Die
Inselärzte auf Sylt
Der Umfang dieses Buchs entspricht 86 Taschenbuchseiten.
Ein Wettrennen beim Kitesurfen; Dr. Sören Wiebold ist
fasziniert von seiner Gegnerin, doch als sie auf dem Brett einen
Zusammenbruch erleidet, gelingt es ihm, sie in letzter Sekunde zu
retten. Im Krankenhaus entwickelt sich zwischen den beiden eine
Romanze. Doch weshalb vermeidet Jule jedes persönliche Gespräch?
Und warum versucht ein fremder Mann sie zu finden?
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Alfred Bekker
© Roman by Author
Cover: Mara Laue, 2021
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
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1
„Du darfst morgen nach Hause, Nadja“, sagte Dr. Sören Wiebold
zu dem kaum fünfjährigen Mädchen, und die Kleine strahlte heller
als draußen der Sonnenschein. Die Mutter des Mädchens saß neben dem
Bett und lächelte den Arzt glücklich an, der neben der Allergologie
auch als Internist tätig war. Ein guter Arzt, dachte sie. So
zugewandt wünschte man sich einen Mediziner.
„Vielen Dank, Herr Doktor, ich weiß nicht, was wir ohne Sie
getan hätten“, seufzte sie. Ihr Blick drückte aus, dass sie zu
jeder, wirklich jeder Danksagung bereit war und sich auch mehr als
einen warmen Händedruck vorstellen konnte.
Sie lächelte kurz.
Vielleicht auch etwas verlegen.
Und dabei hoffte sie, dass ihr Kopf dabei nicht so rot wie
eine Tomate wurde.
Und wenn schon!, dachte sie. Dann kann ich es auch nicht
ändern.
Emily Wicker war alleinerziehend, die Herzschwäche ihrer
Tochter, einhergehend mit einer schweren Allergie gegen zahlreiche
alltägliche Dinge, Medikamente und Nahrungsmittel, hatte auch
andere Organe angegriffen, und die Erkrankung hatte sie sehr schwer
belastet. Der kompetente und dazu verflixt gut aussehende Arzt
hatte das Herz der jungen Frau vom ersten Moment an schneller
schlagen lassen.
Ja, da konnte sie sich durchaus mehr vorstellen.
Sehr viel mehr.
Aber bis jetzt war die Sache zwischen ihnen nicht wirklich in
Gang gekommen.
Leider.
Sie hatte bereits mehrfach angedeutet, dass sie ihn gerne zum
Essen einladen würde, weil sie ihm so dankbar für die Gesundung
ihres Kindes war. Dr. Wiebold hatte stets abgewunken mit der
Begründung, dass das ja sein Job sei, Menschen gesund zu machen.
Aber Emily gab nicht so schnell auf…
Sie konnte sehr hartnäckig sein.
Ihre Tochter Nadja Wicker war hier in der Harm-Breding-Klinik
erstklassig betreut worden, und nun ging es ihr fast schlagartig
besser. Das entsprach ganz und gar den Richtlinien des
Klinikgründers Harm Breding, der die Gesundung der Patienten an die
erste Stelle gesetzt hatte.
Emily stand auf und machte Anstalten, den Arzt zu umarmen,
doch er wich geschickt einen Schritt zurück, drehte sich zu
Schwester Laura um und gab noch einige Anweisungen. Lächelnd winkte
er dem Mädchen noch einmal zu und verließ dann fast fluchtartig das
Krankenzimmer. Schwester Laura folgte ihm Sekunden später.
Draußen auf dem Flur stand Lernschwester Nicole und sortierte
die Patientenakten in den fahrbaren Aktenwagen. Von hier aus wurden
die Anweisungen zur Behandlung und Medikation übertragen in den
täglichen Arbeitsplan. Nicole schmunzelte in sich hinein, hatte sie
doch durch die offene Tür gerade den sinnlosen Versuch der Mutter
bemerkt, sich auf eine sehr persönliche Art beim Arzt zu
bedanken.
Dr. Dr. Sören Wiebold seufzte und warf Nicole einen gespielt
drohenden Blick zu. „Wehe, Sie sagen ein Wort darüber. Sie haben
nichts gesehen.“
Sie machte große Augen, in denen es vor Vergnügen funkelte.
„Was soll ich nicht gesehen haben, Herr Doktor?“, fragte sie mit
vorgeblicher Unschuldsmiene. Alle drei lachten daraufhin kurz
auf.
So laut, dass man es bis zum Flur hörte.
Es war nicht die erste Angehörige oder Patientin, die ihm
schöne Augen machte.
Sowas kam öfter vor.
Einem Mann, dessen heilende Hände manchmal Wunder vollbringen
konnten und der so verständnisvoll und einfühlsam, flogen die
Herzen sicherlich nur so zu.
Darüber brauchte sich letztlich niemand zu wundern.
Er wusste damit umzugehen und das Ganze erst gar nicht an sich
heranzulassen.
Denn das war grundsätzlich einfach besser so.
Alles andere zog nur Verwicklungen und Probleme nach
sich.
Und denen wusste er anscheinend geschickt auszuweichen, selbst
wenn sie hübsch waren.
Noch vier Patienten, dann hatte er seinen täglichen Durchlauf
wieder hinter sich gebracht. Zum größten Teil handelte es sich um
sogenannte Routineaufgaben, die natürlich auch erledigt werden
mussten. Nach einer guten Stunde war er auch damit fertig. Nun
durfte natürlich kein Notfall mehr reinkommen, bis zu seinem
Dienstschluss.
„Haben Sie es mal wieder geschafft, Dr. Sören?“
Er wandte sich nach der älteren Frau im Schwesternzimmer um
und lächelte sie an. „Die Visite ist beendet, die kleine Nadja ist
eine schon fast entlassene Patientin, und nun brauche ich dringend
…“
„Eine Auszeit auf dem Board mit dem Lenkdrachen als Zugpferd“,
ergänzte Schwester Roswitha, die gute Seele der Klinik.
„Danke”, sagte der Arzt.
„Das war es doch, was Sie sagen wollten, oder nicht?”
Schwester Roswitha war etwas verlegen.
„Ja, das war es.”
„Tut mir Leid, ich kann manchmal einfach nicht an mich
halten.”
„Ich weiß”, sagte er.
Aber er schien ihr das nicht übel zu nehmen.
Genau genommen konnte man Schwester Roswitha ohnehin nur sehr
schwer etwas übel nehmen.
Dafür sorgte schon ihre spontane, offene Art.
