101 Dinge, die Sie über Leipzig wissen müssen - Franziska Reif - E-Book

101 Dinge, die Sie über Leipzig wissen müssen E-Book

Franziska Reif

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Beschreibung

Leipzig: 500 000 Menschen, 3000 Straßen, 1000 Jahre alt und mit 95 Stadtteilen etwas verwirrend. Dieser Stadtführer schafft in 101 Stichpunkten seine ganz eigene Ordnung und fällt dabei trotzdem aus dem Rahmen: Vermeintlich sortiert vom A-cappella-Festival über die Lachmesse bis hin zu Zills Tunnel ist er doch ein herrlich-kreatives Durcheinander von spannenden Geschichten und bemerkenswerten Fakten zu scheinbar alltäglichen Orten.

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Franziska Reif

101 Dinge

die Sie über

Leipzig

wissen müssen

Inhalt

Vorwort

1—Agrikultur

2—Anker und Bandhaus

3—Arbeiterbewegung

4—Auensee

5—Aufschwung und Industrie

6—Automatikmuseum

7—Bach

8—Barockgärten

9—Beatdemo

10—Baulöwe Schneider

11—Berge in der Tieflandbucht

12—Boomtown

13—Better Berlin

14—Bisons und Wasserbüffel

15—Brühl und Messeprivileg

16—Buchstadt

17—Bürger

18—Capa-Haus

19—Cospudener See

20—Drallewatsch

21—Essbare Stadt

22—Eisenbahnstraße

23—Eisvogel

24—Enklaven an der Peripherie

25—Experimente

26—Fahr Rad

27—Figurentheater

28—Filmfestivals

29—Filmkulisse

30—Flötenspieler

31—Frauenbewegung

32—Freie Schule

33—Fußball

34—Gärten

35—Generationentheater

36—Grassimuseum

37—Grünes Band

38—Gohlis

39—Gose und Allasch

40—Güterverkehrszentrum

41—Halle

42—Handschwengelpumpen

43—Heldenstadt

44—Heimliche Wappenpflanze

45—Hinterhofprediger

46—Industriekultur

47—Kabaretts

48—Kulkwitzer See

49—Innovation und Forschung

50—Kiezfaschismus

51—Laubenpieper

52—Leipziger Allerlei

53—Leipziger Schule

54—Linden

55—Logistik

56—Löwenstadt

57—Mariannenpark

58—Markkleeberger See

59—Marzipan statt Singvogel

60—»Mein Leipzig lob ich mir«

61—Montanwesen

62—Museum der Bildenden Künste

63—Museum für Druckkunst

64—Musikstadt

65—Naturkundemuseum

66—Papitzer Lachen

67—Parkbogen Ost

68—Pferde

69—Plattenbautristesse

70—Presse

71—Psychiatriemuseum

72—Reform und Bewegung

73—Reizloses Umland

74—Reudnitz

75—Schladitzer See

76—Richard-Wagner-Hain und Friedenspark

77—Ritter Knut

78—Specks Hof, Kleiner Joachimsthal und Mädlerpassage

79—Sportmuseum

80—Sportwunder

81—Störmthaler See

82—Straßenbahnmuseum

83—Südfriedhof

84—Superlative

85—Szeneviertel

86—Tanz

87—U-Bahn

88—Umweltforschungszentrum

89—Uniriese, Wackelturm, Bistumshöhe

90—Verlagsstadt

91—Völkerschlachtdenkmal

92—Volkshain Stünz

93—Wagner

94—Wasserwandern

95—Weihnachtsmarkt

96—Weltflughafen

97—Wildpark

98—Wolfs-Monitoring

99—Zeitkino

100—Zschocher – ein Name, zwei Stadtteile

101—Zwenkauer See

Register

Impressum

Vorwort

Charmanter Größenwahn

