Pinie hatte stehen sehen. Doch ihn bei seiner Nebenverdienststelle abzusetzen, das ging zu weit.

»Ich fahre gleich mit ins Präsidium«, sagte Scurzi und hantierte mit dem Gurt.

»So?« Caselli sah den Sergente überrascht an.

»Heute ist doch Mittwoch«, sagte Scurzi mit gedämpfter Stimme.

»Ah, ja, natürlich, riposo settimanale«, erinnerte sich Caselli. Die Bar von Scurzis Cousin hatte Ruhetag.

2

Geraldine entdeckte den Assistenten des Dirigenten durch die Glasscheibe vor der Absperrung und winkte. Ihre Maschine hatte eine Stunde Verspätung gehabt, und Jean sah aus, als hätte er diese Stunde mit verschränkten Armen auf einem unbequemen Metallsitz verbracht, in den Monitor starrend und inständig hoffend, das rote Lämpchen der Flugnummer LH 3506 würde auf Grün springen.

»Na, endlich«, seufzte er, als sie durch die Absperrung kam, und stand auf. Der Metallsitz hatte ein Gittermuster auf seiner beigen Kordhose hinterlassen. Er nahm ihr die Kleiderhülle ab und küsste flüchtig ihre Wangen. »Was war denn los?«

»Nebel in Mailand, tut mir leid.«

Jean streckte die Hand aus. »Soll ich das auch nehmen?«

»Ja, danke.« Geraldine klemmte den Geigenkasten unter den Arm und gab Jean ihre Reisetasche.

»Wie läuft es? Wie waren die Orchesterproben?«, fragte sie, während sie die Flughalle durchquerten.

»David ist recht zufrieden.«

Sie suchte seinen Blick. »Geht es ihm gut?«

»Er vermisst dich«, sagte Jean, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Tja, euer Konzert in Neapel ist schon wieder eine Weile her. Ich habe gehört, du hast in Paris gespielt?«

»Ja, Brahms, die Kritiken waren gut.«

Jean hielt ihr die Schwingtür auf. »Und? Hast du dir ein paar schicke Abendkleider gekauft?«

Sie lachte. »Was ist mit dir?«, fragte sie dann. »Hat David dich was dirigieren lassen?«

Jean deutete auf einen Wagen. »Der da vorne, na ja, ein paar kleinere Sachen, nächsten Monat soll ich eine Bruckner-Sinfonie in Genua übernehmen.«

»Ist doch prima, oder?«

»Ja, schon … David hat die Probe für elf Uhr angesetzt. Am besten, wir fahren gleich in den Konzertsaal, oder möchtest du vorher noch ins Hotel?«

Geraldine rutschte auf den Rücksitz der Limousine, und Jean stieg neben ihr ein. »Muss nicht sein«, antwortete sie.

»Via della Conciliazione«, rief Jean dem Fahrer zu.

»Was macht seine Gesundheit?«

»Eher schlechter. Er schluckt eine ganze Menge Zeug.«

Geraldine hielt den Blick starr auf die am Straßenrand vorbeiziehenden Pinien gerichtet. »Weiß es seine Frau immer noch nicht?«, fragte sie schließlich.

»Nein. Er will es ihr nicht sagen. Das Kind, du verstehst schon. Es soll alles so lange wie möglich weiterlaufen, wie gehabt.« Er blickte sie von der Seite an und drückte kurz ihre Hand. Ihr Gesicht zeigte keine Regung.

*

Der Geigenkasten lag offen auf einem Stuhl, sie nahm den Bogen heraus, spannte ihn durch Drehbewegungen am silbernen Frosch und öffnete den Lederbeutel mit dem Kolophonium. Die Musiker tuschelten. Maestro Franceschini war eingetroffen. Sie legte den Bogen zurück, griff nach dem Plastikbecher mit Kaffee, der neben ihrem Geigenkasten auf dem Stuhl stand und trank einen Schluck. Ein kleiner, blonder Junge machte sich von der Hand seiner Mutter los und rannte durch die Sitzreihen. Der Intendant Fernandetti begrüßte das Ehepaar herzlich. Franceschini schüttelte Hände und rief seinem alten Freund Fernandetti eine scherzhafte Bemerkung zu.

»Ah! Da ist sie ja!« David Franceschini schwang sich mit Elan auf das Podium und hängte seinen Pullover über das Geländer des Dirigentenpults. »Buon giorno!«, sagte er gut gelaunt und drückte Geraldines Hand. »Giulia, das ist Geraldine Dvorsky. Sie spielt heute Abend Mendelssohn. Alles in Ordnung?«, setzte er hinzu. Er sah sie an.

