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Sherlock Holmes und Dr. Watson gehören zu den genialsten Privatdetektiven der Kriminalgeschichte. Diese Box enthält die Kriminalfälle 11 bis 20 der beiden weltberühmten Ermittler zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 483
SHERLOCK HOLMES
Die neuen Fälle
Herausgeber:
ROMANTRUHE-Buchversand
Cover: Rainer Engel
Satz und Konvertierung:
DigitalART, Bergheim.
© 2019 Romantruhe.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Personen und Begebenheiten der
Romanhandlung sind frei erfunden;
Ähnlichkeiten mit lebenden oder
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Ereignissen sind unbeabsichtigt.
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Produced in Germany.
Sherlock Holmes ist auch als
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Inhalt
ABSCHIEDSMELODIE
TOTENGESANG
DER TOTE IM KELLER
SÜSSE TRÄUME
DER FALL WEIHNACHTEN
DER GEISTERZUG
DIE SULTANIN
OMEN
DIE ROTE LOLA
SPURLOS
Box 2 – Fall 11
Musik!
Diese lieblichen Klänge, die verschiedenste Gefühle in uns auszulösen vermögen. Ob es nun die beswingten Weisen sind, die uns an einem klaren Tag zur Bergwanderung ermuntern, oder die herrischen Klänge der Trommeln, die Soldaten in die Schlacht rufen.
Ob frisch Vermählte zum Klang des Walzers tanzen oder ein Trauermarsch die Hinterbliebenen zum Grabe ihres geliebten Angehörigen begleiten – Musik spielt in unserem Leben eine wichtige Rolle.
Es erstaunt daher nicht, dass gebildete Kreise unserer Gesellschaft schon früh damit beginnen, ihren Kindern das Erlernen eines Instruments zu ermöglichen. Sei es nun eine Violine, wie sie mein Freund Sherlock Holmes mit Freuden spielt, oder doch ein Klavier.
In einfachsten Fällen darf es auch die Flöte sein, sollte das Kind sonst keinerlei Begabung für ein Instrument aufweisen.
Schaue ich heute auf die Fälle zurück, die Holmes im Laufe seines Lebens löste, so spielte Musik nicht selten eine entscheidende Rolle. Sicherlich erinnern Sie sich an jenen ruchlosen Mörder, der die Stimme einer Diva nutzte, um missliebige Personen in seinem eigenen Theater zu meucheln.
Ohne Holmes wäre der Mörder nicht nur ungeschoren davongekommen. Nein, ein Unschuldiger wäre zudem am Galgen gelandet.
Nur dem messerscharfen Verstand meines Freundes und seinem Mut, sich selbst zum Opfer zu machen, war es letztlich zu verdanken, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden konnte!
Ein weiterer Fall, in dem Musik eine Rolle spielte, ereignete sich nur wenige Wochen nach besagten Ereignissen.
Der Winter hatte sich verabschiedet, auch wenn man dies nur selten spürte. Der Frühling wirkte in jenen Tagen kraftlos; so, als fehle ihm der Antrieb, mit Sonnenschein und Wärme die Menschen zu erfreuen.
Hatte ich während der kalten Monate allerhand zu tun gehabt, so änderte sich dies aufgrund der Witterungen auch im Frühling kaum. Im Gegenteil, nun waren es vermehrt junge Leute, deren Abwehrkräfte sie zwar den Winter hatten überstehen lassen, nun aber nachgaben und ihnen eine hübsche Erkältung bescherten.
Hausbesuche wechselten sich mit Stunden in der Praxis ab, und auch meine Frau Mary erkrankte in diesen Tagen.
Sie alleine zu Hause zu wissen, gefiel mir gar nicht, denn unser Hausmädchen vermochte es, sehr viel Chaos anzurichten. Obgleich sie sich rührend um meine Frau kümmerte, ereigneten sich doch einige Unfälle.
Es versteht sich von selbst, dass ich in dieser Zeit kaum in die Baker Street 221b kam. Lediglich einmal schaute ich nach meinem Freund, denn Mrs. Hudson hatte sich besorgt dahin gehend geäußert, dass auch er ein Opfer der Erkältungswelle geworden sei.
Bei meinem Eintreffen fand ich Holmes jedoch nicht nur bei bester Gesundheit, sondern auch in guter Stimmung. Zwar gab es keinen Fall, den er hätte lösen können, doch pflegte er mit einigen Ärzten und Wissenschaftlern regen Briefkontakt, um anschließend Stunden mit Chemikalien und sonstigen Dingen zu experimentieren.
Ostern nahte bereits, als sich die Situation in meiner Praxis entspannte und auch meine Frau wieder gesund war. Daher fand ich eines Tages Zeit, meinem Freund einen längeren Besuch abzustatten und ihn zudem auf einen Drink in meinen Club einzuladen. Zumindest war dies mein Plan, der sich aber änderte, als ich die Baker Street erreichte.
Schon an der Tür wies mich Mrs. Hudson darauf hin, dass Holmes nicht alleine sei. Eine junge Frau habe sich angekündigt. Das arme Ding sei völlig aufgelöst, wie sie berichtete. Sie habe ihr erst einmal einen Scotch geben müssen, damit sie sich beruhigte. Nun habe Holmes jedoch Tee und Gebäck bestellt, um es seiner Besucherin so angenehm wie möglich zu machen.
Neugierig stieg ich die Treppen zu Holmes’ Wohnung hinauf und trat nach sanftem Klopfen ein.
»Watson, Sie schickt der Himmel!«, rief mein Freund aus, nachdem er mich erblickt hatte. »Bitte, kommen Sie näher und nehmen Sie sich der jungen Dame an; sie kann etwas ärztlichen Zuspruch gebrauchen!«
Ich blickte zum Chaiselongue und sah dort Holmes’ Besucherin liegen, ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Tränen hatten ihre hübschen Augen gerötet, mit einem Taschentuch tupfte sie sich hin und wieder die Nase ab.
»Meine Teuerste, was ist Ihnen widerfahren?«, erkundigte ich mich besorgt, hockte mich auf die Kante des Möbelstücks und maß ihren Puls. Er war eindeutig zu hoch, etwas musste sie in große Aufregung versetzt haben!
»Miss Florence Newton kam zu mir, um mich in einer delikaten Angelegenheit zu konsultieren. Bisher gelang es ihr jedoch nicht, ihr Anliegen zu schildern. Vielleicht vermögen Sie es, etwas zu ihrer Beruhigung beizutragen?«, bat mich Holmes mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme.
Es ist wohl kein Geheimnis, das mein Freund den Frauen keine allzu große Bedeutung beimaß. Er behandelte sie stets korrekt, wenn er ihnen im Zuge eines Falles begegnete, und auch wies er keine weiblichen Klienten ab, die sich in ihrer Not an ihn wandten.
Mehr als ordentliche Manieren und einen freundlichen Umgangston rang er sich jedoch niemals ab, und das Thema Liebe ging gänzlich an ihm vorbei.
Ausgenommen hiervon ist natürlich eine Frau, die seiner Meinung nach ihr gesamtes Geschlecht dominierte und überragte – Irene Adler.
Häufig holte er das Porträt der Sängerin aus der obersten Lade seines Sekretärs hervor und betrachtete es. Obwohl ich einst sicher war, dass er keine romantischen Gefühle für diese Person hegte, frage ich mich heute gelegentlich, ob sie sein Herz nicht doch berührt hatte – und er es geschickt unter seinem rationalen Äußeren zu verbergen wusste.
Die junge Frau auf dem Chaiselongue war sicherlich keine Irene Adler. Sie in einer derart derangierten Verfassung zu sehen, war selbst für mich nahezu undenkbar.
Ich tätschelte ein wenig die Hand der Dame, während Mrs. Hudson Tee für drei Personen servierte und auch am Gebäck nicht sparte.
Nachdem ich ein wenig beruhigend auf Miss Newton eingeredet hatte, setzte sie sich auf und ließ sich von mir eine Tasse reichen.
