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Dieses Buch enthält folgende Arztromane: (999XE) W.A.Hary/Conny Walden: Die erste große Liebe des Sylter Chefarztes Thomas West: Hoffnung ist stärker als der Tod Thomas West: Jans Vater Thomas West: Ärztin mit Herz für Gangster Thomas West: Die falsche Ärztin Thomas West: Drei Schicksale und eine Ärztin Thomas West: Ein Schutzengel für Dr. Heinze Thomas West: Mobbing und Mord im Krankenhaus Anna Martach: Gefährliche wetten und heiße Liebeleien Anna Martach: Madln und Berge - geliebt und gefährlich Anna Martach: Ich will mein Herz nur dir schenken Oft sind es unerhebliche Nebensächlichkeiten, von denen Leben und Tod abhängen, denkt Dr. Alexandra Heinze. Doch in ihrem Fall ist es wohl eher ein Schutzengel, der ihr zu Hilfe eilt. Pit Baumleitner sucht nach seinem Vater und übernachtet in einem Park, weil sein Motorrad streikt. Obwohl ihm dort Schlimmes widerfährt, wartet zum Ende das Glück auf ihn …
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Seitenzahl: 1481
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11 Tolle Arztromane Juni 2023
Copyright
Die erste große Liebe des Sylter Chefarztes
Hoffnung ist stärker als der Tod
Jans Vater Ärztin Alexandra Heinze
Ärztin mit Herz für Gangster
Die falsche Ärztin
Drei Schicksale und eine Ärztin mit Herz
Ein Schutzengel für Dr. Heinze
Mobbing und Mord im Krankenhaus
Gefährliche Wetten und heiße Liebeleien
Madln und Berge – geliebt und gefährlich
Ich will mein Herz nur dir schenken
Dieses Buch enthält folgende Arztromane:
W.A.Hary/Conny Walden: Die erste große Liebe des Sylter Chefarztes
Thomas West: Hoffnung ist stärker als der Tod
Thomas West: Jans Vater
Thomas West: Ärztin mit Herz für Gangster
Thomas West: Die falsche Ärztin
Thomas West: Drei Schicksale und eine Ärztin
Thomas West: Ein Schutzengel für Dr. Heinze
Thomas West: Mobbing und Mord im Krankenhaus
Anna Martach: Gefährliche wetten und heiße Liebeleien
Anna Martach: Madln und Berge - geliebt und gefährlich
Anna Martach: Ich will mein Herz nur dir schenken
Oft sind es unerhebliche Nebensächlichkeiten, von denen Leben und Tod abhängen, denkt Dr. Alexandra Heinze. Doch in ihrem Fall ist es wohl eher ein Schutzengel, der ihr zu Hilfe eilt. Pit Baumleitner sucht nach seinem Vater und übernachtet in einem Park, weil sein Motorrad streikt. Obwohl ihm dort Schlimmes widerfährt, wartet zum Ende das Glück auf ihn …
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
COVER EDHAR YURALAITS, 123rf
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Die Inselärzte auf Sylt
von W. A. Hary & Conny Walden
Auf dem Weg durch Westerland, wo er ein Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn Sören besorgen will, sieht Chefarzt Professor Dr. Thorben Wiebold im Schaufenster eines Fotografen das Porträt einer Frau, die ihm bekannt und vertraut vorkommt. Dr. Wiebold ist sich sicher, dass es sich um seine Jugendliebe Claudia Meyer handelt.
Claudia Meyer-Rottluff, wie sie seit ihrer Hochzeit heißt, befindet sich tatsächlich im Moment auf Sylt. Sie besucht eine alte Freundin und hat ihren Enkel Paul dabei. Gibt es ein Wiedersehen mit seiner alten Liebe?
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Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
Conny Walden ist ein Pseudonym von Alfred Bekker und Silke Bekker
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Dieses Bild… Professor Dr. Thorben Wiebold blieb wie angewurzelt stehen. Er mochte seinen eigenen Augen nicht trauen.
Eigentlich war er hier auf dem Weg durch Westerland, weil er ein Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn Sören besorgen wollte. Dieser Weg hatte ihn rein zufällig an diesem Schaufenster eines Fotografen vorbei geführt. Der es immerhin als wichtig genug angesehen hatte, ausgerechnet dieses eine Foto zu vergrößern und im Schaufenster auszustellen.
Eine reife Dame, der man durchaus ansah, dass sie ein ereignisreiches Leben bereits hinter sich hatte, die jedoch förmlich von beinahe jugendlicher Frische sprühte.
Der Professor kannte die Bildtechnik, wenn eigentlich noch junge Menschen sozusagen auf alt getrimmt wurden, durch fototechnische Verfahren. Um zu sehen, wie sie dann im fortgeschrittenen Alter wohl einmal aussehen mochten. Und genau an ein solches Foto erinnerte dieses da.
Aber das war es natürlich nicht, was ihm regelrecht den Atem raubte und ihn beinahe unfähig machte, sich so rasch wieder zu fangen. Denn dieses Foto da… Das sah ja gerade so aus wie „seine“ Claudia, fototechnisch auf viel älter getrimmt. Ja, so konnte man sie sich durchaus vorstellen: Die noch junge Claudia, wenn sie dereinst einmal älter sein würde.
Blutjunge Claudia? Dereinst einmal älter?
Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. So heftig, als würde das etwas nutzen, um wieder Ruhe in das Chaos zu bringen, das in seinem Innern entstanden war.
Ja, wann hatte er denn Claudia Meyer denn das letzte Mal gesehen? „Seine“ Claudia Meyer?
Eine Jahreszahl drängte sich ihm regelrecht auf. So sehr, dass er sie nicht mehr länger zurückweisen konnte:
Neunzehnhundertdreiundachtzig!
Also von wegen junge Claudia auf älter getrimmt… Natürlich konnte die Claudia, wie er sie gekannt hatte, heute nicht mehr so aussehen wie damals. Natürlich war sie wesentlich älter geworden innerhalb der Jahrzehnte, die inzwischen vergangen waren.
Er schüttelte abermals den Kopf und betrachtete das Foto, das vor seinen Augen wie lebendig erschien. Als würde diese ältere Claudia nur für ihn allein lächeln.
Oder amüsierte sie sich gar über ihn, weil er natürlich ebenfalls schon lange genug nicht mehr so aussah wie früher? Noch nicht einmal annähernd, wenn er wirklich ehrlich gegenüber sich selbst sein wollte.
„Claudia!“, murmelte er unwillkürlich vor sich hin, ohne dass es ihm überhaupt bewusst wurde. Und dann hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen. War er nicht Professor Dr. Thorben Wiebold? War er nicht auch dafür bekannt, zuweilen auch einmal durchaus resolut vorzugehen, falls es erforderlich erschien? Und wenn ihm irgendetwas auch nur im Entferntesten unklar erschien: Dann war er doch in erster Linie derjenige, der sich um Aufklärung bemühte.
Er sah sich kurz um, erkannte, dass der Laden geöffnet hatte und trat ganz einfach ein.
Die Türschelle nervte seine Ohren, doch er ignorierte sie. Hinter der Theke erhob sich gerade ein mittelalter Mann mit einem verwegen aussehenden Schnauzer, der ihm beinahe in den Mund wuchs. Seine offen und ehrlich wirkenden Augen richtete er auf den neuen Kunden. Der allerdings überhaupt kein Kunde war, denn der Professor hatte da ja nur eine dringliche Frage:
„Wer ist diese ältere Dame dort draußen auf dem Foto? Ich meine das vergrößerte Foto, das Sie im Schaufenster ausgestellt haben.“
Der Mann runzelte irritiert die Stirn.
„Das Foto?“ Er schien erst darüber nachdenken zu müssen. „Nun, selbstverständlich darf ich keinerlei Daten über die Dame herausgeben. Wieso wollen Sie das überhaupt wissen?“
Jetzt sogar misstrauisch geworden, schob er wie angriffslustig sein glattrasiertes Kinn vor.
Professor Wiebold winkte mit beiden Händen ab.
„Hören Sie, ich habe keineswegs irgendwelche unlauteren Absichten, die Dame betreffend. Es ist nur so, dass sie mir irgendwie sehr bekannt, um nicht zu sagen vertraut vorkommt.“
„Das mag ja sein, aber wie gesagt: Ich bin Fotograf und keine Auskunftei. Ich habe die werte Dame vor Tagen fotografiert und habe von ihr die ausdrückliche Erlaubnis, ihr Foto im Schaufenster ausstellen zu dürfen. Es hat uns sozusagen beiden ganz besonders gut gefallen. Und überhaupt, ich bemühe mich stets, meine Kunden so zu treffen, wie sie lebendig mitten im Leben stehen und…“
Ehe der Fotograf gänzlich sich in Eigenwerbung verlor, erlaubte sich Professor Wiebold, ihn zu unterbrechen:
„Ich kenne die Dame von früher!“
Der Fotograf hielt inne, aber seine ganze Haltung war nun Abwehr.