»Ja, sicher«, antwortete Geraldine und ging zur Rampe, um Franceschinis Frau die Hand zu geben.

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Giulia streckte ihr die Hand entgegen.

Geraldine schob den Ärmel ihres weinroten Rippenstrickpullis zurück und hielt den Becher schief. Ein kräftiger Schwall Kaffee kippte aufs Parkett.

»Entschuldigung!«, sagte Geraldine sofort.

Giulia Franceschini betrachtete ihre ruinierten Wildlederschuhe. »Ach, die paar Spritzer!«, lächelte sie gezwungen. »Es war ja keine Absicht.« Sie sah auf. Ihr Sohn tobte auf dem Podium herum. »David, nicht, dass er wieder …!«

Franceschini sprach mit Jean und schlug gerade die Partitur auf.

»Na, wie heißt du denn?«, fragte die Flötistin.

»Mannimiliano«, antwortete der kleine Junge prompt und flitzte davon. Jean ging nach hinten.

»Das S klappt noch nicht so ganz!«, rief der Dirigent und lächelte. Er blätterte in der Partitur bis zum dritten Satz, mit dem er beginnen wollte. Sein Sohn stand bei den Celli.

»David!« Giulia hastete zum seitlichen Treppenaufgang. »Untersteh dich, Maxi, hörst du!«

Franceschini blickte irritiert auf.

»Aua!« Der Cellist am ersten Pult rieb sich das Schienbein.

»Na, Tozzi, nicht viel Erfahrung mit Kindern, was?«, meinte Franceschini ungerührt. »Nehmen Sie’s nicht persönlich, mein Sohn hat eine ausgeprägte Abneigung gegen Celli«, fügte er hinzu und strich die Partitur glatt. »Ich werde mal die Kindergartenpsychologin ansprechen, um zu erfahren, was es damit auf sich hat … nun, Hauptsache Ihr schönes Instrument ist noch heil, nicht wahr?«

Tozzi hatte seine Socke heruntergeschoben und kontrollierte den blauen Fleck.

»Hm, jetzt übertreibt er aber …«, murmelte Franceschini amüsiert und verschränkte die Arme vor der Brust. Im Orchester wurde locker gelacht. Giulia schritt über das Podium und nahm ihren Sohn auf den Arm. »Entschuldigen Sie bitte!«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und trug ihren kleinen Jungen die Stufen hinunter. Massimiliano begann zu brüllen.

Giulia Franceschini war Antiquitätenhändlerin. Nonchalant hingruppierte Chinoiserien, schwere Silberjardinieren auf bauchigen Holzmöbeln, teure niederländische Meister an den Wänden. So stellte sich Geraldine das Geschäft in der noblen Via del Babbuino vor, während sie ihr düster nachblickte. Und Mutter war sie auch. Le gemme di Cornelia.

»Der wird bestimmt mal Tenor, bei der kräftigen Stimme und dem Dickkopf!«, kommentierte Tozzi und erntete Zurufe aus den Orchesterreihen.

Franceschini klopfte mit dem Taktstock auf das Pult. »Können wir dann?«

Der Oboist gab das A.

*

»Den Übergang von Takt 128 zur Kadenz solltest du dir noch mal ansehen.« Jean klopfte mit dem Finger auf eine Notenzeile.

»Ja, ich weiß schon«, sagte Geraldine gereizt und klemmte ihre Geige unter den Arm. »Wie lange ist Pause?«, fragte sie angespannt und griff nach dem Plastikbecher auf dem Stuhl.

»Zwanzig Minuten«, antwortete Jean.

Der Becher war leer, sie stellte ihn wieder ab, und blickte abrupt zu Franceschini. Er küsste gerade seine Frau. Die Musiker standen auf. Intendant und Techniker verließen den Zuschauerraum.

Jean klappte die Partitur zu. »Darf ich fragen, welche Farbe dein Kleid hat? Wegen der Blumenarrangements …«

»Meerblau«, antwortete Geraldine muffig. Sie stimmte gerade ihre Geige durch.

»Giulia kommt in letzter Zeit oft zu den Proben«, bemerkte Jean beiläufig.

»So?« Geraldine konzentrierte sich auf ihr E und intonierte dann forsch die ersten Takte eines Paganini-Capriccios.

