Ein neuer Tag - Gabriela Joham - E-Book

Ein neuer Tag E-Book

Gabriela Joham

4,9

Beschreibung

Ein junger Mann entdeckt Schritt für Schritt seine hellfühlige Gabe. Spannende Einzelgeschichten ergeben ein perfektes, wunderbares Bild. Seine Initialen AG Antonius Gilberti finden sich in der Kurzbezeichnung für Silber. So ist es kein Zufall, dass ihm die Fürsten des Mondes beistehen.

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Inhalt

Wie alles begann

Die Kindheit

Der erste Arbeitstag

Ob schwarz oder weiß

Selbstlos

Antonius und die Frauen

Innen statt Außen

Antonius und Bea

Schönheit sehen

Antonius und das Meer … und Bea

Der Abschied

Liebste Bea

Die italienische Botschaft

Wie alles begann

Das Meer hatte ihn damals einfach wieder ausgespien. Am Strand war er gelegen. Nass und sandig, kaum von der Umgebung zu unterscheiden. Der kleine Körper verschmolz langsam mit dem Untergrund und die Engel standen bereit. So wie sie es immer tun, an den wichtigen Übergängen der menschlichen Seele. In dieser Nacht blickten sie gen Himmel, das letzte Zeichen für den Buben erwartend, dessen Lebenskraft nunmehr am seidenen Faden hing. Doch der Himmel blieb still. Nur ein leiser Wind kam auf und winkte gleichsam aufs Meer hinaus. Weit hinten am Horizont begann das Wasser zu glitzern. Im Licht des Mondes breiteten sich die silbrigen Umhänge aus. Raschelnd und knisternd falteten sie sich zu mächtigen Flügeln und trugen die Fürsten der Nacht über das Meer. Direkt hin zu dem Strand, an dem die Engel warteten und ihnen den Weg durch die Dunkelheit wiesen.

Zwischen den Wesen brauchte es weder Augenkontakt noch Kopfnicken, die lichtvollen Gestalten verstanden einander blind. Allein die Struktur, die Geräusche und die Gerüche der Nacht ließen sie einander erkennen. Antonius sollte überleben. Es blieben sein Schutzengel und sein Todesengel zur Verstärkung. Im Laufe des Lebens würde noch der eine oder andere Engel dazu stoßen, je nachdem was Antonius bewegte, womit er rang. Diese Vereinbarung war geschlossen und das Gros der riesigen weißen Flügel erhob sich über das Meer und glitt in die unendliche Weite des Himmels hinein. Gleich dem Dunst des Morgens verschwanden sie fließend. Die Fürsten der Nacht umringten den Buben und murmelten sich etwas zu.

Es klang wie mabulisom, damirdiwar, sominibus, altarista suntz.

Antonius spitzte die kleinen Ohren. Diese Worte kannte er allesamt nicht. Auch spürte er plötzlich die Kälte des Bodens und die Nässe, die durch seinen Hosenboden drang. Er rappelte sich auf und blickte reihum. Seine graublauen Augen reflektierten das silbrige Glitzern der Umhänge.

„Wo bin ich, wer seid ihr?“ Antonius rieb sich den Sand aus den Augen. Hatte er gar geschlafen? Wie war er an diesen Ort gekommen? Das schwere Schicksal, das ihn hierher verschlagen hatte, war wie aus seinem Gedächtnis gelöscht. Das ereignete sich immer, sobald die Fürsten der Nacht ihre Mäntel über jemanden breiteten. Gleich dem sicheren Zustand des Traumes schoben sie das Unglück in die Unwirklichkeit und gut.

„Wir wissen es nicht“, antworteten die Fürsten der Nacht und wiesen mit ihren Köpfen Richtung Himmel. „Der Mond ist unsere Heimat und seine Meere sind unser Zuhause. Ein Hilferuf hat uns ereilt und hier sind wir. Mit einem Auftrag für dich in der Tasche.“

Die Kindheit

Antonius war ein glückliches Kind. Er liebte seine Eltern, wurde jeden Tag satt und schlief in einem kuscheligen Bett. Darüber hinaus ging er gerne in die Dorfschule und liebte es zu lesen. Zu lesen und zu träumen. Sich in eine andere Welt zu wünschen. Viele seiner Mitschüler bewunderten Antonius wegen seiner Heiterkeit, manche beneideten ihn gar darum, dass er stets guter Dinge war, auch wenn alle Anzeichen in eine andere Richtung zeigten. Wann immer Antonius die abfälligen Kommentare oder die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Vorwürfe zu viel wurden, wanderte er hinunter zum Strand, legte sich in den Sand und beobachtete die Wolken. Das machte ihn ruhiger und gelassener.

Deswegen beschloss er eines Tages unbedingt eine Arbeitsstelle finden zu müssen, die direkt unten am Meer lag. Am einzigen Ort der Welt, an dem er sicher war, dass er glücklich leben durfte. Und nicht nur ein unerfreulicher Klotz am Bein der ihn umgebenden, anderen Lebensläufe war.