»Wenn Sie nun so freundlich wären, mich über den Grund Ihres Besuchs aufzuklären«, bat Holmes in wenig nachsichtigem Tonfall. Dabei wippte er ungeduldig mit dem Fuß. »Worum geht es, Miss Newton?«
Sie seufzte schwer. »Es geht um … meinen Klavierlehrer!«, erklärte sie schließlich. »Mister Arnold Sandhurst. Er … ist verschwunden!«
»Ihr Klavierlehrer?«, wunderte sich Holmes, ehe er sich besann. »Verschwunden, sagen Sie? Können Sie dies präzisieren?«
Miss Newton senkte den Blick. »Bevor ich dies tue, sollte ich noch erwähnen, dass Mister Sandhurst … Arnold … sehr viel mehr ist, als nur mein Klavierlehrer. Auch wenn Sie dies überraschen mag!«
»Nicht sonderlich!«, erwiderte mein Freund ungerührt. »Kaum eine junge Dame würde in solche Gemütswallungen geraten, ginge es nur um den Klavierlehrer. Ich darf annehmen, er ist Ihr Galan?«
Miss Newton nickte verschämt. »Weder er noch ich haben es gewollt. Anfangs wurde Arnold von meinem Vater beauftragt, mich das Klavierspiel zu lehren. Dreimal die Woche sollte er kommen, und das für je zwei Stunden. Über ein Jahr ging das so. Aber eines Tages spürten wir, wie tief unsere Zuneigung zueinander doch ist. Wir verbrachten in den letzten Monaten sehr viel Zeit miteinander, müssen Sie wissen. Nicht nur während seiner Besuche, sondern auch abseits davon.«
»Womit Ihr Vater vermutlich nicht einverstanden war?«
»Vater erfuhr es nicht. Ich glaube, er weiß bis heute nicht, was ich für Arnold empfinde. Zu meiner großen Schande muss ich jedoch gestehen, dass ich weiter ging, als es sich für eine junge Dame geziemt. Sehr viel weiter, Mister Holmes!«
Holmes hielt inne, während er seine Besucherin scharf fixierte. »Also ist er der Vater Ihres ungeborenen Kindes!«
Miss Newton musterte Holmes mit erstauntem Blick. »Sie … wussten, dass ich ein Kind erwarte? Aber woher denn nur?«
»Ich ahnte es bereits, als Sie den von Mrs. Hudson gereichten Scotch eher zögerlich annahmen. Schwangere Frauen sollten Alkohol meiden, soweit ich weiß. Und auch Sie wissen es, wie Ihr Zögern bewies. Vollends sicher war ich mir jedoch, als Sie sich aufsetzten und dabei eine Hand auf ihren Bauch legten. Die typische Haltung einer Frau, die ein Kind im Leibe trägt!«
Ich musste lächeln, denn mein Freund hatte einmal mehr den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Ja, ich gebe es zu …«, sagte Miss Newton leise, »ich erwarte ein Kind von Arnold. Ich dachte, wir könnten gewisse Grenzen überwinden und unser Glück finden. Aber nun ist er weg. Verschwunden …« Damit holte sie einen gefalteten Brief aus ihrer Tasche und reichte ihn Holmes. »Dies erreichte mich am Dienstag per Boten. Seither habe ich nichts mehr von Arnold gehört!«
Dieser klappte ihn auf und las die Worte sorgfältig, ehe er das Schreiben an mich weiterreichte.
Teuerste Florence,
die folgenden Zeilen fallen mir nicht leicht, und doch muss ich sie schreiben. Unser Glück, so greifbar es auch schien, kann nicht von Dauer sein. Du, ein Mädchen aus gutem Hause, und ich, ein Klavierlehrer mit magerem Einkommen …
Bitte verzeih meine Mutlosigkeit, aber ich weiß aus tiefstem Herzen, dass es dir ohne mich besser ergehen wird.
Behalte mich stets in guter Erinnerung und bitte – suche mich nicht! Lebe dein Leben, während ich den Weg der Schande gehen werde.
In Liebe
Arnold
»Den Weg der Schande …«, sinnierte ich. »Fremdenlegion?«
Holmes nickte. »Durchaus möglich, alter Freund. Durchaus möglich. Hat man eine Frau geschwängert und möchte man sich der Verantwortung entziehen, bietet die Legion einige Möglichkeiten; inklusive eines neuen Lebens!«
Miss Newton schlug eine Hand vor den Mund, um einen Schrei des Entsetzens zu unterdrücken. »Fremdenlegion?«, fragte sie nahezu panisch. »Das ist sein Tod! Arnold ist kein Soldat oder Kämpfer. Im Gegenteil, er ist ein Mann der Muse. Der aufrechteste, sanfteste und gutmütigste Mann, den Gott je erschaffen hat, das ist er. Und anständig dazu! Er raucht nicht, er trinkt nicht und er ist weder dem Spiel noch der Wette verfallen!«
Sie leerte ihre Tasse. »Sehen Sie, Mister Holmes – würde ich glauben, dass sich Arnold tatsächlich auf und davon gemacht habe, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen. Aber ich ahne … Nein, ich weiß! … dass etwas nicht stimmt. Das hier ist nicht Arnolds Art!«
Damit deutete sie auf den Brief, den ich noch immer in der Hand hielt.
»In verzweifelten Situationen tun Menschen oft Dinge, die man nicht von ihnen erwartet hätte. Wüssten Sie denn sonst einen Grund, warum Ihr Galan das Weite hätte suchen sollen? Hatte er Schulden oder wurde er eventuell erpresst?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Miss Newton seufzte erneut. »Bitte, Mister Holmes, finden Sie Arnold. Es heißt, Sie würden in verzweifelten Momenten helfen. Und ich bin verzweifelt!« Sie griff abermals in ihre Tasche und förderte nun einen Geldbeutel zutage. »Zudem bin ich gewillt und in der Lage, Sie ordentlich zu entlohnen!«
Geld war niemals die Triebfeder für Holmes’ Arbeit. Faszinierte ihn ein Fall oder wusste er, dass ein Klient das geforderte Honorar nicht zahlen konnte, arbeitete er nicht selten unentgeltlich.
In diesem Fall nahm er jedoch den Beutel entgegen und legte ihn auf den Tisch. »Nun, ich werde sehen, was ich herausfinden kann!«, erklärte er unverbindlich. »Lassen Sie mir Ihre Adresse da, ich werde Sie kontaktieren! Zudem benötige ich die Adresse und ein Bild von Mister Sandhurst!«
Er erhielt das Gewünschte, ehe sich Miss Newton verabschiedete. Ich geleitete sie zur Tür und wartete, bis sie eine Droschke bestiegen hatte, ehe ich zurückkehrte.
»Nun, was sagen Sie?«, wollte Holmes wissen.
»Es erstaunt mich, dass Sie den Fall angenommen haben«, erwiderte ich sofort. »Mir scheinen die Fakten klar. Der Klavierlehrer lässt seine Freundin im Stich, um der Verantwortung zu entfliehen. Dieser Brief ist sozusagen seine Abschiedsmelodie. Himmel, Holmes – solche Dinge ereignen sich selbst in einem ordentlichen Land wie dem unsrigen laufend. Es ist beschämend, aber nicht zu ändern!«
»Ja, mag sein!«, erwiderte mein Freund nachdenklich. »Und überaus lyrisch von Ihnen, wie ich zugeben muss. Vielleicht ist an der Sache wirklich nichts dran. Aber man weiß ja nie, was sich am Ende ergibt. Ich habe so ein Gefühl, dass mehr dahinterstecken könnte!«
»Nun denn … Und was gedenken Sie nun zu tun?«, wollte ich von ihm wissen.
Holmes nahm das Foto zur Hand, welches ihm Miss Newton überlassen hatte. Die Adresse stand auf der Rückseite. »Wie wäre es mit einem Ausflug nach Camberwell?«, fragte er mit dem ihm eigenen Elan. »Schauen wir doch einmal nach, was uns Mister Sandhurst hinterlassen hat!«
»Camberwell?«, fragte ich. »Eine gute Wohngegend!«
»Durchaus. Vor allem für einen Musiklehrer, der Angst hat, er könne Kind und Frau nicht ernähren!« Holmes deutete mit seinem langen, dünnen Finger auf das Bild. »Wenn das nicht schon der erste Anhaltspunkt ist, dass etwas nicht stimmt!«
*
»Schauen Sie nur Holmes, wie sehr sich die Gegend verändert hat!«, rief ich aus, als wir Camberwell erreichten.
Einst war dies eine ländliche Gegend gewesen, in der man die Mineralquellen in größtmöglicher Ruhe genießen konnte. Und dies, obgleich die Stadt bereits im Domesday Book von 1086 erwähnt wird.
Dennoch hatte sich die gesamte Region ihren Charme und ihre Ländlichkeit bewahrt.
Dies änderte sich erst, als man Camberwell an die Bahnlinie anschloss; das muss so um 1860 gewesen sein.
Nun hatte sich der Stadtteil gewandelt, wie wir unschwer erkennen konnten.
Das Haus, in dem Sandhurst lebte, lag in einer Seitenstraße, nicht weit von der Universität entfernt. Für einen Musiklehrer kann es sicherlich reizvoll sein, in der Nähe einer Lehranstalt zu leben. Vielleicht unterrichtete er sogar zeitweilig an der Universität.
Holmes betrachtete das Gebäude einige Sekunden lang, warf dann einen Blick die Straße hinauf und hinunter, ehe er die drei Stufen zur Tür hinauf ging und recht heftig an der Klingelleine zog.
Es dauerte einen Moment, ehe aus dem Innern die Stimme einer Frau erklang: »Schon gut, schon gut, ich komme ja! Ich bin gleich da!«
Kurz darauf wurde geöffnet, und ich hätte schwören können, einer Schwester von Mrs. Hudson gegenüberzustehen.
Das gutmütige Gesicht, die Leibesfülle und die Schürze; all das ließ die Dame, die uns nun argwöhnisch musterte, wie ein fleischgewordenes Abbild von Mrs. Hudson wirken.
Selbst ihre Stimme, als sie diese nun erhob, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner ehemaligen Vermieterin.
