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2016 wurde die institutionalisierte Kommunikationswissenschaft im deutschsprachigen Raum 100 Jahre alt. Karl Bücher hatte 1916 an der Universität Leipzig das erste Institut für Zeitungskunde in Deutschland gegründet. Aus dem Nukleus des Spezialfachs Zeitungskunde entwickelte sich die heutige Kommunikationswissenschaft als eine für die Gesellschaft wichtige Integrationsdisziplin, die immer weiter expandiert und sich ausdifferenziert. Der Sammelband mit ausgewählten Beiträgen der 61. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die zum Jubiläum in Leipzig stattfand, blickt auf 100 Jahre Kommunikationswissenschaft zurück, reflektiert die Fachentwicklung als Integrationsdisziplin und widmet sich aktuellen Befunden zur Kommunikation im Wandel.
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Seitenzahl: 441
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Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Band 44
Einführung
Markus Beiler und Benjamin Bigl
100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland – Von einem Spezialfach zur Integrationsdisziplin
Teil 1 100 Jahre Kommunikationswissenschaft
Erik Koenen
Erich Everth und die Erfindung der Zeitungskunde als Integrationswissenschaft. Zur Vorgeschichte der interdisziplinären Identität der Kommunikationswissenschaft
Thomas Irmer und Juliana Raupp
„Tummelplatz der Unkultur“ – Karl Bücher und die Presse im Ersten Weltkrieg
Jan Niklas Kocks, Juliana Raupp und Kim Murphy
Diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs: Aufgaben, Konzeptionen und Rahmensetzungen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in BRD und DDR bis 1989
Lisa Dühring
Public Relations als Wissenschaft. Gestern, heute, morgen
Teil 2 Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin
Uwe Hasebrink
Wen oder was integriert die Kommunikationswissenschaft?
Ralf Spiller, Matthias Degen, Thomas Horky und Elke Kronewald
Selbstverständnis der Kommunikationswissenschaft in Deutschland
Matthias Potthoff
Die Kommunikationswissenschaft – eine fragmentierte Disziplin?
Klaus-Dieter Altmeppen, Annika Franzetti und Tanja Evers
Die Polymorphie der Kommunikationswissenschaft. Chancen und Risiken einer disziplinären Themen- und Theorienpluralität
Benjamin Bigl, Dirk Schultze und Sebastian Heinisch
Zwischen Flexibilisierung und Profilierung. Curricularanalyse zum Status quo der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen im deutschsprachigen Raum
Adrian Rauchfleisch
Zitationsanalysen in der Kommunikationswissenschaft: Ein Vergleich zwischen der Öffentlichkeits- und Agenda-Setting-Theorie
Patrick Donges und Fabian Grenz
Spezialisierung und Ausdifferenzierung von Medien und Öffentlichkeit als Herausforderungen an eine Integrationsdisziplin
Teil 3 Kommunikation im Wandel – Aktuelle Befunde
Caja Thimm und Mario Anastasiadis
Kernkonzepte der Kommunikationswissenschaft im Wandel – Digitale Öffentlichkeit zwischen Fragmentierung, Polymedia und „Mini-Publics“
Markus Beiler
Wie der Journalismus Facebook und Twitter begegnet. Eine Befragung, Beobachtung und Inhaltsanalyse zur Reaktion des Journalismus auf die zunehmende Nutzerpartizipation mittels sozialer Medien
Elena Link, Daniel Possler und Wiebke Möhring
Neue Strategien des Journalismus auf dem Prüfstand: Die Wirkung des Trends Datenjournalismus aus Rezipientensicht
Christian Schemer, Adrian Meier und Benno Viererbl
Positive Konditionierung durch Schlagzeilen kann negative implizite Vorurteile gegenüber (männlichen) Muslimen reduzieren
Merja Mahrt
Themenkenntnis und Integrationsfunktion der Medien: Sind Onlinenutzung und Onlineinhalte mit Massenmedien vergleichbar?
Saskia Sell
„Netzfreiheit ist Daseinsvorsorge“ – Argumentationsmuster normativer Debatten in technikjournalistischen Onlinemedien
Julia Lück, Hartmut Wessler und Antal Wozniak
Journalistische Narrative in der Klimaberichterstattung: Eine vergleichende Inhaltsanalyse zur Identifikation und Erklärung journalistischer Erzählungen in Zeitungsnachrichten
Impressionen der 61. Jahrestagung der DGPuK vom 30. März bis 1. April 2016 in Leipzig
Autorinnen und Autoren
2016 beging die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) auf ihrer 61. Jahrestagung in Leipzig den 100. Geburtstag des Fachs im deutschsprachigen Raum. Im Jahr 1916 hatte Karl Bücher an der Universität Leipzig das erste Institut für Zeitungskunde in Deutschland gegründet – in der Stadt, in der 1650 auch die erste Tageszeitung der Welt erschien. Die Zeitungskunde verbreitete sich bald auch an anderen deutschsprachigen Universitäten. Das Fach verstand sich schon früh als das, was die deutsche Kommunikationswissenschaft heute unzweifelhaft ist: eine moderne Integrationswissenschaft. Erich Everth, erster ordentlicher Professor für Zeitungskunde in Leipzig, zeichnete dieses weitsichtige Bild bereits in seiner Antrittsvorlesung 1926:
„Neue Wissenschaften entstehen entweder, indem neue Stoffgebiete auftauchen oder neue Methoden auf schon bearbeitete Felder angewendet werden. Bei der Zeitungskunde liegt es so, dass ein besonderes Stoffgebiet das ist, dessen genaue Abgrenzbarkeit günstige Chancen für eine gründliche Behandlung bietet, dass sie aber keine Methode für sich allein hat, sondern dass eine ganze Reihe von Methoden verschiedener Wissenschaften nötig sind, um dieses Gebiet erschöpfend zu bearbeiten. So gibt es Geschichte der Presse, ein Presserecht, volkswirtschaftliche und statistische Untersuchungen des Zeitungswesens, man kann und muss aber den Komplex und Prozess, der die Presse heißt, auch mit psychologischen Methoden behandeln, und zwar unter individual-, sozial- und völkerpsychologischen Gesichtspunkten. Außerdem wird es eine Soziologie der Presse geben.“ (Everth 1927: 6)
Aus dem Nukleus der Zeitungskunde entwickelte sich die heutige Kommunikationswissenschaft als ein für die Gesellschaft bedeutsames Fach, das sich laut Selbstverständnis der DGPuK mit den sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von medialer, öffentlicher und interpersonaler Kommunikation befasst und sich als theoretisch und empirisch arbeitende, interdisziplinäre Sozialwissenschaft versteht. Es leistet Grundlagenforschung zur (Selbst-)Aufklärung der Gesellschaft, trägt zur Lösung von Problemen der Kommunikationspraxis durch angewandte Forschung bei und erbringt Ausbildungsleistungen für Medien- und Kommunikationsberufe (DGPuK 2013: 128).
Mit der quantitativen Expansion der Kommunikationswissenschaft seit den 1970er Jahren diffundierte das Fach gleichzeitig qualitativ hinsichtlich der Gegenstandsbereiche, Theorien und Methoden. Die Ausweitung von Kommunikationsphänomenen in unserer Informations- und Mediengesellschaft fordert die Kommunikationswissenschaft als integrative Querschnittswissenschaft stark heraus. Der dynamische Strukturwandel von Kommunikation und Medien wird u. a. vorangetrieben durch
technologische Entwicklungen (z. B. Digitalisierung, Online-Plattformen, Infrastruktur für crossmediales und mobiles Publizieren und Rezipieren sowie alle einhergehende individuelle, personalisierte Medienproduktion und Mediennutzung; Social-Media-Plattformen und -Kanäle, technische Hybridisierung bisher traditionell getrennter Medien wie TV, Internet, Telefon und Computerapplikationen),
soziale und gesellschaftliche Veränderungen (z. B. Bereitschaft zu Partizipation und Mitwirkung, virtuelle Nähe, Wechselspiel von Anonymität und Transparenz),
soziodemographische Faktoren (z. B. alternde Bevölkerung) und
ökonomische Kontexte (z. B. fortschreitende Differenzierung und Spezialisierung in der Medienbranche, neue Geschäftsmodelle für Medienunternehmen, wachsende Bedeutung von Kommunikation und Medien in gesellschaftlichen Organisationen und Unternehmen).
Vor diesem Hintergrund verfolgte die 61. DGPuK-Tagung „100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland – Von einem Spezialfach zur Integrationsdisziplin“ im Jubiläumsjahr der Kommunikationswissenschaft zwei Ziele: Erstens widmete sich das spezifische Tagungsthema der Fachentwicklung und -reflexion. Zweitens sollte die gegenwärtige kommunikationswissenschaftliche Forschung in ihrer gesamten Breite abgebildet werden. Damit wurde die Frage verfolgt:
Was leistet die Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin in ihrem Kern, in ihrer Breite, mithilfe anderer und für andere Disziplinen sowie für die Gesellschaft, für die Medienpraxis und -ausbildung?
