11 - Gabriela Joham - E-Book

11 E-Book

Gabriela Joham

4,8

Beschreibung

11 Menschen interessieren sich für ein nicht genauer beschriebenes Seminar. Sie alle haben ihre individuellen Lebensgeschichten, die in kurzen Auszügen geschildert werden. Ihr Trainer ist Greg Lundarski, der besondere Hohepriester, der von der Sonne kommt. Von ihm werden noch mehrere Geschichten handeln. In diesem Buch stellt er sich erstmals vor.

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Seitenzahl: 179

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Das Zahlwort elf, noch bis ins 19. Jahrhundert eilf, stammt vom althochdeutschen Wort einlif ab, gebildet aus den Wurzeln ein (eins) und lif (übrig) (vgl. englisch "left"). Es bedeutet also ungefähr „Rest eins“. Es beschreibt den Rest, der bleibt, wenn man von elf (mit den Fingern) zehn abgezählt hat. Eine ähnliche Bildung gibt es im Litauischen: Die Zahlen elf bis neunzehn werden dort mit der Endung -lika gebildet, die zur Familie des Wortes leihen - (über)lassen gehört.

Die Elfmänner im antiken Athen hatten die Aufsicht über das Gefängniswesen und überwachten den Vollzug der Todesstrafe.

Im 19. Jahrhundert wurde die Elf zur Zahl des rheinischen Karnevals. Den Prunksitzungen sitzt ein Elferrat vor, der Karnevalsbeginn wird in neuerer Zeit am 11.11. um 11.11 Uhr begangen. Dies soll sich aus dem abgekürzten Wahlspruch der Französischen Revolution „Egalité, Liberté, Fraternité“ abgeleitet haben. Es mag jedoch zusätzlich eine Parodie auf häufig zehn- oder zwölfköpfige Gremien sein.

Die Elf ist die kleinste Schnapszahl.

Der Elfmeter im Fußballspiel rührt von den ursprünglich in angelsächsischen Maßen definierten Abmessungen des Spielfelds her. Exakt handelt es sich um 10,9728 m, also 12 yards.

Seit 1870 bestehen Fußballmannschaften regelmäßig aus elf Spielern, daher das Synonym Elf für Fußballmannschaft.

Elf Geschichten über Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Motiven für ein Seminar angemeldet haben. Das Seminar von Greg Lundarski geleitet, dem besonderen Trainer und Hohepriester der Sonne. Die Teilnehmenden ahnen davon nichts, auch nicht, dass Gregs Widersacher Rudolf von Walterskirchen, der Graf der Finsternis sein Kommen angekündigt hat. Als zwölfter Teilnehmender.

Greg Lundarski – der besondere Trainer und Hohepriester

Es war an diesem Tag an dem die Sonne sich kurz hinter der großen dunkelblauen Wolke verkroch und das Gitternetz rund um unsere Erde für einen Augenblick durchlässig war.

Das war notwendig um den Dingen ihren Lauf zu lassen und das Geschöpf zum irdischen Leben zu erwecken. Tief unten auf der Erde ertönte ein lauter, durch dringlicher Schrei. Mitten in Polen war er geboren. Und niemals in seinem Leben würde seine Erinnerung weiter zurück reichen als bis zu seinem fünften Lebensjahr. Damals begann er zu schreiben.

Das Wort zu verbreiten sollte seine primäre Aufgabe in diesem irdischen Leben werden. In Worten und Schriften dem Frieden gereichend. Wo immer er hinkam, schien sich Licht über die Szene zu legen. Er brachte etwas mit, das die Menschen bezauberte, ohne dass jemand sagen hätte können, was genau es war. Später in seinen Jugendjahren bescherte ihm das die eine oder andere Mädchenbekanntschaft. Greg enttäuschte sie alle. Er sog sie auf wie die Bienen den Nektar und ließ sie dann stehen. Seine liebevollen Abschiede trösteten kaum und doch konnte er gar nicht anders als weiterzuziehen. Er ahnte nichts von der Tiefe der Bindung, war auf der Welt, um Segen zu bringen. Fühlte tief und konnte dennoch immer wieder weitergehen. Frei wie die Sonne am Himmel. Als Mann war er sich dessen bewusster und doch half es nichts. Er hätte jede haben können und guckte sich nur die beseelten aus.