»Es tut mir leid, aber wir spenden nicht. Auch tätigen wir keine Käufe an der Tür! Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich muss …«
Holmes lege seine Hand auf den Türgriff und hielt diese offen. »Sie missverstehen!«, erklärte er dabei freundlich. »Weder sind wir Hausierer, noch sammeln wir Spenden. Wir möchten zu Mister Arnold Sandhurst!«
Ein Lächeln breitete sich auf dem herzförmigen Gesicht der Frau aus. »Ach so! Warum sagen Sie das denn nicht gleich? Kommen Sie rein, kommen Sie rein! Ich bin Mrs. Belvedere, die Vermieterin! Und wen darf ich melden?«
»Mister Sherlock Holmes und Doktor Watson!« Mein Freund hielt inne. »Ist Mister Sandhurst zugegen?«
»Warum denn nicht? Ich habe ihn zwar schon einige Tage nicht gesehen, aber hin und wieder höre ich es in seiner Wohnung rumpeln. Er lebt sehr zurückgezogen!« Die Dame lächelte noch immer, ehe sie plötzlich innehielt. »Sagten Sie, Ihr Name lautet Sherlock Holmes?«, fragte sie meinen Freund. »Aber doch nicht etwas der Detektiv, oder?«
»Sie haben also von mir gehört?«, erkundigte sich Holmes bescheiden.
Mrs. Belvedere klatschte in die Hände. »Wer hat das nicht, Mister Holmes? Wer hat das nicht! Kommen Sie doch rein. Sie finden sicher den Weg; einfach die Stufen hinauf. Mister Sandhurst wohnt im ersten Stock!«
Wir folgten der Aufforderung und standen schon bald vor Sandhursts Tür. Aber so sehr wir auch klopften und riefen, es öffnete niemand.
Schließlich tauchte die Vermieterin auf. »Ist er doch nicht da?«, fragte sie mit besorgter Stimme. »Seltsam!«
»Wenn Sie die Güte hätten, die Türe zu öffnen … Uns wurde zugetragen, dass Mister Sandhurst … verschwunden … sein könnte!«, erklärte ich in so ruhigem Tonfall, wie es eben möglich war. »Darum auch der Besuch!«
»Verschwunden?«, rief die Dame dennoch entsetzt aus. »Aber wie … Warum sollte er denn verschwinden? Solch ein netter Mann!«
Sie kramte einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss die Tür auf. Dann betrat sie die Wohnung.
»Würden Sie bitte zurückbleiben!«, bat Holmes die Vermieterin. »Nicht, dass Sie unwissentlich eine Spur zerstören!«
»Natürlich, Mister Holmes. Wenn Sie etwas brauchen …«
Mrs. Belvedere zögerte; wohl in der Hoffnung, Holmes könne etwas brauchen. Aber dies war nicht der Fall, sodass ich die Dame nach draußen komplimentierte und die Tür hinter ihr schloss.
Der Wohnraum war deutlich kleiner als jener in der Baker Street, und auch das angrenzende Schlafzimmer sowie der Hygienebereich konnten nicht mit den Räumlichkeiten von Holmes Wohnung mithalten.
Dennoch war all das vorhanden, was ein Mann für ein angenehmes Leben in seinen vier Wänden benötigt. Selbst das Klavier, auf dem Sandhurst seine Schülerinnen und Schüler unterrichtet hatte, stand in einer Ecke.
Holmes hatte gleich nach dem Betreten damit begonnen, sich gewissenhaft umzuschauen. Momentan galt sein Interesse der Schreibmaschine, die auf einem Tisch etwas abseits stand. Er spannte ein Stück Papier ein und tippte ein paar Zeilen, ehe er das Papier hervornahm und einsteckte.
Anschließend ging er zum Klavier und spielte darauf, ehe er sich neben dem Sessel am Fenster bückte und etwas untersuchte, das ich jedoch nicht genau erkennen konnte. Als ich näherkam, sah ich es dann doch – es handelte sich um Aschereste, die offenbar von einer Zigarre stammten.
Nachdem er die Asche eingehend untersucht, daran geschnüffelt und etwas davon in ein Tütchen gefüllt hatte, setzte er seine Inspektion des Zimmers fort.
Er öffnete die Schreibtischschubladen, fand einen von Sandhurst begonnenen Brief und steckte auch ihn ein, ehe er dem Terminkalender besondere Aufmerksamkeit widmete.
Dann entdeckte er ein Stückchen Papier, das er ebenfalls eintütete.
Schließlich betrachtete er mehrere längst eingetrocknete Flecken auf dem Teppich neben dem Klavier, nahm auch hiervon eine Probe und richtete sich wieder auf.
Nachdem Holmes dem Wohnraum keine weiteren Informationen entnehmen konnte, betrat er das Schlafzimmer. Auch hier öffnete er Schränke, schaute unter das Bett und roch an einer alten Tasse, die auf dem Tischchen neben der Liegestatt stand.
Zum Schluss inspizierte er das Bad, dies jedoch oberflächlich.
»Lassen Sie uns gehen, Watson. Ich habe gesehen, was es zu sehen galt!« Damit öffnete er die Tür und ging die Stufen hinab.
»Und? Haben Sie eine Spur von Mister Sandhurst?« Mrs. Belvedere stand am Fuß der Treppe und schenkte uns einen neugierigen Blick.
»Noch nicht, wie ich zugeben muss. Aber sagen Sie mir bitte eines, Mrs. Belvedere – wann pflegen Sie, die Räume Ihres Mieters zu reinigen?«
»Montags. Immer montags!«, erklärte sie freundlich. »Das hat sich so eingebürgert, wissen Sie? Früher reinigte ich die Räumlichkeiten mittwochs, aber dann erwies sich der Montag als praktikabler, denn Mister Sandhurst ist dann meist bis spät abends außer Haus!«
»Sie haben mir sehr geholfen!«, erklärte mein Freund, verneigte sich und ging zur Tür. Dort reichte er Mrs. Belvedere seine Visitenkarte. »Hätten Sie die Freundlichkeit, mich sofort zu informieren, sollte Mister Sandhurst zurückkehren?«
»Aber natürlich!« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. Als wir in die Droschke stiegen, stand sie noch auf der Türschwelle und winkte uns nach.
»Es war gut, dass ich den Fall angenommen habe, alter Freund!«, sinnierte Holmes, während sein Blick aus dem Fenster glitt. »Auch wenn ich fürchte, Miss Newton keine gute Nachrichten überbringen zu können! Nein, ganz und gar nicht!«
»Demnach gehen Sie von einem Verbrechen aus?«, wunderte ich mich.
»Zweifelsohne. Wenn mich nicht alles täuscht, ist Mister Sandhurst entweder tot oder in einer sehr misslichen Lage. Und noch bin ich nicht in der Lage, ihn zu finden. Es gibt zu viele Fragen, die geklärt werden müssen!«
»Ich nehme nicht an, Sie möchten mir zu diesem Zeitpunkt bereits Ihre Schlussfolgerungen darlegen?«
Holmes schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Watson. Es gibt ein paar Dinge, die mir noch nicht klar sind. Ich brauche Gewissheit, denn manches ist zurzeit nur eine Vermutung!« Er schaute aus dem Fenster. »Macht es Ihnen etwas aus, alleine nach Hause zu fahren? Ich möchte noch ein paar Besorgungen machen und werde erst dann zur Baker Street zurückkehren. Kommen Sie doch morgen gegen neun zu mir, damit wir den nächsten Schritt gemeinsam angehen können!«
»Wie Sie meinen, Holmes! Ganz, wie Sie meinen!«
*
»Du meine Güte, Holmes! Was in aller Welt ist denn hier geschehen? Wollen Sie eine Räucherkammer eröffnen?«
Weiße Schwaden durchzogen die Räume in der Baker Street 221b. Es roch nach angebrannten Zigarren unterschiedlichster Herkunft. Die Aschenbecher quollen bereits über, selbst auf dem Sekretär erblickte ich eine noch glimmende Zigarre.
Als ich sie von dort entfernen wollte, intervenierte Holmes sofort. Also ließ ich die Zigarre, wo sie war, und ging zum Fenster, um es endlich zu öffnen.
Doch wieder hatte Holmes etwas dagegen.
»Lassen Sie die Fenster bitte geschlossen! Das hier ist ein Experiment!« Er griff nach einer Zigarre und sog daran, dann ließ er die Asche zu Boden fallen.
Als ich niederblickte, sah ich zu meinem Entsetzen unzählige kleine Aschehäufchen, die sich ohne erkennbares Muster im Raum verteilten.
»Was tun Sie denn da? Mrs. Hudson wird nicht erfreut sein, wenn sie all das hier sieht!«, rief ich anklagend, ehe ich husten musste. Der Rauch reizte meine Lungen in einem Maße, wie sie schon lange nicht mehr gereizt worden waren.
»Sie wird es verstehen! Sie versteht es stets, wenn ich es ihr erkläre. Das wissen Sie doch, Watson!«
Er griff nach einer weiteren Zigarre, zog daran und schaute zu, wie die Asche zu Boden fiel. »Ah, da haben wir es!«, rief er aus. »Schnell, Watson – helfen Sie mir, die Rauchware zu löschen und öffnen Sie das Fenster, damit frische Luft in den Raum kommt!«
Erleichtert tat ich, wie mir befohlen worden war. Noch einmal musste ich ob des Qualms husten, konnte dann aber die kühle Luft einatmen, die durch das Fenster in den Raum strömte.