Diese Fragestellung ist offensichtlich auf großes Interesse in unserer Fachgesellschaft gestoßen: Mit 470 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktikern konnte die bislang teilnehmerstärkste Jahrestagung der DPGuK verzeichnet werden. Eine Rekordzahl waren auch die 246 eingereichten Beiträge. So gab es für das spezifische Tagungsthema der Fachentwicklung und -reflexion 71 Einreichungen (davon 19 zusätzlich als Poster) und zur aktuellen Forschung 174 Einreichungen (davon 72 zusätzlich als Poster). Insgesamt wurden 99 Vorträge angenommen und gehalten (27 bzw. 72) und 17 Poster präsentiert (5 bzw. 12).
Nimmt man die Selbstzuordnungen der Beitragseinreichungen zum Beitragstyp „Aktuelle Forschung“ zu den Themenfeldern der Fach- und Adhoc-Gruppen, erhält man einen groben Gradmesser bzw. Querschnitt zur Kontur des Fachs im Jahr 2016 – inwieweit es sich bei der Kommunikationswissenschaft – getreu dem Tagungsthema – um eine Spezial- oder um eine Integrationsdisziplin handelt (siehe Tabelle 1).
Tab. 1: Themenfelder der Beitragseinreichungen „Aktuelle Forschung“ und Anteil am Programm der 61. DGPuK-Tagung 2016 (Mehrfachzuordnungen möglich)
Die 174 eingereichten Beiträge wurden im Durchschnitt 2,7 Themenfeldern zugeordnet. Von den insgesamt 464 Zuordnungen zu den 28 Themenfeldern konzentriert sich die Hälfte auf die fünf Themen Online- bzw. computervermittelte Kommunikation (13,8 Prozent), Mediennutzung und -aneignung (10,8 Prozent), Rezeptions- und Wirkungsforschung (9,3 Prozent), Journalismusforschung (8,4 Prozent) sowie Medieninhaltsforschung (7,5 Prozent). Es sind also Themen aus dem engeren Kern des Fachs, erweitert um die Online- bzw. computervermittelte Kommunikation, worin sich die Ausweitung auf neue Kommunikationsphänomene und Gegenstandsbereiche aufgrund technologischer Entwicklungen der vergangenen Jahre ausdrückt. Insbesondere waren dies soziale Medien.
Die andere Hälfte der Einreichungszuordnungen verteilt sich auf 23 weitere Themenfelder. Darunter finden sich klassische Themen wie Politische Kommunikation (7,1 Prozent), aber auch neue Themen wie etwa Gesundheitskommunikation (1,5 Prozent) oder Mediensport (0,4 Prozent). Gerade diese Themen sind es wohl, die einerseits den Rändern unseres Fachs zunehmend Konturen verleihen und andererseits integrativ zu weiteren gesellschaftsrelevanten Bereichen und wissenschaftlichen Disziplinen wirken können.
Der Integrationsbegriff ist weder in der Wissenschaft noch im Alltagsverständnis auf eine allgemein verbindliche Lesart zu beschränken (Friedrichs/ Jagodzinski 1999: 38). Der Begriff unterliegt vielmehr einer ausgeprägten Differenzierung und Verknüpfung ganz unterschiedlicher Bedeutungen. Diesen gemein ist der Grundgedanke der Einheit (Vlasic 2004: 16f.). Integration ist dementsprechend als Zusammenhang von Teilen in einem systemischen Ganzen zu verstehen, wobei eine wechselseitige Interdependenz dieser Teile gegeben sein muss (Esser 2001: 3).
Aus soziologischer Perspektive werden Aufnahme und Zusammenhalt oft als Grundgedanken definiert. Beide Begriffe müssen jedoch stets im Zusammenhang betrachtet werden. Aufnahme beschreibt dabei vor allem einen Prozess, während Zusammenhalt als übergeordnete Zielsetzung von Integration verstanden werden muss (Volf/Bauböck 2001: 13f.). Integration bezieht sich dabei häufig auf gesellschaftliche Phänomene und betrachtet in erster Linie die soziale und systemische Integration (Esser 2001: 3). Wissenschaftliche Diskurse zu Integration finden daher meist in der Soziologie, in der Rechts- und Politikwissenschaft oder auch in der Sozialpsychologie statt. Die Relevanz der Integration in der Kommunikationswissenschaft ergibt sich vor allem aus der Bedeutung von Kommunikation für den Integrationsprozess selbst (Herzog 2006: 156), aber auch im Zusammenhang ihrer teilweise auf den ersten Blick disparat erscheinenden Forschungsfelder.
Als Zeitungskunde gegründet, beschäftigte sich die Kommunikationswissenschaft zunächst aus soziologischer und ökonomischer Perspektive mit dem Medium Zeitung. Als Propagandawissenschaft wandelte sie im Nationalsozialismus auf Irrwegen und entwickelte sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Publizistikwissenschaft mit dem Gegenstandsbereich Massenmedien, deren Bedeutung für die Gesellschaft im Mittelpunkt einer sozialwissenschaftlich fundierten Forschung stand. Eine zunehmende Abgrenzung fand zur aus den philologischen Wissenschaften entstammenden Medienwissenschaft, die auf ästhetische und technische Aspekte der Medien und Inhalte fokussiert (vgl. Karmasin/Rath/Thomaß 2014: 9).
Seit Mitte der 1980er Jahre setzte ein Ausdifferenzierungsprozess in der Publizistikwissenschaft der Bundesrepublik ein. Technologische Entwicklungen sowie soziale und gesellschaftliche Veränderungen führten zu einer Ausweitung der betrachteten Kommunikationsphänomene und zum Verschmelzen von Massen- und Individualkommunikation. Es entstanden Teildisziplinen. Mit „der jüngsten Namensvolte des Faches“ (ebd.) wurde dem Rechnung getragen und begrifflich ein vereinender und übergeordneter Rahmen geschaffen: die Integrationsdisziplin Kommunikationswissenschaft.
Das Selbstverständnis als Integrationsdisziplin ist der Kommunikationswissenschaft dabei keineswegs exklusiv vorbehalten. Spezialisierte und stark ausdifferenzierte wissenschaftliche Fächer, wie etwa die philosophische Anthropologie, die zahlreiche Erkenntnisse der Humanwissenschaften verwendet, greifen häufig Erkenntnisse aus anderen Fachbereichen auf und verstehen sich in ihrer zwangsläufig notwendigen Interdisziplinarität ebenfalls als Integrationsdisziplin (Birgmeier 2014: 96). Als Bindeglied zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie und als Schnittstelle zwischen betriebswirtschaftlichen, ingenieurwissenschaftlichen und informatikbezogenen Paradigmen versteht sich auch die Wirtschaftsinformatik seit jeher als solche (Leimeister 2015: V) und wird neben der Kommunikationswissenschaft häufig als Integrationsdisziplin beschrieben.
Am Beispiel des Themenfeldes Game Studies“, der Ad-hoc-Gruppe „Mediensport und Sportkommunikation“ sowie der neu gegründeten Fachgruppe „Gesundheitskommunikation“ lässt sich aufzeigen, wie sich die Kommunikationswissenschaft an ihren Rändern transdisziplinär ausdifferenziert, weitere gesellschaftlich relevante Themenfelder integriert und damit Anschlussfähigkeit an andere Fachbereiche herstellt. Weiterhin kann anhand der Entwicklung der Fachgruppe „Gesundheitskommunikation“ verfolgt werden, wie durch Bottom-up-Prozesse die Institutionalisierung und Etablierung neuer Themenfelder innerhalb der Kommunikationswissenschaft vorangetrieben wird und werden kann.
Gerade die Game Studies haben sich innerhalb des Fachs seit einigen Jahren als ein Querschnittsthema zu fachverwandten Disziplinen (z. B. Psychologie, Bildungswissenschaften, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaften) etabliert, auch wenn deren Konturen sowie ihre Relevanz für das Fach zunächst nicht immer klar ersichtlich waren (vgl. Brosius 2003). Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Erfolgs von Computer- und Videospielen (vgl. Quandt/Breuer/Festl/Scharkow 2013), der Erschließung neuer Zielgruppen (vgl. Smeddinck/Gerling/Malaka 2014) sowie den vielfältigen und teils interdisziplinären Themen und Fragestellungen sind für die fachliche Relevanz drei Aspekte maßgeblich.
Erstens sind Computer- und Videospiele als digitale Plattform Medien der öffentlichen Kommunikation, die im Zeitalter der Medienkonvergenz nicht mehr auf einzelne (technische) Geräte beschränkt sind. Zweitens ermöglichen sie direkte und indirekte, gegenseitige und einseitige, private und öffentliche Kommunikationen für und mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Innerhalb und außerhalb des Spieles sind die ablaufenden wechselseitigen Kommunikationsakte geprägt von einem Rollenwechsel, wie er charakteristisch ist für jedes Spiel (vgl. Huizinga 1938), sowie von einem symbolkommunikativen Bedeutungsaustausch (vgl. Blumer 1973). So wird das (Computer-)Spiel zu einer kommunikativen und damit sozialen Handlung, die als solche auch modellhaft dargestellt werden kann (Bigl 2016: 55). Drittens folgen Computer- und Videospiele dem „Zwang des Mediums“ (Maletzke 1963: 14), indem sie auf ganz unterschiedliche Funktionen und Leistungen der klassischen Massenmedien Bezug nehmen, diese erweitern oder diese für andere soziale Systeme bereitstellen.