„Das tut mir ehrlich leid, aber ich habe es Ihnen ja schon erklärt, dass die Kontaktdaten meiner Kunden vertraulich sind. Und falls Sie selber mein Kunde werden wollen, dürfen Sie versichert sein, dass ich grundsätzlich niemals eine Ausnahme mache. Es ist bei mir gewissermaßen oberstes Gebot. Denn wenn ich das Vertrauen meiner Kunden verliere, muss ich mir einen neuen Beruf suchen. Und das wäre doch jammerschade, nicht wahr? Ihnen gefällt doch dieses Foto ganz besonders, sonst wären Sie doch gar nicht erst eingetreten, nicht wahr? Sehen Sie, genau das ist ja der Grund, wieso ich es überhaupt…“
„Hören Sie!“, meinte Professor Wiebold nun beschwörend. „Ich will wirklich dieser Dame nichts Böses. Das können Sie mir ruhig glauben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie von früher sehr gut kenne. Leider haben wir uns aus den Augen verloren über die Jahre, wie es so schön heißt. Und jetzt erst habe ich sie sozusagen wiederentdeckt. Was ist daran denn verwerflich, wenn ich mich nur davon überzeugen möchte, ob sie es wirklich ist?“
„Gar nichts ist daran verwerflich“, gab der Fotograf widerstrebend zu. Doch er blieb beharrlich: „Das wäre es erst, wenn ich meine fotografischen Grundsätze verletzen würde.“
„Fotografisches Schweigerecht gewissermaßen? Vergleichbar mit ärztlicher Schweigepflicht?“ Der Professor meinte das nicht völlig ernst, doch der Fotograf nahm das Angebot an Argumentation dankbar an:
„Ja, so ist das halt: Fotografen haben ebenfalls eine Schweigepflicht.“
„Nun, ich bin Arzt“, bekannte Professor Wiebold, als letzter Versuch, den Fotografen doch noch umzustimmen. „Ich kenne mich aus mit Schweigepflicht. Durchaus. Aber in diesem speziellen Fall…“
Er schöpfte tief Atem:
„Die Dame, die ich meine, hieß Claudia Meyer. Ein Name, den ich niemals wieder vergessen werde, solange ich lebe. Und natürlich respektiere ich Ihre Schweigepflicht und sehe vollkommen ein, dass Sie gegenüber Ihren Kunden selbstverständlich loyal bleiben müssen. Sie brauchen mir doch nur zu bestätigen, dass es sich bei dieser Dame eben um Claudia Meyer handelt.“
Erwartungsvoll musterte er den Fotografen hinter der Theke. Dessen Gesicht war jetzt endgültig verschlossen geworden.
„Nein!“, antwortete er knapp. „Und bitte: Ich möchte mich jetzt wirklich nicht noch einmal wiederholen. Falls Sie also nun selber ein Foto von mir wünschen, sei es als Porträt oder…“
„Nein, bitte, ich wollte einfach nur wissen, ob die Dame auf dem Foto dort draußen identisch ist mit jener Claudia Meyer, wie ich sie von früher gekannt habe. Sonst nichts.“
„Dann möchte ich Sie jetzt bitten, meinen Laden wieder zu verlassen. Ich habe noch recht viel zu tun. Für mehrere wichtige Kundentermine heute muss ich noch umfangreiche Vorbereitungen treffen. Außerdem…“
„Und wenn ich Ihnen jetzt meine Visitenkarte hinterlasse, mit meiner Mobilfonnummer?“, wurde der Fotograf schon wieder unterbrochen. „Sie müssen ja nur der werten Dame meinen Namen mitteilen, und nur wenn sie es möchte, soll sie sich dann bei mir melden. Ich würde mich jedenfalls riesig darüber freuen. Und selbst wenn sie nicht jene Claudia Meyer sein sollte…“
„Also gut!“, wurde er jetzt seinerseits unterbrochen. Der Fotograf entspannte sich sichtlich. Er seufzte verhalten. „Geben Sie schon her. Ich werde gern tun, was ich kann. Es verletzt ja nicht meine Schweigepflicht, und letztlich ist es ja die persönliche Entscheidung jener Dame, wie sie darauf reagieren will. Und vielleicht tu ich Ihnen beiden ja damit ja doch noch einen Gefallen? Wer bin ich, dass ich mich dagegen verwehren wollte?“
Er nahm die Visitenkarte entgegen und öffnete eine der Schubladen, die hinter der Theke angebracht waren.
„Aber bitte nicht vergessen!“, bat der Professor erschrocken, der natürlich befürchtete, dass seine Visitenkarte nur in dieser Schublade verschwinden würde, ohne dass der Fotograf wirklich sein Versprechen einhalten wollte.
„Keine Bange!“, meinte dieser jedoch beruhigend. „Ich werde es nicht vergessen. Aber ich habe jetzt wirklich nicht sofort die Zeit, um dahingehend tätig zu werden. Das habe ich Ihnen ja schon zu erklären versucht: Ich habe wirklich erheblich viel zu tun und habe nun durch Sie schon viel zu viel Zeit verloren.“
Wenigstens ließ er die Schublade offen stehen, wie sich Professor Wiebold vergewisserte, ehe er den Laden tatsächlich wieder verließ.
Der Fotograf hatte es wirklich vor. Ja, er hatte versprochen, die Dame auf dem Foto zu kontaktieren. Ihre Telefonnummer hatte er ja. Er musste sie nur noch heraussuchen, was kein allzu großes Problem darstellte. Obwohl er eigentlich gar keine Zeit für so etwas hatte. Ja, hätte dieser Professor Wiebold, wie auf seiner Visitenkarte stand, wenigstens etwas gekauft… Als hätte man nicht schon genügend am Hals…
Er griff tatsächlich nach dem Telefonhörer seines Festnetztelefons, die Nummer der Kundin bereits in der Hand, doch in diesem Augenblick klingelte das Telefon schon von allein. Der Fotograf erschrak darüber und legte rasch die Nummer seiner Kundin beiseite. Das hieß, sie landete ausgerechnet bei der Visitenkarte des Professors in der Schublade. Dann erst hob der Fotograf den Hörer seines Festnetztelefons ab und meldete sich.
„Tut mir ehrlich leid, Chef, aber ich kann heute nicht mehr kommen!“ Eine weibliche Stimme, von unterdrücktem Husten unterbrochen. „Ich war beim Arzt. Das ist eine richtig fette Erkältung dieses Mal.“
Dann blieb es wahrscheinlich nicht nur bei heute, dachte der Fotograf erschrocken. Ausgerechnet jetzt, wo bei ihm sozusagen Hochkonjunktur herrschte, musste auch noch seine junge Assistentin krank werden. Sie hätte ihm so vieles abnehmen können. Was sollte er jetzt bloß tun?
Ganz entgegen dessen, was er wirklich empfand, heuchelte er jetzt Mitleid und tat gerade so, als sei alles nur halb so schlimm:
„Ach was, mach dir keinen Kopf, Mädchen. Das kriegen wir schon hin. Kuriere du dich erst mal gründlich aus. Wir wollen ja nicht unsere Kunden mit deiner Erkältung anstecken, nicht wahr?“
„Und Sie auch nicht, Chef!“, betonte sie listig.
„Ja, klar, auch mich nicht.“ Er räusperte sich vernehmlich. „Nun, dann, wie gesagt, kuriere dich gründlich aus und melde dich erst wieder, wenn es dir wirklich wieder besser geht. Hörst du? Ich brauche eine Assistentin, die voll fit und einsatzfähig ist.“
„Und keine, die alle ansteckt!“
„Äh, ja, das natürlich auch. Bis dann also…“
„Bis dann, Chef. Ich würde wirklich lieber arbeiten als hier herum zu husten. Ganz zu schweigen von diesem lästigen Schnupfen. Und dann ist mir bitterkalt. Das wird wohl ein böses Fieber, wie ich vermute.“
„Am besten gehe gleich ins Bett. Damit ist nicht zu spaßen. Sonst kriegst du noch eine Lungenentzündung, und dann fällst du noch länger aus.“
Nein, das hätte er jetzt lieber nicht sagen sollen. Das klang ja gerade so, als wäre es das Einzige, was ihn dabei interessierte.
„Äh, ich meine natürlich damit nur…“
„Schon klar, Chef“, unterbrach seine Assistentin, hustete erst einmal kräftig und legte dann endlich auf.
Sekundenlang betrachtete der Fotograf den Telefonhörer in seiner Hand wie einen schlimmen Feind. Dann legte er kopfschüttelnd auf und wandte sich ab.
Wieso stand da eigentlich die Schubladeoffen? Die hatte er anscheinend vergessen, zuzuschieben. Was er jetzt schleunigst nachholte.
Was war da noch? Ach ja, die Vorbereitungen für den Shoot am Nachmittag.
Ein Blick nach draußen. Das Wetter war ideal. Die Sonne schien hell. Es war angenehm warm. Kaum ein Lüftchen für Sylter Verhältnisse. Oh, das würde ein wahres Fest werden. Trotz des Stresses freute er sich schon darauf.
Er machte sich sogleich wieder an die Arbeit, die erst durch Professor Wiebold und dann auch noch von seiner kranken Assistentin unterbrochen worden war. Dass er für den Professor einen Anruf hatte tätigen wollen, daran dachte er in diesem Moment nicht mehr.
Auch nicht nach einer halben Stunde, und erst recht nicht nach einer ganzen Stunde. Nach weiteren dreißig Minuten hatte er es sogar endgültig vergessen. So lag dann die Visitenkarte, die der Professor hinterlassen hatte, unberührt in der längst zugeschobenen Schublade, in traulicher Zweisamkeit mit der Telefonnummer seiner Kundin, die er ja hatte anrufen wollen. Und dort würden sie auch noch länger liegen bleiben, wie es aussah, denn der Fotograf würde sich erst wieder ihrer erinnern, wenn er zufällig einmal die Schublade aus einem ganz anderen Grund öffnen musste. Und diesen Grund gab es heute nicht mehr. Aber auch nicht morgen, und erst recht nicht übermorgen.
Davon ahnte Professor Wiebold natürlich nichts. Er hoffte doch sehr, nach seinem Verlassen des Ladens, dass der Fotograf sein Versprechen einhielt. Denn er war nach einem letzten Blick auf das schöne Foto in den Auslagen noch sicherer, dass die Dame darauf tatsächlich niemand anderes war als Claudia Meyer.
Ob sie heute immer noch so hieß, nach all den Jahren?
Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er weiterging. An die Absicht, ein Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn Sören zu kaufen, dachte er in diesem Moment genauso wenig wie der Fotograf daran, nun endlich die Dame auf dem Foto anzurufen.
Ein wenig ärgerlich war der Professor im Nachhinein durchaus, was den Fotografen betraf. Der hätte doch zumindest sagen können, ob der Name zutraf. Aber nein, er hatte beim Nennen des Namens Claudia Meyer überhaupt nicht reagiert. Gerade so, als würde er den Namen zum ersten Mal in seinem Leben hören. Dabei war der Nachname Meyer in Deutschland ja nun wirklich nicht so selten, dass man kaum jemals darüber stolperte. Und Claudia war auch nicht gerade ein Name mit absolutem Seltenheitswert. Also entweder stimmte der Name tatsächlich nicht überein, was Professor Thorben Wiebold unterdessen als beinahe unmöglich ansah, oder aber der Fotograf war ein hervorragender Schauspieler. Wenn er als Fotograf ebenso gut war… Nun, immerhin stand das Foto im Schaufenster und wirkte dort wie ein wahres Kunstwerk. Was vielleicht ja auch an der Dame lag, die sich dafür hatte ablichten lassen.