Das Hospital hatte sich von der Fachklinik für Allergiker zu
einem allgemeinen Krankenhaus mit Schwerpunkt Allergologie
entwickelt, besaß sechs Stationen für die unterschiedlichsten Arten
von Erkrankungen und nahm auch Patienten von Belegärzten auf. Der
Name war geblieben, er stammte von einem berühmten Allergologen,
der mit bahnbrechenden Behandlungen vielen Menschen das Leben
erleichtert hatte.
Schwester Roswitha arbeitete seit ungezählten Jahren hier, es
gab kaum etwas, was dieser Frau entging, und so streng sie auch
öfter wirken mochte, so herzensgut war sie im Grunde.
Und das wussten hier auch alle sehr zu schätzen.
Sie kannte Sören, seit er als Kind hier herumgetobt war und
sie ihn unzählige Male ermahnt und ausgeschimpft hatte. Mindestens
ebenso oft hatte sie in umarmt, getröstet oder ihm kleine
Süßigkeiten aus ihrem privaten Vorrat zugesteckt. Sie wusste, wie
es in ihm aussah, dass es ihn förmlich nervte, von den Frauen
angehimmelt zu werden, es war ihm einfach lästig. Aber davon ließ
er sich nach außen hin nichts anmerken.
„Das Wetter ist ein Geschenk, und ich bin froh, dass meine
Schicht vorbei ist. Da kann ich losziehen und mir den Wind durch
den Kopf blasen lassen“, erklärte er lächelnd. Kitesurfen war seine
Leidenschaft, und in jeder freien Minute stand er auf dem Board und
ließ sich vom Lenkdrachen mit dem Wind über das Meer ziehen.
Ein herrliches Gefühl war das!
Man brachte schon eine Menge Kraft, Fingerspitzengefühl,
Erfahrung und Routine, um wie Sören auch noch allein zu starten. Er
liebte es, mit dem Wind um die Wette zu fahren, um die kunstvollen
Sprünge auszudehnen und immer neue Figuren zu probieren. Hier auf
Sylt gab es viele, vorwiegend jüngere Menschen, die dem Kitesurfen
anhingen und oft spontan einen Wettbewerb austrugen. Schon oft
hatte man Sören geraten, an Meisterschaften teilzunehmen, aber
jedes Mal winkte er lächelnd ab.
Das war einfach nicht seine Sache.
„Um da mitzuhalten, müsste ich regelmäßig trainieren, und
außerdem viel durch die Welt reisen.
Das alles verträgt sich nicht mit meiner Berufung als Arzt.“
Ja, er benutzte bewusst das Wort Berufung, und die stand bei ihm an
erster Stelle. Er fühlte sich berufen, zu heilen. Und dieser
Berufung hatte er letztlich sein Leben gewidmet - nicht irgendeinem
sportlichen Wettkampf. Das war nur Zeitvertreib. Aber als ein
Lebensinhalt, dem man sich wirklich mit Haut und Haaren und dem
nötigen Ehrgeiz widmete, reichte ihm das nicht. Er wollte etwas
wirklich Bedeutungsvolles tun. Und die Heilung kranker Menschen,
die Linderung ihrer Leiden war seiner festen Überzeugung nach etwas
wirklich Bedeutungsvolles.
„Passen Sie auf sich auf, Doktor, das Wetter kann schnell
umschlagen“, riet Schwester Roswitha ihm gutmütig besorgt. Ihre
mütterlichen Gefühle für Sören kamen immer mal wieder hervor. Sören
mochte Roswitha und empfand ihre fürsorgliche Art nicht als
aufdringlich. Er wusste, sie meinte es immer gut mit ihm.
Wirklich.
Der Arzt verließ die Klinik und lief in flottem Trab Richtung
Südkap, wo es ideale Bedingungen gab und mittlerweile mehr als eine
Kitesurfer-Schule für Nachwuchs in der fröhlichen-bunten Community
sorgte.
Die Bedingungen waren ideal.
Traumhaft.
Schon von Weitem sah er die Surfer über die Wellen tanzen. Ja,
es sah aus, als würden sie tanzen und einer geheimen Choreographie
folgen.
Ein toller Anblick.
Er konnte sich gar nicht sattsehen.
All die bunten Segel der Surfer und Kitesurfer bildeten eine
bunten Kulisse vor dem strahlend blauen Himmel, an dem sich nur ein
paar Schönwetterwolken verirrt hatten. Der Wind blies beständig,
und Sören Wiebold konnte es gar nicht abwarten, endlich auf dem
Board zu stehen.
Der Inhaber einer der ältesten dieser Schulen, Jan Peters, war
ein Freund von Sören, hier konnte der Arzt seine Ausrüstung
deponieren und jederzeit darauf zugreifen. Das ersparte es ihm,
jeweils alles von zuhause aus mitbringen zu müssen. Aus Spaß und
als Freundschaftsdienst hatte Sören hier auch schon Unterricht
gegeben. In letzter Zeit hatte er aber aufgrund der vielen Arbeit
nicht die Möglichkeit, Unterricht zu geben.
Dr. Wiebold betrat gut gelaunt in das Geschäft, das zur Schule
gehörte. „Jan, wir haben beste Bedingungen.“
„So?“
„Willst du mitkommen, oder musst du Unterricht geben?“
Jan Peters, blond, schlank, mit bemerkenswerten Muskeln und
einen seltsam schiefen Mund, der ein besonderes Lächeln erzeugte,
lachte seinen Freund an. „Habe leider keine Zeit, später
vielleicht.“
Sören stürmte in die hinteren Räume, wo es Umkleidekabinen
gab, und schlüpfte in einen Neoprenanzug, dann nahm er die leichten
Schuhe mit, die ihm auf dem Board besseren Halt gaben, und suchte
seine Ausrüstung.
„Sind ein paar hübsche Fische draußen“, meinte Jan und
schnalzte mit der Zunge.
„Ich bin aber nicht zum Angeln hier, mein Freund. Ich treibe
Sport.“
„Ja, ja, ich weiß, dabei könntest du an jedem Finger zehn
haben, du musst nicht mal einen Köder auswerfen, und du müsstest
sie höchstens unter medizinischen Gesichtspunkten unter die Lupe
nehmen. Aber ich gebe nicht auf. Früher oder später wird dir schon
das richtige Glück begegnen.“
„Ich habe kein Interesse daran, Jan, nicht, seit Judith …“ Er
drehte sich abrupt um und ging hinaus.
Ja, die Sache mit Judith.
Das hing ihm nach.
„Diese verflixte Judith hat nicht nur dein Herz gebrochen, sie
hat die Überreste auch noch versteinert oder eingefroren. Aber wir
werden ihn schon wieder zurückholen in das Reich der
Lebenslustigen.“ Jan schaute dem Freund gutmütig hinterher. Er
kannte die Geschichte der unglücklichen Liebe. Judith war ein
unglaubliche selbstsichere Frau, die in ihrem Beruf als Architektin
aufging, so wie Sören als Arzt.