Erste Fachgesellschaften (z. B. DiGra), Arbeitsgruppen – etwa die Section Games Research der European Communication Research and Education Association (ECREA) – haben diese Relevanz erkannt und tragen durch ihre Präsenz auch dazu bei, dass die Game Studies innerhalb des Faches über Ländergrenzen hinweg weiter Konturen gewinnen. Aus dieser Perspektive kann an dieser Stelle die Initiierung der Institutionalisierung durch z. B. die Gründung einer Ad-hoc-Gruppe explizit angeregt werden.
Unter den sich weiter ausdifferenzierenden Forschungsfeldern erfreut sich auch Mediensport und Sportkommunikation1 (vgl. Kinkema/Harris 1998) einer größer werdenden Aufmerksamkeit und hat jüngst diesen Schritt der Institutionalisierung getan. Der globalisierte und kommerzielle Hochleistungssport ist ein Berichterstattungsschwerpunkt in allen Medien (vgl. Horky/Stelzner 2013). Internationale Sportereignisse sind nicht nur große Medienereignisse, sondern erzählen eine der wenigen identitätsstiftenden und integrierenden „Geschichten“ in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften. Wie man die Entwicklung des modernen Sports nicht ohne seine Einbettung in gesellschaftliche Kommunikationen (vgl. Wenner 1989) verstehen kann, so sind in den letzten Jahrzehnten zusätzlich Medialisierungsschübe (vgl. Dohle/Vowe 2006) in fast allen Sportarten zu beobachten.
Mediensport und Sportkommunikation sind damit nicht nur Anwendungsfelder für Theorien und Ansätze des Fachs, sondern zugleich Forschungsfelder, an denen der Medienwandel und seine Bedeutung für andere Teilsysteme der Gesellschaft exemplarisch studiert werden können (vgl. Stiehler 2007). Die große Resonanz, die die beiden ersten Tagungen der noch neuen, 2015 gegründeten Ad-hoc-Gruppe in der DGPuK gefunden haben, und die erfolgreiche Gründung des online und als Open Access erscheinenden Journals für Sportkommunikation und Mediensport belegen das nachdrücklich.
Richtet man den Blick auf die konkreten Handlungsoptionen einer wissenschaftlichen Disziplin, die Etablierung neuer Forschungsfelder und -bereiche voranzutreiben, kann auf die Entwicklung der Fachgruppe Gesundheitskommunikation innerhalb der DGPuK verwiesen werden.2 So wurde im November 2012, nach mehrjähriger Aktivität in diesem Forschungsfeld und mehreren mitorganisierten thematischen Konferenzen von Eva Baumann, Matthias Hastall und Constanze Rossmann ein Antrag auf Gründung der Ad-hoc-Gruppe Gesundheitskommunikation an den Vorstand der DGPuK gesendet. Zu diesem Zeitpunkt war das Forschungsfeld auf internationaler Ebene längst in kommunikationswissenschaftlichen Fachorganisationen (z. B. ICA, IAMCR) etabliert. Eine analoge Institutionalisierung stand in Deutschland hingegen noch aus.
Ziel war es daher, mit der geplanten Ad-hoc-Gruppe ein entsprechendes Forum zur Vernetzung und zum akademischen Diskurs innerhalb der DGPuK aufzubauen, um so einen Beitrag zur Institutionalisierung dieses gesellschaftlich wie kommunikationswissenschaftlich relevanten Forschungsfeldes zu leisten. Im Zentrum der Bemühungen stand weiterhin, die für die Gesundheitskommunikation relevanten Perspektiven aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen stärker miteinander zu verbinden und die Erfahrungen und kommunikationsbezogenen Handlungsanforderungen aus dem präventiven, medizinisch-therapeutischen, technischen und gesundheitspolitischen Bereich zu integrieren.
Dem Antrag auf Gründung wurde stattgegeben, woraufhin sich die Adhoc-Gruppe über die darauffolgenden dreieinhalb Jahre als Ad-hoc-Gruppe bewährte. Während dieser „Probezeit“ wurde das rege Interesse seitens der DGPuK-Mitglieder am Themenfeld noch deutlicher, was sich unter anderem durch drei Tagungen (Hannover, Mainz, Lugano), drei Tagungsbände in der Reihe Medien + Gesundheit im Nomos-Verlag sowie durch zwei Nachwuchsworkshops mit Promovierenden widerspiegelt. Im Januar 2016 wurde schließlich der Antrag auf Gründung der Fachgruppe Gesundheitskommunikation an den DGPuK-Vorstand gesendet, dem schließlich auf der DGPuK-Mitgliederversammlung während der Leipziger Jubiläumstagung 2016 mit deutlicher Mehrheit zugestimmt wurde. Seither fand bereits die erste Jahrestagung der Fachgruppe und ein weiterer Nachwuchsworkshop statt. Die Zahl der Mitglieder hat die Hundertermarke inzwischen überschritten.
Gemäß ihrem Selbstverständnis möchte die Integrationsdisziplin Kommunikationswissenschaft auch Leistungen für die Gesellschaft erbringen. Aufgrund der Bedeutung der öffentlichen Relevanz unseres Fachs stand zu Beginn der Jahrestagung die Podiumsdiskussion „Kommunikation im Medienwandel – Erwartungen an Forschung und Ausbildung in Deutschland“ am 30. März 2016 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.3
Vertreter aus Medienpolitik, Medienwirtschaft und Gesellschaft diskutierten die Herausforderungen öffentlicher Meinungsbildungsprozesse im Kontext des digitalen Medienwandels: Carsten Brosda4 (Staatsrat für Kultur, Medien und Digitales der Freien und Hansestadt Hamburg), Karola Wille (Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks), Georg Löwisch (Chefredakteur der taz), Annekatrin Bock (Nachwuchssprecherin der DGPuK), Stephan Ruß-Mohl (Universität Lugano, Leiter des European Journalism Observatory) und als Moderator Wolfgang Schulz (Universität Hamburg, Direktoriumsmitglied des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung).
Zur Beschreibung des Medienwandels bietet die Kommunikationswissenschaft zahlreiche theoretische und empirische Analyse- und Lösungsansätze an und bildet Nachwuchs für ganz unterschiedliche Berufsperspektiven im Medienbereich aus. Doch spiegeln die Angebote und Leistungen des Fachs auch das wider, was gesellschaftlich notwendig ist? Entsprechen diese den Erwartungen von Medienpolitik, Medienwirtschaft und Gesellschaft an die Kommunikationswissenschaft der Zukunft?
Es zeigte sich, dass Kommunikationswissenschaft und Praxis noch nicht dieselbe Sprache sprechen. Einig war man sich jedoch, dass die Wissenschaft öffentlich Stellung beziehen sollte, wenn die Massenmedien und der Journalismus als „Lügenpresse“ verunglimpft werden. Für einen besseren Dialog von Medienpraxis und Kommunikationswissenschaft machte MDR-Intendantin Karola Wille den mit Applaus bedachten konstruktiven Vorschlag, dass der MDR einmal im Jahr die kommunikationswissenschaftlichen Institute einladen könnte, um offen zu diskutieren, welche Themen die jeweilige Seite beschäftigen: „Wenn man kontinuierlich miteinander spricht, ist es gut.“
Uwe Hasebrink (Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg) eröffnete am 31. März 2016 mit seiner Keynote „Wen oder was integriert die Kommunikationswissenschaft?“ die 61. Jahrestagung der DGPuK. In seiner Einführung umriss er die formulierten Kernfragen der Jahrestagung und griff dabei die These auf, Kommunikationswissenschaft sei eine Integrationsdisziplin (siehe dazu seinen Beitrag in diesem Band).5
Mit einem Festakt beging das Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig während der Jahrestagung am 1. April 2016 den 100. Geburtstag der Institutsgründung durch Karl Bücher (ein Abriss zur Geschichte des Leipziger Instituts findet sich im Kasten auf den nachfolgenden beiden Seiten; eine von Studierenden erstellte Poster-Ausstellung gab Einblicke vor Ort, siehe Bigl/Blecher 2017).6 Die Grußworte der Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, Eva-Maria Stange sowie der Rektorin der Universität Leipzig, Beate Schücking, würdigten die Leistungen des Instituts für unser Fach sowie dessen Sichtbarkeit als Leuchtturm der Universität.
Die Festrede hielt Bernhard Debatin (Ohio University in Athens/Ohio, USA) zum Thema „Der schmale Grat zwischen Anpassung und Integration: Kritische Anmerkungen zum 100-jährigen Jubiläum der deutschen Kommunikationswissenschaft“.7 Er ging den Fragen nach, was unter Kommunikationswissenschaft zu verstehen sei, wie sich diese Wissenschaft entwickelt und positioniert habe, welchen erkenntnisleitenden Interessen sie verpflichtet sei, welchen Wissenschaftstrends und -moden sie in den vergangenen Jahrzehnten gefolgt sei und möglicherweise immer noch folge. Seine These: Ausgehend von der Einsicht, dass unser Fach als Integrationsdisziplin kaum fachspezifische Methoden und Theorien aufweise, sei diese theoretischmethodische Unbestimmtheit in einer Zeit, in der die meisten wissenschaftlichen Probleme nur noch in inter- und transdisziplinären Kooperationen zu lösen seien, nur dann ein Vorteil, wenn sich das Fach auf seine normativen Grundlagen besinne sowie kritische Distanz zu Wissenschaftsmoden halte.