Und so schaffte er es schließlich in das große Hotel direkt am Strand. Dort hatte er immer schon arbeiten wollen. Schon als Bub. Und nach einigen Ferien, in denen er dort in der Küche und bei niedrigeren Tätigkeiten helfen hatte dürfen, nahm ihn die Hoteldirektorin als Praktikant auf und unterstützte ihn einige Sommer lang dabei, die höhere Schule abzuschließen. Weil Antonius gerne die Welt sehen wollte und es ihn dennoch an seinem Heimatort hielt, vereinbarte der Direktor mit ihm eine Jahresfrist, nach der Antonius fix bei ihm als Portier anfangen könnte.

Das passte gut, denn der alte Portier konnte kaum noch etwas sehen und auch sein Hörvermögen ließ bereits nach. Auch sprach er eines Tages wunderlich von einem Glitzern auf der Meeresoberfläche, das ihm unheimlich schien. Daraus schloss die neue Hoteldirektorin, dass es wohl um sein Gehirn auch nicht mehr allzu gut beschaffen war. Deswegen freute sie sich auf den Neueinstieg von Antonius und auf frischen Wind in der Rezeption. Dass das Glitzern bereits die Vorhut für Antonius war, blieb also unbemerkt. So wollten sie das auch. Die Fürsten der Nacht.

Der erste Arbeitstag

Am frühen Morgen verließ Antonius das kleine Haus, das ihm nun seit vielen Jahren als Heimat gedient hatte. Er umarmte seine Eltern und bedankte sich von Herzen. Ab heute würde er in dem großen Hotel den Posten des Portiers bekleiden. Und bald schon würde der alte Portier nur noch ab und an vorbeikommen um nach dem Rechten zu sehen. Mehr aus Gewohnheit, denn die Hoteldirektorin war überzeugt, dass Antonius seine Sache sehr gut machen würde. Daher konnte er schon am ersten Tag sein eigenes, kleines Zimmer beziehen, ganz oben im hinteren Trakt des Hauses. Ein Bett, ein Schrank, ein bescheidenes Bad und sogar eine Küchenzeile. Das alles gehörte jetzt für die Dauer seiner Beschäftigung ihm. Endlich konnte er tun und lassen, wonach ihm der Sinn stand.

Die Umarmungen dauerten um genau jenen Moment länger als sonst, den Antonius für den Abschied brauchte. Selten war es ihm so klar, dass die beiden liebenswürdigen Menschen, die ihn durch Kindheit und Jugend begleitet hatten, nicht seine echten Eltern waren. Zu freundlich und herzensgut waren sie, um zu verstehen, was Antonius bewegte. Zu einfach und schlicht waren sie, um zu erahnen, wohin es ihn zog.

Die Rezeption wirkte beinahe prachtvoll im Vergleich zu dem bescheidenen Haus aus dem er kam. Schon bei den letzten Praktika hatte er das bemerkt und auch genossen. Die schweren großen Schlüsselanhänger mit dem Hotelemblem, der rote Teppich über die Marmorstufen hinauf zur goldumrandeten Glastür bis hin zur glänzenden schwarzen Rezeptionstheke. In seinem ersten Sommer hier im Hotel war es für Antonius noch notwendig gewesen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, sobald er einem Gast auf dem Rezeptionspult den Stadtplan erklären oder das Unterschriftsfeld auf dem Meldezettel zeigen wollte. Heute blickte er gütig auf das Pult hinunter, bestimmt über 185 cm groß. Auch darin unterschied er sich vom alten Portier. Sein Blick glitt ein Stück höher auf das weite Meer hinaus und reichte um eine wichtige Wegstrecke weiter.

Der erste Tag verging schnell, vieles galt es zu tun, einiges neu zu lernen. Die abendliche Pause verbrachte Antonius mit einem schnellen Abendessen, bevor er sich in ganzer Größe wieder hinter das Rezeptionspult stellte. Er wollte auch den Abenddienst machen. Als würdigen Einstieg sozusagen.

Die Nacht brach langsam herein und endlich war weniger los. Jetzt erst blickte er das erste Mal an diesem Tag länger als einen Augenblick auf das weite Meer hinaus. Antonius musste blinzeln, er schaute weg und wandte sich dann abermals dem Horizont zu. Diesmal hielt er den Blick, kniff seine Augen zusammen und war gebannt. Sein Mund stand offen und er schnappte nach Luft wie ein Karpfen im Teich.

„Antonius, ist alles in Ordnung? Ist dir nicht gut?“

Die Frage des alten Portiers hörte er wie aus der Ferne.

„Da hinten, sehen Sie doch, am Horizont …“, stammelte er und zeigte mit seiner Hand in die Richtung.

„Ja, und?“

Der alte Portier schüttelte den Kopf. Wie oft waren sie hier schon nebeneinander gestanden und alles war heute genauso wie es immer gewesen war.

„Die Lichter, diese silbernen Lichter, die über das Meer laufen, sehen Sie die nicht?“

Antonius blieben die Worte im Hals stecken. Jetzt nur nichts Falsches sagen, mein Gott, sonst glaubte der alte Portier gar, er nähme Drogen oder hätte in seiner Pause Alkohol getrunken.