Auch eine Art Berufung.
Nur eben eine ganz andere.
Und das vertrug sich nunmal nicht.
Keiner der beiden konnte zurückstecken, weder im Beruf noch in
der Liebe. So kam es von Zeit zu Zeit zu einer stürmischen
Neuauflage der Beziehung, aber sobald sein Dienst rief oder ein
lukrativer Auftrag irgendwo auf der Welt die Frau lockte, kam es
unweigerlich zum Streit und zur Trennung. Irgendwie war die Liebe
bislang immer stark genug gewesen, um den endgültigen Bruch zu
verhindern. Doch beim letzten Mal war es anders gewesen, und nun
schien es endgültig aus zu sein.
Es gab keinen Weg zurück mehr.
Endgültig, so schien es.
Sören hatte keinen Blick mehr für schöne Frauen.
Der allerdings machte sich jetzt bereit und ließ zwischendurch
den Blick schweifen. Es waren mehrere Kitesurfer unterwegs. Die
bunten Lenkdrachen tanzten in einer Höhe von rund dreißig Metern
und leuchteten auffallend durch den nur wenig bewölkten Himmel,
während auf dem unruhigen Wellengang der Nordsee zahlreiche
Surfboards mit den Sportlern tanzten. Ein befreites Lachen löste
sich aus der Kehle des jungen Mannes, während der Wind ihn schon
bei den ersten Metern auf dem Board streichelte.
2
Schon fast eine Stunde hatte Sören Wiebold auf dem Wasser
verbracht, als er in unmittelbarer Nähe einen weiteren Kite und
darunter ein Board bemerkte. Auf dem Brett stand eine junge Frau
mit einer tollen Figur, die ihren Lenkdrachen ausgezeichnet
beherrschte. Sie sah ihn fast im gleichen Augenblick und schenkte
ihm ein Lächeln, dann blitzten ihre Augen herausfordernd, was man
selbst auf die Entfernung bemerken konnte. Die beiden Sportler
befanden sich fast auf gleicher Höhe, die Frau nutzte jetzt aber
einen winzigen Vorteil und zog davon. Sören ließ diese
Herausforderung nicht unbeantwortet, er nahm sie an. Das war pure
Lebensfreude, die beide Menschen in diesem Augenblick antrieb, das
Gefühl vollkommener Freiheit, Teil von Wind und Wetter zu sein,
eins zu sein mit der rauen Natur.
Es war die unbekannte Schöne, die knapp von Sören einen
Landepunkt erreichte. Lachend schaute sie ihm entgegen, irgendwie
provozierend und doch unglaublich fröhlich. Wiebold war rasch bei
ihr und strahlte sie an.
„Das war großartig.”
„So?”
„Sie sind eine Meisterin auf dem Board.”
„Danke.”
„Wollen wir es noch einmal versuchen?”
„Nun…”
„Wer zuerst drüben am Landesteg am Südkap ist, bestellt für
den anderen mit.”
„Okay.”
„Bei einem Drink könnten Sie mir erzählen, wo Sie so
hervorragend surfen gelernt haben.”
„Abgemacht.”
„Ach, übrigens, ich bin Sören Wiebold.“ Er streckte die Hand
aus, etwas zögernd schlug sie ein.
„Ich bin Jule – also gut, gehen wir etwas trinken, wer als
letzter ankommt, zahlt.“
Schon hatte sie den Lenkdrachen in den Händen und steckte
einen Stab in den Sand, drehte den Drachen in den Wind, legte das
Board bereit.
Kaum zwei Minuten später befand sie sich wieder auf dem
Wasser. Aber Sören nahm dieses Mal die Herausforderung ernster und
ließ sich nicht so einfach von ihr abhängen. Das Südkap von Sylt
ist ein beliebter Ort für Kitesurfer, so waren viele der leuchtend
bunten Lenkdrachen am Himmel zu sehen, ohne dass die Sportler sich
zu nahe kamen. Sören und Jule tanzten und flogen nur so über die
Wellen, vollführten elegante und waghalsige Sprünge und spornten
sich gegenseitig wortlos an. Doch er bemerkte plötzlich aus dem
Augenwinkel, dass der Kite von Jule sich aus dem Wind drehte. Hatte
sie einen Fehler gemacht? Das war nicht unmöglich, aber das konnte
es nicht sein, wie Sören nun bemerkte. Sie schien sich an den
Leinen eher festzuhalten statt sie zu kontrollieren, der schlanke
Körper schwankte auf dem Brett, der Drachen drehte sich
unkontrolliert in den Wind, begann zu taumeln und stürzte in einer
steilen Kurve ins Wasser, wurde zum Spielball der Wellen. Jule
konnte sich offenbar nicht mehr auf den Beinen halten, sie sank
zusammen, schlug mit dem Kopf auf das Brett und fiel mitsamt den
Lenkleinen an den Händen ins Wasser.
„Nein!“ Der Schrei von Sören gellte über das Wasser, aber
seine Geschwindigkeit war so hoch, dass er schon längst ein gutes
Stück entfernt war, bevor er gezielt reagieren konnte. Er wurde
nicht nervös, auch wenn die Zeit drängte. Mit sicheren Griffen
zerrte er den eigenen Drachen aus dem Wind, behielt aber genug
Geschwindigkeit bei, um nach dem Richtungswechsel im Bogen zur
Unglücksstelle zu fahren.
Schließlich entdeckte er Jules Board, ließ die eigenen Leinen
los, riss den Helm vom Kopf und hechtete ins Wasser. Wo war
Jule?
Nicht zu sehen, aber die Leinen des Kite waren im Wasser
versunken, obwohl sie normalerweise obenauf schwammen. Ein guter
Anhaltspunkt.
Sören holte die Luft, atmete aus und wieder ein, tauchte dann
unter. Zu sehen war kaum etwas, die Nordsee präsentierte sich nicht
als blaue Lagune, der man bis auf den Grund sehen konnte. Er
tauchte wieder auf und griff nach der Hauptleine, hangelte sich
daran nach unten. Tatsächlich bekam er nach einigen Sekunden einen
Arm zu fassen. Die Leine hatte sich darum gewickelt. Mit beiden
Händen fasste Sören zu und zerrte die leblose Gestalt aus der
Tiefe. Er durchbrach die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft,
Wasser tretend hielt er Jules Kopf über Wasser, dann schaute er
sich um. Zum Strand waren es mehr als hundert Meter, ziemlich weit,
um eine leblose Gestalt schwimmend hinzubringen. Aber da dümpelte
das Brett der jungen Frau.