Wie sich die Integrationsdisziplin Kommunikationswissenschaft heute tatsächlich gestaltet, war nicht nur Gegenstand der Jahrestagung, sondern zeigt – zumindest ausschnittsweise – auch dieser Sammelband.
Die Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft – ein Spiegel der deutschen Geschichte8
1916 wurde das erste zeitungskundliche Institut an einer deutschen Universität gegründet – und zwar in Leipzig. Ein Blick zurück auf die Entwicklung der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft lohnt sich, auch weil sich in ihr die Linien und Brüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert spiegeln.
Mit dem Anspruch, den Journalismus qualitativ zu verbessern und wissenschaftlich zu erforschen, gründete 1916 der international renommierte Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930) das Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig. Ihm lag daran, das traditionell schlechte Ansehen des Journalistenberufes durch eine wissenschaftliche Ausbildung zu heben. Der von Bücher entwickelte Studienplan sah für künftige Redakteure die Vermittlung von Sachbzw. Ressortwissen (in Geschichte, Wirtschaft, Statistik, Kunst usw.) und Fachwissen über journalistisches Handwerk vor. Auf Büchers Drängen hin wurde 1922 von der Philosophischen Fakultät die Zeitungskunde als Prüfungsfach bei Promotionen anerkannt – damals und noch anderthalb Jahrzehnte lang ein Alleinstellungsmerkmal der Leipziger Universität – sowie 1926 ein zeitungskundlicher Lehrstuhl eingerichtet.
Diesen Lehrstuhl besetzte der Journalist Erich Everth (1878–1934), der die Entwicklung des Fachs zu einer wissenschaftlichen Disziplin mit eigenständiger Erkenntnisperspektive vorantrieb. Für ihn sollte die Zeitungskunde ein sozialwissenschaftliches Integrationsfach sein, das auf Theorieansätze und Methoden anderer Disziplinen zurückgreifen sollte. Die Studentenzahlen stiegen: Im Wintersemester 1932/33 lag die Zahl der zeitungskundlichen Einschreibungen bei 220 und das Institut war zur größten Facheinrichtung in Deutschland avanciert. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte sich Everth als einziger Zeitungswissenschaftler für Pressefreiheit und Demokratie in Deutschland ein; daraufhin wurde er im April 1933 zwangsbeurlaubt und wenig später emeritiert.
Im April 1934 wurde der glühende Nationalsozialist Hans Amandus Münster (1901–1963) auf den Lehrstuhl berufen und zum Institutsdirektor ernannt. Für ihn sollte die Zeitungswissenschaft der NS-Diktatur dienen: Er regte Mediennutzungsforschung mit dem Ziel an, empirische Befunde über die Reaktionen der Deutschen auf die NS-Propaganda zu erlangen, förderte antisemitische und rassische Dissertationsthemen und arbeitete mit der Gestapo in Sachsen, dem Sicherheitsdienst der SS und dem Reichssicherheitshauptamt zusammen.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Leipzig zentraler Standort für die Journalistenausbildung in der sowjetischen Besatzungszone und blieb es bis zum Ende der DDR. Hermann Budzislawski (1901–1978), prominenter Publizist und Herausgeber der „Weltbühne“, wurde 1954 erster Dekan der neu geschaffenen Fakultät für Journalistik, die 1969 zur Sektion Journalistik umstrukturiert wurde.
Im „Roten Kloster“ durchdrang die sozialistische Ideologie alle Aspekte des immer praktischer werdenden und verschulten Studiums in einem komplexen Apparat: Am Ende gehörten der Sektion Journalistik 30 Hochschullehrer, 50 Assistenten und wissenschaftliche Mitarbeiter, 41 nichtwissenschaftliche Mitarbeiter und 6 Sprachlehrer an.
Im Wendeherbst 1989 stellte die Sektion Journalistik ihre Arbeit vorübergehend ein. Der Münchner Ordinarius für Kommunikations- und Medienwissenschaft Karl Friedrich Reimers (geb. 1935) bekam vom Sächsischen Wissenschaftsminister den Auftrag, ein neues Institut zu konzipieren. Die Leitidee Reimers‘ war es, die seit den 1980er Jahren ausdifferenzierten Felder der Disziplin zu einer integrativen Kommunikations- und Medienwissenschaft zu verbinden. Sein „Fünf-Säulen-Modell“, auch bekannt als „Leipziger Modell“, umfasste die fünf Fachbereiche Historische und systematische Kommunikationswissenschaft, Empirische Kommunikationsforschung, Journalistik, Medienpädagogik sowie Public Relations. Auf dieser Basis wurde im Dezember 1993 das Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft gegründet. Als erste Generation von Nachwende-Professoren wurden die inzwischen im Ruhestand befindlichen Arnulf Kutsch, Werner Früh, Michael Haller, Bernd Schorb und Günter Bentele berufen sowie Hans-Jörg Stiehler und Rüdiger Steinmetz.
Mittlerweile ist der Generationenwechsel beinahe vollzogen. Wofür steht das Institut heute? Nach wie vor für eine im deutschsprachigen Raum einmalige thematische Vielfalt in Forschung und Lehre – von der Journalistik bis zum Kommunikationsmanagement, von der Rezeptionsforschung bis zur Medienpädagogik, von der Kommunikationsgeschichte bis zu Crossmedialität im Web. Weiterhin für eine attraktive Basisausbildung: Der Bachelorstudiengang Kommunikations- und Medienwissenschaft ist mit Bewerberzahlen zwischen 2.300 und 3.100 in den letzten fünf Jahren einer der am stärksten nachgefragten Studiengänge an der Universität Leipzig (wobei bis zu 31 Bewerber auf einen Studienplatz kamen). Und nicht zuletzt für eine zunehmende Internationalisierung: Seit 2014 gibt es eine Triangle-Kooperation mit der Ohio University in Athens (USA) und der Hong Kong Baptist University (China) in Forschung und Lehre, und 2015 startete zusammen mit der Ohio University ein deutschlandweit einmaliger Double-Degree-Masterstudiengang namens „Global Mass Communication“ mit einem integrierten und gebührenfreien Auslandsstudium.
Dieser Sammelband zur 61. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft aus Anlass des 100. Jubiläums der Etablierung unseres Fachs enthält 18 ausgewählte Beiträge der Konferenz.9 Die Herausgeber haben entschieden, den Schwerpunkt des Bands auf das spezifische Tagungsthema zur Fachentwicklung und -reflexion zu legen. Entsprechend blickt der erste Teil des Tagungsbands auf 100 Jahre Kommunikationswissenschaft zurück und der zweite Teil widmet sich der Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin.
Der dritte Teil „Kommunikation im Wandel“ zeigt einige Beispiele der gegenwärtigen Forschung in unserem Fach. Bei der Auswahl dieser Beiträge wurde auf eine Varianz der abgedeckten Themenfelder abgezielt. Beschlossen wird der Band mit einigen visuellen Impressionen der Jubiläumstagung, auf das sie allen in guter Erinnerung bleibt.
Teil 1: 100 Jahre Kommunikationswissenschaft
Der Blick auf die Fachgeschichte belegt das Verständnis der Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin. Der erste Teil des Tagungsbands widmet sich daher in vier Beiträgen dezidiert verschiedenen Aspekten der 100-jährigen Entwicklung des Fachs und steht damit ganz im Zeichen des mit der Jahrestagung begangenen Jubiläums.
Erik Koenen zeigt, dass bereits Erich Everth die Zeitungskunde als Integrationswissenschaft verstand und seine Ideen der künftigen Kommunikationswissenschaft die Interdisziplinarität schon mit in die Wiege gelegt worden ist.
Die besondere Bedeutung Karl Büchers ist Gegenstand des Beitrags von Thomas Irmer und Juliana Raupp zu Hintergründen und Motiven der Gründung des Instituts für Zeitungskunde 1916 in Leipzig. Büchers Blick auf die zeitgenössische Presse inmitten der Wirren des Ersten Weltkrieges muss heute als leidenschaftliches und kritisches Eintreten für ein Verständnis der Presse betrachtet werden, dass der damaligen Zeit weit voraus war.
Die Stadt Leipzig steht mit seinen Montagsdemonstrationen als Sinnbild für die friedliche Revolution 1989/90, die in die Wiedervereinigung Deutschlands mündete. Das geteilte Deutschland prägte zuvor auch die Entwicklung der deutschen Kommunikationswissenschaft nachhaltig. Jan Niklas Kocks, Juliana Raupp und Kim Murphy widmen sich der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit in der alten Bundesrepublik und der DDR. Sie legen mit ihrem Beitrag einen umfassenden Überblick zur Konzeption, dem Verständnis und der Ausgestaltung von regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in beiden deutschen Staaten vor und stellen ihre Erkenntnisse in einem Vergleich gegenüber.
Der erste Teil dieses Tagungsbands schließt mit einem Plädoyer von Lisa Dühring für die Akzeptanz der Public Relations als kommunikationswissenschaftliche Teildisziplin. In ihrem Beitrag greift sie den bis in die Gegenwart oft kritisch geführten Diskurs zur wissenschaftlichen Daseinsberechtigung der Public Relations auf und legt einen Überblick zur Geschichte der internationalen PR-Wissenschaft und -Theoriegeschichte vor, der neben der anerkannten berufspraktischen Fundierung, auch den wissenschaftlichen Wert von PR aufzeigt.