„Ach nichts“, erwiderte er stattdessen, „wohl eine Luftspiegelung“.

Die Fürsten hatten ihre Freude daran. Gleich heute am ersten Tag feierten sie die Ankunft des jungen Mannes. In der Manier der Fürsten der Nacht. Nur die Unwissenden glauben, der Mond würde ausschließlich von der Sonne beschienen. Das sind jene, die noch niemals in die Tiefe der Mondmeere getaucht waren, jene, deren Herzen noch zu verletzt oder verschlossen waren. Die Fürsten brauchten kein Lagerfeuer zu machen, sie konnten sich an der Kühle der Finsternis laben. Denn das herrliche Glitzern brachten sie in ihren Umhängen mit. Grüne, violette, rote, orange, gelbe, dunkelblaue, hellblaue und strahlend weiße Kristalle erleuchteten die Nacht taghell. Die Außenseiten der Umhänge waren tiefblau bis schwarz. Nur wer ganz genau hinschaute, konnte die reflektierenden Kristalle leuchten sehen. Nur wenn die Fürsten sie weit ausbreiteten, wie damals als sie Antonius am Strand fanden oder so wie jetzt bei ihrem Willkommensgruß. Das war das Geschenk an Antonius. Er würde sehen können, was sich hinter den Mänteln von Menschen verbarg, das geheimnisvolle Glitzern, das jeder Kreatur innewohnt. Die Seele, die geheilt werden möchte und den Weg dazu findet, wenn der Mensch seine Erlaubnis dazu gibt. Aus freien Stücken oder manchmal durch das Schicksal gebeugt. Erlauben und sich dem Fluss des Lebens ergeben, wie nah liegt das beieinander.

In dieser Nacht träumte Antonius einen wundersamen Traum. Er fand sich inmitten einer Gruppe hochgewachsener würdiger Gestalten als kleiner Bub wieder, der ehrfürchtig ihren Worten lauschte.

Mabulisom, damirdiwar, sominibus, altarista suntz, nichts davon verstand er und dennoch ließen sie ihn ruhig werden und Vertrauen schöpfen. Und langsam wurde er größer in diesem Traum, stand auf und konnte den Umstehenden die Hand reichen. Beim Blick in deren Augen erstarrte Antonius. Doch nicht aus Furcht, nein vor lauter Staunen. Denn in ihren Augen spiegelte sich die Welt, mit all ihren Schattenseiten und dennoch voller Liebe und Zuversicht. Die Sonne kitzelte ihn wach, da oben in dem kleinen Appartement nahe der Lagune. Antonius musste niesen. „Hatschi!“ Fast erschrak er selbst. Jetzt war er hellwach. Nach einem kleinen Frühstück – er war immer noch zu aufgeregt, um viel zu essen – traf er unten an der Rezeption ein. Der Tag nahm seinen Lauf und ehe er es sich versah, war die Nachmittagspause gekommen. Die Hoteldirektorin setzte sich im hinteren Teil des Restaurants, dort wo die Angestellten ihr Essen zu sich nahmen, an den Tisch von Antonius.

„Du machst dich sehr gut, mein Junge“ lobte sie ihn. „Denk bitte auch daran, die Pausen einzuhalten, sonst klappt das nicht allzu lange mit deiner Konzentration.“

Nach einem tiefschwarzen Espresso ging sie wieder in ihr Büro zurück und Antonius hörte auf, über seine Pausenzeiten nachzudenken. Er wollte diese Arbeit und er brauchte den Blick auf das weite Meer. Und er war jung genug, um mit wenigen Pausen auszukommen. Punkt. So kam es, dass er um kurz nach 21 Uhr immer noch hinter der glänzend lackierten Theke stand. Seine Kollegin beendete ihre Schicht und verabschiedete sich aufmunternd:

„Antonius, nur noch drei Stunden, dann kommt der Nachtportier, mach´s gut und schlaf dich aus. Bis morgen!“

„Gute Nacht“ erwiderte Antonius leise.

Denn mit seinen Gedanken war er längst wieder weit draußen auf dem Meer, dort wo er sich sicher fühlen konnte.

Ob schwarz oder weiß

Er erblickte weit draußen am Horizont wieder dieses silbrige Glitzern. Diesmal hielt sein Blick stand. Kurz darauf drang eine Botschaft an sein Ohr:

“Es wird ein großer schlanker Mann sein, bei dem eine Entscheidung anliegt. Hilf ihm, diese Entscheidung treffen zu können. Ungeachtet ob er sich für schwarz oder weiß entscheidet, die Tat selbst wird ihm seine Lebenskraft zurückgeben.“

Gleich darauf erfüllte eine magische Stille den Raum.

Ungeachtet ob er sich für schwarz oder weiß entscheidet, die Tat selbst wird ihm seine Lebenskraft zurückgeben. Dieser Satz hallte in Antonius´ Ohren nach.