Professor Wiebold schmunzelte unwillkürlich. Seine Augen bekamen einen leicht verträumten Ausdruck. Hätte ihn jemand aus der Harm-Breding-Klinik so gesehen, wäre er wohl sehr in Erstaunen gefallen. So jedenfalls kannte niemand den Professor.
Jetzt blieb er sogar stehen und tat so, als würde er die Auslagen des Geschäftes bewundern, an dem er gerade zufällig vorbeigekommen war. Es handelte sich allerdings um moderne Brautmode, was er jedoch gar nicht bewusst wahrnahm. Er sah zwar hin, doch in Wahrheit war sein Blick in ferne Vergangenheit gerichtet.
Genauer: In das Jahr 1983. Ein ziemlich ereignisreiches Jahr zumal. Ein Jahr, das gewissermaßen sein Schicksal maßgeblich bestimmt hatte.
Obgleich das im Grunde genommen eigentlich nicht ganz so überraschend verlaufen war, sein Schicksal. Seine Eltern hatten das vielmehr präzise geplant, und er hatte gehorcht. Nicht weil er an sich so ein besonders gehorsamer Sohn war, sondern weil er die Notwendigkeit eingesehen hatte. Schließlich war es tatsächlich sein Herzenswunsch gewesen, Arzt zu werden. Weil er den Menschen helfen wollte. Und um Arzt werden zu können, dem hatte der Schöpfer viel Lernfleiß und Ehrgeiz vorausgesetzt.
Damals waren seine Eltern beide bereits Ärzte gewesen in der Harm-Breding-Klinik auf Sylt. Der Name der Klinik war auf den Gründer und Stifter der Klinik, einem Pionier in der Allergologie und der Bekämpfung von Atemwegserkrankungen zurückzuführen. Ihren Sohn Thorben hatten sie auf ein angesehenes Internat geschickt, wo er die meiste Zeit bis zum Abitur verbracht hatte. Erst als er dann das Abitur erfolgreich in der Tasche gehabt hatte, erlaubten sie ihm, vor dem Beginn des Medizinstudiums den Sommer daheim auf Sylt zu verbringen.
Ja, ein wichtiges Jahr für ihn, dieses Jahr 1983. Und auch das Jahr, in dem er Claudia Meyer kennen und lieben gelernt hatte.
Claudia Meyer… Er sah sie direkt vor sich, so deutlich, als würde sie da zwischen den Schaufensterpuppen stehen, inmitten der Brautkleider, und ihn so anlächelte wie damals bei ihrer ersten Begegnung.
Nur hatte sie damals am westerlander Strand gestanden und nicht im Schaufenster eines Geschäftes für Brautmoden.
Professor Wiebold blinzelte irritiert, weil ihm genau das jetzt auf einmal bewusst wurde. Ein wenig verstohlen sah er sich um, aber er hatte anscheinend kein Aufsehen erregt. Andererseits, warum sollte ein älterer Herr nicht Brautmoden bewundern? Und sei es vielleicht auch, weil sich vielleicht seine Enkeltochter verheiratete.
Nun, erst einmal sollte sich sein Sohn Sören verheiraten, bevor man an so etwas wie Enkelkinder denken konnte. Zeit dafür wäre es eigentlich schon längst. Obwohl er seinen Sohn niemals zu so etwas drängen würde. Dass es ihm lieber gewesen wäre, behielt er lieber bei sich. Immerhin war Sören ein erwachsener Mann Anfang 30, der durchaus selber über sein Leben und vor allem über mögliche Beziehungen entscheiden konnte. Und an Nachfrage aus der Damenwelt mangelte es wahrlich nicht, wie sein Vater, der Professor, immer wieder schmunzelnd feststellen musste. Wobei er durchaus stolz war auf seinen Sohn. Nicht nur, weil dieser selber als Oberarzt in seiner Klinik arbeitete, aber als Single war Dr. Dr. Sören Wiebold ein Blickfang, wie man so schön sagte. Er war sportlich, schlank, durchtrainiert. Ein blonder Mann, der gern in seiner Freizeit surfte.
Professor Wiebold selber war nicht so ein großer Sportler. Das war er auch noch nie gewesen. Er ging lieber mit seinem Cockerspaniel Bodo am Strand spazieren.
Jetzt verließ er das Schaufenster des Ladens für Brautmode und sah sich endlich nach einem passenden Geschäft um, damit er am Ende nicht mit leeren Händen nach Hause kam, ohne Geburtstagsgeschenk für Sören. Weil er sich von seinen Erinnerungen zu sehr hatte ablenken lassen.
Die Gedanken an jene Claudia Meyer von damals ließen sich damit jedoch keineswegs unterdrücken. Und auch nicht die Gedanken an dieses für ihn so bedeutsame Foto im Schaufenster des Fotografen.
Ja, das war Claudia! Nur halt Jahrzehnte älter. Aber immer noch so liebenswert. Davon jedenfalls war er sowieso schon immer überzeugt gewesen: Dass Claudia besonders liebenswert war.
Er erwischte sich jetzt sogar dabei, dass seine Hand sich unwillkürlich an seine Brust legte. Dorthin, wo sich sein pochendes Herz befand. Es pochte viel zu heftig, und das lag nicht etwa daran, dass ihn das Flanieren in Westerland anstrengte.
„Oma ist jetzt ganz berühmt auf Sylt! Meine Oma!“, rief der kleine Paul begeistert und fügte auch noch hinzu: „Yippie!“
Das ging nun schon seit Tagen. Genauer: Seit Claudia Meyer-Rottluff an jenem Fotogeschäft vorbeigekommen war. Da war ihr eingefallen, dass sie noch dringend Passbilder für direkt nach dem Urlaub hier auf Sylt brauchte. Wäre das denn keine gute Gelegenheit dafür? Jetzt hatte sie Zeit. Nach dem Urlaub begann wieder der Alltagsstress.
Also war sie eingetreten, mit ihrem Enkel Paul an der Hand, der erst gar nicht begeistert davon war. Er wäre lieber am Strand herumgetollt.
Überhaupt war der kleine Paul ein überaus lebhaftes Kind. Claudia kam dennoch gut mit ihm zurecht. Sonst hätte ihr die Tochter nicht ihr einziges Kind mitgegeben. Was dem Kleinen natürlich total gut gefallen hatte.
Sein Unbehagen, betreffend den Fotografen, hatte jedenfalls nicht lange angehalten. Von ihm wollte ja niemand etwas. Das hatte er erst noch begreifen müssen. Und dann hatte er sehr interessiert verfolgt, was da alles geschah. So etwas hatte er nämlich noch nie gesehen.
Nach den Passbildern jedoch hatte der Fotograf Claudia überraschenderweise den Vorschlag gemacht, noch ein Porträtfoto von ihr aufnehmen zu dürfen. Um es für Werbezwecke im Schaufenster auszustellen. Es würde sie gar nichts kosten. Aber sie sei halt so ein begabtes Modell…
Natürlich hatte Claudia das geschmeichelt, und wieso sollte sie eigentlich etwas dagegen haben? Eine neue Erfahrung immerhin, die sie so bislang noch nicht hatte machen können. Hatte sie denn tatsächlich bis ins fortgeschrittene Alter kommen müssen, um das noch zu erleben?
Klar, sie hatte ausreichend Erfahrung mit sogenannten Pressefotos, aber da war es immer nur um ihre gesellschaftliche Stellung gegangen, niemals wirklich um sie selbst. Das hier hingegen, ein Foto von ihr in einem Schaufenster irgendwo auf Sylt… Ganz ohne Nennung ihres Namens sogar… Noch persönlicher ging eigentlich gar nicht.
Das Foto war schnell im Kasten, wie die Fotografen das so schön nannten. Das hieß, eigentlich machte der Fotograf gleich mehrere zur Auswahl. Gemeinsam suchten sie dann das passende Bild heraus.
Und selbstverständlich hatte Paul dabei das allerletzte Wort. Erst als auch er sich begeistert zeigte, druckte der Fotograf das Foto aus, schnitt es zurecht und spannte es in einen schönen Rahmen.
Paul hatte alles sehr genau verfolgt. Als der Fotograf dann das Bild in das Schaufenster gestellt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Das konnte er nun ganz und gar nicht verstehen.
Claudia musste ihm erklären, dass jetzt ihr Foto im Schaufenster sein würde, damit jeder, der daran vorbei kam, es bewundern konnte.
„So kriege ich auch noch als ganz private Oma eine ganz klitzekleine Berühmtheit. Wenn auch nur hier auf Sylt.“
Das wiederum hatte der kleine Paul sogar sehr gut verstanden. Und seitdem wurde er nicht mehr müde, immer wieder auszurufen:
„Oma ist jetzt ganz berühmt – sogar auf Sylt! Meine Oma! Yippie!“
Eigentlich hatte Claudia mit ihm gerade zum Strand von Westerland gehen wollen. Sie fragte sich inzwischen nicht zum ersten Mal, wieso sie Sylt dermaßen lange regelrecht gemieden hatte. Es war so etwas von schön hier. Ja, sie hätte sich sogar gut vorstellen können, für immer hier zu bleiben. Wenn nicht all diese Verpflichtungen gewesen wären, die sie daheim erwarteten…
Wann war sie denn überhaupt das letzte Mal hier gewesen? Ach ja, das war im Sommer 1983. Der schönste Sommer ihres Lebens. Im Grunde genommen. Wäre da nicht auch…
Sie verdrängte erneut sämtliche Gedanken daran. Nein, sie wollte sich nicht erinnern. Weil es irgendwie immer noch schmerzte. Es hieß zwar, wenn es am schönsten war, sollte man aufhören, doch dass sie damals aufgehört hatte, als es am schönsten gewesen war…
Sie brauchte alle Kraft, um sich bloß nicht mehr daran erinnern zu müssen. Was besonders deshalb schwer fiel, weil sie jetzt wieder hier war. Natürlich hatte sich alles in der Zwischenzeit geändert. Aber was sich in Wahrheit niemals geändert hatte, das waren ihre heftigen Gefühle. Die Gefühle von damals, die jetzt wieder tief in ihrer bebenden Brust pochten, egal, was sie auch dagegen unternehmen mochte.