Passanten, die auf der gegenüberliegenden Seite vorbeispazierten, schauten erstaunt zu mir hinauf, als sie die Wolken von grauem Tabakqualm entweichen sahen.
»Ich hoffe, dies alles hat einen sinnvollen Nutzen!«, rief ich Holmes zu, nachdem ich mich vom Fenster gelöst und damit begonnen hatte, die Zigarren zu löschen.
»Hat es, hat es!«, bestätigte mein Freund. »Ich erkläre es Ihnen bei Gelegenheit. Haben Sie die Rauchware gelöscht?«
»Moment noch …« Mir fiel auf, dass sich Holmes nicht an dieser Arbeit beteiligte, sondern ein Notizbuch aufgeschlagen hatte und etwas hineinschrieb. Dann besah er sich jene zuletzt von ihm gerauchte Zigarre genauer, ehe er wieder etwas in sein Notizbuch schrieb. »Sie wissen«, murmelte er dabei, »dass ich eine große Anzahl von Tabak bestimmen kann. Nicht nur jenen, den ich selbst gerne konsumiere. Hin und wieder treffe ich jedoch auf eine Sorte, die mir noch nicht unterkam. Aber dies ...« Er blickte auf und ich sah ihn lächeln, »hilft mir, mein Wissen zu erweitern!«
»Aber dafür die Wohnung in eine Räucherkammer zu verwandeln … ich weiß ja nicht, Holmes!« Ich löschte auch die letzte Zigarre. »So, alle aus!«
»Vielen Dank, alter Freund. Nun muss ich eine Theorie überprüfen. Möchten Sie mich begleiten?«
»Gewiss!«, erwiderte ich. »Wohin gehen wir?«
»Wir fahren – und zwar nach Wimbledon. Denn dort wohnt Miss Newton. Zuvor werden wir jedoch ein wenig die Gegend um das Haus meiner Klientin erkunden und dabei die Augen aufhalten. Wir benötigen lediglich die genaue Adresse!«
Ich hob jenen Zettel auf, den uns Miss Newton am Tag zuvor dagelassen hatte, fegte etwas Asche beiseite und las die Anschrift vor. Wool Road 25, Wimbledon!«
»Dann auf, Watson. Die Jagd läuft!«
Ich folgte Holmes zur Tür hinaus.
Auf dem Weg zur Straße trafen wir Mrs. Hudson. Holmes nutzte die Gelegenheit, sie um einen kleinen Gefallen zu bitten – ob sie wohl so freundlich sein könne, die Asche in seinen Räumen zu beseitigen?
Wir waren noch nicht in der Droschke, als wir den entsetzten Ruf der guten Seele vernahmen!
*
Einst war Wimbledon sehr ländlich gewesen, doch inzwischen lebten viele begüterte Menschen hier. Auch der Adel hatte diesen Teil Londons für sich entdeckt. Daher wechselten sich großzügige Anwesen mit ländlichen Bauten ab.
Wir hatten uns eine ganze Weile in der Nähe der Wool Road aufgehalten, waren in kleine Geschäfte gegangen und hatten sogar ein leichtes Mahl in einem der Pubs eingenommen. Mit jedem Detail, das Holmes erfuhr, schien er sich seiner Sache sicherer zu werden, und als wir schließlich zu Fuß zur besagten Adresse schlenderten, war mein Freund bester Stimmung.
Die Familie Newton schien überaus wohlhabend zu sein. Das Haus stand etwas abseits, umgeben von einem großzügigen Garten sowie einem hohen Zaun. Eine eigene Droschke stand in einer Auffahrt, deutlich waren die Stallungen schräg hinter dem Gebäude zu erkennen.
Als wir klingelten, öffnete nicht Miss Newton, sondern ein Dienstmädchen. Es vollführte artig einen Knicks und fragte, wen es melden dürfte.
Eine Antwort unsererseits erübrigte sich aber, denn Miss Newton eilte herbei und schickte das Mädchen weg.
»Mister Holmes!«, begrüßte sie meinen Freund, ehe sie mir zunickte. »Haben Sie etwas in Erfahrung bringen können?«
»Ein wenig. Aber erst möchte ich mit Ihrem Vater sprechen. Ist er zugegen?«
»Mit meinem Vater?«, fragte sie ängstlich. »Nein, er ist nicht im Haus. Wozu ist es notwendig, dass Sie ihn in dieser Sache sprechen?« Sie senkte die Stimme. »Ich habe ihm noch nicht gesagt, was …« Sie schwieg, doch ihre Hand legte sich wieder auf ihren Bauch.
»Glauben Sie mir, Miss Newton – es ist notwendig. Vieles wird sich klären! Dürften wir uns das Arbeitszimmer Ihres Vaters anschauen?«
»Gewiss!« Sie führte uns eine Treppe empor sowie einen Gang entlang, ehe sie eine Tür öffnete und mit der Hand in den Raum dahinter wies.
Ohne zu zögern ging Holmes zu der Schreibmaschine, legte ein Blatt ein und tippte ein paar Zeilen. Anschließend trat er an einen Mülleimer heran und holte ein zerknülltes Stück Papier hervor. Dieses betrachtete er einen Moment, dann steckte er es ein.
Der nächste Blick galt dem Kalender von Mister Newton.
Schließlich rieb er sich über die Nase, ehe er seine Aufmerksamkeit auf Miss Newton richtete. »Ein Tee wäre nett, während wir auf Ihren Vater warten. Wie heißt er noch gleich? Albert?«
»Alfred Theodor Newton«, korrigierte sie Holmes, ehe sie einen ihrer Seufzer hören ließ. Ich verstehe das alles nicht, Mister Holmes. Was hat mein Vater mit Arnolds Verschwinden zu tun? Ich sagte doch, dass ich ihn noch nicht eingeweiht habe!«
»Ja, das sagten Sie! Tee?«, erkundigte sich Holmes liebenswürdig.
»Gewiss«, besann sich Miss Newton auf ihre Pflichten. »Folgen Sie mir zum Salon. Meine Eltern müssten bald zurückkehren. Sie sind in London, um Besorgungen zu machen! Ich wollte hingegen lieber warten, falls sich Arnold doch melden sollte. Heute hätte ich Stunden bei ihm …«
Wir folgten ihr die Treppe hinab.
*
Es dauerte in der Tat nicht lange, bis Mister und Mrs. Newton nach Hause zurückkehrten. Wir hörten einen Einspänner vorfahren, ehe ein Pferd schnaubte und Schritte erklangen.
Kurz darauf standen Miss Newtons Eltern im Salon und musterten uns erstaunt.
»Hätte ich gewusst, dass du Besuch erwartest, wäre ich nicht in die Stadt gefahren«, erklärte Mrs. Newton mit einem freundlichen Lächeln in unsere Richtung.
Holmes übernahm es, uns vorzustellen. Anschließend kam er auf den Grund unseres Besuchs zu sprechen.
»Was soll das heißen, Mister Sandhurst ist verschwunden?«, rief Mr. Newton verärgert. »Ich habe ihm den Lohn für einen Monat im Voraus bezahlt! Er erfüllt besser seine Pflicht!«
»Seine Pflicht, ja!«, sinnierte Holmes. »Ich fürchte, genau das hat er getan. Oder besser gesagt – das, was er für seine Pflicht hielt. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis. Nicht wahr, Mister Newton?«
»Ich habe keine Ahnung, von was Sie sprechen!«, brauste der Hausherr auf. »Was werfen Sie mir vor, Mister Holmes?«
Mein Freund blieb gelassen, seine Stimme wurde jedoch so kühl, wie ich es immer dann von ihm kannte, wenn er einen Täter überführte. »Im schlimmsten Falle Mord, Mister Newton. Aber dies werden Sie am Ende aufklären können!«
»Wie können Sie es wagen, mich in meinem eigenen Haus mit solch ungeheuerlichen Anschuldigungen zu konfrontieren? Verlassen Sie augenblicklich mein Anwesen, ehe ich die Polizei hole und Sie verhaften lasse, Sir!«
»Sie haben sicherlich das Recht, uns des Hauses zu verweisen, Mister Newton. Aber Sie sollten bedenken, dass wir zurückkehren werden, und zwar in Begleitung von New Scotland Yard. Wichtiger als alles andere ist im Moment jedoch, ob es für Mister Sandhurst noch eine Rettung gibt, oder ob wir zu spät sind!« Holmes stand auf und trat an den Hausherrn heran. »Das Spiel ist aus! Ich kann beweisen, dass Sie Mister Sandhurst Leid angetan haben. Sagen Sie mir nun, ob er noch lebt und wo wir ihn finden können!«
Mein Freund hatte sehr eindringlich gesprochen. So wie stets, wenn es drängte und Leben in Gefahr waren.
»Mister Holmes!«, regte sich Newton auf, »Ihr Ruf eilt Ihnen zwar voraus, aber in diesem Fall irren Sie! Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was …«
»Vater!«, schrie Miss Newton, die sich bis dahin zurückgehalten hatte, und unterbrach damit Mister Newton. »Wenn du etwas weißt, dann sag es. Ich … liebe Arnold. Ich erwarte ein Kind von ihm!«
»Liebes, wie konntest du?«, rief ihre Mutter. Dann aber erbleichte sie. »Unser Häuschen an der Themse! Dort müssen Sie suchen!«
»Schweig!«, donnerte Mister Newton. Dann aber wurde ihm bewusst, dass das Spiel aus war. Er wankte zu einem Sessel und sank darin nieder, während Holmes zur Tür eilte.