Um sie besser zurücklassen zu können. Reicher und freier als zuvor. Und damit auch schon genug der Beziehungen in seinem Leben. Längst war ihm seine Arbeit wichtiger geworden. Das Wort und seine Wirksamkeit hochzuhalten und sich und seine Schülerinnen von all dem Geschwätz und Gejammer der Gegenwart zu distanzieren.

Sie vorzubereiten auf eine neue Dimension, in der sie sonst kläglich zugrunde gehen würden. Erstickt an Werbespots und Klingeltönen. Ermattet und verbraucht durch falsche Liebesschwüre und Kurzmitteilungen. Eines Tages schrieb er sein erstes Seminardesign. Auf einer Bank im großen Hyde Park. Wahrscheinlich brauchte es die Insel für diese Erkenntnis. Es braucht Struktur, um Veränderung zu bewirken!

Dort, wo Greg herkam war das Wissen und punkt. Doch hierzulande würde ihn niemand ernst nehmen, wenn er nicht über eine gesellschaftstaugliche Verpackung verfügte. Ein Seminar, das war es. Dann würden sie alle freiwillig kommen und sogar noch dafür bezahlen. Am nächsten Tag fuhr er mit dem Schiff zurück nach Europa. Das Konto für seine Einnahmen eröffnete er in der Schweiz – lange bevor er das Institut offiziell gründete. Greg brauchte nicht viel zum Leben. Jeden Platz, den er besuchte machte er in wenigen Minuten zu seinem eigenen. Jede Wohnung und jedes Haus flutete er mit seiner Vorstellung davon und schon konnte er darinnen leben. Auch das war eine Besonderheit, die er erst spät als Unterschied erkannte. Vieles von dem, was er in seinen Seminaren weitergab, war für ihn seit jeher klar. Für seine Teilnehmerinnen öffnete es Türen in bislang unbekannte Welten. Zurück zu seinem Institut, schlicht S u N hatte er es genannt. Selbst und Neu fügte er auf Anraten der Presse hinzu. Was hätte die Gesellschaft schon mit dem Wort SONNE anfangen sollen, wenn es um Weiterbildung geht.

Und kaum waren die drei Buchstaben markttauglich, fand sich noch jede Menge an Assoziationen dazu.

Sieg und Niederlage

Selbstbewusstsein und Nachhaltigkeit

Suppe und Nudeln

Greg beschäftigte sich nicht damit. Seine Botschaft war klar.

Die Interpretationen überließ er den anderen.

Die Teilnehmer

Fünf Frauen und sieben Männer waren diesmal angemeldet.

Einer der Männer war Greg gut bekannt. Es war Rudolf von Walterskirchen. Für jeden der anderen hatte Greg nur eine Vermutung. Denn jedes Mal wenn er einen Namen las, entstand in ihm sofort ein Bild für die Person. Oft auch noch der Klang dessen Stimme oder der Geruch dessen Haut.

Das war schon seit seiner Kindheit so, deswegen wunderte es ihn nicht, im Gegenteil, er war der Meinung jeder Mensch verfügte über diese Eigenschaft.

Deswegen sprach er auch nicht darüber. Er nahm sich die Namensliste vor und ging an das Kennenlernen der Teilnehmenden.

Dr. Helmuth Biegler – das vornehme Helmuth passte so gar nicht zum leutseligen Biegler und das Gefühl für diesen Mann war fast ein … modriges. Etwas schien mit der Anmeldung nicht zu stimmen. Weiter zum nächsten Namen.

Christa Bruckner

Von ihr ging eine ganz besondere Jugendlichkeit aus, ein Zauber fast, der sie umhüllte. Greg lächelte, das besondere an seiner Wahrnehmung hatte ihn schon oft in die Irre geführt, was das Alter der Person betraf. Oft fanden sich unter den jugendlichsten Energien ältere Menschen und umgekehrt. Deswegen beschwichtigte er sich selbst, nicht auf eine schöne junge Frau zu hoffen.

Andreas Krämer

Eine Traurigkeit umgab diesen Namen. Gemischt mit vergangener Mutlosigkeit und doch mit einem Ansatz an Hoffnung. Greg fühlte, dass dieser Mann wohl als einer der ersten seine Geschichte loswerden musste. Er würde ihm die Gelegenheit geben.

Gerhard Glockner

Interessanterweise kam seine Anmeldung von einer griechischen Mailadresse. Sie duftete nahezu nach dem Geruch von Meeressalz und Oregano. Das machte Greg neugierig, ebenso wie die viel zu früh entrichtete Seminargebühr. Gerhard wollte unbedingt dabei sein. Fast wie auf der Flucht.