Dabei hatte sie sich einfach nur von ihrer Freundin Tina Wagner-Eschtenfeld überreden lassen. Diese hatte vor Jahren auch nur Urlaub machen wollen auf Sylt. Und dabei hatte sie ausgerechnet hier den Mann ihres Lebens kennengelernt. Ihren eigenen Angaben zufolge. Obwohl sie damals ja als Witwe sich niemals wieder hatte binden wollen. Anfangs war Claudia skeptisch gewesen deswegen. Noch skeptischer, als ihr Tina dann erklärt hatte, all ihre Zelte abzubrechen und nach Sylt zu ihrem Geliebten zu ziehen. Weil sie dort heiraten wollten.
Irgendwie hatte Tina ihr bis heute noch nicht so richtig verziehen, dass ausgerechnet sie als ihre beste Freundin damals an den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilgenommen hatte. Claudia hatte behauptet, überraschend krank geworden zu sein. Eine Lüge jedoch, denn sie hatte ganz einfach diesen Ort für immer vermeiden wollen. Um nicht an das erinnert zu werden, was sie damals erlebt hatte – und was sie im Grunde genommen heute noch so sehr vermisste.
Trotz ihrer Ehe mit dem Junior-Chef der Rottluff-Zeitungsgruppe Matthias Rottluff, aus der ihre Tochter Martina hervorgegangen war.
Seit Matthias vor Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich ebenfalls nie wieder binden wollen. Aber seitdem versuchten die alten Erinnerungen an jenen Sommer auf Sylt sich ihr wieder viel stärker als jemals zuvor aufzudrängen. Kein Wunder, dass sie tunlichst vermieden hatte, hierher zu kommen.
Tina hatte sie kennengelernt bei der Therapie nach dem großen Verlust ihres Mannes. Der plötzliche Tod von Matthias hatte sie damals ziemlich mitgenommen. Nicht nur, dass sie schier unendlich viel Kraft hatte aufbringen müssen, darüber hinweg zu kommen, sondern Matthias hatte zu diesem Zeitpunkt an der Spitze der Rottluff-Gruppe gestanden. Durch seinen plötzlichen Tod war eine gewaltige Lücke entstanden, eben nicht nur in ihrem Privatleben. Und es hatte ausgerechnet an ihr gelegen, diese Lücke auch noch in der Firma irgendwie auszufüllen.
Die Therapie hatte ihr tatsächlich sehr geholfen. Aber auch der Halt, den sie und Tina sich damals gegenseitig gegeben hatten. Das hatte sie für immer zusammengeschweißt.
Wie hätte sie ihr dann noch überzeugend erklären können, dass sie unmöglich nach Sylt kommen konnte?
Und Tina war nicht müde geworden, sie hierher einzuladen. Immer wieder. Um dabei von ihrem wunderbaren Mann vorzuschwärmen, den sie hier kennen und lieben gelernt hatte, um gemeinsam mit ihm den Rest ihres ganzen Lebens eben auf Sylt zu verbringen.
Die Neugierde auf Tinas Mann und natürlich ihre unverbrüchliche Verbundenheit mit Tina hatten jetzt endlich dazu geführt, dass sie hier war.
Nicht ganz allein, denn sie hatte ja sozusagen als Rückenstärkung ihren geliebten Enkel Paul mit dabei. Und sie fühlten sich hier beide nun schon seit Tagen total wohl. Obzwar Tina und ihr wirklich überaus liebenswerter Mann in der kleinen Pension, die sie führten, ausgerechnet zu dieser Zeit wirklich viel zu tun hatten. Claudia war allerdings nicht böse darum. Sie hatte ja ihren Paul, und sie genoss es in vollen Zügen, mit ihm so viel Zeit verbringen zu können wie sonst kaum jemals. Endlich! Daheim sah alles wieder völlig anders aus. Daheim im Alltagsstress.
Claudia wurde erst wieder aufmerksam auf ihn, weil er unablässig an ihrem Rockzipfel zupfte. Sie erwachte aus ihren Gedanken und sah zu ihm hinab.
„Bitte, Oma!“, bettelte er.
„Aber wir gehen doch schon gemeinsam zu Strand.“
„Ach, Oma, das meine ich doch gar nicht!“, belehrte er sie leicht ungehalten. „Ich will doch wieder dein Foto sehen. Das im Schaufenster. Das dich so berühmt macht auf Sylt!“
Claudia lachte herzlich.
„Aber natürlich, kleiner Quälgeist. Warum denn nicht? Es liegt ja beinahe auf dem Weg.“
„Au ja! Au ja!“ Er überlegte kurz. „Was ist eigentlich ein Quälgeist?“
„Na, ich kenne eigentlich nur einen, und den habe ich ganz schön lieb. Er heißt nämlich Paul und kommt nächstes Jahr schon in die Schule!“, scherzte sie, hob ihn hoch und gab ihm links und rechts einen herzhaften Kuss auf die Wange.
Er schrie wie am Spieß und strampelte, als müsste er sich gegen brutalste Gewalt zur Wehr setzen. Aber das gehörte mit zum fröhlichen Spiel. Als sie ihn wieder absetzte, lachte er glücklich und fasste Claudia an der Hand, um sie mit sich zu zerren. Er wollte doch unbedingt noch einmal das Foto sehen, durch das seine Oma dermaßen berühmt geworden war, sogar hier auf Sylt…
Das Foto ist wirklich wunderschön!, musste Claudia erneut feststellen, als sie es da im Schaufenster betrachtete. Da sah sie viel besser aus als in Wirklichkeit, war sie sogar überzeugt. Ganz im Gegensatz davon, wenn sie eines ihrer zahlreichen Pressefotos zu Gesicht bekam. Die hatten ihr noch nie so richtig behagt. Da sah sie sich nur als irgendeine dieser Vorzeige-Business-Frauen, kalt und unnahbar, mit der sie sich im Grunde genommen niemals selbst identifizieren konnte.
Dieser Sylter Fotograf hingegen hatte wirklich Talent. Das Bild schien regelrecht zu leben. Kein Wunder, dass er es hier ausstellen wollte. Was Claudia irgendwie natürlich auch stolz machte. Nicht nur ihren kleinen Enkel Paul.
Und der zappelte an ihrer Hand, dass sie manchmal meinen konnte, er wollte ihr den Arm ausreißen. Aber so war er nun einmal: Immer zappelig und im wahrsten Sinne des Wortes außer Rand und Band. Und dabei auch noch ziemlich abenteuerlustig. Was es äußerst schwer machte, auf ihn aufzupassen. Und das musste man, ehe es gefährlich für ihn werden konnte. Es gab keinen Baum, an dem er nicht hinaufklettern wollte. Keine Mauer, auf der er nicht balancieren wollte, egal wie hoch sie auch sein mochte.
Das war durchaus eine Herausforderung. Doch Claudia hatte das ja alles vorher schon gewusst. Sie hätte sich darüber niemals beschwert. Ihr war es sogar lieber, dass Paul so quirlig war, wie sie es ausdrückte. Lieber noch, als würde er immer nur still und ruhig in einer Ecke sitzen.
Sollten Kinder nicht ihren Auslauf haben? Wenn Paul nächstes Jahr in die Schule kam, war es immer noch an der Zeit für ihn, ruhiger zu werden. Wenn er dann stundenlang in der Schulbank ausharren musste, ohne ständig herumtoben zu dürfen.
Endlich gingen sie wieder weiter. Claudia warf nur noch einen Blick zurück, durch die Glastür am Eingang, konnte aber den Fotografen im Innern nicht sehen, denn das Sonnenlicht spiegelte sich zu sehr im Glas. Und auch der Fotograf seinerseits sah Claudia in diesem Moment nicht. Weil er zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt war. Ihr Anblick hätte ihn gewiss daran erinnert, dass er doch eigentlich den Auftrag angenommen hatte, sie anzurufen und ihr zu sagen, dass ein gewisser Professor Dr. Thorben Wiebold sich nach ihr erkundigt hatte.
So aber ging diese Chance ungenutzt vorbei, und Claudia hatte auch im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun, den aufgedrehten Paul einigermaßen zu bändigen, damit nicht noch auf dem Weg zum Strand ein Unglück geschah.
Allerdings ließ sie es sich dabei nicht nehmen, erneut zurückzudenken an das Jahr 1983. Genauer: An einen gewissen Thorben Wiebold von damals. Hatte der nicht hier auf Sylt gewohnt? Damals hatte er die Sommerferien bei seinen Eltern verbracht, wie sie sich erinnerte. Nach frisch bestandenem Abitur. Für sie selbst war es, was das betraf, damals noch ein Jahr hin gewesen. Leider hatte sich danach allerdings alles anders ergeben…
Sie brach an dieser Stelle ihren Gedankengang schleunigst ab. Weil es ihr zu unerfreulich erschien. Nein, jetzt wollte sie vor allem daran nicht denken. Im Grunde genommen auch nicht an Thorben. Der war ja nach den Ferien wieder abgereist, um sein Medizinstudium zu beginnen. Wo war das denn noch gewesen?
Genau das wollte Claudia nicht mehr einfallen. Sie machte unwillkürlich eine wegwerfende Handbewegung, denn es war ja nicht wirklich wichtig.
Ob Thorben sein Studium geschafft hatte damals?
Nun, ganz bestimmt. Er war ihr, was das betraf, als durchaus sehr ehrgeizig und fleißig erschienen.
Wie er wohl heute aussah, nach all diesen Jahren, die sicherlich ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatten? Und an seiner Figur?
Sie musste unwillkürlich lachen. Doch dann hielt sie erschrocken inne.