»Hast du schon einen Termin beim Friseur?« Jean betrachtete kritisch ihre Haare.

»Die haben sicher einen im Hotel.« Geraldine setzte die Geige ab. Jean verstaute die Partitur in seiner Notentasche. In den letzten Monaten, in denen sie nun mit Franceschini spielte, hatte sie Jeans bestimmte, aber immer freundliche Art schätzen gelernt. Sie mochte ihn und wusste, dass man sich in jeder Situation auf ihn verlassen konnte.

»Brauchst du noch etwas?«, fragte er. Geraldine schüttelte den Kopf. »Übrigens, der zweite Satz war wunderbar.«

»Danke, Jean. Schön, dass du das sagst«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.

3

»Jean!« Franceschini stand vor seinem Garderobenspiegel, die Arme auf die Stuhllehne gestützt, den Kopf gesenkt.

»Ja?« Sein Assistent wandte sich ihm zu.

»Könntest du …« Der Dirigent richtete sich auf. »Könntest du mir noch mal einen Gefallen tun?« Er wartete. »Hier, du kannst den Jaguar haben, wir gehen zu Sabbatini essen; da nehme ich ein Taxi, das Zentrum ist eh gesperrt.« Er warf Jean die Autoschlüssel zu.

Jean fing sie auf und machte ein skeptisches Gesicht. »David, du weißt, ich … du hast letztes Mal gesagt, es wäre Schluss damit«, sagte er tonlos.

Franceschini nahm sein Jackett von der Stuhllehne und durchsuchte die Taschen. »Es ist reine Zeitverschwendung, darüber zu diskutieren, Jean. Du weißt doch Bescheid. Für Geraldine ist das Konzert heute Abend wichtig. Es muss ein Erfolg werden, und ich fühle mich nicht gut, also bitte!« Er nahm einige Hundert-Euro-Scheine aus der Innentasche seines Jacketts und drückte sie Jean in die Hand. »Der Rest ist für dich«, sagte er und legte Jean die Hand auf die Schulter. »Ich kann mich auf dich verlassen?«

Sein Assistent blickte ihn an, dann nickte er. »Natürlich, David.«

Franceschini drückte kurz seinen Arm. »Danke.« Dann wandte er sich ab und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Und, das Konzert in Genua, das läuft wie besprochen, ich gebe Forfait, und du springst ein … also dann, etwa um vier Uhr bei mir, ja? Du bringst mir die Partitur.«

Jean nickte und steckte das Geld weg.

Der Dirigent wartete, bis Jean den Raum verlassen hatte, dann nahm er einige Tabletten aus einem Röhrchen und schluckte sie mit einem Glas Wasser. Er wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn und sah in den Spiegel.

»Pech gehabt, mein Junge«, sagte er zu sich selbst, »wen die Götter lieben.«

4

Als Geraldine ihr Hotelzimmer betrat, sah sie sofort die roten Rosen. Das Zimmermädchen hatte den Strauß in eine satinierte Glasvase auf die Konsole gestellt, das Billett lag daneben. Geraldine griff zum Hörer. Die Nummer des Dirigenten war belegt. Sie ging ins Bad und drehte den Duschhahn auf. Ein blasses Gesicht blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Ich sollte mich ausruhen und noch mal die Kadenz im dritten Satz durchgehen, dachte sie. Der Morgen hatte ein schales Gefühl hinterlassen. Nach den Proben war sie ziellos durch die Stadt gelaufen, ohne viel von der herbstlichen Schönheit des Tages wahrzunehmen. Inmitten des Gewimmels der flanierenden Menschen, die sich rufend und lachend durch Roms verwinkelte Gassen schoben, hatte sie sich nur noch einsamer gefühlt.

Als das Telefon läutete, zuckte sie zusammen. »Maestro Franceschini desidera parlarLe«, meldete der Portier. »Soll ich durchstellen?«

»David!«, sagte sie atemlos.

»Giulia wollte unbedingt mit zur Probe. Ich war heute Morgen im Hassler, aber dein Flug hatte Verspätung. Es tut mir leid, ich musste dann weg … ich wäre gern mit dir essen gegangen, nach der Probe, aber … wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte er ungeduldig. »Ich habe ein paarmal angerufen. Du solltest dich vor dem Konzert ausruhen.«

Geraldine setzte sich in einen Sessel und zog die Knie an.

»Danke für die Rosen, David.«

»Ich liebe dich«, seine Stimme klang matt.