Irgendwie gelang es Sören trotz des Wellengangs den schlanken
Körper auf das Brett zu zerren. Er achtete darauf, dass der Kopf
auf der Seite lag, dann überzeugte er sich davon, dass Jule noch
atmete und ihr Herz schlug. Eine Beule bildete sich an ihrer Stirn,
weitere Verletzungen konnte er nicht erkennen. Hier draußen konnte
er als Arzt nicht viel tun.
Mit kräftigen Schwimmstößen bewegte er sich in Richtung Ufer,
schob dabei das Board vor sich her. Die hundert Meter schienen kein
Ende zu nehmen, es war kräftezehrend und frustrierend, sich mit der
Last voranzuschieben, weil der Wellengang offenbar jeden kleinen
Fortschritt zunichte machte. Aber mittlerweile hatte man am Ufer
bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Zwei Männer stürzten sich
in das Wasser und kamen rasch auf Dr. Wiebold zu.
„Kommen Sie, wir übernehmen das“, sagte der eine und schaute
Sören fragend an. „Schaffen Sie es noch allein bis ans Ufer?“
„Ja, danke.“ Das war eine Erleichterung, die Last loszulassen,
die restliche Strecke schaffte er nun wieder schneller, war dennoch
völlig ausgebrannt, als er endlich den Sand unter den Füßen
hatte.
Die beiden Männer hatten das Board ans Ufer gezogen und hoben
die junge Frau vorsichtig herunter. Sören atmete schwer, doch sein
durchtrainierter Körper wurde mit der Anstrengung gut fertig.
„Ich bin Arzt“, sagte er rasch. „Dr. Wiebold von der
Harm-Breding-Klinik. Hat jemand von Ihnen ein Handy und ruft bitte
dort an, dass rasch ein Rettungswagen losgeschickt wird?“
Sofort nickte eine junge Frau und fingerte ein Smartphone aus
der Strandtasche, ließ sich die Nummer geben und telefonierte. Aber
da beugte sich Sören schon wieder über die Verunglückte, maß den
Puls, lauschte auf dem Brustkorb nach Lungengeräuschen und prüfte
dann die weiteren Vitalzeichen, so weit es ihm möglich war. Jule
war nicht lange unter Wasser gewesen, es bestand also kaum die
Gefahr, dass sie zu viel Wasser geschluckt hatte. Aber schon der
Zusammenbruch auf dem Board warf viele Fragen auf.
Sören wünschte sich seine Notfalltasche herbei, aber das war
natürlich sinnlos. Er legte Jule in eine stabile Seitenlage,
öffnete den Mund und bat dann die beiden Helfer von eben, die
mittlerweile zahlreichen Neugierigen wegzuschicken. Er spürte große
Erleichterung, als sein Freund Jan mit einem Strandbuggy angefahren
kam. Besorgnis spiegelte sich im Gesicht des blonden Hünen, dann
wanderte sein Blick aufs Meer.
„Bist du in Ordnung?“, kam als erstes die ängstliche
Frage.
„Ich schon, aber ich fürchte …“ Dr. Wiebold machte eine
Handbewegung zum Wasser hin, „die beiden Ausrüstungen eher
nicht.“
„Ich sorge dafür, dass die beiden Kites geborgen werden –
falls das noch möglich ist.“
„Gib mir Bescheid, wie hoch die Schäden sind.“
Jan winkte ab. „Mir scheint, du hast hier etwas Wichtigeres zu
tun, und bei einem Notfall springt sowieso die Versicherung
ein.“
In diesem Augenblick regte sich Jule. Nach einem gequälten
Stöhnen begann sie zu husten und spuckte Wasser. Sören lächelte
erleichtert. Er hielt ihren Kopf und sprach leise auf sie
ein.
„Bleiben Sie ruhig liegen, Jule. Ich bin Arzt und werde mich
um Sie kümmern. Ein Krankenwagen ist bereits unterwegs. Sie sind
vom Board ins Wasser gestürzt. Können Sie sich daran
erinnern?“
Veilchenblaue Augen hatte sie, sie standen groß und fragend in
dem ebenmäßigen Gesicht. Jule versuchte zu sprechen, begann aber
wieder zu husten.
„Nicht reden, alles wird wieder gut“, versicherte er mit
sanfter Stimme. In einiger Entfernung war die Sirene eines
Rettungswagens zu hören, der gleich darauf vor dem Sandstrand
stehenblieb. Zwei Sanitäter, Peer Schmitt und Ole Skamander, kamen
mit einer zusammengeklappten Tragbare auf die Menschenansammlung
zugelaufen, blieben dann verblüfft stehen.
„Hallo, Dr. Wiebold, sammeln Sie jetzt selbst neue Patienten
wie Muscheln am Strand?“, fragte Ole Skamander ironisch. Sören
wusste die etwas burschikose Art der beiden zu nehmen.
„Wenn ihr mir nicht genug Nachschub bringen könnt, muss ich
eben selbst auf die Suche gehen“, erwiderte er im gleichen
Tonfall.
Routiniert wurde die Patientin in den Rettungswagen gebracht.
„Kommen Sie nicht mit, Sören – Herr Doktor?“, fragte Jule mit
schwacher Stimme.
„Wir sehen uns später.“ Er strich ihr aufmunternd über das
Haar und machte sich auf den Weg zur Surfschule seines Freundes, wo
er duschen und sich umziehen konnte, bevor er ebenfalls in die
Klinik lief.
3
„Ganz ruhig weiter atmen, Frau Brinkhorst. Ja, so ist es gut.“
Die ruhige sonore Stimme von Dr. Thorben Wiebold verfehlte auch in
diesem Fall ihre Wirkung nicht.
Jule Brinkhorst atmete ruhig weiter, doch ihre Augen ruhten
mit einem ängstlichen Blick auf den älteren Mann, der in seinem
Leben schon unzählige Patienten behandelt hatte.
Direkt nach der Ankunft in der Klinik hatte man Jule in
Empfang genommen und erste Routineuntersuchungen vorgenommen. Dann
traf auch Sören Wiebold ein, er berichtete dem Internisten Dr.
Arthur Jablonski, was geschehen war. Die beiden Männer schätzten
sich, und so hatte der Internist keine Hemmungen, den anderen zu
bremsen.
„Sören, du siehst aus, als wenn du ein persönliches Interesse
an der Patientin hättest. Das ist nicht gut. Du solltest Diagnose
und Behandlung einem von uns überlassen.“
Sören Wiebold stutzte und runzelte die Stirn. „Wie kommst du
auf ein persönliches Interesse? Du lieber Himmel, ich habe die Frau
vor gut einer Stunde zum ersten Mal gesehen. Wir sind spontan um
die Wette gefahren, das war alles.“
Jablonski sagte kein Wort, er hoffte darauf, dass Wiebold die
Bedeutung der Worte und seine eigene Aufregung begriff, so dass er
die Vernunft wieder einschaltete.