Teil 2: Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin
Im zweiten Teil des Tagungsbands mit sieben Beiträgen geht es um die Fachreflexion der Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin. Er wird von der Keynote von Uwe Hasebrink „Wen oder was integriert die Kommunikationswissenschaft?“ eröffnet. In seinem Beitrag stellt er besonders die handelnden Akteure und Institutionen in den Mittelpunkt seiner Argumentation. Diesen bescheinigt er große Verdienste um Positionierung und Ausgestaltung des Fachs. Er fordert zur Weiterentwicklung und insbesondere der Weiterverfolgung integrativer Bemühungen der Kommunikationswissenschaft auf.
Aktuelle Befunde zum Selbstverständnis der Kommunikationswissenschaft präsentiert der Beitrag von Ralf Spiller, Matthias Degen, Thomas Horky und Elke Kronewald. Anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse der Grundsatzdokumente der DGPuK und ihrer untergeordneten Fachgruppen wird kritisch reflektiert, wie es um das Selbstverständnis innerhalb der Fachgesellschaft bestellt ist und wie dies im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Fachgesellschaften bewertet werden kann.
Die bestehende Vielfalt innerhalb der Kommunikationswissenschaft gilt als unbestritten. Matthias Potthoff blickt kritisch auf die Fragmentierung innerhalb des Fachs und stellt dabei insbesondere heraus, wie stark die verschiedenen Teildisziplinen auch bereichsübergreifend arbeiten und theoretische Ansätze und Forschungsergebnisse der jeweils anderen Teilbereiche verwenden. Anhand von Indikatoren wie Zitationen und Querverweisen zeigen seine Ergebnisse, dass in der Kommunikationswissenschaft tatsächlich ein hohes Maß an Fragmentierung und durchaus großes Potenzial für eine stärkere Kohäsion innerhalb des Fachs besteht.
Ein ähnliches Bild zeichnen Klaus-Dieter Altmeppen, Annika Franzetti und Tanja Evers in ihrem Beitrag zu Struktur von Themen- und Forschungsbereichen innerhalb der Kommunikationswissenschaft. Fragmentierung ist auch hier die treffende Umschreibung und deutet (erneut) Strukturierungsprobleme unseres Fachs an.
Die Anforderungen der Gesellschaft an die Kommunikationswissenschaft im Bereich der Lehre zielen in erster Linie auf die Vermeidung von Fehlqualifizierungen, die durch die diagnostizierten Fragmentierungserscheinungen begünstigt werden könnten. Was aber tatsächlich in der kommunikationswissenschaftlichen Lehre vermittelt wird, ist auf einer inhaltlichen Ebene weitestgehend unklar (vgl. Löffelholz/Quandt 2003: 15). Der Beitrag von Benjamin Bigl, Dirk Schultze und Sebastian Heinisch unternimmt für diese notwendige Bestandsaufnahme einen ersten Versuch.
Adrian Rauchfleisch stellt sich für seinen Beitrag der Herausforderung einer Analyse von Zitationen innerhalb der Kommunikationswissenschaft. Fortgeschrittene technische Rahmenbedingungen erlauben dabei sehr komplexe Erhebungen, die weit über eine eindimensionale Erstellung einer Rangliste der meistzitiertesten Autoren hinausgeht.
Am Ende des zweiten Teils dieses Tagungsbands steht ein Antwortversuch auf die Frage, welchen Beitrag Kommunikation für den Zusammenhalt der Gesellschaft leisten kann und betrachtet dies aus einer häufig vernachlässigten Perspektive. Patrick Donges und Fabian Grenz greifen hierfür insbesondere die Arenen der Fachmedien und Fachöffentlichkeiten auf und zeigen das in diesem Bereich bestehende Potenzial im Sinne des Integrationsdiskurses auf.
Teil 3: Kommunikation im Wandel – Aktuelle Befunde
Der dritte Teil des Bands befasst sich in sieben Beiträgen mit aktueller Forschung unseres Fachs, die mit der dynamischen Entwicklung von Kommunikationsphänomenen in unserer Gesellschaft einhergeht. Caja Thimm und Mario Anastasiadis widmen sich in ihrem Beitrag vor allem neuen Formen von Öffentlichkeiten, die insbesondere auf der Digitalisierung fußen und durch die ein neuerlicher Strukturwandel der Öffentlichkeit begründet werden kann.
Der besondere Stellenwert sozialer Medien wie Facebook und Twitter im Zuge dieses Veränderungsprozesses, vor allem die damit einhergehende zunehmende Partizipation der Nutzer, ist unstrittig. Markus Beiler untersucht in seinem Beitrag in einer Mehrmethodenstudie, wie der Journalismus auf die Herausforderung soziale Medien reagiert und sich den Konkurrenz-, Komplementär- und Integrationsbeziehungen stellt.
Der Umgang mit Daten ist für den Journalismus Chance und Herausforderung zugleich. Der schillernde Begriff „Big Data“ umschreibt die verschiedenen Dimensionen in diesem Kontext. Dass sich daraus neue Trends und Strategien entwickeln können, zeigen Elena Link, Daniel Possler und Wiebke Möhring in ihrem Beitrag zum Datenjournalismus.
Der vorliegende Band wirft auch einen Blick auf aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen. Die uns über das Jahr der Tagung hinaus auch zukünftig beschäftigende Debatte über Ursachen und Folgen von Flucht und Vertreibung sowie die sich für unsere Gesellschaft ergebende Herausforderung der Integration spiegelt sich auch in der Forschungstätigkeit unserer Disziplin wider. So ist der vermutete Einfluss der medialen Berichterstattung auf Vorurteile gegenüber muslimischen Minderheiten Gegenstand einer experimentellen Erhebung von Christian Schemer, Adrian Meier und Benno Viererbl.
Die generelle gesellschaftliche Integrationsfunktion der Medien wird von Merja Mahrt thematisiert. Sie geht unter dem spezifischen Gesichtspunkt aktueller medialer Phänomene und Erscheinungsformen in ihrem Beitrag der Frage nach, inwieweit Onlinemedien die klassischen Massenmedien ersetzen oder ergänzen.
Das politisch und gesellschaftlich umstrittene Thema der Freiheit der Datennetze begreift Saskia Sell als gleichzusetzende Kommunikationsfreiheit im Internet. Ihr Plädoyer für den Erhalt eben jener Freiheit stützt sich vorrangig auf die Analyse einschlägiger Fachpublikationen, die mittels einer diskurssemantischen Analyse erarbeitet wurde.
Mit dem Themenkomplex der Klimaberichterstattung greifen Julia Lück, Hartmut Wessler und Antal Wozniak eine weitere gesellschaftliche und politische Herausforderung der Gegenwart auf und präsentieren in ihrem Beitrag Erkenntnisse über journalistische narrative Tendenzen in Zeitungsnachrichten.
Zum Schluss – des Recency-Effektes wegen – Dankesworte. Die Liste ist notwendigerweise und zu Recht lang. Denn ohne die engagierte Unterstützung Vieler wäre die 61. Jahrestagung der DGPuK „100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland – Von einem Spezialfach zur Integrationsdisziplin“ im Jubliäumsjahr 2016 wie auch dieser Sammelband nicht möglich gewesen.
Das Leitungsteam der Tagung in Leipzig bestand aus Hans-Jörg Stiehler (Geschäftsführender Direktor des Instituts), Markus Beiler, Cornelia Wolf, Benjamin Bigl, Katrin Döveling, Ansgar Zerfaß und Uwe Krüger.
Im Organisationteam wirkten Lisa Müller sowie die Studierenden Paula Petersen, Andreas Parnt, Sarah Maulhardt, Vera Schülke und Kai Franze.
Ohne die vielen größeren und kleineren Zuarbeiten der Sekretariate, insbesondere von Sylvia Hellmuth und Katrin Goldmann, wäre so manche Herausforderung zu einem echten Problem geworden.
Während der Tagung waren zahlreiche weitere studentische Helferinnen und Helfer unermüdlich im Einsatz: Christina Ackermann, Laura Bähr, Jessica Ebelt, Maria Elßner, Theresa Elste, Philipp Ettel, Karina Gareeva, Julia Günther, Mandy Hallmann, Tina Herfurth, Jennifer Johne, Nadine Keller, Caroline Kuhn, Nhi Le, Franziska Liedtke, Anna Mazmanyan, Julia Nickel, Claudia Pietschmann, Rosanna Planer, Christoph Schlegelmilch, Christin-Luise Stade-Wolf, Josefine Stollberg, Kristin Taupadel, Victoria Vorwerg, Tammo Walter, Yili Zhao und Maik Zimmermann.
Das auf der Impressumsseite dieses Bands abgedruckte Logo der Tagung hat Andreas Lamm entworfen.
Das Plakat zur Tagung, dessen markante „Formel“ in diesem Tagungsband vor dem Inhaltsverzeichnis abgebildet ist, wurde in einem Seminar unter Leitung von Lisa Müller gestaltet. Mit Unterstützung der Firma Ströer Media Deutschland konnten die Plakate vor und während der Tagung in ganz Leipzig bewundert werden und machten den 100. Geburtstag unseres Fachs öffentlich im Stadtbild sichtbar.