»Ich dich auch. Wie geht es dir?« Ihre Stimme wurde sanft.

»Unverändert, ich habe jetzt einen Arzt, der nicht lange rumredet. Ludovica hat ihn mir genannt. Es geht schon. Und es gibt ja auch andere Kanäle.« Franceschini brach ab und wechselte das Thema. »Geraldine, ich muss morgen früh nach Florenz. Wir sind mit der Brahms-Einspielung nicht fertig geworden. Ich muss noch mal ins Tonstudio. Es tut mir sehr leid, ich hätte gern den Tag mit dir verbracht.«

Geraldine seufzte.

»Aber am Abend gibt Schwiegermamà eine Dinnerparty in ihrer Stadtwohnung. Ludovica kommt auch. Natürlich ist Giulia da, aber wir können uns zumindest sehen. Du weißt ja, ich habe der Familie meiner Frau gegenüber Verpflichtungen und kann nicht absagen. Nimm ein Taxi, Via Girolamo 1, 5. Stock, Carla Castelli, um neun. Du kommst doch?«, vergewisserte er sich.

Sie sagte zu.

*

Caselli hatte bereits den Knauf seiner Bürotür in der Hand, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er zögerte, dann siegte das Pflichtgefühl. Er ging noch einmal zurück und nahm den Hörer ab. »Pronto?«, fragte er und rechnete mit dem Schlimmsten. Kurz darauf wurde seine Vorahnung bestätigt. Man hatte die Leiche eines jungen Mannes gefunden, auf der Isola Tiberina. Der geplante Konzertbesuch fiel somit ins Wasser. Caselli sagte, er werde sofort hinfahren, und legte auf. Er dachte einen Moment daran, wann er Gelegenheit haben würde, das neue federleichte Kaschmirjackett mit dem gestickten Emblem auf der Brusttasche anzuziehen, das er sich extra für die Herbstkonzerte zugelegt hatte. Bisher war zweimal etwas dazwischengekommen. Dann schob er den Gedanken beiseite; er war sich seiner Eitelkeit durchaus bewusst und genierte sich ein wenig dafür. Seine Mutter hatte das als unmännlich abgetan. Dieser Meinung war er nicht. Sie zensierte eben gern, und zwar alles, was ihn betraf, von der Auswahl seiner Hemden bis zum Liebesleben. Zum Glück lebte er in Rom und sie in Deutschland. Und das war das Maximum erträglicher Nähe, fand Caselli.

*

Er steuerte seinen Fiat Punto durch den dichten Vorabendverkehr des Lungotevere und steckte geraume Zeit im Stau. In der vagen Hoffnung, vielleicht wenigstens noch den zweiten Teil des Konzerts hören zu können, setzte Caselli schließlich die blaue Sirene auf das Wagendach. Als er den Tatort erreichte, war es Viertel vor neun. Er stieg aus und blickte sich um. Scurzi war nicht da. Stattdessen kam ein Mann in Carabinieri-Uniform auf ihn zu. »Buona sera, Commissario Caselli«, sagte er und salutierte. »Rocca Antonio, Capitano«, gab er an.

Caselli nickte. Sie hatten miteinander telefoniert. »Buona sera«, antwortete er und schloss seinen Fiat ab, wobei ihm bewusst wurde, dass das bei dem Polizeiaufgebot wohl übertriebene Vorsicht war. »Der Tote liegt unten am Kai, beim Ponte Vecchio«, rapportierte Rocca. »Wenn Sie gestatten, gehe ich vor!«

Caselli folgte ihm die steilen Travertin-Stufen hinunter. Sofort stieg ihm der beißende Geruch von Urin und modrigem Wasser entgegen, und er fragte sich, warum wohl die Obdachlosen, die nachts unter den Brückenbögen der Tiberinsel auf Kartons schliefen, nicht das Vespasian aufsuchten, das unweit der Piazza aufgestellt worden war und seit Jahren unbenutzt vor sich hin rostete.

Der Tote lag noch so da, wie man ihn gefunden hatte. Die Spurensicherung war bereits fertig, und der diensthabende Arzt war gegangen. So hielt sich Caselli an den Carabiniere.

»Meiner Meinung nach Tod durch Überdosis«, gab dieser Auskunft. »Und dann hat ihm noch jemand diesen Stein auf den Schädel geschlagen«, fügte er hinzu und deutete auf einen blutverschmierten Steinquader. »Sieht nicht danach aus, als sei die Kopfverletzung die Todesursache. Auszuschließen ist es aber nicht, deshalb hielt ich es für ratsam, die Mordkommission hinzuzuziehen.«

Caselli nickte.