»Kommen Sie, Watson. Und Sie auch, Mrs. Newton! Sie müssen uns den Weg weisen!« Er blickte zu seiner Klientin. »Sie warten hier!«
Damit eilten wir aus dem Haus.
»Sind Sie sicher, dass wir Mister Newton mit seiner Tochter zurücklassen können?«, fragte ich nachdenklich, während Mrs. Newton die Pferde anspannen ließ.
»Er würde seiner Tochter niemals etwas zuleide tun!«, warf diese ein. »Mein Mann ist kein schlechter Mensch!«
»Das muss sich noch zeigen!«, sagte Holmes kühl, während er die Droschke bestieg. »Das muss sich zeigen!«
*
Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde. Und dies, obgleich Holmes dem Fahrer aufgetragen hatte, sich zu sputen.
Als wir schließlich unser Ziel erreichten, standen wir vor einem kleinen Häuschen, umgeben von sehr viel Grün. Nicht weit entfernt führte ein Seitenarm der Themse vorbei, ein Wald säumte das Grundstück.
Mrs. Newton trat an die Tür und öffnete sie mit ihrem Schlüssel. Schon während der Fahrt hatte sie berichtet, dass die Familie hier gelegentlich ihre Wochenenden verbrachte; vor allem im Sommer.
Kaum war der Weg frei, als Holmes auch schon hineinstürzte.
»Watson, rasch!«, rief er mir Sekunden später zu. Ich beeilte mich, und wirklich – dort, auf einem Sofa im Wohnraum, lag ein bewusstloser Mann. Um seinen Kopf trug er einen provisorischen Verband, sonst war er an Händen und Füßen gefesselt.
Sofort machten wir uns daran, ihn zu befreien. Anschließend holte ich aus der Tasche meines Mantels ein Fläschchen Riechsalz und weckte den Unglücklichen, ehe ich mir seine Wunde anschaute.
»Offenbar haben Sie einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten, Sir!«, diagnostizierte ich.
»Ja …«, bestätigte er benommen. »Wer sind Sie?« Dann sah er Mrs. Newton. »Sie hier?«
»Mein Name ist Dr. Watson. Mit mir ist Mister Sherlock Holmes, dem Sie Ihre Rettung zu verdanken haben. Sie sind doch Mister Arnold Sandhurst?«, erwiderte ich freundlich.
»Ja. Sherlock Holmes! Wer … Florence hat Sie engagiert, nicht wahr?«, wisperte Sandhurst noch immer mitgenommen.
»So ist es!«, bestätigte mein Freund. »Sie wird froh sein, Sie lebend vorzufinden!«
Wie recht er damit hatte, zeigte sich nach unserer Rückkehr nach Wimbledon. Kaum hatten wir das Haus betreten, als Miss Newton einen Schrei der Erleichterung hören ließ und ihrem Musiklehrer um den Hals fiel.
»Also, Mister Newton!«, hob Holmes an und blickte zu dem noch immer in seinem Sessel sitzenden Hausherrn. »Wollen wir Ihre Tochter aufklären, was sich in den letzten Tagen ereignete?«
Der Mann nickte nur.
Holmes nahm in jenem Sessel Platz, in dem er zuvor gesessen hatte, und schlug ein Bein über das andere. Dabei bedeutete er seiner Klientin, sich ebenfalls zu setzen.
»Ihr Freund ist ein weitaus ehrenwerterer Gentleman, als Sie es vielleicht ahnen«, begann er seinen Bericht. »Während Sie ihr Verhältnis zu ihm und ihre Schwangerschaft geheim halten wollten, sah er es als seine Pflicht an, reinen Tisch zu machen. Daher lud er Mister Newton zu einem klärenden Gespräch. Aber Ihr Vater reagierte sehr ungehalten. Erst bot er Ihrem Freund Geld, wenn er Sie künftig in Ruhe lässt. Als Mister Sandhurst dieses ablehnte, schlug er ihn nieder und verschleppte ihn in das kleine Wochenendhaus an der Themse; wohl, um ihn dort unter Druck zu setzen, damit er tatsächlich die Stadt oder gar das Land verlässt! Sie hingegen täuschte er mit einem gefälschten Brief!«
»Vater!«, rief Florence Newton aufgebracht. »Ist das wahr?«
»Ich fürchte ...«, gab Mister Newton zu. Dann schaute er zu Holmes. »Woher wissen Sie all das?«
»Deduktion. Die Spuren, die wir in Mister Sandhursts Wohnung fanden, deuteten bereits auf ein Verbrechen hin. Da war das eingetrocknete Blut auf dem Boden, aber auch das Stückchen einer Pfundnote!«
Holmes holte jenes Papierstückchen hervor, das er tags zuvor in der Wohnung des Klavierlehrers gefunden hatte. Er hielt es hoch und ja, es war die linke, obere Ecke einer Pfundnote.
Weiterhin fand ich Asche einer Zigarre auf dem Boden. Und dies, obwohl Miss Newton sagte, dass Mister Sandhurst nicht raucht. Die Asche musste also von einer zweiten Person stammen. Da der Raum montags gereinigt wird, musste sie zudem später dorthin gelangt sein. In Mister Sandhursts Terminkalender waren neben den Unterrichtsstunden auch andere Eintragungen zu finden – für den Dienstag etwa die Initialen ATN. Sie stehen für Alfred Theodor Newton.«
Holmes lächelte in sich hinein. »Als ich eben Mister Newtons Kalender kontrollierte, fand ich dort eine ähnliche Eintragung für den gleichen Tag: Klavierlehrer!«
»Und der Brief? Woher wussten Sie, dass ich ihn gefälscht habe!«, wollte der Hausherr wissen.
Holmes strich sich über das Kinn. »Schreibmaschinen sind, wie ich bereits früher ausführte, Instrumente mit großer Beweiskraft. Erst nahm ich an, der Abschiedsbrief sei auf einer anderen als der Maschine von Mister Sandhurst verfasst worden. Aber nein, Sie haben den Brief tatsächlich an Mister Sandhursts Schreibtisch verfasst; mit dessen Schreibmaschine. Das sah ich, als ich eine Probe tippte. Und dennoch fielen mir Unterschiede zwischen dem von Ihnen geschriebenen Brief und jenem auf, den ich im Schreibtisch des Vermissten fand. Offenbar hat Mister Sandhurst einen sehr sanften Anschlag, Sie hingegen schlagen sehr viel stärker auf die Tasten. In Ihrem Büro fischte ich ein Manuskript aus dem Papierkorb, das den gleichen, harten Anschlag zeigt wie der vermeintliche Abschiedsbrief.«
»Ja, das alles sind überzeugende Argumente!«, musste Mister Newton zugeben.
»Schon bevor ich Ihren Terminkalender oder die Schriftprobe sah, waren Sie mein einziger Verdächtiger. Ich konnte anhand von Experimenten die Zigarrensorte bestimmen, die in Mister Sandhursts Räumen geraucht wurde. Ein Verkäufer hier in Wimbledon versicherte mir, dass nur Sie diese Marke erwerben!«
Damit war die Beweiskette einmal mehr unwiderlegbar, wie ich anerkennen musste.
»Und nun?«, fragte Mister Newton leise. »Werden Sie mich der Polizei übergeben?«
Holmes stand auf und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Aufgabe. Mister Sandhurst lebt, er ist der Geschädigte. Es ist seine Entscheidung. Aber ich glaube nicht, dass er seinen künftigen Schwiegervater hinter Gittern sehen will. Vielleicht findet sich eine Lösung, ohne dass die Behörden eingeschaltet werden müssen!«
Damit verließen wir das Haus, um die Familie sich selbst zu überlassen.
»Sehen Sie, Watson«, sagte Holmes, als wir uns auf dem Weg zurück in die City befanden, »am Ende war es doch keine Abschiedsmelodie. Wer weiß, vielleicht spielt man im Hause Newton schon bald den Hochzeitsmarsch!«
Und so endete der Fall um den vermissten Klavierlehrer. Es sei noch anzumerken, dass mein Freund Sherlock Holmes auch mit der Schlussbemerkung recht behielt; zwei Monate später lud Familie Newton zur Hochzeit ihrer Tochter. Und dort, in der Kirche, saßen auch Holmes, meine Frau und ich, denn wir waren der Einladung mit Freuden gefolgt.
E N D E
umfangreichen BOXEN-Programm:
Box 2 – Fall 12
Das Übersinnliche zog die Menschen schon immer in ihren Bann. Ob es nun Geister, Dämonen oder der Teufel selbst war, der Leib und Leben bedrohte, je schauerlicher eine Geschichte, Sage oder Erzählung, umso besser.