Leipzig hat viele Superlative und so manchen Beinamen. Tausend Jahre alt soll die Musik-, Wasser- und Heldenstadt sein, mehr Brücken haben als Venedig. Hier fand die erste Buchmesse statt, hier gibt es die schlimmste Straße Deutschlands. Viele bekannte Namen machten hier halt, viele unbekannte Namen machten die Stadt groß. Prekariat und Glamour liegen hier nah beieinander, und das Selbstbild als pulsierende Metropole wirkt in seiner provinziellen Kleinbürgerlichkeit deshalb so sympathisch, weil es von einem sturen Größenwahn getragen ist, der durchaus seinen Charme hat. Was es von Leipzig zu wissen gibt, umfasst freilich mehr als 101 Dinge. Was man wissen muss, ist unweigerlich das Resultat einer lediglich vorläufigen Festlegung, die verschoben werden kann, je nach dem, mit welcher Brille auf die Stadt und ihre Geschichte geschaut wird. Geschichte wird in diesem Band nicht nur als die Abfolge historischer Ereignisse verstanden, sondern auch als das Dach, unter dem sich Geschichten ereigneten. Mit Lexikonwissen kann man vielleicht auf Partys angeben, unterhaltsamer ist es, wenn man Anekdoten bei der Hand hat: Weshalb der berühmteste Thomaskantor ständig Beef mit dem Stadtrat hatte, wie der älteste Schrebergarten entstand, warum Luther und Goethe Leipzig hassten oder was die Spurweite der Leipziger Straßenbahn mit Pferden zu tun hat. Diese 101 Anekdoten reichen tief in die Historie, sie erzählen von den alten Sorben und dem Braunkohletiefbau, von Wölfen und vom Weltflughafen. Vor allem aber erzählen sie vom Jetzt und Heute.

„In meinem Leben erinnere ich mich keiner so innigen prophetischen Gewissheit, wie diese ist, dass ich in Leipzig glücklich seyn werde.“

Friedrich Schiller (1759–1805)

Agrikultur:

Von Frischmilch und solidarischen Höfen

Seit November 2015 steht in einem kleinen Flachgebäude am Rande von Großzschocher ein Milchautomat. Dort wirft der Kunde auf der Suche nach Frischmilch einen Euro pro Liter ein, hält eine entsprechende Flasche unter die Düse, verschließt das Ganze und fährt damit nach Hause – oder trägt, wie so viele vor ihm, noch schnell lobende Worte in das ausliegende Gästebuch ein. Leere Flaschen können für 50 Cent das Stück vor Ort gekauft werden. Die Zeichnung einer fröhlichen Kuh auf dem Etikett erinnert daran, wo die Milch herstammt, und ein paar Hundert Meter weiter stehen die Produzenten auch im Stall. Die Milch hat einen Fettgehalt von bis zu vier Prozent und ist gänzlich unbehandelt, wird lediglich zwischen Euter und Automat runtergekühlt, damit sie ebenso gekühlt in der Flasche des Verbrauchers landet. Die Agrargenossenschaft Kitzen hat neben dem Automaten in Großzschocher auch einen in Kitzen selbst errichtet, nachdem die Milchquote im März 2015 abgeschafft wurde. Die Rohmilch erfreut sich übrigens großer Beliebtheit, die Milchzapfer kommen und gehen: Am Tag werden laut Genossenschaft allein in Großzschocher mehrere Hundert Liter ausgegeben.

Vom Automaten in Großzschocher aus sind Cospudener See und Rehbach ungefähr gleich weit entfernt. Das kleine Angerdorf ist der südwestlichste Stadtteil Leipzigs. Experten für das älteste Haustier, nämlich die Biene, imkern dort seit über dreißig Jahren auf einem Dreiseitenhof, zu DDR-Zeiten noch im Nebenerwerb. Die Bienenfarm Kern umfasst Bienengarten, Lehrpfad und einen Hofladen, der neben Honig, Met und Likör auch Kosmetika, Kerzen und gesundheitsfördernde Substanzen im Angebot hat. In der daneben eingerichteten »Sächsischen Honigschänke« wird saisonal und regional gekocht. Es muss also niemand nur wegen eines Glases Honig nach Rehbach fahren, denn hier ist eine kleine Welt rund um die fleißigen Insekten gewachsen.