Nur wenige Minuten später stand ein Mann vor der Theke, groß und schlank. Gut, ein Zufall, Antonius wollte das nicht überbewerten. Neben dem Mann standen eine hübsche, kleine zierliche Frau und zwei süße Mädchen. Irgendwie passten die vier nicht zusammen. Es war mehr so, dass das kleinere Mädchen zum Vater und das größere Mädchen zur Mutter gehörten. Schnell verwarf Antonius diesen Gedanken wieder, schließlich wollte die Familie ein Familienzimmer und gut. Die hübsche blonde Frau handelte dem zuwider, sie packte ihre Tochter und keifte in Richtung ihres Ehemannes:

„Mach du das! Wir gehen inzwischen was trinken! Die Reise war total anstrengend.“

Fast trotzig entfernte sie sich und zog ihre Tochter neben sich her. Das kleinere Mädchen versteckte sich hinter dem Hosenbein seines Vaters. Er hob sie behutsam hoch und setzte sie auf die Theke.

„Entina, Papa beiben“, sagte sie laut und deutlich.

Erst nach dem Ausfüllen des Meldezettels bemerkte Antonius, dass es wohl „Valentina beim Papa bleiben“ geheißen haben sollte.

Ungeachtet ob er sich für schwarz oder weiß entscheidet, die Tat selbst wird ihm seine Lebenskraft zurückgeben. Hatte dieser Satz etwas mit diesem Mann zu tun?

Unmerklich zuckte Antonius mit den Schultern. Er beobachtete den Gast genau, die fahrigen Hände und winzigen Schweißtropfen auf der Stirn. Es fehlte nur noch, dass er sich ständig umblickte, ob er gar verfolgt würde. Wie auf der Flucht wirkte er, das war es. Antonius lächelte dem kleinen Mädchen zu.

„Valentina heißt du also? Das ist ein wunderschöner Name.“ In seiner Stimme lag eine tiefe Herzlichkeit, die den Mann aufblicken ließ, einen derartigen Tonfall schien er nicht gewöhnt zu sein. Das bestätigte sich auch wenig später, als der Familienvater einige Male zum Auto pilgerte, um das gesamte Gepäck zu holen, während seine beiden Mädchen bereits auf der Terrasse ein gemischtes Eis schleckten und seine Ehefrau sich bei einem AperolSpritz entspannte. Diesmal hatte er selbst „Entina“ gebeten, nicht bei ihm zu bleiben. Das Eis hatte die Kleine schließlich überzeugt.

Antonius bot die Hilfe eines Pagen an, doch der Mann winkte ab. Weil – wie sich später herausstellte – seine Frau den italienischen Dienstboten nicht traute. Nach dem dritten Mal Vorbeigehen wurde es Antonius zu dumm. Er folgte dem Mann selbst und wollte ihm behilflich sein. Er fand ihn an den großen Kombi gelehnt und telefonierend. Seine Gesichtszüge verrieten den unangenehmen Inhalt des Telefonates. Als er Antonius erblickte, zuckte er zusammen. So als ob er sich ertappt fühlte. Antonius nickte ihm beruhigend zu und machte kehrt.

Der Abend brachte noch einige andere Gäste, sie alle freuten sich auf einige unbeschwerte Tage an der italienischen Adria. Das Hotel wurde um diese Jahreszeit meistens von Wochenendurlaubern gebucht, die sich den Sommer ein paar Wochen eher in ihr Leben holen wollten, als er im Osten Österreichs eintraf. Auch die Familie, die Antonius seltsam vorkam, trat nach dem Abendessen wohlgelaunt auf die große hoteleigene Terrasse. Die kleine Valentina winkte Antonius zu und er lächelte zurück. Schon war er nahe daran, sich einen Narren zu schelten, etwas Böses an diesen Menschen finden zu wollen, da hörte er die schrille, vorwurfsvolle Stimme der Ehefrau:

„Du hast schon genug Wein getrunken, du bist immer maßlos, denkst nur an dich. Schließlich sind wir mit den Kindern hier. Sieh doch, der große Pool, wir müssen aufpassen. Du musst aufpassen. Ich bin ohnehin dauernd mit ihnen zusammen. Ich möchte mich endlich entspannen hier, doch so wie das aussieht ist das wieder nicht möglich.“

„Gerhard, Gerhard, ich rede mit dir“, setzte sie noch nach.

Gerhard hatte soeben noch einen Grappa geordert, um die freien Tage zu feiern. Glückselig betrachtete er seine beiden kleinen Prinzessinnen, bis sich sein Blick hinaus aufs Meer verloren hatte. Erst nach dem deutlichen Hinweis seiner Frau wandte er sich ihr zu. Antonius spürte die geistige Abwesenheit Gerhards beinahe als körperlichen Schmerz. Hier saß nur ein Teil des Mannes, der jener Gerhard wohl sein hätte können.

Ungeachtet ob er sich für schwarz oder weiß entscheidet, die Tat selbst wird ihm seine Lebenskraft zurückgeben, schoss es Antonius wieder durch den Kopf. Doch diesmal kam noch ein Satz hinzu.