Ich muss zugeben, nicht frei von einem gewissen Aberglauben zu sein. So manches, was ich in meinem Leben schon gesehen oder gehört habe, widersetzt sich jeder naturwissenschaftlichen Erklärung. Dies gilt vor allem für jene Geschehnisse, deren Zeuge ich in Afghanistan wurde. Der Krieg dort forderte von allen, die daran beteiligt waren, hohe Tribute. Doch manch ein tapferer Soldat, den auch der größte Mediziner hätte aufgeben müssen, erhob sich nach innigen Gebeten und heiligsten Versprechen von seinem Krankenlager und konnte in die Heimat zurückkehren.
Andere wiederum sahen bei Nacht Vorboten naher Angriffe. So berichtete ein junger Offizier, er habe bei Nacht einen Hund mit rot glühenden Augen über ein Feld fliegen sehen.
Unter normalen Umständen wäre dieser Mann gewiss nach London geschickt und dort in eine Heilanstalt eingewiesen worden. Aber Soldaten auf Wache bestätigten die Aussage des Offiziers. Sie alle deuteten diese Sichtung als Signal eines drohenden Angriffs. Und wirklich wurde unsere Stellung schon am nächsten Nachmittag angegriffen, wobei die Rebellen über jenes Feld kamen, über das in der Nacht zuvor der Hund geflogen war.
Ich selbst hatte das Privileg, sowohl den Offizier als auch die Soldaten untersuchen zu dürfen und fand bei ihnen keine Anzeichen von Irrsinn, Drogeneinfluss oder Kriegsmüdigkeit. Im Gegenteil; sie waren motiviert, den Feind bis zur bitteren Vernichtung zu bekämpfen.
Ich selbst sah freilich keine fliegenden Hunde, lenkte mich aber nach meinen Verwundungen vortrefflich mit Mary Shelleys Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus von meinen doch starken Schmerzen ab. Immerhin hatten mir die Bastarde nicht nur eine Kugel in die Schulter verpasst, sondern mich bei der Schlacht von Maiwand auch am Bein verletzt. Zwar sorgten sich meine Kollegen rührend um mich und sparten gewiss nicht mit Morphium. Dennoch konnten sie mir meine Schmerzen nicht vollends nehmen.
Der Roman sog mich tief in seinen Bann. Umso mehr, als dass die Medikamente hier und da Sinnestäuschungen auslösten, die mich Schemen und Schatten sehen ließen. Dies in Verbindung mit dem Stöhnen der Verwundeten sorgte für ein eindrucksvolles, gleichwohl aber auch erschreckendes Ereignis, das mich zeit meines Lebens davon überzeugte, dass Drogen aller Art nicht gesund für den menschlichen Geist sein können. Daher bemühte ich mich in späteren Jahren, meinem Freund Sherlock Holmes sowohl das Morphin als auch das Kokain abzugewöhnen.
Blicke ich heute zurück auf meine Zeit mit Holmes, so erinnere ich mich an etliche Begebenheiten, bei denen Übersinnliches eine gewichtige Rolle zu spielen schien. Obgleich mein Freund stets eine rationale Erklärung fand, teils bereits sehr früh im Verlaufe eines Falls, erschienen mir die Umstände stets mysteriös. Zudem schloss ich – anders als Holmes – die Existenz von bizarren, übernatürlichen oder paranormalen Begebenheiten wie Spuk oder Vampirismus niemals kategorisch aus.
Denke ich nun an diese Fälle zurück, fallen mir spontan natürlich vor allem jene ein, die ich bereits zu Papier gebracht habe. Manche Leser mögen sich hier an den dämonischen Hund erinnern, der die Nachfahren des tyrannischen Baskerville zu strafen schien.
Oder auch jene absonderliche Begebenheit, in die ein weiblicher Vampir aus Peru verwickelt schien, und die Holmes und mich nach Sussex führte.
Doch nun, da ich hier über das Thema reflektiere, entsinne ich mich eines weiteren Falls, und diesen habe ich bisher meinen Lesern noch nicht zur Kenntnis gebracht. Und dies, obgleich die Ereignisse einmal mehr überaus bizarr anmuteten.
Der Fall begab sich einige Monate nach der Hochzeit von Florence Newton und Arnold Sandhurst; Sie erinnern sich eventuell noch an die Umstände, die letztlich zu dieser Vermählung führten und zudem bewiesen, dass Gerechtigkeit nicht immer durch Polizei, Richter und Geschworene gebracht werden muss. Manches, was in der Familie geschieht, kann auch dort belassen werden!
Frühling, Sommer und sogar der Herbst waren über London hinweggezogen und hatten meiner Praxis einige Arbeit beschert. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass es kaum ein angemessenes Wetter für die Menschen gibt. Die einen leiden unter der Kälte, blühen jedoch bei Hitze auf. Andere wiederum ächzen, sobald das Thermometer mehr als 25 Grad anzeigt. Vor allem Ältere leiden sowohl unter der Kälte als unter zu großer Hitze, und in diesem Jahr hatte ich einige Verluste zu beklagen. Wie gut unsere Heilkunst auch sein mag – oftmals müssen wir Ärzte tief betrübt zusehen, wie Menschen dahinschwinden.
Als ich an jenem Wintertag im Dezember die Räume der Baker Street betrat, hatte ich gerade die Augen eines Mannes geschlossen, der sich in der Hoffnung an mich gewandt hatte, ich könne sein Leben retten. Wäre er einige Monate oder sogar Jahre früher gekommen, wäre mir dies vielleicht möglich gewesen. So aber war mir nichts anderes geblieben, als ihm die letzten Wochen so angenehm wie möglich zu machen.
Meine Laune, und dies bitte ich zu verstehen, war daher nicht die Beste. Sie steigerte sich auch nicht, als ich Mrs. Hudsons sorgenvolles Gesicht sah, kaum dass sie mir öffnete.
»Doktor Watson, wie gut! Kommen Sie rasch rein! Ich fürchte …«
Sie brach ab, legte ihre Hand auf die Brust und musste sich erst einmal fassen.
»Was hat er diesmal wieder angestellt?«, fragte ich mürrisch und blickte die Stufen hinauf, ohne jedoch etwas von dem sehen oder hören zu können, was die gute Frau so sehr in Aufregung versetzte.
»Ich glaube, sein Verstand hat in den letzten Tagen ein wenig gelitten!«, wisperte Mrs. Hudson. Ihr Blick drückte dabei tiefe Betroffenheit aus.
»Was bringt Sie zu dieser Schlussfolgerung?«, erkundigte ich mich besorgt. »Benimmt er sich noch sonderbarer als sonst?«
»Das nicht. Aber ich höre ihn nach Einbruch der Dunkelheit mit Ketten rasseln. Zudem bat er einen dubiosen Gentleman zu sich, der als Medium und Experte für Spuk und Geisterscheinungen sein Geld verdient. Das muss man sich einmal vorstellen! Wir leben im 19. Jahrhundert, Doktor Watson! Nicht im finsteren Mittelalter!«
»Gewiss, Mrs. Hudson. Ich werde schauen, was es mit diesen Anwandlungen auf sich hat!« Damit ging ich die Stufen hinauf, klopfte kurz und trat ein.
Der Salon war leer.
Erstaunt blickte ich mich um, ohne aber Holmes zu erblicken. Wäre er außer Haus, hätte mir dies Mrs. Hudson ohne Zweifel gesagt. Wo also steckte er?
»Holmes? Holmes, ich bin es! Wo stecken Sie denn?«
Keine Antwort.
Ich klopfte diskret erst an der Tür des Schlafzimmers, dann an jener zum Badezimmer, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.
Wo steckt er denn? Erstaunt wandte ich mich um und ging zu jenem Sessel, in dem ich zu sitzen pflegte. Doch, noch bevor ich ihn erreichte, fegte plötzlich eine weiße Gestalt hinter der hohen Rückenlehne des Möbelstücks in die Höhe. Gleichzeitig erklang der schauerlichste Schrei, den ich seit Langem vernommen hatte.
Zu Tode erschrocken wich ich zurück, stolperte über einen Fuß des kleinen Tischchens und kippte nach hinten. Zum Glück stand dort Holmes’ Sessel, in den ich nun höchst unsanft plumpste.
Noch immer schwebte die Gestalt über meinem Sitzmöbel. Nun aber erkannte ich, dass es sich lediglich um ein blütenweißes Tuch handelte, das jemand an einer dünnen Schnur in die Höhe gezogen hatte.
»Was in aller Welt hat das zu bedeuten?«, entfuhr es mir. »Holmes?«Ich wandte den Kopf und sah meinen Freund seitlich neben einem Schrank sehen, in der Hand das andere Ende jener Schnur, die dem Tuch Leben eingehaucht hatte.