Der Capitano nahm kurz seine Dienstmütze ab und fuhr sich über die Stirn. »Ich nehme an, einer hat ihn da liegen sehen mit der Spritze im Arm, und der wollte auf Nummer sicher gehen, bevor er ihn ausraubte.«

»Weiß man, wer er ist?« Caselli sah sich den jungen Mann genauer an.

»Er heißt Riccardo Vismara. Ein verkrachter Musiker, drogenabhängig. Er hatte seinen Ausweis und ein Adressbuch dabei«, erläuterte Rocca und ruckte die Mütze gerade, kaum dass er sie sich wieder aufgesetzt hatte. »Sein nächster Anverwandter hier in Rom ist sein Bruder, Vismara Angelo. Wir haben ihn angerufen. Die Putzfrau war am Apparat. Vismara ist Bratscher im Orchester Santa Cecilia und hat heute Abend Dienst. Jemand sollte hinfahren und ihn verständigen.«

»Ja, Capitano«, sagte Caselli, und ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Ich übernehme das!«

Der Carabiniere sah ihn befremdet an. Normalerweise waren die Polizeibeamten schockiert, wenn sie einen Toten sahen, noch dazu, wenn er zugerichtet war wie der hier. Caselli bemerkte es und setzte eine ernste Miene auf. »Sonst noch was?«, fragte er im Verhörton, und Rocca spurte wieder.

»Das haben wir in seiner Jackentasche gefunden.« Er deutete auf ein verschlossenes Plastiktütchen, das bei den Metallkoffern der Spurensicherung lag. Caselli sah ein gefaltetes Papierquadrat mit einem roten Stempelaufdruck. Er zeigte eine Galeone mit Rudern, die in die Wellen tauchten. Darüber stand ein spanisches Wort. Caselli nahm das Tütchen und notierte das Wort unter den Ruderblättern in sein Notizbuch, dann gab er es Rocca zurück. »Gute Arbeit, Capitano«, sagte er anerkennend, und der Carabiniere salutierte wieder.

5

»Also, ich gehe mich schon mal einspielen. Carmelina, machen Sie mir bitte die Tür auf, ich komme mit dem Kleid nicht klar, und Sie holen mich in einer halben Stunde, ja? Und den Pfefferminztee, den vergessen Sie doch nicht?«

Fünf Minuten später rannte sie den Gang zurück. »Signor Pedretti!«

»Antonio«, rief die Garderobiere ungehalten, »da kommt die Dvorsky, hast du den Tee geholt?«

»Carmelina!«

»Passen Sie doch auf ihr Kleid auf! Halten Sie es nicht so gerafft. Es ist ja schon ganz zerknittert«, schimpfte die Garderobiere ungehalten, während der Inspizient den Teebeutel aus der Tasse nahm und mit zwei Fingern sorgfältig ausdrückte. »Mamma mia, wie sehen Sie denn aus, Sie sind ja völlig aufgelöst!«

»Antonio, mir ist beim Stimmen die E-Saite gerissen! Was mache ich denn jetzt?«

Antonio tätschelte ihr beruhigend den Arm. »Nur mit der Ruhe, die haben gerade erst mit der Ouvertüre angefangen, bis Sie dran sind, zieh ich Ihnen fünf neue auf.«

»Aber ich habe keine mehr! Es ist einfach keine mehr im Kasten. Das ist mir noch nie passiert.«

»Wenn das Ihre einzige Sorge ist, draußen sitzen dreißig Streicher, da wird doch wohl einer irgendeine Ersatzsaite dabeihaben.«

»Ich brauche nicht irgendeine, ich brauche eine Kaplan-Gold, 5/20 Millimeter, höchstens sieben.«

Jean tauchte auf. »Bitte nicht so laut! Was ist denn los?«

»Sie braucht eine Kaplan-Gold-E.«

»Was?«

»Eine Spezialstärke auch noch, nicht wahr, Signorina?«, nörgelte Antonio.

»Das Krokoetui, wo das Foulard liegt, vielleicht hat Signora Françoise, die Konzertmeisterin, diese Marke, sehen Sie doch bitte mal nach«, meinte Jean ruhig. Antonio öffnete das Plexiröhrchen mit den Ersatzsaiten. »Und?«

»Pirastro.«

»Ach!« Geraldine ließ sich auf den Hocker vor dem Spiegel fallen.