Ob er denn überhaupt noch lebte nach all dieser Zeit?
Doch sie schimpfte innerlich sogleich mit sich selber, weil sie überhaupt auf einen so schlimmen Gedanken gekommen war. Nein, gewiss lebte er glücklich und zufrieden irgendwo als niedergelassener Arzt, hatte eine ihn unendlich liebende Frau an seiner Seite und vielleicht sogar auch noch das eine oder andere Kind.
Sie sah sich unwillkürlich um.
Hier, auf Sylt, hatte er sich wohl kaum niedergelassen. Das war zwar damals im Grunde genommen seine Heimat gewesen, aber es hatte ihm ja sozusagen die ganze Welt aufgestanden. Ihm als neu gekürtem Arzt mit blendendem Aussehen.
So etwas wie Wehmut stahl sich in ihre Miene. Sie selbst hatte es damals nicht ganz so gut getroffen. Woran hatte es gelegen? Allein nur an ihr selbst. Das war ihr längst schon klar. Und sie stand zu ihren eigenen Fehlern, obwohl sie sich nicht gern daran zurück erinnerte.
Vielleicht aber auch gehörte zu den größten Fehlern, die sie damals begangen hatte, dass sie sich niemals wieder bei Thorben Wiebold gemeldet hatte? Niemals wieder. Und sie hatte sich tausenderlei Ausreden zurechtgelegt, um das zu begründen. Doch eigentlich hatte sie sich all die vergangenen Jahre insofern nur etwas vor gemacht.
Und er? Ob Thorben jemals wieder an sie gedacht hatte nach dem gemeinsamen Sommer 1983 auf Sylt?
Ihre rechte Hand verkrampfte sich über ihrem bebenden Busen, als wollte sie etwas festhalten, was sie schon vor so langer Zeit für immer verloren hatte.
Ja, für immer. Jedenfalls war sie davon fest überzeugt in diesem Moment.
Tage vergingen, in denen Professor Wiebold vergeblich auf eine Nachricht wartete. Es machte ihm irgendwie zu schaffen. Hatte er sich denn dermaßen geirrt? War die Dame auf dem Bild tatsächlich gar nicht Claudia Meyer?
Beinahe war er inzwischen überzeugt davon. Aber immer noch nicht ganz. Es blieb ein letzter Rest von Hoffnung.
Was aber, wenn der Fotograf zwar jener Dame durchaus von ihm erzählt hatte, doch diese absolut kein Interesse an ihm hegte? Sogar, wenn es tatsächlich Claudia Meyer war: Vielleicht war sie ihm ja sogar böse wegen damals?
Er saß wieder einmal an seinem Schreibtisch und hatte ziemlich viel zu tun. Obwohl er Schreibtischarbeit regelrecht hasste. War er denn Arzt geworden, um Schreibarbeit zu erledigen? Da gab es Gutachten zu schreiben, schier unendlich viele Befunde, selbstverständlich hochdetailliert, wie es verlangt wurde, und was der Dinge mehr waren. Aber anstatt sich endlich darauf zu konzentrieren, wie es dringend nötig gewesen wäre, kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu Claudia. Er sah sie so deutlich vor sich, als könnte er ihr die Hand reichen. Oder wie damals über ihr liebliches Gesicht streicheln. Wenn die Haare so im Wind flogen… Wenn sie übermütig am Strand herumtollte… Wenn sie in seinen Armen gelegen hatte…
Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Professor Wiebold hatte sich in den letzten Jahren ausschließlich seiner Arbeit gewidmet, den Menschen, die ihm als Arzt anvertraut waren. Und natürlich seinem geliebten Sohn Sören. Er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sich in seinem fortgeschrittenen Alter noch einmal binden zu wollen. Jedenfalls nicht ernsthaft. Und wieso dachte er jetzt die ganze Zeit zurück an längst vergangene glückliche Zeiten, ausgelöst durch jenes Foto im Schaufenster des Fotografen? Wieso konnte er einfach nicht mehr davon ablassen, wobei sein Herz jedes Mal allzu heftig in seiner Brust pochte?
Nach dem anstrengenden Lernen im Internat auf dem Festland boten die Sommerferien damals auf Sylt eine mehr als willkommene Abwechslung. Sowieso schon. Dann auch noch am schönsten Strand der Welt, wie seine Mutter immer zu sagen pflegte. Er hatte es in vollen Zügen genossen, und natürlich war ihm gleich schon die Gruppe werdender Erwachsener aufgefallen, die es sich in den Ferien ordentlich gut gehen ließen. Tagsüber surften sie zusammen, und abends feierten sie endlose Partys. Und der junge Thorben Wiebold blieb nicht nur Zaungast des Geschehens. Da war eine besondere junge Frau, die auf Anhieb sein Herz berührt hatte, und er war sich sogar sicher, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.
Dass sie Claudia Meyer hieß, hatte er erst erfahren, als er sich der Gruppe angeschlossen hatte. Nun, als sie gehört hatten, dass er hier sozusagen zuhause war, hier, auf Sylt, wollten sie alles von ihm wissen, was es von hier zu wissen gab. Allerdings mehr als tagsüber surfen und abends feiern hatten sie sowieso nicht im Sinn. Also blieben sämtliche Erklärungen seinerseits im Grunde genommen ergebnislos und somit unnötig. Das Interesse der Gruppe an seinen Geschichten war auch ziemlich schnell erloschen. Außer bei Claudia Meyer. Sie hing fasziniert an seinen Lippen, wenn er erzählte, und er ahnte schon gleich, dass sie nichts dagegen gehabt wäre, wäre sie ganz einfach in seinen Armen gelandet.
Anfangs hatte sich Thorben Wiebold jedoch bewusst zurückgehalten. Er wusste ja nicht, wie die Freundschaften innerhalb der Gruppe zusammenhingen. Deshalb wagte er es noch nicht einmal, allzu offen sein Interesse an Claudia zu zeigen. Um kein böses Blut zu provozieren.
Sie selbst jedoch war da viel entspannter, und nach den ersten Tagen war Thorben Wiebold auch endlich klar, wieso das so war: Sie alle waren wirklich nur Freunde, die gemeinsam einen schönen Urlaub erleben wollten, losgelöst vom Alltagsstress, das schöne Wetter genießend und einfach einmal nur die Seele baumeln lassend. In den Pausen zwischen dem Surfen und dem Feiern.
Der Professor musste unwillkürlich lachen, wenn er daran zurück dachte. Viel Seele baumeln lassen, oder „chillen“, wie man heutzutage so etwas nannte, war da ja eigentlich nicht gewesen. Das ausgiebige Surfen und Feiern hatten eindeutig überwogen.
Und dann hatte Claudia ihn gefragt, was er denn so ansonsten mache, wenn er nicht gerade hier seinen Urlaub verbrachte, auch noch ausgerechnet dort, wo er eigentlich wohnte.
Er hatte ihr zum ersten Mal vom Internat erzählt und davon, dass er gerade erst sein Abitur dort gemacht hatte.
„Das steht bei mir nächstes Jahr erst an“, hatte sie ihm verraten, und dabei hatten sie sich in die Augen gesehen.
Oh, gewiss, es hatte schon geknistert zwischen ihnen beiden, als sie noch kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. Und jetzt, da sie ihm so nah war und er wusste, dass keiner der anderen mit ihr auf irgendeine Weise richtig verbandelt war…
„Aha, nächstes Jahr?“, hatte er seine eigene Stimme gehört. Worte, die ganz von allein über seine Lippen gekommen waren.
„Ja, in einem Jahr“, betonte sie unnötigerweise, und er richtete dabei unwillkürlich seinen Blick auf ihre vollen Lippen. Ach, wie gern hätte er sie mit seinen eigenen Lippen berührt. Es war einfach überwältigend für ihn.
Und da war sie ihm näher gekommen. Noch näher. Ihre Lippen waren so nah, dass sie sich beinahe ganz von allein berührten. Ganz zärtlich zunächst, als wollten sie sich gegenseitig erst einmal nur erforschen. Zurückhaltend zumal, bloß nicht aufdringlich.
Seine Arme schlossen sich ganz von allein um sie, und er spürte, dass auch sie ihre Arme um ihn schlag. Ihre Hände griffen in sein T-Shirt, als wollten sie es niemals wieder loslassen.
Das Gefühl war wahrhaft überwältigend. Es erfasste ihn bis in die Haarspitzen. Sie waren sich so nah, spürten sich gegenseitig, und er merkte, dass sie leicht zitterte. Weil auch sie überwältigt war von ihren Gefühlen?
Während ihre Lippen auf Wanderschaft gingen. Seine über ihr liebliches Gesicht, bis sie ihrerseits zärtlich an seinem Ohrläppchen knabberte.
Sie hielten sich gegenseitig ganz fest, ja, als wollten sie sich niemals wieder los lassen. Das waren Gefühle, wie sie beide sie noch niemals zuvor gespürt hatten. Und sie wussten, dass dies die einzig große Liebe war.
Professor Wiebold erwachte wie aus einem Traum. Er blinzelte verwirrt und starrte auf die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, ohne sie wirklich zu sehen. Seine Hände glitten fahrig darüber.
„Claudia!“, murmelte er seufzend. Und er fügte hinzu: „Es war etwas ganz Besonderes zwischen uns beiden, und doch sollte es nur so kurz anhalten. Die Ferien vergingen und unsere Wege trennten sich. Wie, um alles in der Welt, konnte das geschehen? Was, um alles in der Welt, ist denn damals überhaupt geschehen im Nachhinein?“
Er wusste, dass er sie unbedingt wiedersehen musste. Egal wie. Es pochte dermaßen fordernd in seiner Brust, dass er dem keineswegs widerstehen konnte. Allerdings würde er irgendwann und irgendwie seinem Sohn erklären müssen, wie das überhaupt möglich sein konnte. Immerhin hatte er auch Sörens Mutter sehr geliebt. Nicht so wie damals Claudia. Mit Sörens Mutter war es einfach nur anders gewesen. Dafür hatte es ja auch ziemlich lange angehalten. Bis das unbarmherzige Schicksal ihn zum Witwer gemacht hatte. Worunter er im Grunde genommen noch heute litt. Sicherlich nicht weniger als sein Sohn, der damals seine geliebte Mutter verloren hatte.