Hilf ihm, Antonius, hilf! Dieser Appell begleitete ihn am Ende seiner Schicht noch in seine Träume. Jene waren es auch, die Antonius die Kraft spendeten, am nächsten Morgen den richtigen Gedanken zu finden, mit dem er Gerhard helfen würde können. Zu allererst studierte Antonius die Internetpräsenz dieses Mannes. Er war Vorstand eines Finanzunternehmens gewesen und kurz darauf hatte er einen Reisebericht über eine halbjährige Auszeitphase in Costa Rica verfasst, in dem er über die Wichtigkeit der Freiheit und des tiefen Atmens der Natur referierte.

„Aha“, eine Erkenntnis schlich sich in Antonius Kopf. Während des Tages beobachtete er die Familie, beim Frühstück, beim Weg zum Strand, beim Gang zum Abendessen. Als der Moment für den Drink in der Bar gekommen war, herrschte wieder die gleiche Missstimmung wie am vorigen Abend. Doch diesmal würde der Abend anders ausgehen. Kaum hatte Gerhard seinen Drink bestellt, trat Antonius an ihn heran.

„Heute Abend sind Sie unser Gast. Es ist ein Männerabend, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es gibt hier so einen Brauch im Dorf und gerade heute Nacht findet das Ritual statt.“

Augenzwinkernd ließ er Gerhard bei seiner Familie. Jener konnte mit diesen Worten nicht besonders viel anfangen. Jedoch erinnerte er sich an seine Jugend und auch an seine wilde Männerzeit, wo leise gehauchte Versprechungen ihn oft zu Höchstleistungen animiert hatten. Deswegen entgegnete er mutig, als seine Frau zum Aufbruch mahnte, um die Mädchen rechtzeitig zu Bett zu bringen, dass er vom Portier noch auf einen Drink eingeladen wäre, von wegen dieses Brauchs, und er kein Spielverderber sein wollte. Missmutig nahm sie das zur Kenntnis und wieder war es Valentina, die den Vater unterstützte.

„Papa goß, Papa ange aufbleiben. Bussiiiiiiiiii“, damit verabschiedete sich die Maus, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ihr Vater im Alleingang noch ein wenig Zeit für sich nahm.

Ihrer beider Liebe tat das keinen Abbruch. Erleichtert umarmte er seine kleine Tochter, wenigstens jemand, der seinen Hunger nach Freiheit verstehen konnte. Gerhard blickte abermals aufs Meer, als Antonius hinter ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Gerhard zuckte zusammen. Lange Jahre lag es zurück, dass ihn jemand ohne seine Erlaubnis berührt hatte, immer noch spürte er die Folgen dessen bis ins Mark. Vielleicht war das auch die Ursache dafür, dass er seither viel zu oft leise „ja“ seufzte anstatt laut „nein“ zu rufen.

Doch als Antonius mit leiser Stimme zu sprechen begann, verwandelte sich diese Angst in ein vollkommen unbegründetes Vertrauen. Das allein ließ Gerhard staunen. Vielleicht war er der Heilung dieser Angst näher als vermutet. Vielleicht kamen endlich Tage der Zuversicht.

„Gleich nebenan, im Hotel Il Mare, dort können Sie Ihren Abend gut verbringen. Sie brauchen nur an die Tür zu klopfen und erwähnen, dass Antonius Gilberti, das bin ich, Sie auf diese Runde von Männern aufmerksam gemacht hat. Dann wird das sicher ein guter Abend. Vertrauen Sie mir.“

Gerhard hörte die Worte wie durch einen Nebel. Dennoch zogen sie ihn förmlich fort von der Terrasse. Es stimmte wohl, für sein biederes Leben war er nicht geeignet, die Stimmen der Nacht behielten ihre Faszination. So folgte er ihnen und betrat wenig später das Hotel Il Mare. Als er den Namen Antonius Gilberti nannte, führte ihn der Portier sofort in den hinteren Trakt des Gebäudes. Mit jedem Schritt fühlte er sich wohler, bekam er wieder Luft zum Atmen, in diesem Metier kannte er sich aus. Aus dem Hinterzimmer hörte er laute Männerstimmen mit russischem Akzent oder gar russischer Sprache. Er klopfte und trat ein. In gewohnter geschäftlicher Manier stellte er sich vor, nachdem er einleitend „ich komme von Antonius Gilberti“ vorausgeschickt hatte. Die Männer nickten ihm zu und boten ihm einen Platz an. Wenn Gilberti den Mann hier her geschickt hatte, würde er sauber sein. Sauber genug, um schmutzige Geschäfte zu machen. Antonius war zu diesen Männern über verschlungene Wege gekommen.

Obwohl er selbst nichts mit ihnen zu schaffen hatte, wusste er, dass es Menschen gab, die in dieser Inkarnation auf der Schattenseite wirkten. Er musste das nicht unterstützen und konnte es doch verstehen. Ganz tief in ihm saß die Erkenntnis, dass kein Licht ohne Schatten existierte und kein Schatten ohne Licht.