Gemütlich fällt da die Anfahrt mit dem Fahrrad nach Sehlis aus, einem beschaulichen Dorf und Ortsteil von Taucha, der Kleinstadt am östlichen Rand von Leipzig. Verlässt man Taucha, hört abrupt der Berufsverkehr auf, dafür häufen sich die Sackgassenschilder. Heuballen stehen in der Sonne, Pferde grasen friedlich vor sich hin, Pappelblätter versuchen, bei jedem Windstoß Meeresrauschen zu imitieren. Es kläfft höchstens mal ein Hund, aber ohne ernsthaftes Interesse. Hat man Sehlis fast durchquert, ist die Kommune an der Schmiede erreicht. Hier haben einige Leute einen Vierseithof nach zwölf Jahren Leerstand übernommen. Etwa ein Dutzend Erwachsene und ein halbes Dutzend Kinder wohnen dort. 2012 ist die solidarische Landwirtschaft in Sehlis unter dem Namen »Rote Beete« mit der Bestellung der insgesamt fünf Hektar Acker gestartet, Schritt für Schritt wurde eine ganzjährige Versorgung mit ökologischem Gemüse sichergestellt. Solidarisch bedeutet, dass das Gemüse an die Mitglieder außerhalb des Hofes verteilt wird, die die Kosten für den Anbau gemeinsam aufbringen, wobei jeder nach seinen Möglichkeiten zahlt. Die Mitglieder arbeiten an ein paar Tagen im Jahr auch selber mit: auf dem Acker, auf dem Hof, dort, wo Arbeit anfällt.

Die Verbindungen der Kommune zum nahen Leipzig sind eng, enger als zum restlichen Umland. Das liegt an der Gemüsekooperative, von deren 180 Mitgliedern allein 160 in Leipzig leben. Sie bilden eine Art Dunstkreis, der den Hof an der Schmiede mitträgt. Die Hofgemeinschaft ist aber auch durchaus Teil des Dorfes. Man hilft sich und besucht sich gegenseitig, sei es, wenn Holz benötigt wird oder wenn das Dorfcafé der Kommune geöffnet hat. Nicht weit von der Hofgemeinschaft entfernt haben sich ebenfalls ehemalige Städter eingerichtet. Unter dem Namen »Kleine Beete« betreiben auch sie solidarische Landwirtschaft. Noch ganz frisch ist die Solawi Allerlei in Dölitz-Dösen, die eine alte Gärtnerei wieder aufmöbelt. Die Anfahrt dauert für Leipziger nicht lang, denn die Solawi ist nur eine Viertelstunde vom Connewitzer Kreuz entfernt.

Anker und Bandhaus:

Wo Musikkultur fernab des Gewandhaus-Abos blüht

Bitchhammer und Human Prey sind schon im Bandhaus aufgetreten. Erstere produzieren seit 2008 Black/Thrash Metal, Zweitere seit 2010 Death Metal/Death Grind: Eine etwas härtere Gangart wird im Bandhaus in der Saarländerstraße, Neulindenau, gepflegt. Neulindenau mag weit draußen sein, dafür lässt es sich gut und lange Krach machen. Betrieben vom Bandcommunity e.V. finden etwa 50 Bands hier ihre Probenräume und darüber hinaus Nachwuchsmusiker die Möglichkeit für Auftritte. Der Grund für das Engagement: »Dieser Form der sinnvollen Freizeitgestaltung junger Menschen mit Kunst und Kultur in Eigeninitiative kommt in Anbetracht ständig abnehmender öffentlicher Mittel wachsende Bedeutung zu.«

Eine Vielfalt an Konzerten unterschiedlicher Genres veranstaltet der Anker, auch wenn er wegen Bautätigkeit vorübergehend geschlossen werden musste. Wie das Bandhaus liegt er gefühlt weit draußen, nämlich zwischen Möckern und Wahren. Für das Interim spielt man an den verschiedensten Orten in der Stadt. Besonders wichtig ist den Ankerleuten, die Erinnerung an die kritische DDR-Rockband Klaus Renft Combo wachzuhalten, die dort schon 1961 auftrat. Deshalb lautet die Adresse Renftstraße 1. Weitere Angebote reihen sich in die Tradition des Ankers als Jugendclubhaus von 1959 bis 1991 ein.