DI Veronika Schuster

Sie war bestimmt jung. Die Wortwahl ihrer Mail ergänzte Gregs Wahrnehmung von einer jungen Elfe. Aus welchem Grund kam sie ins Seminar? Die Antwort stellte sich flugs ein, es war wohl wegen ihrer besonderen Gabe.

Mag. Anna-Maria Bernsteiner

Und darunter in kleinen Lettern „Kleinkindpädagogin“. Mit dieser Bezeichnung konnte Greg nichts anfangen. Er schloss kurz die Augen. Ein Bild stellte sich ein. Anna-Maria selbst als kleines Kind. Alleine auf einem Hohlweg stehend. Ihr einziger Kontakt der Hund an der Kette. Zu dem traute sie sich nicht. Greg konnte die Einsamkeit förmlich spüren.

Er atmete durch und öffnete die Augen. Das reichte vorerst. Ein Stück kindlicher Neugierde wollte er sich für Anna-Maria behalten.

Franz Watzka

Die Anmeldedaten waren auf den Folder mehr gekritzelt, denn geschrieben. Franz war wohl von einfacher Herkunft. Am untersten Ende war eine kleine handgezeichnete Rose zu sehen. Daneben ein Pfeil und der Zusatz – so heißt meine Frau, sie hat mich zu Ihnen geschickt – und ein lachendes Smiley. Franz war bestimmt ein ganz besonderer Mensch.

Christian Berghammer M.A.

Das M.A. hinter dem Namen trat stärker hervor. Christian Berghammer hatte einen Namensstempel verwendet, der seinem Titel gerecht wurde.

Die übrige Anmeldung war mit Füllfeder ausgefüllt, deswegen war sie auch in einem Kuvert angekommen. Dieses wiederum mit einem Stempel als Absender, der schon fast einem Siegel glich. Greg spürte die Anspannung des Absenders, das Streben nach Ansehen und Perfektion. Er nahm einen Schluck Tee und einen zweiten Anlauf das Formular zu lesen. Der echte Christian Berghammer war kaum zu erkennen.

Dr. Irene Schmidt

Eine Sachlichkeit umgab ihren Namen. Der zweite Impuls war das Innere eines Vulkans, dessen Ausbruch sich anbahnte. Greg legte seine Hände an dieser Stelle über das Papier. Leichter, weißer Dampf stieg auf. Gut, dass diese Frau in sein Seminar kommen wollte. Es war höchste Zeit.

Bea Wallner

Das geblümte Briefpapier und die vielen Worte und Hinweise auf Weiterbildungen vernebelten Greg den Blick. Er schaute ein zweites Mal mit geschlossenen Augen und sah ein kümmerliches Häufchen Mensch, aufgetakelt gleich einem Zirkuspferd. Jedes Mal wieder fand sich eine derartige Person in einem seiner Seminare. Offensichtlich hatte er daraus noch zu lernen. Seufzend las er weiter.

Bernhard Rausch

Wohl jeder andere hätte den Namen sofort erkannt. Bernhard Rausch war einer der bekanntesten Trainer im Umkreis. Ein Kollege sozusagen.

Für Greg bedeutete das nichts. Er spürte die Energie eines jungen Rennpferdes, das ausgepowert am Limit lief. Bernhard erschien ihm weit weg von der gesunden Form, die seine Performance brauchte. Gut, dass er bald ins Seminar kam, lange konnte das so nicht mehr weitergehen.

Inhaltsverzeichnis

Dr. Helmuth Biegler „Akira“

Christa Bruckner „Die hellblauen Pillen“

Andreas Krämer „Die verschwundene Brosche“

Gerhard Glockner „Der Libellenflügel“

DI Veronika Schuster „Dunkelbraune Fensterläden“

Mag. Anna-Maria Bernsteiner „Tante Anni“

Franz Watzka „Eine ganz normale Familie“

Christian Berghammer M.A „Bunte Blumen“

Dr. Irene Schmidt „Das Geburtstagskind“

Bea Wallner „Zuviel und Zuwenig“

Bernhard Rausch „Unter uns“

Akira

Dr. Helmuth Biegler

„Akira, komm herein, Akira, komm!“, die Stimme des Kindes klang hell und klar durch den Abend. Das Haus am Rand des Dorfes verfügte über einen riesigen Garten. Jedoch ganz hinten im Zaun war ein großes Loch, durch das die junge Schäferhündin immer wieder mal entwischte. Doch wo immer sie sich herumtrieb, nie hörte die Familie Schlechtes oder Schlimmes über sie. Sie erfreute die Umgebung und kehrte stets vor Einbruch der Dunkelheit zurück.