Ja, wirklich. Sören hielt inne, schaute den Kollegen an und
grinste dann verlegen. „Habe ich mich sehr danebenbenommen?“
Arthur lachte leise auf. „Du kommst in deiner Freizeit wie ein
Verrückter angerannt und willst dich um eine Patientin kümmern, die
du gerade selbst aus dem Wasser gefischt hast. Das lässt zumindest
die Interpretation offen, dass da mehr ist als eine flüchtige
Bekanntschaft. Es hat dich also entweder schlagartig erwischt, oder
du traust uns nicht zu, eine ordentliche Diagnose zu erstellen. Da
ich jedoch unsere Fähigkeiten kenne, gehe ich ganz dreist von
Ersterem aus.“
Sören lachte auf. „Okay, du leidest nicht an mangelnden
Selbstbewusstsein – aber das wohl zu Recht. In Ordnung, ja, ich bin
bezaubert von dieser jungen Frau, und du verstehst sicher, dass mir
schon etwas daran liegt, sie in den besten Händen zu wissen.“
„Du musst dich nicht entschuldigen, Sören. Bitte doch einfach
deinen Vater um die Behandlung. Nach allem, was ich an Hand der
Krankenkassenkarte gesehen habe, hat sie ohnehin Anspruch auf
Chefarztbehandlung und Privatzimmer. Du hast einen Goldfische aus
der Nordsee gezogen.“
Sören Wiebold schüttelte lachend den Kopf und beschloss, dem
Rat des Kollegen zu folgen.
Dr. Thorben Wiebold schaute über die Brillengläser hinweg auf
seinen Sohn. Eine solche Bitte für eine keinesfalls todkranke
Patientin war ungewöhnlich. Sören würde sicher gute Gründe haben,
ihn darauf anzusprechen. Also waren die beiden in die Notaufnahme
gegangen.
Arthur Jablonski zeigte ein breites Grinsen und erklärte, was
er bis jetzt angeordnet hatte. Thorben Wieland wandte sich sofort
Jule zu und machte seine eigenen Untersuchungen. Arthur ging an
Sören vorbei und raunte über die Schulter: „Ich kann dich fast
beneiden.“
Der ältere Arzt blickte nach dem ersten Abhorchen auf das noch
sehr übersichtliche Krankenblatt. „Schwester Nicole bringt Sie
jetzt zum Röntgen, zum EKG und EEG. Wir werden schon herausfinden,
weshalb Sie fast ein nasses Grab in der Nordsee gefunden haben,
junge Frau.“
„Und Dr. Wiebold …“, begann sie.
„Sören? Ist mein Sohn, er wird sich schon um Sie kümmern, so
weit das nötig ist. Erst einmal sind Sie bei uns gut
aufgehoben.“
Es war nicht Schwester Nicole, die Jule Brinkhorst nach oben
zum Röntgen fuhr. Schwester Laura Stettner, seit fast drei Jahren
hier in der Klinik tätig, übernahm den Transport. Sie gehörte zu
denen, die hoffnungslos in den attraktiven Arzt verschossen waren,
machte sich aber keine ernsthaften Hoffnungen, dafür war sie zu
realistisch. Doch wenn sie ihn schon nicht haben konnte, wollte sie
wenigstens ein Auge auf die Frauen werfen, die sich ernsthaft für
Dr. Wiebold interessierten – oder andersherum. Jede Frau würde bei
Laura durch eine spezielle Kontrolle gehen müssen. Das galt auch,
und ganz besonders sogar, für Jule Brinkhorst.
Vom ersten Augenblick an, tatsächlich vom ersten Blick an,
hatte die hübsche Schwester Laura eine fatale Abneigung gegen die
Patientin verspürt. Es gab keinen bestimmten Grund dafür; weder war
Jule unfreundlich gewesen, noch gab es etwas in ihrem Umfeld, was
dieses Gefühl hervorrufen konnte.
Es war einfach so etwas wie eine atmosphärische Störung.
Etwas Chemisches.
Eine Abneigung, die schwer zu begründen, aber trotzdem sehr
manifest war.
Kurz nach dem Unfall hatte jemand aus der Surfschule von Jan
Peters die Tasche mit den persönlichen Habseligkeiten von Jule
Brinkhorst in die Klinik gebracht. Da sie ihren Kite bei Jan
gemietet hatte, war es leicht festzustellen, wohin ihre
Habseligkeiten in diesem Fall gebracht werden mussten. Es waren nur
ein unbestimmtes Gefühl, das Laura durchfuhr, als sie die Daten auf
der Krankenkassenkarte las; aus Erfahrung wusste sie, was die
einzelnen Codes bedeuteten. Privatpatientin mit Anrecht auf
Chefarzt! So eine war das also; eine reiche verwöhnte Frau, gewöhnt
an jeden Luxus und – sehr persönliche Betreuung durch den Oberarzt,
der hier irgendwann Chefarzt sein würde.
Es war ausgerechnet Schwester Roswitha, der gute Geist der
Klinik, die die knapp vierundzwanzigjährige Krankenschwester aus
den Gedanken riss.
„Wir das heute noch was, Schwester Laura?“, fragte sie scharf,
als sie feststellte, dass die junge Schwester mit dem Krankenbett
und der Patienten vor dem Aufzug stand und bereits zweimal die
geöffnete Tür ignoriert hatte.
„Ich – o ja, natürlich, Schwester Roswitha.“ Hastig schob die
das Bett in den wartenden Aufzug und fuhr mit Jule auf die
Station.
Roswitha hatte die Unterlagen persönlich abgeholt und die
Anweisung für die Spezialbehandlung der Patientin. Eigentlich
mochte auch Roswitha Patienten mit einem derartigen Status nicht
besonders. Viele von ihnen benahmen sich überheblich und hielten
eine Krankenstation für ein Hotel mit 24-Stunden-Service und
medizinischer Betreuung. Sie verweigerten jegliche Mitarbeit,
hetzten die Mitarbeiter durch die Gegend und waren der festen
Überzeugung, dass die Krankheit von Ärzten und Mitarbeiterin
geschaffen worden war, um sie aus ihren bequemen Leben zu isolieren
und zu quälen. Nun gut, nicht alle waren so, aber gerade hier auf
Sylt mit mehr oder weniger prominenten Personen hatte man schon
sehr schlechte Erfahrungen gemacht.
Bei Jule Brinkhorst befürchtete Roswitha derartige Ausfälle
jedoch nicht, die junge Frau machte einen netten Eindruck und
wirkte im Augenblick sehr dankbar für jede Handreichung. Dass sie
eine Sonderbehandlung erwartete und auch bekam, war nur recht und
billig, denn die monatlichen Beiträge an die Krankenkasse waren
auch dementsprechend teuer.