Die russischen Geschäftsmänner konnten Gerhard wohl am besten vor Augen führen, was seine eigene Position war, wohin er sich weiterentwickeln konnte. Auch wenn sie das mit rauen Methoden anstellten. Sobald Gerhard auf einem der tiefen Polstersessel Platz nahm, sprachen die Männer gebrochenes Englisch. So konnte er verstehen, dass es um den Handel mit Diamanten oder Medikamenten ging. Was genau von beiden verlor an Wichtigkeit, als Gerhard die Summe hörte, um die es sich drehte.

Die Männer brauchten einen Strohmann in einem sicheren und am besten neutralen Land. Ja, Österreich kam da gerade recht. Und wie war das? Gerhard war bei einer der größten Landesbanken beschäftigt und kam mit seinen Unterschriftsberechtigungen und einer großen Portion dunkler Manipulationsfähigkeit an Daten, die dem Unterfangen sehr zuträglich sein konnten. Eine große Portion dunkle Manipulationsfähigkeit, Gerhard schluckte. Ein Gespenst seiner Vergangenheit erwachte wieder zum Leben. Allerdings ein Gespenst, das ihn ebenso reizte wie anwiderte. Er genoss die Bewunderung und Anerkennung der Männer, auch wieder zugehörig zu sein, wo er sich kein Blatt vor den Mund nehmen musste, sondern seinen kriminellen Phantasien freien Lauf lassen konnte.

Die Geldvermehrung war es, die ihn lockte, damals schon und jetzt gerade wieder. Die Freiheit als ein kaufbares Gut. Freiheit, selbst Täter zu sein, anstatt wieder jahrelang das Opfer zu mimen. Der Plan war ausgeheckt, die Strategie beschlossen, es brauchte nur noch ein letztes Nicken, einen Handschlag, der den Deal besiegelte.

Da geschah es - mitten in den Abend platzte ein Name, der Gerhard die letzten Skrupel zu nehmen schien. Dr. Hagedorn. Einer seiner größten und wichtigsten Kunden war also bereits mit den Männern im Geschäft. Und eben dieser Dr. Hagedorn stand plötzlich vor Gerhard.

„Duchek, Sie hier?“

In seiner Stimme mischten sich Abscheu und Angst, der Bankmanager würde ihn vor aller Augen denunzieren. Hier vor den Männern oder aber vor seiner anderen, der heilen Welt. Hagedorn war nicht ganz sicher, was das größere Übel war, deswegen setzte er sofort zum Angriff an:

„Duchek, wenn Sie hier mitmachen, dann können Sie nicht mehr zurück. Also Sie mit Ihrer zarten Ehefrau und den kleinen Prinzessinnen. Ich meine, mich könnte meine Frau verlassen, sie könnte es auch verkraften, wenn mir wider Erwarten etwas zustoßen würde. Doch Sie wissen doch wie labil die Ihre ist und die Mädchen sind ja noch so klein. Deswegen haben Sie doch den verfluchten Job bei der Bank angenommen, damit Sie ein braves Leben führen können. Duchek, das ist eine Nummer zu groß für Sie!“

Einer der Männer verstand zu Gerhards Überraschung, was die beiden miteinander redeten. Zügig nahm er Gerhard zur Seite und gab ihm zu verstehen:

“Diesen Mann kannst du ohne mit der Wimper zu zucken in die Tasche stecken. Die einzige Bedingung ist, mach dich unabhängig von dieser Familie, über die er hier spricht. Wir brauchen dich ganz oder gar nicht. Wir brauchen dich mit all deiner Brillanz, ohne rührselige Momente. Das ist der Preis. Glaube mir, für jeden von uns hat sich diese Entscheidung längst gelohnt.“

Bei diesen Worten deutete er in Richtung des großen, dunklen Safes in der Ecke des Zimmers. Gerhard wurde es für einen Moment schwarz vor den Augen und er wankte. Er fühlte den Wind der Freiheit, den Herzschlag des Pferdes, auf dem er durch den Urwald geritten, die Feuchte der Schenkel in denen er bereits viele kleine Tode gestorben war. Sich jetzt einfach fallenlassen in diesen Sturm des Lebens, maßlos, gierig von allem zu trinken, was er sich in den letzten Jahren versagt hatte. Berechnend kühl dafür sorgen, im materiellen Schlaraffenland zu bleiben. Nur für sich allein verantwortlich, jeder Tag und jede Nacht ein Spiel mit der Lust.

Er griff nach hinten und ließ sich in den tiefen Polstersessel fallen. Der andere nickte, nur noch ein kleines Stück und Duchek würde sich ihrem Syndikat anschließen und den Weg in die Bank öffnen. Der Sessel sackte unter Gerhards Gewicht zusammen. Das riss ihn aus seiner Trance.