Um dem Rufen des Buben Folge zu leisten schlüpfte sie kurz vorher in den Garten zurück und erfreute sich am herrlich hohen Gras in der biologischen Ecke der Grünanlage. „Akira, jetzt komm doch! Wo bist du nur?“ „Ach, Martin, sie wird schon kommen, bestimmt ist sie wieder beim Bauernhof gewesen, um mit ihrer Schwester zu spielen.“ Die Mutter blieb ganz gelassen. Martin hingegen spürte eine Unruhe in seinem kleinen Körper, die ihm so gar nicht behagte.

„Akira!!!“ schrie er fast panisch und rannte in den Garten hinaus. Weit und breit war nichts zu sehen. Akira blieb verschwunden. „Vielleicht hat sie sich einfach verliebt“, mutmaßte der Vater. „Martin, früher als die Hunde noch nicht hinter Schloss und Riegel gesperrt waren und an Leine und Beißkorb gebunden, also als es so ähnlich war, wie wir das hier heute noch versuchen, da war es ganz normal, dass eine junge Hündin einmal für eine Nacht wegblieb.

„Bitte mach dir keine Sorgen.“ Leicht gesagt war das wohl und dennoch bemerkte der Vater das klopfende Herz des Kleinen.

„Ich bringe dich ins Bett und du schläfst ganz schnell ein und morgen früh, du wirst sehen, morgen früh ist Akira schon wieder da und weckt dich auf.“ Er war überzeugt davon, dass es so sein würde und sein Vertrauen übertrug sich auf den Buben. Bald schlief er ein.

Die Eltern öffneten noch eine Flasche Wein und nickten sich zu. Bestimmt würde Akira morgen wieder bei ihnen sein. Kurz bevor die beiden auch zu Bett gehen wollten, kratzte die Hündin an der Tür. Freudig öffnete die Mutter die Tür und erschrak. Akira war schmutzig und stank bestialisch. Ihr weiches Fell war klebrig und zerzaust. Die Hündin stupste die Frau mit ihrer feuchten Schnauze und begann zu bellen. Immer wieder warf sie den Kopf nach hinten und bellte. „Komm mit“, sollte das wohl bedeuten.

„Was ist denn…“ – der Vater kam hinzu und wollte Akira beruhigen. „Martin schläft, was machst du denn für einen …“. Doch auch ihm blieb die Sprache weg, als ihm der Geruch in die Nase stieg.

Akira roch nach Urin und etwas Fauligem, Süßlichem, Abstoßendem. Akira bellte unaufhörlich und so beschloss er, ihrer Aufforderung zu folgen. „Ich schau mir das an, was sie da wohl meint“, sagte er, zog sich seine Jacke über und Schuhe an. „Vielleicht hat sie ja ein Tier gefunden oder so, ich rufe den Toni an, dass er mit mir kommt.“

Anton Baumgartner war der hiesige Förster und noch dazu ein guter Freund der Steinwendners. Er war stets lange wach und nicht besonders verwundert über den Anruf seines Freundes. „Servus Hubert, schön dich zu hören, was liegt denn an?“ Die Geschichte von Akiras Auftritt war schnell erzählt und so dauerte es gar nicht lang, bis Anton vor der Türe stand. Hubert und Akira warteten im Vorgarten.

Sie hatte aufgehört zu bellen und war still und aufmerksam. Sie spürte wohl, dass es nun um sie ging und dass alle verstanden hatten. Kaum war Anton eingetroffen, zog sie an der nunmehr angelegten Leine und sprintete los.

Einige Straßen weiter kurz vor der Villa blieb sie unvermittelt stehen und fing von Neuem an zu bellen. Die beiden Männer blickten sich verwundert an und warteten ab. Es schien, Akira hätte neuen Mut getankt, um dann wieder loszustarten. Direkt auf das große weiße Haus zu.

Hier wohnte der erfolgreiche Topmanager der mächtigen internationalen Bank. Hubert und Anton hatten mit ihm immer nur dann zu tun, wenn es um Jagdrechte oder die Gartengestaltung ging. Und es handelte sich um einen wahrlich großen Garten. Die Steinwendners betrieben die kleine Gärtnerei im Ort. Hubert hatte sie von seinem Großvater übernommen. Der Vater war früh gestorben.