Schwester Roswitha schaute auf das Krankenblatt, wo Dr.
Wiebold die Diagnose und die angeordneten Maßnahmen wie auch den
Medikationsplan notiert hatte.
Natürlich war die Geschichte von der unglaublichen Rettung
sofort zum Thema im „Buschfunk“ geworden. Sören Wiebold rettete der
schönen jungen Frau nach einem Wettrennen mit dem Kite das Leben.
Offenbar eine Liebesgeschichte aus dem echten Leben, denn es blieb
ja nicht bei den Tatsachen; wie bei der Stillen Post dichtete jeder
etwas hinzu. Vermutlich hatte auch Schwester Laura bereits alle
möglichen „Details“ mitgekriegt und war in Eifersucht
entflammt.
Die Oberschwester wusste recht gut über die hoffnungslose
Liebe von Laura zu Dr. Sören Bescheid. Solange die Arbeit davon
nicht beeinträchtigt und kein öffentlicher Skandal heraufbeschworen
wurde, sollte das eine Privatangelegenheit sein und bleiben. Bisher
gab es an der Arbeit und Kompetenz der jungen Schwestern nichts zu
kritisieren.
Jule lag total erschöpft im Bett und bekam kaum mit, dass
Laura sie in ein hübsches Einzelzimmer brachte. Die Schwester
überzeugte sich davon, dass es der Patientin im Augenblick an
nichts fehlte. Sie erklärte kurz die Funktionen der Fernbedienung
für das TV Gerät, aber Jule war nicht mehr aufnahmefähig.
„Drücken Sie einfach hier den großen Knopf“, sagte die und
schob den Nachtschrank direkt ans Bett. „Falls Ihnen etwas fehlt,
oder wenn es Ihnen nicht gut geht … es ist immer jemand in der
Nähe.“
„Danke“, hauchte Jule und schloss die Augen. Sie war noch
immer völlig erschöpft, spürte ihr Herz rasen und dachte mit
Entsetzen an die letzten Sekunden auf dem Board, an die sie sich
noch erinnern konnte. Vom eigenen Herzen aus war ein entsetzlicher
Schmerz durch den ganzen Körper gezuckt, die Beine hatten begonnen
zu zittern, Übelkeit hatte sie förmlich überschwemmt, und dann war
das Wasser immer näher gekommen. Sie hatte noch versucht, sich an
irgendetwas festzuhalten, aber außer der Steuerleine war nichts
dagewesen. Danach waren ihre Sinne geschwunden.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie das besorgte
freundliche Gesicht von Sören über sich. Er hatte sie aus dem
Wasser geholt, ihr das Leben gerettet, und sich dann auch weiter um
sie gekümmert.
Jule Brinkhorst dämmerte in einen heilsamen Schlaf hinüber,
aber selbst jetzt lächelte sie bei dem Gedanken daran, wie besorgt
und zärtlich Dr. Wiebold sich um sie gekümmert hatte, besser hätte
sie es nicht planen können. Ob er wohl morgen kam, um nach ihr zu
sehen? Ihre Gedanken verwirrten sich, und noch ehe Laura von außen
die Tür geschlossen hatte, war Jule eingeschlafen.
4
„Guten Morgen. Sie sind Frau Brinkhorst, nicht wahr? Ich
bringe Ihnen das Frühstück und Ihre Medikamente. Nachher kommt der
Doktor zur Visite … Frau Brinkhorst?“
Praktisch jede Stunde hatte die Nachtschwester einmal in das
Zimmer hineingeschaut und alles in Ordnung gefunden. Als jetzt die
Schwester der Frühschicht, Anja, das Frühstücktablett abstellte,
sah sie, dass Jule schweißbedeckt war und um Atem rang, während die
Hände fahrig und unbewusst über die Bettdecke tasteten.
Anja steckte den elektronischen Stift, mit dem sie draußen die
Anwesenheit signalisierte, in die Öffnung für den Notfall. Sofort
gab es draußen auf dem Flur und im Schwestern zum Alarm. Anja riss
die Bettdecke weg und öffnete das Nachthemd, gleich darauf kam die
Stationsschwester Lea herein, dicht gefolgt von Dr. Lukas, dem noch
sehr jungen Assistenzarzt. Er horchte hastig den Brustkorb
ab.
„Hat sie schon ihre Medikamente bekommen?“
„Nein, ich habe sie gerade gebracht.“
„Sofort EKG, Eiltempo bitte.“
Lea nickte Anja zu, und die packte Jule, die nicht mehr
ansprechbar war, wieder unter die Decke und fuhr das Bett hinunter
in den Untersuchungstrakt.
Sehr bleich und irgendwie klein lag Jule Brinkhorst gegen
Mittag wieder in ihrem Bett. Noch während des EKG war sie wieder zu
sich gekommen, angesichts der Umgebung und der Verkabelung bekam
sie zunächst Angst und riss alles herunter, bevor es zwei
Schwestern gelang, sie wieder zu beruhigen. Schließlich begann sie
zu weinen.
„Großer Gott, bin ich denn so schlimm krank?“, heulte sie.
„Was ist das denn? Muss ich vielleicht sogar sterben?“
Das war der Augenblick, in dem Sören Wiebold hereinkam, der
sich eigentlich auf der Station nach dem Befinden der besonderen
Patienten erkundigen wollte. Man hatte ihn zum EKG geschickt. Mit
zwei raschen Schritten war er bei ihr und umfasste sanft ihre
Schultern.
„Du wirst natürlich nicht sterben, Jule“, erklärte er mit
fester Stimme und ging ganz selbstverständlich zum Du über.
„Aber – ich fühle mich – ach, so schrecklich – weshalb bin ich
immer wieder …“ Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht, und sie
klammerte sich mehr als nur haltsuchend an Sörens Händen fest. „Du
darfst mich jetzt nicht verlassen – bitte, bleib bei mir“, flehte
sie. Ihre großen blauen Augen ließen den Arzt kaum zur Ruhe kommen,
er hatte keine Chance unbeeinflusst nachzudenken.
„Ist schon gut, Jule, ich bleibe hier, wenn dir so viel daran
liegt.“
Die Untersuchungen waren recht schnell erledigt, und Sören
konnte nichts neues beunruhigendes entdecken. Da sein Vater jedoch
die Anamnese der Vorerkrankungen und andere Einzelheiten
aufgenommen hatte, wollte er sich nicht einmischen und voreilig
etwas sagen.
Zum Erstaunen der Stationsschwester brachte Sören die
Patientinnen selbst auf die Station zurück und suchte dann seinen
Vater im Sprechzimmer auf.