Die Poster-Ausstellung „Schlaglichter: Ein Streifzug durch 100 Jahre Institutsgeschichte“ wurde von engagierten Bachelorstudierenden des gleichnamigen Forschungsseminars in Kooperation mit dem Universitätsarchiv Leipzig gestaltet. Jens Blecher, Axel Schöpa und Marika Pelz sei gedankt für Unterstützung und Realisation.
Unterstützung erhielt die Tagung auch von der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie, der das Jubiläum feiernde Institut angehört, und der Dekanin Monika Wohlrab-Sahr, sowie von der Universität Leipzig, an der Karl Bücher 1916 das Institut für Zeitungskunde gründete, und Rektorin Beate Schücking. An der Universität sorgten in der Verwaltung Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur dafür, dass wir während der Tagung den immer noch in neuem Glanz erstrahlenden Campus Augustusplatz mit dem Neuen Augusteum als zentralem Forum nutzen konnten und damit einen würdigen und gut ausgestatteten Tagungsort hatten.
Das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen gratulierte in Person der Staatsministerin Eva-Maria Stange.
Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermöglichten mit der öffentlichen und sehr gut besuchten Podiumsdiskussion „Kommunikation im Medienwandel – Erwartungen an Forschung und Ausbildung in Deutschland“ einen gelungenen Auftakt der Tagung.
Die Stadt Leipzig als Geburtsort der institutionalisierten Kommunikationswissenschaft lud zum Empfang in das Neuen Rathaus.
Der Mitteldeutsche Rundfunk unterstützte fachlich und richtete die Abschlussveranstaltung „Tagungsbilanz – Ein Gespräch“ an seinem Hauptsitz in Leipzig aus. MDR-Intendantin Karola Wille, zum Zeitpunkt der Tagung auch ARD-Vorsitzende, engagierte sich von Planungsbeginn an und bei der die Tagung eröffnenden Podiumsdiskussion, die Leiterin der MDR-Markt- und Medienforschung Gerlinde Frey-Vor bei der Abschlussveranstaltung.
Viele Sponsoren unterstützten die Jahrestagung finanziell oder materiell. Als Premium-Partner wirkte die Deutsche Post DHL Group, was auch die feierliche Abendveranstaltung in Auerbachs Keller ermöglichte, als Partner die Leipziger Stadtholding. Weitere Sponsoren waren die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (SLM), die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig und die Leipziger Messe sowie die ausstellenden und unterstützenden Verlage Herbert von Halem, Nomos, Springer, UTB, UVK und Vistas. Die Agentur Event Lab und Katja Störmer betreuten mit großer Routine die Sponsoren.
Für die audiovisuelle Tagungsdokumentation sorgten Fred Meier und Katharina Krauel vom Zentrum für Medien und Kommunikation (ZMK) der Universität Leipzig. Fotograf Swen Reichhold hielt die Tagung in vielen Bildern fest, von denen einige am Schluss des Bands als Erinnerung zu sehen sind.
Musikalisch beeindruckte die UniBigband Leipzig unter der Leitung von Reiko Brockelt, die den Festakt würdig aber beschwingt begleitete. Während der Abschlussveranstaltung beim MDR brillierte „Agenda Setting Unlimited“, die nach ihrem Auftritt bei der Erfurter Jahrestagung 2004 erfolgreich ihr Comeback feierten – diesmal in der Besetzung Günter Bentele, Lutz M. Hagen, Oliver Quiring und Jan Tonnemacher. Begeisterung lösten auch „The Cumples“ aus, die sich als „beste Freizeit-Rockband der Welt“ verstehen (Günter Bentele, Klaus Krüger, Ede Ruschmeier, Helmut Ruschmeier und Ulrich Schulze-Roßbach).
Der DGPuK-Vorstand engagierte sich unermüdlich und aus vollen Kräften für die Jubiläumskonferenz, Wiebke Möhring als stellvertretende Vorsitzende für die Betreuung der Jahrestagungen zuständig und Oliver Quiring als Vorsitzender, der alle Zusatzbitten der Veranstalter stets erfüllte.
Die Herausgeber dieses Tagungsbands wurden bei ihrer Aufgabe von den Studierenden Laura Bähr und Daniel Jahn unterstützt sowie bei UVK von Rüdiger Steiner.
Dank geht auch an die Autorinnen und Autoren dieses Bands sowie an alle, die Beiträge zur Tagung eingereicht, Vorträge gehalten, Poster präsentiert und Panel moderiert haben. Insbesondere den beiden Keynote-Speakern Uwe Hasebrink und Bernhard Debatin sei für ihre kritischen, das Fach zur Reflexion ermutigenden Impulse gedankt. Und selbstverständlich geht der Dank an sämtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jahrestagung. Sie alle haben es ermöglicht, dass wir gemeinsam auf einer unvergesslichen Jubiläumstagung 100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland feiern konnten!
Leipzig
im Januar 2017
Markus Beiler
und Benjamin Bigl
Bigl, B. (2016): Virtuelle Computerspielwelten. Rezeption und Transfer in dynamischtransaktionaler Perspektive. Köln: Herbert von Halem.
Bigl, B./Blecher, J. (Hrsg.) (2017): Schlaglichter. Ein Streifzug durch 100 Jahre Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-216968
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Debatin, B. (2017): Der schmale Grat zwischen Anpassung und Integration. Kritische Anmerkungen aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der deutschen Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik, 62(1), 1–17
DGPuK (2013): 50 Fragen, 50 Antworten, 50 Jahre DGPuK. Eichstätt: DGPuK.
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Everth, E. (1927): Zeitungskunde und Universität. Antrittsvorlesung, gehalten am 20. November 1926. Jena: Gustav Fischer.
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Wenner, L. A. (1989): Media, Sports, and Society: The Research Agenda. In: Wenner, L. A. (Hrsg.): Media, Sports and Society. Newbury Park: Sage, 13–48.
1 Die Autoren danken Hans-Jörg Stiehler für die redaktionelle Unterstützung beim nachfolgenden Abschnitt zu Mediensport und Sportkommunikation.
2 Die Autoren danken Constanze Rossmann, Matthias Hastall und Eva Baumann für die redaktionelle Unterstützung beim nachfolgenden Abschnitt zur Gesundheitskommunikation.
3 Das Video zur Podiumsdiskussion der 61. DGPuK-Jahrestagung 2016 findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=El-sybrU4pk.
4 Ein Beitrag basierend auf der Keynote zur Podiumsdiskussionsveranstaltung wurde bei Medien & Kommunikationswissenschaft veröffentlicht (Brosda 2016).
5 Das Video zur Eröffnung der 61. DGPuK-Jahrestagung 2016 findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=dSzmoOAsAO8.
6 Das Video zum Festakt des 100. Institutsgeburtstags findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=dSzmoOAsAO8.
7 Ein Beitrag basierend auf der Festrede wurde in der Publizistik veröffentlicht (Debatin 2017).
8 Dieser Text basiert zum größten Teil auf einem Aufsatz von Kutsch (2009).
9 Zur Pre-Conference „Technische Innovationen – Medieninnovationen?“, die von der Universität Leipzig in Kooperation mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) veranstaltet wurde, ist ein eigener Sammelband erschienen (Hooffacker/Wolf 2017).
Die Kommunikationswissenschaft definiert sich im Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als „theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen“, die sich für die „sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von medialer, öffentlicher und interpersonaler Kommunikation“ interessiert (DGPuK 2008: 1; vgl. Karmasin/Rath/Thomaß 2014). Erfolgreich etabliert hat sich diese integrative Variante von Fachwissenschaft im Selbstverständnis der Disziplin im Prozess der sozialwissenschaftlichen Modernisierung und Umorientierung der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft zur Kommunikationswissenschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren (vgl. Löblich 2010a, b). Dass „diese Grundkonzeption des Faches keineswegs neu war“ (Kutsch/Pöttker 1997: 11), ging dabei in den damaligen Debatten weitgehend unter – und noch heute wird die historische Identität der Kommunikationswissenschaft als Integrationswissenschaft nur selten thematisiert.
Interdisziplinarität, Perspektivenvielfalt, Pluralismus von Erkenntniskonzepten sowie Methoden und Theorien waren bereits zentrale Koordinaten in dem originären Fachkonzept von Erich Everth, der 1926 den Ruf als Nachfolger des Nestors der Zeitungskunde Karl Bücher an die Universität Leipzig bekam und der deutschlandweit erste ordentliche Professor des Fachs wurde (vgl. Bohrmann/Kutsch 1979, Koenen 2015b, 2016). Wie wohl kein anderer Zeitungskundler der Weimarer Zeit steht Everth für die von Stefanie Averbeck und Arnulf Kutsch (2002: 60f.) als Definitionsphase gekennzeichnete Phase der Grundlegung der Zeitungskunde als Wissenschaft, in der „öffentliche Kommunikation und ihre sozialen Bedingungen“ als „exklusives Problem“ des Fachs erkannt wurde. Zeitweise fachpolitisch hoch engagiert hat Everth erstmals eine konsistente wissenschaftliche Perspektive für die gerade einmal ein Jahrzehnt alte akademische Disziplin Zeitungskunde entworfen. Nach seiner Einschätzung steckte die Zeitungskunde als Wissenschaft in einer Legitimationsfalle, die er vor allem auf das Ungleichgewicht von institutionellen Wachstum und wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit und Relevanz zurückführte. Ohne Fachprofil seien die zahlreichen Institutsgründungen aus der ersten Hälfte der 1920er-Jahre, so Everth, „nur äußere Veranstaltungen, organisatorische Einrichtungen, die allein noch nicht die Überzeugung in den Fakultäten verbreiten, daß da wirklich eine eigene Disziplin im Werden ist.“ (Everth 1928b: 1878). Ziel Everths war es daher, dem Fach überhaupt erst einmal wissenschaftliche Grundlagen zu geben und mit einem disziplinspezifischen Selbstverständnis Identität und disziplinäre Perspektive der Zeitungskunde zu profilieren.