Arbeiterbewegung:

Theater, Sport und die erste Arbeiterpartei

Die Arbeiterbewegung stammt aus Leipzig. Diese Behauptung ist natürlich etwas übertrieben, aber wo die Industrialisierung viele Leute in die Fabriken spült, entsteht der Wunsch, sich über die Situation am Arbeitsplatz auszutauschen. Ein Treff war der Plagwitzer Felsenkeller, wo auch Liebknecht, Zetkin, Thälmann und Luxemburg gesprochen haben sollen – die Arbeiterschaft in ganz Sachsen war schon früh eher marxistisch eingestellt.

Eine andere Organisationsform war das Arbeitertheater, das in Leipzig eher entstand als andernorts. Friedrich Bosse, einer der meistrezipierten Autoren des Arbeitertheaters seiner Zeit, wirkte in Leipzig zum Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Unter anderem schrieb Bosse das erste Streikdrama der Arbeiterbewegung. Die künstlerische Qualität der Stücke ist nicht sehr hoch – Bosse hat sich auf zwei Festspielen beim Publikum dafür entschuldigt –, wie anderen Autoren war es ihm aber wichtiger zu agitieren. Die Gewerkschaften haben zwischen 1920 und 1924 Massenfestspiele abgehalten, an denen sich bis zu 3000 Spieler, Musiker und Sänger beteiligten, einmal kamen auf dem Auensee auch zahlreiche Boote zum Einsatz. Man thematisierte Bauernkrieg und Spartakus-Aufstand, Krieg und Frieden und die Zukunft im Sozialismus. Die Festspiele wurden in andere deutsche Städte exportiert.

Neben dem Theater spielte die Sportabteilung des 1846/47 gegründeten örtlichen Arbeiterbildungsvereins eine Rolle. Aus einem Teil des Vereins ging 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) hervor, der als ein Vorläufer der späteren SPD gilt. Der ADAV arbeitete unter anderem an einem gleichen und allgemeinen Wahlrecht, das die Interessen der Arbeiter in die Parlamente bringen und mithin Klassengegensätze beseitigen würde. August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren zu dieser Zeit auch in Leipzig politisch aktiv. Mit den Sozialistengesetzen wurde der Arbeiterbildungsverein zwar 1878 aufgelöst, in anderer Form aber weitergeführt, ebenso wie Musik, Sport und Theater weiterhin sozialistisch orientierte Arbeiter banden. Schon 1868 hatten Konservative und Nationalisten dem Arbeitersport die Deutsche Turnerschaft entgegengesetzt, teilweise grenzten bürgerliche Sportvereine auch Arbeiter aus. Im Arbeiter-Turn- und -Sport-Bund organisierte sich der Arbeitersport reichsweit ab 1919. 1926 gründete der Verband in der Südvorstadt eine Bundesschule, um den wachsenden Bedarf bei den turnenden Arbeitern zu decken. 1927 hatten sich immerhin allein in der Stadt Leipzig 27 000 Arbeiter in insgesamt 38 Sportvereinen zusammengefunden. Das erste Arbeiter-Turn- und -Sportfest des Deutschen Reiches, das Bundesfest des Arbeitersports, wurde 1922 in Leipzig ausgerichtet.

Auensee:

Parkeisenbahn und Tretschwan: ein Vergnügungsparadies für Kinder

Die Pioniereisenbahn hat ihren Namen nach der Wende nur geringfügig in Parkeisenbahn geändert. Für die Kinder, die mitfahren, ist sie ebenso ein Vergnügen wie für die, die an der Strecke stehen und sich beim Zurückwinken vor Begeisterung kaum halten können. Um Begeisterung ging es im Naherholungsgebiet Auensee auch schon bei dessen Vorläufer, einem Vergnügungspark. Der Lunapark bot bis 1932 unter anderem Achterbahn, Hippodrom, Gondelstation und einen Musikpavillon. Bereits damals führte mit der Lunabahn eine Bahn um den See, seit 1951 fährt die erwähnte Mini-Eisenbahn auf zwei Kilometern und einer Spurweite von 381 Millimetern über drei Haltestellen einen Bahnhof an, den Fahrbetrieb stellen Kinder und Jugendliche sicher. Heute führt ein Weg an der Neuen Luppe Radfahrer in den Park im Landschaftsschutzgebiet. Das Areal hat Streuobstwiesen und ein paar Auwaldreste, einen Spielplatz und mit dem Haus Auensee sowohl einen Freisitz für Ausflügler als auch eine Halle für Konzerte. Den See trennt nur eine Straße vom Campingplatz. Er ist dem Kiesabbau für den Leipziger Hauptbahnhof im Jahr 1909 zu verdanken. Im See darf nicht gebadet werden, dafür wird eifrig Boot gefahren. Das wichtigste Fortbewegungsmittel über das Wasser ist natürlich der Tretschwan.

Aufschwung und Industrie:

Wie schnelles Wachstum zu Gründerzeitvierteln verhalf

Das Wachstum der Leipziger Bevölkerung verlief bis 1885 langsam, aber stetig, ab da ging es flott voran, wurden aus 200 000 Einwohnern (1885) 300 000 (1890), dann 400 000 (1895), bis zum Ersten Weltkrieg lag die Zahl bei weit über 600 000. Die viertgrößte Stadt des damaligen Deutschlands war Verkehrsknotenpunkt, wichtiges Wirtschaftszentrum und nicht minder wichtiger Handels- und Messestandort, und das lässt sich heute noch daran ablesen, dass das gesamte Stadtbild gründerzeitlich geprägt ist.

Die Vorstädte vor den vier Stadttoren erfuhren notwendigerweise einen weiteren Ausbau. Konzentrisch um die Altstadt herum wurden Gründerzeitquartiere angelegt, Wohnviertel, öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Postämter, Krankenhäuser und Industrieanlagen entstanden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts war dem Abbau der Befestigungsanlagen um die Altstadt lediglich die Bebauung entlang der großen Ausfallstraßen gefolgt: Im Norden war das die Hallische Vorstadt vor dem Hallischen Tor bis zur Parthe mit der Gerbersiedlung, im Osten die Grimmaische Vorstadt entlang von Grimmaischem Steinweg und Quergasse, im Süden die Petersvorstadt um den Peterssteinweg, im Nordwesten die Rannische Vorstadt entlang des Rannischen Steinwegs. Um 1788 standen in den Vorstädten gerade mal 550 Gebäude, die von nur 8000 Leuten bewohnt wurden. Die dringende Erweiterung war erst mal nur im Osten und Süden möglich, weil in den anderen Gebieten regelmäßig Hochwasser zu erwarten war. Somit entstanden bürgerliche Wohnungen und öffentliche Gebäude in der Grimmaischen Vorstadt und in den Ostvorstädten Marienstadt und Friedrichstadt – dies war der Kern des späteren Grafischen Viertels mit grafischer Industrie und Verlagen. Erst nach 1840 war der Hochwasserschutz so weit gediehen, dass die Innere und danach die Äußere Westvorstadt entstehen konnten. Die inneren Vorstädte entwickelten sich nach 1860 zu Mischgebieten mit Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden, Handel, Gewerbe, Handwerk und Industrie. Ende des 19. Jahrhunderts wurden mit dem Bachstraßen- und Waldstraßenviertel und der Inneren Südvorstadt größtenteils gründerzeitliche Viertel gebaut, nach 1890 kam das Musikviertel mit seinen Wohn- und Repräsentationshäusern hinzu.

Zwischen den Weltkriegen ging das Wachstum weiter, wenn auch weniger rasant. Es wurden Stadtteile eingemeindet, in denen Siedlungen im Stil von Art déco, Moderne und Neuer Sachlichkeit entstanden, die dem großen Wohnungsnotstand entgegenwirken sollten. Über 12 000 der Leipziger Kulturdenkmäler sind Gründerzeitbauten, sie sind in Leutzsch ebenso zu finden wie in Eutritzsch, in Neustadt-Neuschönefeld und in Stünz, in Kleinzschocher und in Volkmarsdorf. In Neulindenau etwa entstanden die ersten Wohnhäuser für Arbeiter der Spinnerei auf den danebenliegenden Grundstücken. Auch der heutige Wohnungsbestand in Altlindenau stammt zu siebzig Prozent aus der Zeit zwischen 1870 und 1900.