„Was machst du schon hier, du hast doch gar keinen Dienst“,
wunderte sich der Senior, lächelte dann aber. „Kann es sein, dass
eine hübsche junge Dame eine bemerkenswerte Anziehungskraft
besitzt?“
Sören zuckte verlegen die Schultern. „Ich habe sie aus dem
Wasser gezogen und fühle mich in gewisser Weise für sie
verantwortlich. Vielleicht wäre es gar nicht zu diesem
Zusammenbruch gekommen, hätte ich die Wettfahrt …“
„Nun reicht es aber“, unterbrach der Ältere energisch. „Es ist
mir neu, dass du dich mit Schuldvorwürfen quälst – noch dazu, wo
die vollkommen überflüssig sind. Dieser Zusammenbruch war ebenfalls
völlig überflüssig.“
Er warf einen Blick auf die Daten der aktuellen
Untersuchungen, verglich sie mit den bisher erhobenen Ergebnissen
und brummte gutmütig.
„Nicht lebensbedrohlich, das hast du sicher auch schon
gesehen. Herzrhythmusstörungen nach einer akuten Influenza. Frau
Brinkhorst hat sich zu früh zu viel zugemutet, demnach hat ihr
Körper auf dem Brett einfach gestreikt – beziehungsweise tut er es
noch. Nun, komm, mein Junge, wir gehen gemeinsam zu ihr und
berichten ihr, dass sie mit einigen wenigen Medikamenten,
vorsichtiger Krankengymnastik und viel Ruhe schon bald wieder auf
den Beinen ist. Das Kitesurfen kann sie sich allerdings für
wenigstens vier bis sechs Wochen abschminken.“
Sören war erleichtert, diese Diagnose deckte sich mit dem, was
auch er aus den Daten gelesen hatte. Trotzdem lag es in der Pflicht
des behandelnden Arztes Jule auf die Gefahren einer Überlastung
hinzuweisen. Als die beiden Ärzte im Krankenzimmer eintrafen,
erschrak Jule zunächst, doch der ältere Doktor lächelte beruhigend
und machte eine abwehrende Handbewegung.
„Keine Sorge, Frau Brinkhorst, und bitte auch keine
zusätzliche Aufregung. Ihre Erkrankung müssen wir ernst nehmen,
aber es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir kriegen das
gemeinsam in den Griff.“ Er schaute die junge Frau über seine
Goldrandbrille hinweg an, bemerkte, dass deren blaue Augen den
Blick von Sören festhielten und freute sich ein wenig, dass sein
Sohn doch endlich mal Interesse für eine andere Frau als Judith
zeigte. Auf den ersten Eindruck legte er in der Regel viel Wert,
und Jule Brinkhorst wirkte intelligent und sympathisch, auch wenn
er sie nicht so recht einordnen konnte. Nun, das musste Sören
selbst wissen.
Dr. Thorben begann zu erklären, was seine Diagnose
bedeutete.
Er hob die Augenbrauen.
„Ich schlage vor, dass Sie zunächst hier in der Klinik
bleiben, es gibt hier alle Möglichkeiten für die Reha, und außerdem
kann dadurch sichergestellt werden, dass bei einem nochmaligen
Notfall Hilfe vor Ort ist. Allerdings dürften die Medikamente einen
weiteren Anfall verhindern.“
„Ja, natürlich bin ich damit einverstanden“, sagte sie rasch
und lächelte Sören an, der gerade ein strenges Gesicht
machte.
„Du warst ziemlich leichtsinnig“, warf er ihr vor. „Dein
Hausarzt, oder zumindest der behandelnde Arzt bei der Influenza
muss dich jedoch gewarnt haben, zu früh wieder mit dem Sport zu
beginnen. Da hätte selbst ein ausgedehnter Waldlauf zur Gefahr
werden können. Kitesurfen ist ein kräftezehrender Sport. Ich will
mir gar nicht vorstellen, was hätte passieren können, wenn du
allein draußen gewesen wärst.“
„Nun, ich – der Doktor sagte …“
„Wer war denn Ihr behandelnder Arzt? Wir brauchen unbedingt
Ihre Krankenakten, damit wir die Medikation an Ihre bereits
erhobenen Daten anpassen können.“
Erschrecken flog über ihr Gesicht, aber so kurz, dass Dr.
Wiebold glaubte, sich getäuscht zu haben.
„Ich – äh – Dr. Meinberg heißt er, glaube ich“, erwiderte sie
lahm.
„In Hamburg?“
„Nein, in – in …“
Nun runzelte der Arzt die Stirn, sie bemühte sich um ein
verlegenes Lachen. „Bitte entschuldigen Sie, ich habe da was
verwechselt. Dr. Meinberg war früher mein Hausarzt, in Hamburg hat
mich ein Dr. Streiter behandelt. Ich werde ihn gleich anrufen, dann
kann er die Unterlagen hierher schicken.“
„Das geht von uns aus viel einfacher, weil wir eine direkte
gesicherte Leitung benutzen können“, bemerkte Doktor Thorben und
war erstaunt, weil sie heftig den Kopf schüttelte.
„Das möchte ich nicht“, erklärte sie energisch. „Muss das denn
unbedingt noch heute und sofort sein?“ Jule regte sich sichtlich
wieder auf, und das würde ihrem Herzen gar nicht gut
bekommen.
Dr. Wiebold zog ein missmutiges Gesicht, aber Sören lächelte
aufmunternd und legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.
„So wichtig ist das doch wirklich nicht, Vater, oder?“
Thorben sah, dass sein Sohn offenbar zarte Gefühle entwickelte
und stellte ihm zuliebe die Dringlichkeit zurück, die Sören unter
anderen Umständen vermutlich selbst befürwortet hätte. Er nahm sich
jedoch vor, später unter vier Augen mit seinem Sohn darüber zu
reden. Persönliche Gefühle sollten einen Arzt nicht daran hindern,
seiner Berufung nachzugehen.
„Nun gut, Frau Brinkhorst, dann rufen Sie bitte selbst an und
bitten den Kollegen um die Übersendung der elektronischen
Krankenakte. So geht es am schnellsten. Denken Sie bitte daran,
dass bei Ihrer Behandlung die Vorgeschichte unbedingt wichtig
ist.“
Sie produzierte ein kleines Lächeln. „Danke, Herr
Doktor.“
Er nickte. „Ich gebe meine Anweisungen an die Schwestern
weiter, man wird Ihnen einen Terminplan geben, so dass Sie wissen,
wann Sie wohin gehen sollen.“ Noch immer verstimmt reichte er ihr
die Hand und ging.
Sören setzte sich auf die Bettkante.
„Ich habe mich noch gar nicht angemessen bei dir bedankt“,
sagte Jule mit warmer Stimme und streckte gleich beide Hände aus,
die er etwas verlegen ergriff.