»Das war einer der übelsten Scherze, die Sie sich je mit mir erlaubt haben!«, tadelte ich Holmes. »Und überaus unpassend für einen Detektiv Ihres Formats!«
»Mitnichten, lieber Watson.« Holmes hatte Mühe, sein Lachen zu unterdrücken. »Tatsächlich handelte es sich hierbei nicht um einen Streich, sondern um ein Experiment. Und dieses dient nicht etwa einem Selbstzweck, sondern es soll mir helfen, einen möglichen Fall zu lösen!«
»Ich nehme an, Sie haben darum auch mit Ketten gerasselt und einen medial begabten Mann eingeladen?«, erkundigte ich mich, ging zu meinem Platz und sank in das vertraute Polster. »Mrs. Hudson ist in Sorge!«
»Das tut mir leid!«, erwiderte mein Freund. »Ich erwog, sie an diesem Experiment teilnehmen zu lassen. Dann aber fürchtete ich, der Schlag könne sie treffen. Daher entschied ich mich, Sie hinzuzuziehen. Ihre Konstitution erscheint mir sehr viel robuster nach allem, was wir gemeinsam erlebten!«
»Viel hätte nicht gefehlt, und auch mich hätte der Schlag getroffen!«, ließ ich ihn wissen. »Also schön, Holmes – worum geht es bei diesem … Spuk?«
»Um genau das. Aber Genaueres werden wir noch heute erfahren, denn ein möglicher Klient hat sich angekündigt. Bis dahin lesen Sie bitte den Brief, der mich vor einigen Tagen erreichte! Und ja, ich lud darum auch den medial begabten Mann ein. Wobei er kein Medium ist, sondern ein Experte, um vermeintliche Spukereignisse als Betrug zu entlarven. Ein äußerst ehrenwerter und gebildeter Mensch, wie ich versichern darf! Er gab mir einige Tipps! Schließlich bin ich kein Experte auf diesem Gebiet!«
Er händigte mir das Schreiben aus.
Sehr geehrter Mister Holmes,
Heute wende ich mich in einer sehr delikaten und auch mysteriösen Sache an Sie. Man sagte mir, ich könne auf Ihre äußerste Diskretion vertrauen, und so glaube ich, dass Sie die einzige Person sind, die mir in meiner misslichen Lage helfen kann.
Meine Familie wohnt schon seit sehr langer Zeit auf Godwin Castle, etwas außerhalb von Eyam. Bisher war das Leben dort sehr angenehm. Seit einiger Zeit aber werden sowohl meine Familie als auch unsere Bediensteten von unheimlichen Geschehnissen um den Schlaf gebracht. Mitternächtlicher Gesang ist dabei ebenso zu vernehmen wie das Klagen mehrerer Personen, unseliges Kettenrasseln sowie das Klappern von Türen, die sich offenbar selbsttätig öffnen und schließen.
Auch wurden bereits Spukerscheinungen gesichtet.
Anfangs hielten wir dies für einen perfiden Scherz eines Bediensteten, aber sie alle schworen, nichts damit zu tun zu haben. Wir glauben ihnen, denn die Verängstigung ist bei ihnen nicht geringer als bei uns; ein Mädchen kündigte schon nach den ersten Vorfällen fristlos und zog aus. Aber auch die anderen Bediensteten sind voll Furcht; weitere Kündigungen sind nicht ausgeschlossen.
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass diese ganze Angelegenheit an unseren Nerven zerrt. Vor allem meine geliebte Frau ist seit Tagen bettlägerig und lässt niemanden an sich heran aus Angst, damit den Geistern Zugang zu ihrer Kammer zu gewähren.
Ich flehe Sie an, helfen Sie einem Mann, der fassungslos mit Dingen konfrontiert wird, an die er niemals glaubte.
Ich werde Sie in vier Tagen aufsuchen, sollte sich das Phänomen bis dahin nicht von selbst gegeben haben, um Sie persönlich von der Dringlichkeit meines Falls zu überzeugen!
Hochachtungsvoll
Paul Godwin, 7. Earl of Hathersage
»Sie nehmen also an, dass er hier erscheinen wird?«, erkundigte ich mich. »Was, wenn dieses Phänomen doch verschwunden ist?«
»Nun, dann hätte mir ein Gentleman, wie es Sir Godwin zweifelsfrei ist, sicherlich abgesagt! Nein, ich rechne mit seinem Erscheinen!«
Wie stets behielt Holmes recht – es war noch keine Stunde vergangen, als uns Sir Godwin gegenübersaß und sich erst einmal einen Scotch einschenken ließ.
Der Besucher war bereits im fortgeschrittenen Alter; ich schätzte ihn auf etwa 65 Jahre. Sein Backenbart war ebenso ergraut wie die Haare auf seinem Kopf, so sie dort noch sprossen. Auch waren seine zittrigen Hände von braunen Flecken überzogen.
Sein Blick jedoch war der eines intelligenten Mannes. Obgleich er sich zu fürchten schien, von uns nicht ernst genommen zu werden, denn er versicherte mehrfach, sich nichts von den Ereignissen ausgedacht zu haben.
Die ganze Sache nahm ihn jedenfalls sichtlich mit. Er war grau im Gesicht, Falten lagen unter den Augen und er wirkte insgesamt erschöpft.
Holmes wartete, bis sich Sir Godwin ein wenig beruhigt hatte. Dann bat er seinen Besucher, die Umstände des Spuks näher zu schildern.
»Es begann eines Nachts!«, erklärte der Adlige fassungslos. »Wir saßen beisammen, als wir den Gesang vernahmen. Er drang aus dem Billardzimmer zu uns heran. Als wir nachschauten, war der Raum jedoch leer. Wir glaubten, einer unserer Bediensteten hätte bei der Arbeit gesungen, aber dies war nur der Auftakt. In den Tagen und vor allem in den Nächten darauf häuften sich die Ereignisse. Stimmen, Gesang, die im Brief beschriebenen Ketten … Dann sahen wir eine weiße Frau auf den Zinnen des Westturms. Sie schaute hinab in die Tiefe, ehe sie verschwand!«
Sir Godwin legte eine Pause ein, um sich einen zweiten Scotch zu gönnen. Der Alkohol beruhigte ihn ein wenig. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, das Zittern seiner Finger verflog.
»Hat sich in den Tagen vor dem ersten Spuk etwas ereignet?«, wollte Holmes wissen. Er hielt die Augen geschlossen und war einmal mehr das Ebenbild höchster Konzentration.
»Nichts, was diese Vorfälle hätte provozieren können. Niemand erkrankte, kein Familienmitglied starb. Es gab lediglich einen Grund zur Freude; mein erstgeborener Sohn Adam kehrte nach Jahren im Ausland nach Hause zurück, um sich auf sein Erbe vorzubereiten. Ich werde nicht jünger, eines Tages wird er der achte Earl of Hathersage sein.«
»Was tat Ihr Sohn im Ausland? Und wo genau war er?«, hakte Holmes nach.
»Er ging unseren Geschäften in der Schweiz nach. Wir haben ein kleines Anwesen am Genfer See; von dort aus leitete er einige Unternehmungen. Adam ist überaus gebildet. Er spricht mehrere Sprachen und weiß sich perfekt in der Finanzwelt zu bewegen. Nun aber wird mein Zweitgeborener diese Aufgaben übernehmen; Benjamin. Er verfügt über die gleiche gute Bildung und ist in manchen Dingen sogar noch etwas geschickter als sein älterer Bruder. Dennoch wird es Adam sein, der den Titel erbt.«
»Wie ist das Verhältnis Ihrer Söhne zueinander?«, wollte Holmes wissen.
»Bestens! Gewiss, als beide noch jünger waren, gab es gewisse Rivalitäten. Aber das gab sich in den letzten Jahren und nun pflegen beide ein herzliches Verhältnis.« Sir Godwin runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was das alles mit meinem aktuellen Problem zu tun hat!«
»Wenn Sie meine Hilfe möchten, darf ich keinen Gedanken ungedacht lassen. Abgründiges tut sich oft dort auf, wo man es nicht erwartet!«
Holmes lächelte, ohne die Augen zu öffnen. »Wie reagiert Ihre Familie auf den Spuk? Ihre Frau ist noch bettlägerig?«
»Sie hat sich wieder gefangen, ist aber schwach. Adam fühlt sich sehr elend, bemüht sich aber, Stärke zu zeigen. Und Benjamin versucht, der Sache auf den Grund zu gehen; bislang vergebens. Er war es auch, der mich ermutigte, Sie mit diesem Problem zu betrauen. Offenbar hörte er von Freunden, dass Sie in vielen Dingen bewandert sind!«
Holmes hob eine Braue. Offenbar hatte ihn diese Aussage überrascht. Dann aber nickte er langsam. »Eine Frage noch – dieses Mädchen, das gekündigt hat; wie heißt es?«
»Inga Bloomquist; ihre Familie stammt aus Schweden.« Sir Godwin wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. »Werden … Sie mir helfen, Mister Holmes?«
»Gewiss! Ein sehr interessantes Problem, das Sie da haben, Sir Godwin. Um ihm auf den Grund gehen zu können, müssen mein Freund Watson und ich einige Tage in Ihrem Haus verbringen. Dies ist leider unerlässlich!«
»Aber natürlich!«, rief der Adlige sofort. »Ich kehre noch heute zurück und veranlasse, dass man zwei Zimmer für Sie herrichtet! Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich über Ihre Hilfe freue! Wann werden Sie eintreffen?«
»Morgen, im Laufe des Nachmittags!« Nun öffnete Holmes seine Augen. »Ich bin sehr gespannt, was wir vorfinden werden!«
Damit verabschiedete sich Sir Godwin.