Mancher hat die Ferdinand-Lasalle-Straße schon mit der New Yorker 5th Avenue verglichen. Wie immer, wenn Leipziger Größenwahn sich in eine Reihe mit den echten Metropolen dieser Welt zu stellen versucht, hinkt dieser Vergleich, und man ist froh, dass die New Yorker von dieser kleinen Peinlichkeit nichts erfahren werden. Dennoch sind die Fassaden der Gründerzeitvillen und -geschossbauten entlang der nicht mal einen Kilometer langen Straße am Rande des Bachviertels hübsch anzusehen, hübsch ist es für die Bewohner auch, dass sie auf den Johannapark schauen. Weil so viel Ästhetik kostet, ist dies keine Wohnlage für den typischen Arbeiter, und insofern ist es fast schon zynisch, dass die Straße ausgerechnet nach Lasalle benannt ist. Als einer der Anführer der Arbeiterbewegung war er an der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ADAV beteiligt, der zusammen mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nach seinem Tod die SPD bildete.

Wo genau das sogenannte Bachviertel auf hört und das Musikviertel anfängt, dürfte nur wenigen klar sein. Fakt ist, dass das Musikviertel irgendwo zwischen Johannapark, Clarapark und der B 2 liegt. Hier wimmelt es ebenfalls vor Gründerzeitbauten, aus Villen wurden Mietshäuser – Richtung Süden allerdings wird die Lückenschließung mit mehr oder weniger gelungenen Stadthäusern deutlich, an die sich Plattenbauten anschließen.

Nordwestlich des Innenstadtrings sind es die Bauten entlang der Waldstraße und ihrer Nebenstraßen, die die wachsende Stadt für sich beansprucht hat. Heute gilt das Waldstraßenviertel als eines der größten zusammenhängenden Gründerzeitquartiere Europas, die Fassaden gefallen sich in der Abwechslung von Jugendstil, Historismus und Klassizismus, und in einzelnen Ecken wurden schon Mieten über elf Euro pro Quadratmeter aufgerufen, als sich alle Welt noch sicher war, dass Leipzig weiter an Bevölkerung verlieren würde, solche Preise angesichts des zu erwartenden weiterhin wachsenden Leerstands also als utopisch galten.

Die Südvorstadt wuchs als Stadterweiterung zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Gründerzeitbauten mischen sich hier mit kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen aus den Zwanzigern und Dreißigern – so in der Lößniger und der Altenburger Straße – und mit Neubauten von nach 1945 und nach 1990. Das Straßensystem ist quadratisch angelegt, die einzelnen Zellen dieses Schachbretts enthalten Wohnquartiere inklusive Gewerbe, öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen. Um die Eisenbahnanlagen im Nordosten entstanden Fabriken, die heute als Wohnlofts genutzt werden. Die Karli als Verbindung zwischen Ring und Connewitz wurde neu gebaut, und zwar zunächst unter dem Namen Südstraße, dann als Adolf-Hitler-Straße. Der Volksmund sagte eine Weile Adolf-Südknecht-Allee. Drei weitere breite Alleen kamen hinzu, nämlich die Kaiser-Wilhelm-Straße, heute August-Bebel-Straße, die Kronprinzstraße, heute Kurt-Eisner-Straße, und die Kaiserin-Augusta-Straße, heute Richard-Lehmann-Straße. Um die Blockrandbebauung aufzulockern, wurden grüne Plätze gebaut, zum Beispiel der Heinrich-Schütz-Platz am heutigen Kantgymnasium oder gegenüber davon der Alexis-Schumann-Platz. Es ist noch heute erkennbar, dass Bomben den nördlichen Bereich zwischen Arthur-Hoffmann- und Bernhard-Göring-Straße getroffen haben: Im Areal bis zum Bayrischen Bahnhof wurden ab 1950 neue Gebäude gebaut.