Vor diesem Hintergrund soll in diesem Beitrag das originäre Fachprogramm Erich Everths als vergessene historische Wurzel der Identität der Kommunikationswissenschaft als Integrationswissenschaft im Mittelpunkt stehen. Dabei richtet sich der Blick zunächst allgemein auf die Bedeutung und Rolle von Fach- und Selbstverständnissen, um innerhalb von Disziplinen die Grundlagen und Voraussetzungen von Wissenschaftlichkeit zu diskutieren und disziplinäre Identitäten kognitiv und sozial zu stabilisieren. Im Weiteren werden Everths programmatische Überlegungen für ein Fach- und Selbstverständnis der Zeitungskunde vorgestellt. Schließlich wird der Frage nachgegangen, warum sich seine Vorstellungen trotz des hohen Innovations- und Integrationspotentials nicht in der zeitungskundlichen Fachgemeinschaft durchsetzen konnten und stattdessen in Vergessenheit gerieten.
Erich Everths Ziel, die Zeitungskunde über ein originäres Fachprofil als exklusive wissenschaftliche Disziplin zu begründen und zu legitimieren, wird in der Wissenschaftsforschung unter dem Stichwort Fach- bzw. disziplinäres Selbstverständnis diskutiert. Gemeint ist damit das, so Hubert Laitko (1999: 23), „was die betreffende Disziplin darstellt und worin sie sich von anderen unterscheidet. Dieses Selbstverständnis oder Selbstbild einer Disziplin wirkt nach innen identitätsstiftend, nach außen legitimatorisch.“ Wie das derzeit geltende Selbstverständnis der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sind solche disziplinären Selbstverständnisse meist als „weiter Rahmen“ angelegt, um die „Vielfalt der Fachgemeinschaft“ widerzuspiegeln (DGPuK 2008: 1). Wie dieses sind sie also bewusst hinreichend präzise wie offen formuliert, um einerseits „den Konsens in den zentralen Fragen des Selbstverständnisses zum gegenwärtigen Zeitpunkt innerhalb des Faches festzuhalten“ sowie andererseits trotzdem „die fachinterne Kommunikation über das Selbstverständnis“ weiter zu steuern – auch und gerade weil „angesichts des raschen Wandels in Gesellschaft und Wissenschaft eine solche Feststellung immer nur vorläufig sein kann“ und stetig „fortgeschrieben“ werden muss (ebd.). Kognitiver Kern eines disziplinären Selbstverständnisses, stellen Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (1992: 41) am Beispiel der „fachwissenschaftlichen Struktur des historischen Denkens“ heraus, sind die Grundlagen, Normen und Regeln von Fachlichkeit, die orientiert an den beiden Fragen Was heißt es eigentlich „in der Form einer Fachwissenschaft zu denken?“ und Was genau macht dieses Denken „wissenschaftlich und fachlich?“ den Grundnenner des wissenschaftlichen Erkenntnisfundaments einer Disziplin beschreiben und damit deren Erkenntnisprozesse strukturieren. Als gemeinsames, sozial geteiltes Selbstverständnis sind diese disziplinspezifisch definierten „Prinzipien von Fachlichkeit“ somit stets in den Köpfen aller Forscher eines Fachs präsent, sie sind „Teil der Konventionen [...], die im Forschungsprozess vorausgesetzt werden und das Denken der Forschenden bestimmen.“ (ebd.)
So notwendig ein Fach- und Selbstverständnis zur Identität und Legimitation einer Disziplin gehört, so schwierig ist dieses oftmals im konkreten Fall zu fassen: sowohl für die Fachvertreter selbst wie für Wissenschaftsforscher. Hubert Laitko weist in diesem Sinne darauf hin, dass solche Selbstverständnisse „ebenso evident wie schwer explizierbar“ sind und sogar „Autoren von Lehrbüchern regelmäßig Schwierigkeiten haben, in kurzen Worten einleitend zu sagen, was die zu behandelnde Disziplin eigentlich ist“ (Laitko 1999: 24), und Maria Löblich stellt fest, dass die Wissenschaftsforschung zum Thema Selbstverständnis „kaum Operationalisierungen bietet und sich selten auf die empirische Ebene einer konkreten Disziplin begibt.“ (Löblich 2010a: 29) Eines der wenigen Beispiele sind Dirk Kaeslers Studien zur Entstehung der frühen deutschen Soziologie (1984), in deren Zusammenhang Kaesler für die Rekonstruktion disziplinärer Selbstverständigung das Konzept der „Ideengestalt“ entworfen hat. Die Struktur nach der ein Fach seine kognitiven Grundlagen in der Ideengestalt ordnet, besteht für Kaesler aus einer „metaphysischen, methodologischen und exemplarischen Ebene“ (ebd.: 15ff.), wobei er zugleich betont, dass diese Ebenen logisch miteinander verknüpft sind. Im Einzelnen bezieht sich die metaphysische Ebene auf das generelle Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis sowie das dahinter stehende Gesellschafts-, Menschen- und Weltbild; die methodologische Ebene auf den Erkenntniszugang, verwendete Methoden sowie das Wechselspiel von Theorie und Praxis; die exemplarische Ebene auf die konkreten Erkenntnisgegenstände und -interessen eines Fachs. Das in der Ideengestalt kondensierte Selbstverständnis, fasst Maria Löblich Kaeslers Überlegungen zusammen, „enthält also neben Vorstellungen von Situation und Aufgaben eines Fachs auch erkenntnistheoretische, methodologische und gegenstandsbezogene Komponenten“ und es generiert „eine Stimmigkeit zwischen den einzelnen kognitiven Elementen.“ (Löblich 2010a: 32) Forschungspraktisch verweist Löblich auf Beiträge zu fachpolitischen Debatten und Diskussionen als wichtige Kristallisationspunkte, um die Prozesse der Aushandlung sowie die Dimensionen disziplinärer Selbstverständnisse retrospektiv einzufangen und wissenschaftshistorisch zu rekonstruieren: Sie „geben Aufschluss darüber, wie Wissenschaftler die gesellschaftlichen Anforderungen an ihre Disziplin jeweils interpretieren, welche Angebote für neue Fachverständnisse sie entwickeln und wie sie ihre Deutungen und Schlüsse gegenseitig in Frage stellen, verteidigen und stabilisieren. Vor allem aber macht der Ausgang einer Debatte deutlich, welche neuen Standards sich für die gesamte Fachgemeinschaft durchgesetzt haben.“ (Löblich 2010b: 547)