Ein Sessel der gleichen Machart stand bei ihnen zuhause im Kinderzimmer. Aus einer alten Bar beim Antiquitätenhändler um wenig Geld erstanden und mit einem lustigen Stoff überzogen, nachdem Gerhard seine Frau kennengelernt hatte. Da hatte die Verruchtheit der Bar keinen Platz mehr in seinem Leben. Irgendwann wanderte er dann auf Gerhards Wunsch in das Kinderzimmer. So konnte er sich wenigstens beim Vorlesen hinein lehnen. Paradoxerweise erinnerten ihn die weichen, seinem Gewicht nachgebenden Polster jetzt an seine Töchter. Die ursprüngliche Herkunft des Möbelstücks ordnete sich seinem Herzen unter.

Seine Geistesgegenwart kehrte zurück und er sprang auf. Im Augenwinkel merkte er, wie Dr. Hagedorn ihn argwöhnisch betrachtete. Gerhard ging dicht an ihm vorbei und blickte ihm tief in die Augen.

„Sie haben recht, ja, das ist tatsächlich nichts für mich. Bitte sehen Sie in Zukunft von Kontakten mit mir ab.“

Danach wandte er sich den umstehenden Männern zu. Fast unterwürfig verbeugte er sich und dankte ihnen.

„Danke, danke, dass Sie mich in Erwägung gezogen haben. Das bedeutet mir sehr viel. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.“

Einer der Männer trat entschlossen auf Gerhard zu und umarmte ihn. Er würde ohnehin einer ihrer Zunft bleiben, ungeachtet dessen, ob jetzt und hier oder in einer anderen Form. Es gab diese Einigkeit der Seelen. Wohl versprochen aus einem anderen Leben. Und jenseits der verbrecherischen Absicht eine andere Dimension von Liebe. Sie lösten die Umarmung wieder und Gerhard verließ den Raum und das Hotel.

Draußen begrüßten ihn das Meeresrauschen und der Abendwind. Sein Verstand klärte sich. Er wusste, was zu tun war und er würde sich nicht mehr in zu kleine Schuhe stellen. Den Job bei der Bank würde er kündigen und wieder ins Projektgeschäft einsteigen, seinen Riecher für finanzielle Entwicklungen wieder dafür aktivieren, echte Beträge zu jonglieren. Vielleicht für eine Organisation, die einem guten Zweck diente oder einem Unternehmen das echte Dinge produzierte und genau so einen wie ihn suchte. Nicht unbedingt um viel mehr Geld als er heute verdiente, doch jedenfalls um die Freiheit bereichert, sich bewegen zu dürfen. Auch räumlich, endlich wieder internationale Kontakte – die Zukunft präsentierte sich ihm deutlich und klar.

Das Glitzern auf den Wellen lenkte ihn einen Augenblick ab. Ließ ihn sich zurück lehnen und atmen. Dieser Augenblick war hilfreich, um die notwendige Kraft zu tanken, wieder in das Familienzimmer zurückzukehren. Mit seinem großen Vorhaben, das umgesetzt werden wollte.

Achtsam kehrte er in das Familienzimmer zurück. Zuerst wollte er nach den lieben Kleinen schauen, doch kaum angekommen, erblickte er alle drei friedlich schlummernd im Ehebett. Das war ein seltenes Bild, seine Frau mit den Süßen in einem Bett und er nicht dabei. Gut so. Diese Nacht würde er im Kinderzimmer verbringen und tief und fest den gesamten Raum eines Bettes für sich allein nützen, um den nächsten Tag und seine festen Vorsätze umzusetzen. Nach einer langen, heißen Dusche schlüpfte er in eines der beiden Betten des Zimmers mit Verbindungstür und fühlte sich nach langer Zeit wieder einmal frei und geborgen zugleich. Alleine zu schlafen tat ihm unwahrscheinlich gut.

Am nächsten Morgen stand er zeitig auf, sogar noch früher als Valentina. Er zog sich seine Laufsachen an und schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Als er unten bei Antonius vorbei kam, zwinkerte er ihm zu.

„Danke! Danke für diesen Tipp von gestern Abend!“

Antonius nickte dem Mann freundlich zu und sandte den Dank weiter hinaus auf das weite Meer.

Zwei Tage später, Sonntagmittag, verabschiedete sich die Familie aus dem Hotel. Beide Mädchen umringten den Vater und heckten mit ihm Pläne für die neue Arbeit aus, die er ihnen schmackhaft gemacht hatte. Auch mit den Souvenirs, die er wohl mitbringen würde und mit den Ideen für eine Reise ins Disneyland Paris, denn dort würde er bestimmt auch geschäftlich hinreisen. Einen Schritt hinter ihm ging seine Frau. Ihr Blick war ein wenig gesenkt und ihr Make-Up lange nicht so perfekt wie bei der Ankunft. Auch ihre Kleidung wirkte eher unauffällig an diesem Morgen. Auf den ersten Blick hatte ihre Schönheit an diesem Wochenende gelitten, doch Antonius schaute genauer hin. Zwar konnte er erkennen, dass sie ein wenig mitgenommen war.