Ja, hätte seine liebe Frau noch gelebt… Sicherlich wären die Gefühle von damals, Claudia gegenüber, bei weitem nicht mehr so aufgebrandet. Er hätte sie noch nicht einmal unterdrücken müssen. Claudia wäre vielleicht einfach nur eine süße Erinnerung geblieben. Ganz gewiss…
Aber wem machte er jetzt noch etwas vor? Er musste ja noch nicht einmal die Augen schließen, um Claudia zu spüren, wie sie in seinen Armen lag, wie sie beide sich fühlten, als wären sie regelrecht zu einer Einheit verschmolzen.
Ja, Claudia war seine große Liebe. Das sollte er wirklich nicht mehr länger zu leugnen versuchen. Seine erste große Liebe nämlich, um genauer zu sein. Seine Frau war die zweite große Liebe gewesen. Und diese blieb für immer unwiederbringlich.
Was aber war mit seiner Liebe zu Claudia Meyer? Die musste nicht unwiederbringlich bleiben. Solange sie beide lebten, und selbst wenn die Dame auf dem Foto tatsächlich nicht Claudia sein sollte: Dann lebte sie dort draußen irgendwo, und vielleicht dachte sie hin und wieder ja auch an ihn zurück? An ihn und jene so überaus glücklichen Tage damals im Jahr 1983?
Claudia musste zugeben, dass sie einfach nicht genug bekam von der Strandpromenade von Westerland. Von hier aus hatte man einen schönen Überblick über den Strand ein wenig unterhalb. Man konnte sich gegen die Brüstung lehnen und hinaus auf das Meer sehen, aber auch hinunter dem bunten Treiben zusehen. Dort, wo sich die Badegäste und Sonnenhungrige tummelten.
Man konnte aber auch, wie jetzt, in diesem Moment der kleine Paul, versuchen, auf dem Geländer zu balancieren. Ehe Claudia sich versah, war er auch schon hochgeklettert und richtete sich auf dem schmalen Geländer auf.
„Nein!“, schrie sie entsetzt und sprang hinzu, um nach ihm zu greifen, um doch noch das Schlimmste zu verhindern.
Und das Schlimmste geschah leider dennoch, denn er verlor das Gleichgewicht und fiel natürlich nicht in ihre Richtung, sondern in Richtung Strand. Erst knallte er böse auf den Absatz vorn, unterhalb der Brüstung, fiel auch noch weiter und kam erst zwischen den Wellenbrechern aus Beton am Fuße der Strandpromenade zum Liegen.
Claudia hetzte in fliegender Hast zum kleinen Steg mit der Treppe, über die man hinunter zum Strand gelangen konnte. Jeder Schritt dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und sie hörte den kleinen Paul schreien, als würde es um sein Leben gehen. Das verhieß jedenfalls nichts Gutes.
Bis Claudia bei ihm sein konnte, hoffte sie inbrünstig, dass der Schaden doch nicht allzu groß und Paul mit einem Schrecken davon gekommen war. Doch dann sah sie, dass er sich den linken Unterarm hielt. Seine Augen waren im Nu rot gerändert von den Tränen, die in wahren Sturzbächen über seine Wangen rannen. Und nicht nur Claudia war jetzt bei ihm, sondern auch andere Feriengäste, die den Sturz mitbekommen hatten.
Eine ältere Frau meinte naserümpfend, da habe wohl jemand sträflich seine Aufsichtspflicht verletzt. Am liebsten hätte Claudia diese Frau jetzt angefunkt:
„Soll ich meinen Enkel denn an die Leine nehmen wie einen Hund?“ Doch sie musste sich um Paul kümmern und musste die Frau ignorieren.
Andere waren da viel einsichtiger. Doch Claudia bekam das gar nicht so richtig mit. Sie nahm vorsichtig Paul auf die Arme, der immer noch schrie wie am Spieß und seinen Unterarm hielt. Claudia sah hin, konnte aber nichts entdecken. Anscheinend hatte er sich den Knochen verletzt. Wenn sie richtig gesehen hatte, war er mit dem linken Unterarm auf den Absatz der Strandpromenade gefallen. Offenbar so unglücklich, dass er sich dabei verletzt hatte. Ansonsten schien ihm nichts zu fehlen.
Aber mit Sicherheit hatte er starke Schmerzen.
Ein wenig unschlüssig stand Claudia da, mit dem schreienden Paul auf den Armen, bis ein älterer Herr sie vorsichtig ansprach:
„Bitte, werte Dame. Ich denke, Ihr Sohn muss dringend ins nahegelegene Krankenhaus!“
„Ja, das sehe ich selbst!“, hätte sie ihn am liebsten angefaucht, aber es fiel ihr rechtzeitig ein, dass der ältere Herr es doch nur gut meinte.
Jetzt deutete er vage nach oben und meinte:
„Es ist nicht weit zu meinem Auto. Ich bin mit dem Autozug auf Sylt gekommen, um mobil zu bleiben. Das war offensichtlich eine ganz besonders gute Idee, nicht wahr?“
Es widerstrebte Claudia zutiefst, nicht nur von einem fremden Mann ohne Aufforderung angesprochen zu werden, sondern auch noch zu diesem in den Wagen zu steigen. Aber wenn sie auf Paul sah und daran dachte, ihn zu Fuß bis zur Harm-Breding-Klinik zu tragen, kam ihr eigentlich das Angebot des Fremden nicht ungelegen.
Sie betrachtete ihn forschend. Er hatte ein offenes Wesen und lächelte sie freundlich an. Aber würde das ein Mensch, der Böses im Schilde führte, nicht ebenfalls tun? Sonst würde ja niemand mehr auf ihn hereinfallen.
Dennoch: Paul ging vor. Er musste auf jeden Fall auf dem schnellsten Weg versorgt werden. Außerdem, wie sie sich mit einem kurzen Rundblick überzeugen konnte, gab es jede Menge Zeugen dieses Vorgangs. Der Fremde sollte sich hüten, etwas anderes im Sinn zu haben, als sie tatsächlich mit Paul zur Klinik zu bringen.
Sie nickte ihm zu, und er ging schon vorweg. Kurz blieb er wieder stehen und fragte, ob er nicht besser Paul übernehmen sollte, doch Claudia lehnte das entrüstet ab. Jetzt kuschelte sich der Kleine an sie, hielt immer noch seinen linken Unterarm fest, als würde er befürchten müssen, ihn unterwegs zu verlieren, schrie aber nicht mehr gar so laut.
Claudia spürte regelrecht die Blicke aller Umstehender, während der Fremde sie recht flott über die Strandpromenade zu seinem Wagen führte.
Die Harm-Breding-Klinik hier auf Sylt…? Waren dort nicht die Eltern von Thorben beschäftigt gewesen? Damals, im Jahr 1983. Claudia meinte, ihn davon erzählen gehört zu haben. Ob die Klinik überhaupt noch bestand? Vielleicht hatte sie inzwischen ja auch einen anderen Namen?
Aber, Moment mal, war das nicht eher eine Spezialklinik für Allergologie und die Bekämpfung von Atemwegserkrankungen?
Als sie den Wagen endlich erreichten, sagte sie das dem Fremden.
„Falls Sie wirklich beabsichtigen sollten, uns dorthin zu bringen!“, schloss sie ihre Bedenken.
„Das stimmt zwar, aber sie befindet sich am nächsten, und außerdem werden dort auch solche Unfälle behandelt, die natürlich immer wieder vorkommen können. Gerade Kinder sind manchmal ja wirklich außer Rand und Band, wie man so schön sagt. Und da ist schneller etwas passiert als man zusehen kann.“
Wie wahr, wie wahr, hätte Claudia gern gesagt, aber jetzt ließ sie sich einfach nur die Beifahrertür aufhalten, damit sie einsteigen konnte. Paul blieb auf ihrem Schoss, aber sie schnallte sich dennoch an. Für alle Fälle. Nicht, dass sonst noch etwas passierte…
„Ich fahre besonders vorsichtig!“, versprach der Fremde, dem das natürlich nicht entgangen war. Er startete den Motor und stellte sich endlich vor:
„Mein Name ist übrigens Theodor Vernicke. Ich komme jedes Jahr hierher in den Urlaub. Für mich gibt es keinen schöneren Ort auf der ganzen Welt als die Insel Sylt. Das können Sie mir glauben. Und ich muss mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen, dass ich mich Ihnen so einfach aufgedrängt habe. Aber es geschah wirklich nur in Sorge um Ihren kleinen Sohn.“
„Nicht Sohn“, widersprach Claudia mechanisch: „Enkelsohn!“
„Ach was, Sie sind schon Oma? Bitte, das hätte ich nie und nimmer vermutet.“
Alter Schmeichler!, dachte Claudia verdrossen.
Ungerührt fuhr dieser Theodor Vernicke fort:
„Es ist nicht mehr weit. Dort wird dem Kleinen sicherlich geholfen, Frau…?“
„Meyer-Rottluff!“, kam es ganz von allein über ihre Lippen, was sie sogleich wieder bereute. Es musste doch nicht gleich jeder wissen, wie sie hieß.
Und prompt reagierte Theodor Vernicke verwundert:
„Doch nicht etwa Claudia Meyer-Rottluff?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“, fuhr sie ihn heftiger an als beabsichtigt und entschuldigte sich sogleich dafür: „Bitte, verzeihen sie mein Benehmen, aber ich bin ziemlich durch den Wind. Dem Kleinen geht es wirklich nicht gut, und ich kann an nichts anderes mehr denken.“
„Oh, ja, natürlich, das verstehe ich doch sehr gut.“ Er deutete nach vorn: „Sehen Sie, wie versprochen: Mit dem Auto ist es nicht sehr weit, denn wir sind schon fast da. Ich fahre direkt zur Notaufnahme.“
Claudia sagte nichts mehr. Sie versuchte vielmehr, Paul zu beruhigen, was seine Wirkung zeitigte. Er hatte zwar ganz offensichtlich starke Schmerzen in seinem Ärmchen, aber jetzt zeigte er sich auch von seiner tapferen Seite.