»Was sagen Sie dazu, Watson?«, fragte Holmes, als wir wieder unter uns waren. »Faszinierend, nicht wahr?«
»Sie vermuten einen Bruderstreit, nicht wahr?«
»In der Tat war dies mein erster Gedanke. Das zeitliche Zusammentreffen kann kaum ein Zufall sein! Nun, wir werden sehen!«
Ich nickte und verabschiedete mich ebenfalls. Wir würden einige Zeit unterwegs sein. Zudem musste Jane Gelegenheit haben, meine Tasche zu packen und dabei das eine oder andere zu vergessen …
*
Sollte ein Autor schauriger Romane auf der Suche nach einem guten Ort für eine Handlung sein, so kann ich ihm nun guten Gewissens Godwin Castle empfehlen. Dieser Bau aus dem 10. oder 11. Jahrhundert wirkt mit seinen hohen Türmen, den großen Wasserspeiern und den eher kleinen Fenstern sowohl trutzig wie auch Furcht einflößend. Mein erster Gedanke, als ich aus dem Fenster der von Sir Godwin gesandten Droschke schaute, war, dass ein solches Bauwerk den Spuk quasi anziehen muss!
Holmes, der schweigend neben mir saß und die Atmosphäre ebenfalls in sich aufzusaugen schien, hätte mir wohl kaum zugestimmt. Für ihn existierte so etwas wie Spuk nicht. Er glaubte fest daran, dass sich alles rational erklären ließ.
Und bisher hatte er damit recht behalten.
Sir Godwin empfing uns persönlich, stellte uns seiner Familie vor und bat anschließend Richard, den Butler des Hauses, uns zu unseren Zimmern zu geleiten.
Nachdem wir uns eingerichtet hatten, machte sich Holmes sofort daran, die verschiedenen, vom Spuk betroffenen Räume zu untersuchen.
Er klopfte gegen Wände, untersuchte die Böden und schob Bilder beiseite. Dann hob er Teppiche an, schaltete mal die Lampen an, dann entzündete er Kerzen.
Ob er etwas dabei entdeckte, blieb sein Geheimnis, denn in all der Zeit sagte er kein Wort.
Als Richard zum Abendessen lud, hatte Holmes seine Inspektion der Räume soweit abgeschlossen.
Das Mahl, so erfuhren wir, wurde meist in Stille eingenommen. Erst nach dem Dessert wurde wieder gesprochen.
Selbstverständlich hielten auch wir uns an diese Regel.
So kam es, dass bis zum Hauptgang das Schlürfen, Kauen, Schlucken und Geklirre des Bestecks auf dem Service die einzigen Laute waren. Doch kaum hatte Richard das Filet serviert, als aus dem Billardzimmer ein lautes Schluchzen erklang, gefolgt von traurigem Gesang.
Lady Godwin presste vor Entsetzen eine Hand auf den Mund, um so einen Schrei zu unterdrücken, während Benjamin aufsprang, um hinauszueilen.
Auch Holmes und mich hielt es nicht mehr auf unseren Stühlen. Wir stürzten hinaus, um in den fraglichen Raum zu gelangen. Aus diesem war nun ein weiterer Schrei zu hören, ehe Stille einkehrte.
Als wir das Billardzimmer betraten, konnten wir weder einen Menschen noch einen Geist erblicken. Dafür sahen wir etwas anderes!
Jemand hatte mit roter Farbe einen Satz an die Wand links neben dem einzigen Fenster geschrieben:
Ich habe dich geliebt!
Holmes kontrollierte sofort das Fenster, musste aber konstatieren, dass es von innen verschlossen worden war.
»Mister Holmes, was in aller Welt hat das zu bedeuten?«, rief Sir Godwin, als auch er hinzukam und die Schrift erblickte.
Adam, der seinem Vater gefolgt war, erbleichte. Dann zitierte er den Butler herbei und befahl ihm, die Sauerei sofort zu entfernen.
»Mister Holmes?«, hakte Sir Godwin nach, offenbar auf eine Antwort wartend.
Mein Freund, der zuvor Adam beobachtete hatte, gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Ganz einfach, Sir Godwin – dies ist die nächste Stufe. Der Geist ist noch lange nicht am Ziel seiner Wünsche angelangt!«
Wir kehrten zurück zum Speisezimmer. Auch wenn sowohl Adam als auch Lady Godwin der Appetit vergangen war, setzten wir das Dinner fort.
Hin und wieder schenkte ich Holmes einen kurzen Blick. Mir deuchte, dass er bereits sehr viel mehr wusste, als er zuzugeben bereit war.
Dennoch musste ich mich bis nach dem Essen gedulden, ehe ich ihn unter vier Augen sprechen konnte.
»Ich weiß, dass Sie nicht an Geister glauben, Holmes. Was vermuten Sie?«
»Ich vermute gar nichts, mein lieber Watson!«, erklärte er vergnügt. »Ich weiß bereits, dass wir es mit sehr weltlichen Dingen zu tun haben. Vieles ist mir bereits klar, manches aber muss ich noch herausfinden. Seien Sie so freundlich und leisten Sie mir bei Nacht Gesellschaft. Möglich, dass das Gespenst schon sehr bald wieder zuschlagen wird!«
Damit verabschiedete er sich offiziell, um sich in sein Zimmer zurückzuziehen.
Ich hingegen nutzte die Gelegenheit, nach Lady Godwin zu sehen. Auch sie hatte sich gleich nach dem Essen zurückgezogen, schien jedoch in einer deutlich schlechteren Verfassung als der Rest der Familie. Es war sozusagen meine Pflicht als Arzt, nach ihr zu sehen.
Wie sich zeigte, war sie von meinem Besuch recht angetan. Sie entschuldigte sich für ihr hysterisches Verhalten, ehe sie mich ihren Puls messen ließ. Dabei erkundigte sie sich nach meiner Familie.
»Kinder!«, erklärte sie schließlich, und diese Sätze erstaunten mich ein wenig. »Sie hören niemals auf, Kinder zu sein. Selbst dann, wenn sie längst dem Elternhaus entwachsen sind. Widerfährt ihnen jedoch Schreckliches, kehren sie sofort zurück zu ihrer Mutter!«
»Wie meinen Sie das?«, hakte ich nach. »Sprechen Sie von Adam oder Benjamin?«
Sie blickte mich an und schien sich erst jetzt ihrer Worte bewusst zu werden. Röte kroch über ihre Wangen, ehe sie abwiegelte: »Oh, es geht nicht um unsere Söhne. Nein, es geht … um ein befreundetes Ehepaar!« Sie produzierte ein Lächeln, das man auch ohne Holmes’ überlegene Beachtungsgabe als falsch und gequält erkennen konnte.
Dennoch beschloss ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Vorerst zumindest, denn sicherlich war dies etwas, das Holmes erfahren musste!
Die Nacht versprach ohnehin lang zu werden, sodass sich viel Gelegenheit ergeben würde, das Thema anzusprechen.
*
Dunkelheit hielt Godwin Castle umfangen. Nur in Gängen brannten Gaslampen, die Räume selbst waren in Finsternis gehüllt.
Holmes und ich saßen in bequemen Stühlen im Billardzimmer neben dem grün bezogenen Spieltisch und warteten darauf, dass etwas geschah.
Eine Weile hatten wir uns wispernd unterhalten. Dabei war auch zur Sprache gekommen, was Lady Godwin gesagt hatte.
Seine Reaktion war überaus zurückhaltend gewesen; so, als habe er etwas Ähnliches erwartet.
Das Warten in der Finsternis war enervierend. Wir hockten da und lauschten auf die Geräusche, die umso lauter zu hören waren, je weniger wir sahen.
Hin und wieder knackte es im Gebälk. Die Mauern arbeiteten aufgrund der zunehmenden Kälte außen und der Wärme, die von innen auf sie einwirkte.
Dann bewegte der Wind die kahlen Äste eines großen Baumes und ließ sie über die Scheiben mancher Fenster kratzen.
All das wirkte ob der Dunkelheit unwirklich und gespenstisch, wenn auch physikalisch zu erklären.
Nicht zu erklären war das leise Quietschen uns gegenüber. Dort, wo sich das Fenster und auch jene Wand befanden, an der das Gespenst seine Botschaft hinterlassen hatte, erschien ein schwacher Lichtschein. Schritte waren zu hören, ehe zu meinem puren Entsetzen eine schaurige, bleiche Gestalt zu sehen war.
Eine helle Kreatur, nicht Mensch, nicht Tier, stand in der Mitte des Raumes und stieß ein schauerliches Heulen aus. Dabei bewegte sie sich schwebend hin zum Fenster.
Kettenklirren waren zu hören, ehe plötzlich feinster, reinster Gesang erklang. Die Stimme klang nahezu überirdisch schön und schien nicht zu etwas derart Groteskem zu passen, wie es dieses Gebilde vor uns darstellte.
Schritte waren im Haus zu hören, begleitet von lauten Rufen.
Der Gesang steigerte sich, dann wurde daraus ein herzergreifendes Schluchzen, ehe zu meinem Entsetzen Babygeschrei zu hören war.
Holmes, der mir verboten hatte, einzuschreiten – ganz gleich, was auch geschehen würde –, klatschte plötzlich in die Hände. »Sehr gut«, rief er dabei, »eine meisterliche Vorstellung! Ich darf vorschlagen …«