„Leipzig in Sachsen ist die wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.“

Uwe Johnson (1934–1984)

Automatikmuseum:

Wo Besucher mit Mechanik, Pneumatik und Hydraulik experimentieren

Die Automatik öffnet Türen, wenn der Eintrittswillige davorsteht, oder schraubt in Robotergestalt an Autos. Überhaupt sind Automaten so alt wie die Technik selbst. Schon Homer lässt in seiner Ilias Roboter auftauchen, und um 50 nach Christus schreibt Heron von Alexandria über eine bestimmte Automatisierungstechnik, mit deren Hilfe sich unter anderem Tempeltüren öffnen lassen. Dies alles erfährt man seit 1996 im Automatikmuseum der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in der Karl-Heine-Straße, das natürlich die Entwicklung bis heute beleuchtet und auch vor dem Hintergrund eröffnet wurde, dass die dazugehörige Studienrichtung in Leipzig angesiedelt ist. Besucher können die Exponate nicht nur anschauen, etwa Telegrafenrelais vergangener Zeiten oder einen Wattmeter im Holzgehäuse. Es darf auch in Hülle und Fülle experimentiert werden, zum Beispiel mit einem Fliehkraftregler, der die Drehzahlen einer Dampfmaschine reguliert, oder mit einem Prozessrechner mit Trommelspeicher und 100 Kilobyte Kapazität.

Bach:

Weshalb der Thomaskantor sich für strikten Dienst nach Vorschrift entschied

Als Bach 1723 Thomaskantor wurde und nach Leipzig zog, hatte er schon diverse Stationen absolviert. Somit ist Leipzig nicht die einzige Bachstadt und teilt sich dieses Prädikat unter anderem mit Eisenach, Arnstadt, Mühlhausen und Ohrdruf. In Köthen, wo Bach vor seiner Leipziger Zeit hochfürstliche Musik schuf, standen ihm erstklassige Musiker zur Verfügung, auch hatte er in musikalischer Hinsicht viele Freiheiten. Von dort wechselte er nach Leipzig, wo er bis zu seinem Tode 27 Jahre lebte und arbeitete. Das hat wohl vor allem mit seinem Vertrag auf Lebenszeit und einem Mangel an Alternativen zu tun, denn erstklassige Unterstützung und Freiheiten gab es hier nicht.

Der Vertrag sah ein straffes Pensum mit Unterricht in Musik, Kirchenlatein und Gesang vor. Außerdem oblag Bach die musikalische Gestaltung in vier Leipziger Kirchen inklusive Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen. An jedem Sonntag wurde eine Kantate gesungen, die er zuvor mit den Thomanern einstudieren musste. Dafür hatte er lediglich Unterstützung von acht städtischen Musikern und von den Präfekten – Thomanern, die statt seiner dirigierten. Trotz der Aufgabenfülle und eines nicht gerade üppigen Grundgehalts von 100 Talern im Jahr widmete er sich zunächst voll der Kirchenmusik und schrieb regelmäßig neue Kantaten, teilweise allwöchentlich eine, obwohl er sich hätte auf bereits existierende Literatur verlassen können. Ziemlich bald flammte aber immer wieder Ärger mit dem Stadtrat oder mit einzelnen Rektoren der Thomasschule auf, zudem geriet dem Stadtpublikum die Matthäuspassion zu üppig.