Claudia schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ob er überhaupt aus diesem Sturz seine Lehren ziehen würde? Da hegte sie allerdings berechtigte Zweifel. Er war aber auch zu abenteuerlustig und traute sich gern Sachen zu, die er in seinem Alter ganz einfach noch nicht schaffen konnte. Und dann, wenn er es würde schaffen können, fügte Claudia in Gedanken hinzu, wird er vernünftig genug geworden sein, es besser doch zu unterlassen. So eine Brüstung dient eigentlich dem Schutz, damit da niemand über die Kante hinunter auf den Strand stürzt. Und sie ist völlig ungeeignet für Balanceakte.
Obwohl, wenn sie wirklich ehrlich sein wollte: Damals, im Sommer 1983… Da war sie solchen Späßen selber nicht gerade abgeneigt gewesen. Genauso wenig wie die anderen. Und wenn sie sich richtig erinnerte, war eigentlich nur Thorben vernünftig genug gewesen, das lieber doch zu unterlassen. Aber natürlich sollte sie es tunlich vermeiden, dies Paul zu erzählen, sobald er wieder ansprechbar war.
Der Wagen stoppte, und der Fahrer, der sich ihr als Theodor Vernicke vorgestellt hatte, wieselte darum herum, um die Beifahrertür aufzureißen, während sich Claudia schon vorsichtig abschnallte. Er reichte ihr sogar seine Hände, um ihr beim Aussteigen zu helfen, doch Claudia lehnte dankend ab. Sie musste sich jetzt voll und ganz auf Paul konzentrieren, um diesen ganz vorsichtig hinaus zu hieven. Erst einmal dann die Beine nach draußen setzen, und dann musste sie nur noch aufstehen. Alles ging gut, und Paul beschwerte sich über nichts.
Theodor Vernicke deutete auf den Eingang zur Notaufnahme. Dieser wurde gerade geöffnet, und ein Pfleger lief herbei.
„Mein Enkelsohn Paul hat sich beim Sturz wohl den Unterarm verletzt!“, sagte Claudia nur, und der Pfleger wollte ihr den Kleinen abnehmen.
„Nein, bitte, ich werde ihn selber hinein bringen. Bei mir fühlt er sich sicher. Es ist besser so, glauben Sie mir.“
Der Pfleger sagte nichts dazu und führte sie zur Tür. Kurz wandte er sich an Theodor Vernicke.
„Gehört der Herr auch noch zu Ihnen?“
Da erst erinnerte sich Claudia wieder an ihn. Immerhin war er doch so freundlich gewesen, sie hierher zu fahren. Wie konnte sie nur so abweisend sein gegenüber einem so freundlichen älteren Herrn?
Es tat ihr im selben Moment richtig leid, weshalb sie sich kurz zu Herrn Vernicke umwandte:
„Haben Sie vielen Dank, Herr Vernicke! Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Es hätte doch viel zu lange gedauert, den armen Paul zu Fuß hierher zu bringen. Und jetzt kann ihm gleich geholfen werden. Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder, und dann werde ich mich bei Ihnen erkenntlich zeigen. Ganz bestimmt sogar.“
Er zeigte sich jedenfalls hocherfreut darüber, sie vielleicht doch wieder sehen zu können und das unter erfreulicheren Umständen, und irgendwie hatte Claudia dabei sogar den Eindruck, als hätte er Gefallen an ihr gefunden. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie zu keinerlei Bekanntschaft aufgeschlossen war. Ganz im Gegenteil…
Aber jetzt war es wirklich an der Zeit, Paul hinein zu bringen. Der Pfleger führte sie in ein freies Behandlungszimmer.
„Der Herr Doktor wird bald hier sein. Würden Sie mir den Kleinen jetzt geben? Er scheint ja tatsächlich Probleme mit dem Unterarm zu haben, obwohl von außen nichts sichtbar ist.“
„Nein, lassen Sie nur. Er bleibt bei mir!“, entgegnete Claudia entschlossen. Es widerstrebte ihr zu sehr, Paul einfach so dem Pfleger zu übergeben, obwohl der Mann ja wirklich nur helfen wollte. Aber der Pfleger erwies sich als einsichtig und bedrängte sie nicht weiter.
Eine ältere Schwester trat ein. Irgendwie wirkte sie zwar einerseits ziemlich resolut, aber dennoch hatte Claudia auf Anhieb Vertrauen zu ihr.
„Oberschwester Roswitha!“, stellte sie sich vor, obwohl Claudia das auch auf ihrem Namensschild lesen konnte. Als sie die Hände ausstreckte, um Paul zu übernehmen, zögerte Claudia nicht mehr länger.
Sie sah dabei den Pfleger an. Doch dieser ließ nicht erkennen, ob ihn das etwa ärgerte, dass er den Kleinen nicht gereicht bekommen hatte. Er wollte gehen, doch Oberschwester Roswitha hielt ihn auf:
„Sie bleiben noch!“, ordnete sie kurz angebunden an. „Vielleicht braucht Dr. Wiebold Sie auch noch?“
Dr. Wiebold? Es durchzuckte Claudia wie ein Stromstoß. Meinte sie etwa… Thorben?
Aber dann wies sie diesen Gedanken weit von sich. Nein, einen solchen Zufall gab es nicht. Wiebold war zwar nicht gerade ein Allerweltsname, aber es konnte unmöglich sein, dass Thorben nach all den Jahren als Arzt hier die Notaufnahme versorgte.
Oder?
Der Pfleger blieb, und Sekunden später schon öffnete sich erneut die Tür. Ein Mann im Arztkittel trat ein. Claudia schätzte ihn auf Anfang 30. Er war sportlich, schlank, blond und sicherlich der Schwarm aller Frauen im gewissen Alter. Ihr Schwarm war er allerdings nicht, musste sie leicht amüsiert feststellen, bevor sie sich wieder Sorgen machte um ihren Enkelsohn Paul, der in den Armen von Oberschwester Roswitha erstaunlich ruhig blieb. Die Oberschwester schien eine ganz besondere Wirkung auf ihn zu haben. Das war allzu offensichtlich.
Nun, Claudia hatte nichts dagegen.
Der Arzt stellte sich vor:
„Oberarzt Dr. Sören Wiebold!“
Genauso stand es auch auf seinem Namensschild. Dort waren sogar zwei Doktortitel zu lesen.
Sören widmete sich Paul, der auf den Armen der Oberschwester blieb. Ganz vorsichtig betastete er das Unterärmchen des Kleinen, der das nur ungern zuließ. Aber als er merkte, dass ihm der Herr Doktor nicht auch noch zusätzlich weh tun wollte, wurde er prompt mutiger.
„Es scheint die Elle zu sein.“
Kurz wandte er sich an Claudia:
„Aber wir müssen das natürlich erst noch röntgen, um ganz sicher zu gehen. Wenn es sich um einen glatten Bruch handelt, wovon ich ausgehe, müssen wir nicht operieren. Es reicht in diesem Fall, den Arm ruhig zu stellen. Über die beiden benachbarten Gelenke, also über den Ellenbogen und über das Handgelenk.“
„Einen Gips?“, murmelte Claudia ungläubig.
„Ich denke, wir werden nicht umhin kommen!“, bestätigte der Arzt. Er nickte der Oberschwester zu. „Kümmern Sie sich bitte darum, Oberschwester Roswitha?“
Diese nickte nur und stand auf.
„Moment noch!“, befahl Dr. Wiebold noch kurz und wandte sich wieder an Claudia: „Hat der Junge irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten?“
„Nein, nicht dass ich es wüsste.“
„Auch nicht betreffend Medikamente?“
„Nein, da ist bisher nichts bekannt.“
„Und ansonsten ist er völlig gesund?“
„Aber natürlich. Er ist halt nur gestürzt.“
Dr. Wiebold schenkte der Oberschwester einen bedeutsamen Blick, und sie ging hinaus.
Claudia konnte es kaum fassen, wie ruhig Paul dabei blieb. Es war ja gerade so, als hätte die Oberschwester ihn regelrecht verhext.
Andererseits, das war immer noch besser, als hätte er hier einen wahren Aufstand veranstaltet.
Hoffentlich blieb es so!
Dr. Wiebold schickte den Pfleger weg und bat Claudia in das Nebenzimmer. Dort stand ein Schreibtisch. Vor diesem bot der junge Doktor Claudia einen Platz an, bevor er sich selber hinter dem Schreibtisch niederließ.
„Nutzen wir die Zeit, um das Schriftliche zu erledigen. Normalerweise macht das die Notaufnahme, aber derzeit ist wirklich viel zu tun. Es scheint so, als hätten sich alle Leichtsinnigen auf Sylt miteinander verabredet, möglichst gleichzeitig sich auf die unterschiedlichste Art und Weise zu verletzen.“
Claudia diktierte ihm anschließend ihren Namen, den Namen ihres Enkelsohnes, natürlich auch ihre Heimatadresse und die Urlaubsadresse von sich und Paul hier in Westerland, wo sie in der Pension ihrer Freundin Tina wohnte.
Kaum war alles erledigt, begaben sie sich wieder nach nebenan in das Behandlungszimmer. Gerade rechtzeitig, denn Schwester Roswitha brachte den kleinen Paul zurück aus der Röntgenabteilung.
Claudia wunderte sich noch mehr: Der Kleine wirkte jetzt sehr schläfrig, als könnte er kaum die Augen aufhalten, als die Oberschwester ihn vorsichtig auf die schmale Behandlungsliege bettete.
Da endlich verstand sie: Sie hatte den bedeutsamen Blick des Arztes gar nicht so richtig einschätzen können, mit dem er die Oberschwester heimlich angewiesen hatte, Paul etwas zu spritzen! Deshalb war Paul jetzt ganz besonders ruhig! Von wegen, Oberschwester Roswitha hätte ihn regelrecht verhext. Und sie, Claudia, hatte das gar nicht so richtig mitbekommen, weil sie abgelenkt gewesen war.