Es schien, sie konnte mit den dreien noch nicht Schritt halten, was die Veränderung ihres Ehemannes betraf. Doch vielleicht gerade deswegen strahlte sie jetzt eine Natürlichkeit aus, die um vieles herzlicher wirkte als es ihre arrogante Erscheinung bei ihrer Ankunft vermuten hätte lassen. Sie lächelte Antonius sogar zaghaft an, anstatt hochherrschaftlich über ihn hinweg zu sehen. Antonius lächelte zurück und wünschte ihr eine gute Reise. Nach Hause und in dieses andere Leben.

Selbstlos

An einem herrlichen Frühsommerabend checkten sie ein. Der Manager, der so viel Mutterliebe vermissen hatte müssen und der immer wieder in Seitensprungfallen tappte, ohne zu bemerken, dass er mit der falschen Frau verheiratet war. Unvorteilhaft gekleidet in der Freizeit, im Job stets im Business Outfit und mit hoher sozialer Kompetenz, verkam er im alltäglichen Kontakt mit Frauen zu einer armseligen Figur. Entweder er fand eine Frau interessant und intelligent, dann redete und redete er, um die Welt zu retten oder aber er missachtete ihren Status und wich ihnen angewidert aus.

Seine eigene Frau war mit ihm verwoben wie ein siamesischer Zwilling. Wann immer sie gemeinsam auftraten, wirkte sie wie ein Buckel, der ihm gewachsen war. Stets mit Mitgefühl und geneigtem Kopf ausgestattet, als ob es etwas zu betrauern gäbe. In dunklen Gewändern und mit gefärbtem Haar. So wie auch jetzt auf der marmornen Treppe des Hotels. Sie ging dicht neben ihm und blickte zu Boden.

Und dann der Kleine noch dabei, Tobi nannten sie ihn. Der Bub, der nicht zu wissen schien, wo er denn hin gehörte. So unsicher und zaghaft bewegte er sich. Schon beim Hereinkommen war Antonius dieser seltsame Gang aufgefallen. Hatte in ihm den Impuls geweckt, helfen zu wollen. Gerade noch rechtzeitig kam der Gedanke, lass ihn, er wird es von ganz alleine schaffen, und kurz darauf wieder das Glitzern weit draußen am Horizont. Diesmal grün schimmernd.

Es wartete ein Auftrag der anderen Art auf Antonius. Nicht jener, dem Kleinen beim Gehen zu helfen, sondern dem Großen. Antonius spürte einen Stich im Herzen, als der ausschlaggebende Satz seinen Verstand erreichte.

Die Liebe seiner Mutter wird ihn erst wieder durchdringen können, wenn er selbstlos sich seinem Sohn hingibt und sich nicht weiter an die falschen Frauen verschwendet.

Liebend gerne hätte Antonius diesen Satz wie eine Haarsträhne aus der Stirn gewischt. Es gelang nicht. Schon am nächsten Morgen begegnete er ihm in seiner ganzen Tragweite abermals. Tobi stand nämlich zeitig in der Früh plötzlich vor der Rezeptionstheke und schluchzte.

„Kann ich dir helfen?“ fragte Antonius ihn liebevoll.

„Nicht du, nur die Frau da drüben“ schniefte er, ohne den Portier noch eines Blickes zu würdigen. Antonius nickte seiner Kollegin zu. Sie verstand sofort und fragte abermals:

“Kann ich dir helfen?“

Doch erst als Antonius sich wieder entfernt hatte, schoss der Kleine los:

“Ich will endlich zum Strand! Wir sind seit gestern da und ich will endlich das Meer sehen! Nie fragt mich jemand, was ich will. Immer geht es nur um die Erwachsenen!“

Seine Stimme klang laut und schrill, so dass alle Umstehenden deutlich hören konnten, worum es ihm ging. Die Frau, die seit Jahren an der Rezeption arbeitete, hatte einen dermaßen bestimmten Auftritt eines 9jährigen nicht in Erinnerung. Dennoch reagierte sie souverän.

„Das verstehe ich gut, schließlich liegt das Meer doch direkt vor unserer Nase.“

Dabei lächelte sie. Tobi verzog seinen Mund zu einem zaghaften Lächeln, noch traute er dem Frieden nicht.

„Wie heißt du noch schnell, Tobi, oder?“

Jetzt zog sich Tobi wieder in sein Wehklagen zurück.

„Tobias heiße ich, TOBIAS, ich kann das blöde Tobi nicht mehr hören! Und – kann ich jetzt zum Meer?“

Antonius und seine Kollegin schauten sich nachdenklich an. Alleine konnten sie den Buben unmöglich zum Strand gehen lassen, selbst wenn dieser in Blickweite lag. Wer weiß, konnte Tobias überhaupt schwimmen und überdies würden die Eltern sich begründet über die Eigenmächtigkeit des Hotelpersonals beschweren, auch wenn Tobias friedlich im Sand auf sie warten würde.

„Was ist denn hier los? Haben wir einen neuen Mitarbeiter bekommen?“

Der ehemalige Chefportier, der beinahe jeden Tag, seitdem er in Pension war, auf seinen Morgenespresso in der Hotelbar vorbei kam, bog um die Ecke. Das war die Lösung! Schnell erklärte