»Aufstehen, Sie zerknittern den Stoff!«, fauchte Carmelina und zog sie unsanft am Arm hoch, »und dann heißt es wieder, ich hätte nicht ordentlich gebügelt!«

»Wie weit ist er?« Jean hörte dem Orchester zu.

»Egmont, fast zu Ende«, sagte Geraldine und schüttelte die Garderobiere ab.

»Gut«, entschied Jean. »Nach der Ouvertüre gebe ich einen Laufzettel durch die Pulte. Geraldine, bitte reiß dich zusammen. Zur Not nimmst du eben Pirastro.«

»Das geht nicht, versteh doch, Kaplan gibt einen völlig anderen Klang und dann die Doppelgriffe in der Kadenz, unmöglich!«, sagte sie und schnäuzte sich.

»Antonio«, rief Jean kurz entschlossen im Kommandoton. »Trommeln Sie Bühnenarbeiter und Putzkolonne zusammen. Sie sollen alle Kästen nach E-Saiten abklappern!«

»Ich bin doch nicht verrückt. Die wissen doch gar nicht, wie eine Saite ausschaut, geschweige denn eine E, außerdem ist das Hausfriedensbruch. Ich kann doch nicht einfach die Kästen aller Musiker öffnen lassen, wo kommen wir denn da hin. Da sind doch auch persönliche Sachen drin, wenn dann was fehlt!«

»Ach, ich muss mich doch noch einspielen!«, schniefte Geraldine.

»Jetzt machen Sie schon!«, rief Jean.

»Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen, capito! Da ist doch eine E-Saite, soll sie die doch nehmen. Wenn Signora Françoise damit spielt, kann sie so schlecht nicht sein. Damals, 1944, wären wir froh gewesen, wenn wir wenigstens eine Darmsaite aufgetrieben hätten.«

»Signor Pedretti, so kommen wir wirklich nicht weiter.« Jean seufzte. Ein hysterischer Aufschrei, Jean wandte sich um. »Geraldine, denk an dein Make-up. Signora Facetti, sehen Sie denn nicht, die Maskara läuft!«

Die Garderobiere eilte mit Tissue und Puderpinsel heran.

»Aua, da nicht!«

»Mein Gott, unterm Kinn, da ist ja alles wund, wie wollen Sie denn so spielen, das tut doch weh.«

»Lassen Sie nur, ich habe nur viel geübt in den letzten Tagen für die Plattenaufnahmen nächsten Monat.«

»Aber das geht doch nicht, das sieht ja furchtbar aus, Antonio hol mal ein Heftpflaster!«

»Carmelina, hören Sie auf, Sie machen mich noch nervöser. Ich sage Ihnen doch, es ist alles in Ordnung.«

»Das sehen Sie doch nicht zum ersten Mal. Man könnte meinen, Sie sind erst seit gestern Garderobiere«, blaffte der Assistent.

Die kräftigen Arme in die Hüften gestemmt, baute sich Carmelina vor ihm auf, und ihre schwarzen Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen.

»Also, hören Sie mal, Sie Grünschnabel, gut zwanzig Jahre bin ich hier beschäftigt. Die größten Künstler habe ich betreut, und alle waren sie zufrieden. Picobello habe ich sie rausgeschickt, vor die Leute. ›Carmelina, was würde wir ohne dich nur machen‹, haben sie gesagt und mir sogar die Hand gegeben beim Abschied, aber so ein zerschundenes Kinn, wie die Signorina da hat … ich hole ein Heftpflaster.«

»Herrgott noch mal!« Jean platzte der Kragen. »Signora Facetti, jetzt kümmern Sie sich lieber mal um die Frisur von Signorina Dvorsky. Da hinten muss eine Nadel rein. Es kommen die Locken runter!«

Man hörte Schlussakkorde und Applaus. Jean schrieb etwas auf einen Zettel und ging hinaus. Es klopfte. Franceschini kam herein und griff nach einem Handtuch.

»Und, nervös?«, fragte er Geraldine und wischte sich über die Stirn. »Lass dich anschauen! Ah, was für ein Blau!«

»Wollen Sie ihr Frackhemd wechseln, Herr Franceschini?« Carmelina hielt schon eins bereit. Er winkte ab und flüsterte Geraldine etwas ins Ohr, dann drückte er ihre Hand und ging wieder hinaus. Das Publikum applaudierte noch.