3.1 Everths kritische Inventur: Wo steht das Fach Zeitungskunde?
Erich Everth war der erste Zeitungskundler, der den Erfolg seines Fachs explizit an die systematische Diskussion und Durchsetzung eines eigenen Fach- und Selbstverständnisses knüpfte (vgl. umfassend zu Everth und dem folgenden: Koenen 2015a). Bereits in seiner Antrittsvorlesung Zeitungskunde und Universität (Everth 1927b) kritisierte er nach Sichtung der zeitungskundlichen Literatur die insgesamt kümmerlichen Erkenntnisgrundlagen und stellte in einer „fachpolitischen Situationsanalyse“ (Löblich 2010a: 107) Fach und Fachgemeinschaft in Sachen Wissenschaftlichkeit ein nur mangelhaftes Zeugnis aus. Statt einer „wirklich wissenschaftlichen, das heißt sachlichen und nüchternen Betrachtung“ beherrschten „Gefühlsurteile“ die Literatur und „selbst bedeutende Gelehrte, [...], konnten der Zeitung gegenüber nicht immer zur Objektivität durchdringen, das Gebiet war wissenschaftlich zu neu und blieb ihnen aus äußeren und inneren Gründen in vielem zu fremd.“ (Everth 1927b: 4, 5) Offen benannte er den Mangel an wissenschaftlicher Fundierung auch als wesentlichen Grund dafür, dass das Fach unvermindert „um seinen Platz in der akademischen Welt zu kämpfen“ (Everth 1927a: 51) habe, und forderte nach der „sentimentalen oder vorwissenschaftlichen Periode dieser Disziplin“ (Everth 1927b: 5) die Eröffnung „einer zweiten Phase in der Entwicklung der Zeitungskunde zur Wissenschaft [...], die nun vom Sammeln und Beschreiben des Materials [...] weitergeht, und zwar vor allem in die Tiefe und hinauf zur Systematik.“ (Everth 1927a: 50)
Interpretiert man die kritische Inventur Everths mithilfe des Stadienmodells wissenschaftlicher Institutionalisierung von Terry N. Clark, dann war die Weimarer Zeitungskunde von einer „erheblichen professionellen Anomie“ (Clark 1974: 110) bestimmt. So stark wie infolge eines institutionellen Wachstumsschubs das Fach aus der Außenperspektive boomte, so rudimentär waren gemessen an den Kriterien des Universitäts- und Wissenschaftsbetriebs dessen Ideengestalt und kognitive Identität ausgeprägt. Mit Berlin, Freiburg, Köln, München und Nürnberg hatte es eine ganze Reihe von Institutsgründungen gegeben (vgl. Averbeck 1999: 54ff.), und auch wenn der akademische Status der jeweiligen Fachvertreter nicht immer dem eines ordentlichen Professors entsprach und die organisatorischen Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre höchst unterschiedlich waren, kann man doch generell sagen, dass sich die Institutionalisierung enorm „verdichtet“ (ebd.: 43) hatte und sich das Fach in der Institutionsgestalt dem Status einer „entstehenden akademischen Wissenschaft“ (Clark 1974: 112ff.) annäherte. Inhaltlich verharrte das Fach derweil weiterhin im Stadium der „einsamen Wissenschaft“, bestenfalls der „Amateurwissenschaft“ (ebd.: 109ff.). Forschung war Einzelforschung und es gab kaum Fortschritte in methodischer und theoretischer Hinsicht. Vielmehr blieb man gedanklich weitgehend, meinte rückblickend Otto Groth in seiner Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft (1948: 333), „in den Bahnen“ der Gründergeneration um Karl Bücher verhaftet, „ohne den Ehrgeiz, über sie hinaus zu weiterer begrifflicher Analyse vorzudringen.“ Vollkommen mangelte es, schreibt Groth weiter, „an den theoretischen Grundlagen. Man war sich weder über einen eigenen Gegenstand noch über eine eigene Methode klar, die allein den Anspruch auf Anerkennung als selbständige Wissenschaft hätten rechtfertigen können.“ (ebd.: 332) Als unbefriedigend beurteilte zwei Jahrzehnte vor Groth schon Karl Jaeger die Situation des Fachs: Zeitungskunde zeige sich im Wesentlichen als „rein darstellende Zeitungskunde, Materialienkunde“, zur Wissenschaft fehlten ihr namentlich „Übereinstimmung im Ziel, in den Methoden, fehlte ihr die Systematik“ (Jaeger 1926: 48, 52).
3.2 Everth als erster Programmatiker der Zeitungskunde
In Anbetracht der enormen fachlichen Defizite und der Schieflage von Ideen- und Institutionsgestalt erklärte Erich Everth die Fundierung der wissenschaftlichen Grundlagen der Zeitungskunde und die Definition eines Disziplinverständnisses als „selbständigen Kern“, der das Fach als „besonderes Fach zur Erkenntnis des Zeitungswesens“ (Everth 1928b: 1876, 1878) gegenüber anderen Fächern exklusiv abgrenzte und seine Existenz sowie notwendige Ressourcen legitimierte, zum obersten Ziel seiner zeitungskundlichen Tätigkeit. Da deren Relevanz im Disziplinenkontext der Kultur- und Sozialwissenschaften angesichts der „lächerlich kleinen Rolle“, die die Zeitung in den Nachbarfächern spiele, ohnehin nicht ernsthaft zu bestreiten sei, betrachtete er die Frage der Wissenschaftlichkeit des Fachs auch nur als eine „vorläufige“ (Everth 1927b: 6, 7): „Wenn jedoch die Zeitungskunde eine Wissenschaft vielleicht noch nicht ist“, so Everth, „muß und wird sie es nach meiner Überzeugung werden, und ich glaube, man darf hoffen, daß diese Entwicklung nicht mehr allzu lange Zeit brauchen wird.“ (ebd.: 6)
Everths zentraler Beitrag zum Fach- und Selbstverständnis der Weimarer Zeitungkunde geht auf seinen Eröffnungsvortrag für den I. Internationalen Zeitungswissenschaftlichen Kongress zurück, der im August 1928 anlässlich der Kölner PRESSA veranstaltet wurde. Vor der versammelten internationalen Fachgemeinschaft formulierte er die disziplinäre Identitätsfrage des Fachs erstmals explizit als Verwissenschaftlichungsfrage. Was ist Zeitungswissenschaft? (Everth 1928b) – so der Titel des Vortrags, der auch als Entwurf für das erste Selbstverständnispapier des Fachs gelten kann. Noch mehr als seine vorherigen Veröffentlichungen dokumentiert dieser Beitrag die Rolle Everths als „erster offizieller Programmatiker des jungen Fachs in Deutschland“ (Pöttker 2002: 135) und ist damit ein wichtiger Hinweis auf sein vorübergehend hohes fachpolitisches Engagement. „Auch wenn noch mehr Lehrstühle und Institute dafür geschaffen werden“, brachte er in diesem Zusammenhang seine Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit nochmals auf den Punkt, solange nicht geklärt ist, warum Zeitungskunde als „ein besonderes Fach zur Erkenntnis des Zeitungswesens nötig sei“, solange werde sie von den etablierten Wissenschaften „als selbständige Disziplin akademisch nicht anerkannt.“ (Everth 1928b: 1876, 1878)
Wie heutige Selbstverständnispapiere hatten Everths Vorschläge und Überlegungen eine Reihe an fachpolitischen Prämissen: Sie sollten einerseits das Fach nach außen legitimieren, andererseits nach innen inhaltlich fokussieren und sozial integrieren und dabei wiederum gleichermaßen einen Konsens generieren wie Pluralität garantieren. Er wollte also einen fachlichen Grundnenner über die Frage Was ist Zeitungswissenschaft? umreißen, auf den sich alle Fachvertreter verständigen können, auch wenn man in der Praxis „in deutschen Zeitungsinstituten verschiedene Arbeitsweisen findet, die alle ihren Sinn haben“ (ebd.: 1873). So versuchte er die disziplinäre Identität des Fachs auch nicht normativ vorzudefinieren, sondern sah diese vielmehr in einem stimmig geklärten Zusammenhang von „wichtigen Vorfragen“ zur „spezifischen Grundeinstellung der deutschen Zeitungskunde“: „wo wir stehen und wo wir hinwollen.“ (ebd.) Systematisch lassen sich diese Vorfragen zeitungskundlicher Selbstverständigung, die er zur Diskussion stellte, in die Dimensionen Fachziele und Theorie-Praxis-Zusammenhang, Gegenstand und Stoffgebiet sowie methodische und theoretische Perspektiven auffächern.
Fachziele und Theorie-Praxis-Zusammenhang
Kommt man zuerst auf die grundlegenden Fachziele und den Theorie-Praxis-Zusammenhang zu sprechen, dann war Zeitungskunde für Everth grundsätzlich eine „Wissenschaft von der Zeitung, nicht Wissenschaft für die Zeitung“, was in der Konsequenz bedeutete, dass er die „vorwiegend theoretische Beschäftigung mit der Zeitung“ (Everth 1928b: 1874) in den Fokus des Fachs rückte. Er erkannte genau, dass die dem wissenschaftlichen Feld eigene Prestige- und Reputationslogik auf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gründete und die Vorbildung von Journalisten, mit der das Fach an den Universitäten Fuß gefasst hatte, keineswegs für die drängende Frage der wissenschaftlichen Legitimation der Zeitungskunde hinreichte. Zeitungskunde im Wesentlichen als „Wissenschaft für die Presse“ zu betreiben, sei jedenfalls kaum der „Ausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin günstig“ (ebd.: 1875). Das hieß zwar nicht, das Fach ganz von der Praxis zu entkoppeln, aber er wollte die Prioritäten von Theorie und Praxis umkehren:
„Ziel dieser Wissenschaft wie aller Wissenschaften ist die Erkenntnis [...]. Erkenntnis, die zunächst um ihrer selbst willen angestrebt wird, kann dann auch in der praktischen Anwendung nützliche Folgen haben, aber diese Anwendung kann immer erst als ein zweites dazukommen. Wollte eine Wissenschaft sich von Anfang an darauf beschränken, einer einzigen Institution des Lebens zu dienen, so würde sie selbst diese Aufgabe auf die Dauer nicht gut erfüllen, und sie würde allgemein geistig verengt.“ (ebd.: 1873)
Gegenstand und Stoffgebiet
Schon bei der Definition der Fachziele zeigt sich, dass für Everth die Zeitung das „alleinige Objekt“ (Everth 1928b: 1873) der Zeitungskunde war. Von einer Öffnung und Weitung des Fachs für die damals neuen Medien Film oder Rundfunk, die er in seinen Texten durchaus hin und wieder erwähnte, sprach er an keiner Stelle – umgekehrt lehnte er sie aber auch an keiner Stelle explizit ab. Feststellen lässt sich hingegen, dass er dem Prinzip der „additiven Aneignung“ (Saxer 1995: 42), um den fachlichen Gegenstandsbereich qua Summenformel publizistischer Medien zu bestimmen, wenig abgewinnen konnte. Für ihn war die Konzentration auf die Zeitung als Gegenstand ein Exempel, um eine medienübergreifende formale Gegenstandsperspektive für die Zeitungskunde zu begründen. Statt sich in der