Bach bemühte sich um Stellen anderswo. In einem Brief beklagte er sich 1730 bei seinem Schulfreund Georg Erdmann, dass in Leipzig »eine wunderliche un der Music wenig ergebene Obrigkeit ist«, sodass er »fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben muß«. Nachdem die Stellensuche erfolglos blieb, zog er sich ab Anfang der 1740er so weit wie möglich aus dem musikalischen Geschäft vor Ort zurück. Zwar war er bis zu seinem Tod 1750 keineswegs untätig – immerhin entstanden in dieser Zeit die Goldberg-Variationen, das Musikalische Opfer für Friedrich II. und die Kunst der Fuge, ebenso wurde die h-Moll-Messe vollendet. Aber für diese Werke hat ihn die Stadt Leipzig nicht bezahlt. Bachs Auszeit hieß: Dienst nach Vorschrift, um sich in der gewonnenen Freizeit wichtigeren Dingen zu widmen. In der Thomas- und der Nikolaikirche ließ er sich vertreten. Dass man kaum neue Kirchenmusik aus dem letzten Lebensjahrzehnt Bachs kennt – im Gegensatz zu den Leipziger Anfangsjahren –, hat die Forschung lange Zeit darauf geschoben, dass diese Werke ungehoben in Archiven schlummern. Tatsächlich ist es denkbar, dass Bach sie schlichtweg nicht geschrieben hat.

Barockgärten:

Wie Relikte der Gartenkultur zwischen Vorzeigeplattenbauten gelangt sind

Im 18. Jahrhundert gab es einen Ring aus Gärten um die Altstadt, die die Vorstädte begrünten. Die barocken Anlagen dienten dem Lustwandeln zwischen Pavillons, Plastiken und Springbrunnen, wenn auch freilich das Lustwandeln nicht für alle gedacht war. Angelegt von betuchten Bürgern, lässt sich in den Gärten ein gewisser Wille erkennen, den Adel beim Repräsentieren nachzuahmen. Benannt wurden die ungefähr dreißig Anlagen nach ihren Besitzern, so etwa der Großbosesche Garten nach dem Ratsherrn Georg Bose, der auf der südlichen Seite des Grimmaischen Steinwegs 1692 den Anfang machte. Er brachte es gleich auf zwei Gärten – der andere hieß Kleinbosescher Garten. Achtzig Jahre später waren die Anlagen immer noch nicht aus der Mode, aber die Art ihrer Gestaltung hatte sich gewandelt. So tendierte der Garten des Bankiers Eberhard Heinrich Löhr von Anfang der 1770er-Jahre schon sehr in Richtung Englischer Landschaftspark. Er befand sich im Norden, dort, wo es heute noch eine Löhrstraße gibt. Noch besichtigen lässt sich der Johannapark von Wilhelm Theodor Seyfferth, den der Bankier in Erinnerung an seine jung verstorbene Tochter im englischen Stil anlegen ließ und später der Stadt stiftete.

Verschwunden sind die barocken Anlagen im 19. Jahrhundert, weil die Grundstücke nach und nach anderen Zwecken zugeführt und schließlich mit Wohnsiedlungen bebaut wurden – die Industrialisierung und das Bevölkerungswachstum forderten ihren Tribut. Westlich der Innenstadt starteten die Bauprojekte wegen der Hochwassergefahr erst nach den notwendigen Flussregulierungen. Der Barock wich dort zunächst Gründerzeitbauten, die im Zweiten Weltkrieg allerdings schwer getroffen wurden. Der Wiederaufbau dauerte. 1982 wurde beschlossen, in der dortigen Kolonnadenstraße die Altbauten zu sanieren und gleichzeitig die entstandenen Lücken mit Plattenbauten zu schließen. Das Experiment schloss ein weiteres ein, nämlich die Bürgerbeteiligung. 1985 konnten die Mieter sich entweder über Fernwärme im Altbau freuen, oder sie wohnten in der mit Erkern verzierten Platte. Die Kolonnadenstraße legte die städtebauliche Messlatte hoch: Das Stadtbild blieb erhalten, der Wohnraum war günstig, und die Gründerzeit verschwand nicht ganz, sondern wurde mit den Fassaden aufgegriffen.

In die Kolonnadenstraße gelangt man über den Dorotheenplatz, von dem aus die Straßen des Viertels strahlenförmig abgehen. Sie folgen den Achsen des Barockgartens von Kaufmann Andreas Dietrich Apel. Auf dem Platz stehen seit 1994 Jupiter und Juno, Kopien zweier Plastiken von Balthasar Permoser, die einst neben anderen mythologischen Figuren Apels Garten schmückten.

Beatdemo:

Warum es 1965 zur Zusammenrottung auf dem Leuschnerplatz kam