Jean blickte auf den Zettel, der die Runde gemacht hatte. »So, Medium tension, geht das?«

Geraldine nickte heftig.

»Na, wer sagt’s denn, Tuveri, Ablage dreiundzwanzig.« Er reichte Geraldine das quadratische weiße Kuvert. Geraldine stieß einen Stoßseufzer der Erleichterung aus. Der Inspizient hatte mittlerweile den Geigenkasten aus ihrer Garderobe geholt. Geraldine nahm ihre Geige heraus. Sie zog die Saite durch die kleinen Löcher in den Wirbeln und drehte sie fest, während Carmelina sich bemühte, widerspenstige Locken mit Schildpattnadeln zu bändigen.

»Toi, toi, toi«, sagte Jean und lächelte aufmunternd. »Wird schon schiefgehen.«

Geraldine nickte und atmete tief durch.

*

Als Caselli in das Konzertgebäude kam, hörte er noch die letzten Takte des Violinkonzerts, dann brach der Schlussapplaus los. Er nahm zwei Stufen auf einmal, zeigte seinen Dienstausweis und nannte seinen Namen. Man ließ ihn ohne weitere Fragen ein, die Türen wurden sowieso gerade geöffnet. Er stand neben dem Ausgang, das Publikum jubelte, die Orchestermusiker standen auf, und der Dirigent verbeugte sich. Jemand überreichte der Geigerin einen Blumenstrauß. Caselli betrachtete die junge Frau auf der Bühne. Sie war hübsch, zweifellos. Das Publikum applaudierte frenetisch, Einzelne standen auf, dann immer mehr. Signorina Dvorsky lächelte ein wenig verlegen und hielt ihre Geige sehr fest. Eine Gruppe japanischer Touristen und ein Ehepaar mittleren Alters standen auf, drängten an Caselli vorbei und gingen zur Garderobe. Schließlich verließen Dirigent und Solistin das Podium und gingen durch das Orchester nach hinten. Der Dirigent neigte sich ihr zu und sagte etwas. Sie lächelte. Der Applaus verstummte. Nun drängte alles zu den Ausgängen.

Caselli beorderte einen Saaldiener, ihn zum Orchesterraum zu führen. Dort würde er einem der Musiker sagen müssen, dass sein Bruder nicht mehr am Leben war.

6

Caselli hatte einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich. Nachdem Scurzi um fünf gegangen war, hatte er sich in seinem Büro Akten vorgenommen und einen überfälligen Bericht geschrieben, den, wie es aussah, in nächster Zeit niemand lesen würde, aber er hielt sich, was das anging, gern an die Dienstvorschrift. Dann hatte er den PC heruntergefahren. Doch statt zu gehen, ging er geistig noch einmal den neuen Fall durch und rekapitulierte, was er und der Sergente bislang herausgefunden hatten.

Der Tote war ein Berufsmusiker, Bratscher, dreißig Jahre alt. Begabte Familie, hatte Scurzi ihm mitgeteilt, die Mutter spiele im La Fenice in Venedig. Vismara sei drogenabhängig gewesen und habe früher im selben Orchester wie sein Bruder gespielt.

»Er hat im Santa Cecilia gespielt?«, hatte Caselli überrascht eingeworfen.

»Ja, er war dort Bratscher, bis vor einem Jahr.« Scurzi hatte ehrlich betrübt ausgesehen.

Der Angehörige des Toten, Angelo Vismara, hatte merkwürdig reagiert, als Caselli ihm die Todesnachricht überbracht hatte. Er übte die traurige Pflicht natürlich nicht zum ersten Mal aus. Selten aber hatte er in den Augen eines Menschen, der vom Tod eines ihm Nahestehenden erfuhr, einen so undeutbaren, fremden Ausdruck gesehen. Caselli hatte so viel Taktgefühl besessen, seine Fragen zurückzuhalten. Er hatte Vismara in der Obhut des Assistenten des Dirigenten zurückgelassen, eines sehr taktvollen jungen Mannes, der ihm versprochen hatte, sich um Vismara zu kümmern.