Nun zog Akira die beiden Männer direkt auf den hinteren Garteneingang zu. Dort war die weißgestrichene Holztüre weit offen und sie konnten ungehindert eintreten. „Komisch, der Dr. Biegler macht doch immer alles zu, der hat doch so eine Angst vor Einbrechern und Dieben“ – sie hatten beide diesen Satz im Kopf, doch keiner sagte ihn - zu merkwürdig war die Tatsache an und für sich.

Auch dass sie sich über die Hintertür auf das Grundstück schlichen. Wobei schlichen zu viel gesagt war, sie hatten Mühe mit Akira Schritt zu halten und liefen nahezu, was bei ihrem Körpergewicht ziemliches Getöse verursachte.

Bald erreichten sie die Hinterseite des Hauses und auch dort stand die Kellertüre offen. Nur einen Spalt zwar, doch sie konnten ungehindert hineingehen. Ab und zu wechselten sie einen Blick, doch sie sprachen nicht und gingen wie selbstverständlich weiter. Wie zwei Verbündete. So wie sie es als Buben schon im Kirschgarten gemacht hatten. Mit demselben Gefühl des Verbotenen oder Geheimen. Ganz sicher, das Richtige zu tun. Sie stiegen die Treppe hinauf und ihnen stieg der süßliche und faulige Geruch in die Nase, den Akira mit nach Hause gebracht hatte. „Hubert, da ist etwas passiert“, sagte Anton schließlich. Diesen Geruch kenne ich. Ich rufe auf der Wachstube an. Alleine gehen wir hier nicht mehr weiter.

So dachten sie, doch Akira zog an der Leine und so folgten sie ihrer Neugierde und betraten die Vorhalle des Hauses. Es war tatsächlich ein Halle dort wo andere ein enges Vorzimmer hatten. Bis hierher waren sie schon öfter gelangt, wenn sie mit Dr. Biegler zu tun hatten. Sie kannten die kleine Biedermeiersitzgarnitur und die Leuchte an der Decke.

Was hinter den vielen Türen steckte, wussten sie nicht. Hubert hielt Akira ganz fest und beruhigte sie. „Brav, mein Mädchen, brav, “ murmelte er. Als die beiden Polizisten eintrafen, fanden sie die zwei Männer und die Hündin immer noch in der Vorhalle. „Gut, dass ihr uns gerufen habt. Es reicht schon, dass ihr hereingegangen seid“, sagte der eine. Und der andere fügte mit einem Seitenblick auf Akira hinzu: „Na wahrscheinlich habt ihr Akira holen wollen, gell?“. Somit war alles gesagt und die vier Männer konnten nun ihren eigenen Nasen folgen.

Sie nahmen die Treppe in den ersten Stock und betraten ein großes Zimmer, das vollkommen leer war. Die Polizisten hatten Handschuhe angelegt und die beiden anderen Männer darauf hingewiesen, nichts und niemanden zu berühren. Auch die nächsten vier Türen führten in Räume, in denen wohl schon lange niemand mehr gewesen war. Wie auch, es fehlten die Möbel.

Weiter trieb es die Männer in den zweiten Stock und dort oben war gleich die erste Türe die richtige. Der eine Polizist betätigte den Lichtschalter. Es wurde nur unmerklich heller, die Glühbirne, die an der Decke befestigt war, gab nicht allzu viel Licht. Der Boden war übersät von Kartons und Dosen und Tragetaschen aus Kunststoff, der Teppich darunter war kaum zu erkennen. Der Geruch wurde nahezu unerträglich und so öffnete einer der Polizisten das Fenster. Die klare Nachtluft half den Männern.

Im hinteren Teil des Zimmers konnten sie in Umrissen ein Bett erkennen. Und dann sahen sie, was Akira so durcheinandergebracht hatte. Die Hündin schmiegte sich dicht an Hubert und begann erneut zu bellen. Dr. Biegler lag leblos auf dem Bett. Er hatte eine karierte kurze Hose an, die beißend nach Urin roch und ein T-Shirt, das wohl ehemals weiß gewesen sein musste. Sein linker Arm hing zu Boden und die Einsamkeit, die ihn umgab war körperlich für alle spürbar.