Jetzt wollte sie entrüstet auffahren, doch Dr. Wiebold kam ihr zuvor:
„Es ist ein harmloses Mittel, ganz speziell für Kinder in diesem Alter geeignet. Es nimmt ihm die Schmerzen und auch die Angst. Das ist äußerst wichtig für ihn, damit er ruhig bleibt. Sonst bewegt er womöglich den verletzten Arm zu viel und verletzt sich dadurch zusätzlich.“
Die Oberschwester hantierte am PC herum und drehte schließlich den Monitor. Die Übertragung aus der Röntgenabteilung. Claudia konnte das Röntgenbild ebenfalls sehen.
Mit einem Kugelschreiber zeigte Dr. Wiebold auf die Elle. Dort befand sich ein deutlicher Riss.
„Glatter Durchbruch, wie schon vermutet. Die Lage hat sich nicht verändert. Das ist ja der Vorteil, wenn die Elle bricht: Unser Unterarm besteht ja aus zwei Knochen, eben aus der Elle und der Speiche. Wenn nur einer dieser Knochen bricht, hält der andere den Unterarm immer noch im gewissen Maße stabil. Deshalb müssen wir nur einen Gips anbringen, um das Ganze ruhig zu stellen.“
Er wandte sich an Claudia.
„Allerdings müssen wir zusätzlich zum Gips eine Stütze anbringen, damit der Arm insgesamt hoch bleibt. Der kleine Paul darf unter keinen Umständen den Arm herunterhängen lassen oder gar schlenkern. Kinder machen das besonders gern, wenn sie einen Gips tragen. Sie müssen wirklich darauf achten, dass dies nicht passiert.“
„Und wieso?“, wollte Claudia wissen.
Abermals deutete Dr. Wiebold mit dem Kugelschreiber auf den Bruch.
„Das ist zwar nicht viel, aber sehen Sie selbst: Es gibt bereits Gewebeblutungen. Das lässt sich nicht vermeiden. Bei einer Operation stillt man die Blutung, aber wenn wir nicht operieren, kommen wir nicht an die Stelle heran und können nichts dagegen tun. Es ist auch nicht weiter schlimm, solange der Arm hoch genug bleibt. Dann breitet sich das Blut nicht bis in die Hand aus. Was ziemlich schmerzhaft werden kann. Sie müssen sich vorstellen, das Gewebe kann nicht ausweichen. Es gibt keine Schwellung, weil der Gips dies verhindert. Deshalb lassen wir bei einem solchen Gips auch die vorderen Fingerglieder frei, damit man genau kontrollieren kann, ob dort schließlich eine Schwellung entsteht oder nicht. Wenn doch, muss man sofort entsprechende Maßnahmen ergreifen. Sie müssen also künftig ganz besonders darauf achten.“
„Ah, ich verstehe!“, behauptete Claudia und betrachtete interessiert das Bild auf dem Monitor. „Solange der Arm oben bleibt, sickert das Blut von der Verletzung weg und verteilt sich im Körper.“
„Ja, und auf diesem Wege wird es nach und nach abgebaut. Wie bei einem normalen Bluterguss.“
Claudia sah wieder nach ihrem Enkelsohn. Paul erwiderte ihren Blick. Er schien jetzt wieder wacher zu sein.
„Darf ich bei ihm bleiben, während der Gips angebracht wird?“
Dr. Wiebold hatte nichts dagegen.
Claudia setzte sich neben Paul und streichelte ihm beruhigend über den Kopf.
„Alles wird gut!“, sagte sie ihm. „Jetzt kriegst du einen wunderschönen Gips verpasst, und glaube mir, jedes Kind hier auf Sylt wird dich dafür beneiden. Und erst, wenn du wieder daheim bist…“
Da dachte sie an ihre Tochter Martina. Wahrscheinlich würde diese ihr zunächst aus schierer Sorge um ihren kleinen Sohn bittere Vorwürfe machen. Obwohl sie selber wusste, dass man so etwas nicht völlig verhindern konnte, wenn das Schicksal sich dazu entschieden hatte. Aber sicherlich würde sich Martina auch wieder beruhigen. Jetzt ging es erst einmal noch darum, dass es Paul wieder besser ging. Und wenn der Gips einmal angebracht war, gingen wahrscheinlich auch die Schmerzen zurück. Das jedenfalls war Claudias Hoffnung in diesem Moment.
Es war so wie vermutet. Der Gips brachte Paul große Erleichterung. Obwohl er sogleich herum nörgelte ob der Tragekonstruktion, die dafür sorgen sollte, dass der Arm möglichst oben blieb.
Claudia erklärte ihm das mit ruhigen Worten. Allein der Hinweis darauf, dass er ansonsten schlimme Schmerzen bekommen würde, gab schließlich den Ausschlag. Er nahm alles betont tapfer hin. Vielleicht auch, weil er trotz seiner noch so jungen Jahre irgendwo inzwischen eingesehen hatte, dass er an dieser Situation selber schuld war?
Jetzt war Claudia jedenfalls überzeugt davon, dass er daraus seine Lehren ziehen würde. Er war ja ein besonders aufgewecktes Kind.
Zwischendurch war Dr. Wiebold immer wieder zu anderen Fällen gerufen worden. Dass er sich dermaßen viel Zeit nahm wegen Paul, rechnete Claudia ihm besonders hoch an. Außerdem hatte sie es bisher eher selten erlebt, dass ein Arzt so ausführlich erklärte, wie die Zusammenhänge waren, und dann auch noch so, dass es auch ein Laie verstehen konnte.
Und dann eröffnete er Claudia:
„Wir müssen Paul noch ein wenig hier behalten!“
„Aber wieso denn?“, widersprach Claudia heftig. „Ich bin doch für ihn da und…“
„Das bezweifelt auch niemand, aber nach einem solchen Sturz haben wir uns halt in erster Linie um das Hauptproblem gekümmert, eben den Unterarm. Ich halte es für sicherer, ihn noch ein wenig zur Beobachtung hier zu behalten. Ja, um ganz sicher zu gehen, dass es wirklich nur den Unterarm getroffen hat. Außerdem haben wir eine beliebte Kinderstation. Ich möchte wetten, dass er sich dort ziemlich wohl fühlen wird.“
Claudia hatte da ihre Zweifel. Aber andererseits: Es würde wirklich sicherer sein, Paul erst einmal hier zu behalten. Sie würde ihn ja so oft besuchen können, wie sie wollte.
Oder?
Sie fragte danach, und Dr. Wiebold nickte lachend.
„Aber natürlich! Er ist weder bettlägerisch krank, noch muss man ihm absolute Ruhe verordnen. Allerdings möchte ich Sie bitten, dass er im Bett bleibt, während Sie ihn besuchen.“
„Nur während meines Besuches muss er im Bett bleiben?“, wunderte Claudia doch sehr.
Er lächelte entwaffnend.
„Wir haben ja reichlich Erfahrung mit kindlichen Patienten. Kinder demonstrieren gern, wie fit sie wieder sind, auch wenn ihnen das alles andere als gut tut. Wenn sie dann unter Ihresgleichen sind und sich unbeobachtet wähnen, benehmen sie sich normal, und man kann dabei beobachten, ob ihnen vielleicht doch noch sonst etwas fehlt. Das ist ja der Sinn, weshalb ich ihn gern noch ein wenig hier behalten möchte.“
Claudia leuchtete das ein. Sie nickte jetzt zustimmend.
Dr. Wiebold wandte sich ab. Doch dann wollte Claudia doch noch etwas dazu sagen:
„Dann darf er das Bett durchaus verlassen und sich mit den anderen Kindern beschäftigen? Das hat sich also wirklich als hilfreich erwiesen in Ihrer Klinik?“
Diesmal nickte Dr. Wiebold zustimmend. Er wandte sich an die Oberschwester:
„Kümmern Sie sich bitte darum, Oberschwester Roswitha?“
Danach schickte er sich an, den Raum endgültig zu verlassen, um sich seinen anderen Fällen zu widmen, zumal Claudia keine weiteren Einwände mehr geltend machen wollte. Doch dann fiel ausgerechnet ihr doch noch etwas ein, was diesmal allerdings überhaupt nichts mit Paul zu tun hatte:
„Äh, verzeihen Sie, Herr Doktor, aber… Dieser Name Wiebold… Ich habe da einmal einen gewissen Thorben Wiebold gekannt. Das ist schon sehr lange her, vielleicht sogar so lange, dass er sich an mich nicht mehr erinnern wird, fürchte ich… Also, verzeihen Sie, wenn ich das so gerade heraus frage: Sind Sie irgendwie mit Thorben Wiebold verwandt?“
Sören lachte herzhaft.
„Oh, das will ich wohl meinen, denn er ist mein Vater.“
„Ihr Herr Vater?“, echote sie verblüfft. Doch dann winkte sie mit beiden Händen ab.
„Aber natürlich. Es sind schließlich seitdem ganze Jahrzehnte vergangen. Aber bitte, ich wollte jetzt wirklich nicht aufdringlich erscheinen. Mir ist das nur soeben mal in den Sinn gekommen. Deshalb meine Frage, die ich…“
„Ach, sie brauchen sich doch dafür nicht zu entschuldigen, Frau Meyer-Rottluff“, meinte Sören läppisch. „Soll ich meinem Vater denn ausrichten, dass Sie sich hier auf Sylt befinden? Er ist tatsächlich hier in der Klink, denn schließlich ist er nicht nur mein Vater, sondern als ordentlicher Professor der Medizin unser aller Chef.“
„Ach, er ist sogar der Chef dieser Klinik?“, meinte Claudia beeindruckt. „Aber ich weiß ja gar nicht, ob das wirklich so eine gute Idee wäre. Vielleicht will er ja gar nicht an mich erinnert werden? Das war immerhin damals, im Sommer 1983.“
„Oh, ich weiß, da hatte er frisch das Abitur in der Tasche und verbrachte die Ferien hier, bevor er anschließend auswärts sein Medizinstudium begann. Und da haben Sie beide sich kennengelernt? Er hat das eigentlich nie erwähnt.“