Caselli lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und zupfte sich nachdenklich einen Fussel von der Hose. Was ihm bei diesem Fall außerdem zu denken gab, war das quadratische Briefchen mit dem Galeonen-Aufdruck und dem Wort ›Abóbada‹. Er könnte es googlen, aber dann müsste er den PC wieder hochfahren. Er beschloss, das habe Zeit bis morgen. Diese Galeone war ihm schon einmal begegnet, im Fall der fünfzehnjährigen Drogensüchtigen, Lucia Magnani. Ein Mädchen aus gutem Hause, der Vater Anwalt, die Mutter Psychologin. Sie war drogenabhängig gewesen, seit sie dreizehn war. Die Familie hatte alles versucht. Ärzte. Entzug. Auslandsaufenthalt. Es hatte nichts gebracht. Vor ein paar Monaten hatte man die Kleine tot aufgefunden, die Spritze noch im Arm. Neben ihr lag dieses quadratische Briefchen mit dem roten Stempelaufdruck. Caselli hatte dem damals keine Bedeutung zugemessen. Lucia war ein Drogenopfer, bedauerlich jung zwar, aber doch nur eine von jenen Dutzenden, die jährlich in Rom an einer Überdosis starben. Der Fall war schnell zu den Akten gekommen. Caselli schnaufte. Er hoffe, dass die Galeone in nächster Zeit nicht häufiger auftauchte. Die römische Polizia war den Machenschaften eines international operierenden Drogenrings nur schwerlich gewachsen.

*

Kurz nach acht verließ Caselli das Präsidium und machte sich auf zur Trattoria Dal Galletto. Er hatte das Glück gehabt, nach seiner Versetzung aus Sizilien eine gute Trattoria unweit seiner Wohnung zu finden, in die er regelmäßig Essen gehen konnte. Giovanni, der Wirt, war eine Seele von Mensch und ein ausgezeichneter Koch. Hier verbrachte Caselli den Abend in netter Gesellschaft und verfolgte am Fernseher, mehr unfreiwillig, meist irgendein Fußballspiel. In die Trattoria kamen vor allem die Handwerker aus dem Viertel um die Piazza Farnese. Die Gegend war nicht die feinste. Die Nachbarschaft in der Via dei Cappellari bestand eher aus Leuten, die mit der Polizei nichts am Hut hatten. Kleine Diebe, Taschenspieler, Freudenmädchen, einfache Leute, die sich mit dem Nötigsten behalfen. In diesen Kreisen war ein Commissario nicht gern gesehen. Aber im Laufe der eineinhalb Jahre, die er nun schon hier wohnte, hatten sie verstanden, dass er sie unbehelligt ließ. Ihre Geschäfte interessierten ihn nicht, solange niemand dabei sein Leben ließ. Er hatte sich sogar Freunde gemacht. Dazu gehörten Tiberio, ein Restaurator, seine Bottega lag am Ende der Straße, dann natürlich Giovanni, den Wirt der Trattoria Dal Galletto, und Claudio, von Beruf Kinderarzt im Fate-Bene-Fratelli-Hospital auf der Tiberinsel. Mit ihnen spielte Caselli Karten und trank Rotwein. Manchmal kam noch Fulvio hinzu, Sportjournalist bei der renommierten römischen Tageszeitung Messagero. Er wohnte woanders, im feinen Stadtviertel Parioli. Irgendwann einmal war er in zwielichtiger Begleitung, leicht angetrunken, in Giovannis Trattoria gelandet. Die Freunde waren ihm behilflich, die Dame ohne viel Aufheben loszuwerden, und im Überschwang hatte Fulvio allen vier für das nächste Heimspiel von Lazio Roma Karten auf der überdachten Ehrentribüne versprochen – und Wort gehalten. Seither war er zweifellos einer von ihnen.

Gegen neun parkte Caselli auf der Piazza Farnese. Er stieg aus, schloss seinen Wagen ab und warf einen Blick auf die angestrahlte Fassade des Palazzo. Dann lief er den Vicolo dei Venti hinunter, bog zweimal ab und erreichte die Gasse, in der sich die Trattoria befand. Caselli drückte die Schwingtür auf und spürte die angenehme Wärme, die das Holzofenfeuer ausstrahlte. Tiberio war schon da und begrüßte ihn mit Handschlag. Caselli zog seine Jacke aus und setzte sich zu ihm.

Aus der Küche drang ein köstlicher Duft. Caselli war neugierig, was Giovanni ihm heute empfehlen würde. Der Wirt kochte selbst, und seine bodenständige, italienische Küche überraschte mit immer neuen Varianten. Tiberio schenkte ihm ein Glas Rotwein ein, und Caselli nahm einen tiefen Schluck. Der angenehme Teil des Tages konnte beginnen.

*

»Ecco, ci siamo, Signorina.«