Die Matratze war unbezogen und der Kopf des Mannes lag auf einem zerschlissenen Zierpolster, der wohl ehemals zu einer Wohnlandlandschaft gehört haben musste. Die Decke, die zu seinen Füssen zusammengeschoben war, war ein billiges Plaid aus einem der großen Möbelhäuser. Ruhig lag er da und in seinem Gesicht war etwas wie Frieden. Wie lange er wohl schon tot war, würde die Obduktion zeigen, die die Polizisten ankündigten. Bei einem Manne solchen Reichtums und solcher Angesehenheit im Dorfe mehr als eine Routineangelegenheit. Der Doktor, den sie beim ersten Anblick der Leiche angerufen hatten, traf ein und stellte urkundlich den Tod fest. „Sieht mir nach Herzversagen aus“, konstatierte er um dann noch hinzuzufügen: „Komisch, das Innere dieses Hauses habe ich mir immer ganz anders vorgestellt.“ Mit diesen Worten zog er von dannen und Hubert und Anton taten es ihm gleich.

Die Polizisten warteten auf die Spurensicherer und hatten zuvor die Fingerabdrücke der beiden Männer und ein Haar von Akira abgenommen. „Wir melden uns sicher noch einmal bei euch, danke für den Hinweis!“

Schweigend marschierten Hubert und Anton zurück. Bevor der Förster beim Haus der Steinwendners in sein Auto stieg, tätschelte er Akira liebevoll und blickte seinem Freund tief in die Augen.

„Weißt du Hubert, irgendwie ist das schon seltsam. Dieses leere Haus…“ Die Mutmaßungen blieben in der kühlen Nacht hängen, denn Hubert antwortete nur „Was wissen wir schon…“.

So verabschiedeten sie sich einfach und Hubert war froh, den warmen Hundekörper nahe bei sich zu spüren. „Komm, Akira, wir gehen jetzt in die Waschküche“, sagte er leise. Mit dem Wasser und dem Schaum wusch Hubert der Hündin gründlich auch viele der seltsamen Gefühle weg, die sich bei ihm einstellten. Akira ließ die Prozedur ungewohnt friedlich über sich ergehen.

Das veranlasste Hubert auch selbst gleich in der Waschküche zu duschen, um Martin nicht zu wecken. Lange ließ er das heiße, klare Wasser über seinen Kopf und Körper brausen. „Das leere Haus…seltsam… was wissen wir schon…“ hallte es nach.

Dr. Helmuth Biegler erschien nicht mehr zum Seminar, sein Platz blieb leer.

Die hellblauen Pillen

Christa Bruckner

Die Strassen waren fast menschenleer. Der Morgen legte sich sanft über die Stadt als die attraktive Fünfzigerin in ihren Kleinwagen stieg. Seit einigen Jahren hatte sie es sich angewöhnt, zeitig in die Firma zu fahren. Um sieben Uhr waren nur wenige dort und wenn sie am Nachmittag Sehnsucht nach der Sonne oder ihrem Lieblingshobby spürte, konnte sie die Arbeit ruhigen Gewissens beenden.

Das neue Parfum erfreute ihre Nase - noch konnte sie es selbst riechen. Die Vögel auf dem Baum, unter dem ihr Auto parkte, zwitscherten. Es war ein gutes Leben. Ihre gute Laune hielt auch noch an, als sie die vielen Haftnotizen auf Ihrem Schreibtisch bemerkte. Sie würde die schon abarbeiten. Zuallererst einmal einen Tee gekocht und die Klimaanlage abgedreht. Später würden sie diese schon brauchen in dem kleinen Büro hoch über der Stadt, doch jetzt am frühen Tag wollte sie sich ihr noch nicht aussetzen.

Kaum hatte sie ihr „später“ gedacht, spürte sie einen leichten Zug in der Magengrube. Vor noch nicht allzu langer Zeit war der Entschluss in ihr gereift, ihre Lebenszeit nicht mehr unter dem Druck ihrer Managerfunktion zu fristen, sondern stattdessen einen hochwertigen Assistenzposten anzunehmen. Die Firma und die ehrgeizigen Nachwuchsfrauen waren dankbar gewesen und die finanzielle Einbuße störte sie nicht. Ihr Sohn lebte mittlerweile sein eigenes erwachsenes Leben und für sie selbst reichte es allemal. Noch dazu seit sie Jakob kennengelernt hatte. Diesen wunderbaren herrlichen Mann, mit dem sie nun ihr Leben und dennoch nicht „alles teilte“.