„Ich habe nur getan, was jeder andere auch gemacht hätte. Du
warst in Not, in Seenot sogar, und ich freue mich, dass ich helfen
konnte.“
„O je, ich hatte im Laden die Ausrüstung nur geliehen, der
Besitzer des Geschäfts wird ganz schön sauer sein.“
„Glaube ich eher nicht. Jan ist ein Freund von mir, und ich
habe ihn noch vom Strand aus angerufen. Er hat die beiden
Ausrüstungen mit dem Motorboot eingesammelt – zumindest das, was
noch brauchbar war. Ich hoffe jedenfalls, dass alles zu finden war.
Für die Schäden stellt er eine Rechnung auf, die kann seine
Versicherung übernehmen, schließlich handelte es sich um einen
Notfall. Es gibt keinen Grund, aus dem Jan sauer auf dich sein
sollte.“
Sie nickte zerstreut. „Die Versicherung, ja, natürlich, daran
habe ich gar nicht gedacht.“
„Was bist du eigentlich von Beruf?”
„Wieso?”
„Wir müssen deinen Arbeitgeber benachrichtigen.”
„Ah, ja…”
„Kannst du mir die Anschrift aufschreiben?“
„Nun…”
„Wie lautet sie?”
Sie schüttelte den Kopf, anstatt ihm eine Antwort zu
geben.
„Völlig unnötig.”
„So?”
„Ich bin mein eigener Herr und bin in – in der
Investmentbranche tätig.”
„Also selbstständig.”
„Ja.”
„Das ist natürlich etwas anderes.”
„Wie gut, dass ich mir einige Tage Urlaub gegönnt habe, so
kommt es nicht zu Terminproblemen. Aber genug jetzt von solch
ernsten Themen.”
„Meinetwegen.”
„Komm, erzähle mir was von dir.”
„Von mir?”
„Du bist Arzt und arbeitest hier mit deinem Vater zusammen?”
„Das stimmt.”
„Das stelle ich mir spannend vor.”
„Naja…”
„Oder kommt es bei euch zu Reibereien?“
Sören lachte auf. „Es kommt durchaus vor, dass wir bei einem
Patienten unterschiedlicher Meinung sind, aber das tragen wir nicht
nach Hause.“ Er berichtete nur kurz, dass sein Vater die Klinik
leitete und versuchte dann seinerseits, etwas mehr über Jule zu
erfahren, doch sie wich jeder Frage geschickt aus und lenkte ihn
immer wieder ab. Von Zeit zu Zeit erklang Gelächter durch die Tür
bis auf den Flur.
Gerade hatte Schwester Laura ihren Dienst angetreten und hörte
natürlich zu. Ihr Gesicht versteinerte, aber sie machte ihre Arbeit
sorgfältig und gewissenhaft. Schwester Roswitha entging es
allerdings nicht, dass Laura immer wieder missmutige Blicke in
Richtung des fraglichen Patientenzimmers warf. Diese unerfüllte
Liebe war hoffnungslos, aber Roswitha hoffte, dass es nicht zu
Schwierigkeiten kam. Mehr als kameradschaftliche Freundlichkeit
hatte Sören der Krankenschwestern nie entgegengebracht, und mehr
konnte sie auch nicht erwarten.
Leider.
Sie seufzte jedesmal, bei diesem Gedanken.
Aber sie war auch realistisch genug, um sich keine
weitergehenden Hoffnungen zu machen.
Tat sie auch nicht. Weil ihr jedoch viel an ihm lag, trachtete
sie ganz einfach danach, ihn zu beschützen.
Diese Frau, Jule Brinkhorst, war eine Gefahr für Sören. Noch
immer konnte Laura diese Abneigung an nichts festmachen, sie wusste
einfach, dass es so war, und sie akzeptierte dieses Gefühl. Also
konnte sie Jule nur im Auge behalten.
Als sie mit ihren Überlegungen soweit gekommen war, flog ein
Lächeln über ihr Gesicht, was sie für einen Moment ausgesprochen
hübsch machte. Aus dem langweiligen Dutzendgesicht wurde eine
beeindruckende Erscheinung. Gleich darauf wechselte der Ausdruck
wieder, Laura wurde erneut zu einem Durchschnittsmädchen, das nur
wenigen Männern einen zweiten Blick wert war.
Auch diese kleine Veränderung hatte Schwester Roswitha
bemerkt. „Das Mädchen braucht einen Freund, damit es auf andere
Gedanken kommt“, seufzte sie vor sich hin.
5
Sören Wiebold hatte sich schon lange nicht mehr so locker und
fröhlich gefühlt wie in der Gegenwart von Jule Brinkhorst. Sein
Lachen klang befreit, und er konnte mit ihr über Gott und die Welt
reden, ohne dass ihnen jemals die Themen ausgingen. Ihm fiel nicht
auf, dass Jule es geschickt vermied, auf persönliche Dinge zu
sprechen zu kommen. Nach ihrer eher vagen Auskunft zu ihrem Beruf
hatte sie weitere Fragen stets abgelenkt. Als Sören dann auf die
Uhr schaute, durchzuckte es ihn heiß.
„Mein Dienst fängt an“, sagte er ein wenig enttäuscht.
„Aber du wirst doch heute Abend nach dem Dienst noch einmal
hereinschauen?“, fragte sie eifrig.
„Wenn es dann nicht schon zu spät ist.”
„Zu spät?”
„Nicht immer habe ich pünktlich Feierabend, und die Arbeit
geht vor. Gerade hier auf der Insel, wo es viele Touristen gibt,
kann es immer wieder passieren, dass Notfälle gleich im Dutzend
auftauchen.“
„Ja, ich glaube, das kann ich verstehen.“
Er lächelte.
„Das wäre schön, denn meine Berufung ist es tatsächlich,
anderen Menschen zu helfen, da muss manchmal das Private hinten
anstehen.”
„Wirklich? Muss das so sein.”
„Ich fürchte ja.”
„Das ist schade.”
„Und nun habe ich wirklich keine Zeit mehr.“ Er winkte ihr zu
und lief mit raschen Schritten hinaus, prallte fast mit Schwester
Laura zusammen und hielt sie fest, damit sie nicht fiel. Schon war
er weg, Laura blickte ihm unglücklich hinterher.
Jule hingegen spürte, dass ihre Kräfte sich langsam wieder
aufbauten, und das lag mit Sicherheit auch an dieser sehr
speziellen Betreuung durch Sören Wiebold. Der alte Doktor hatte
wohl recht gehabt, sie war viel zu früh wieder auf das Board
gestiegen. Ein so kräftezehrender Sport wie Kitesurfen, nach einer
schweren echten Grippe, einer Influenza, war tatsächlich
leichtsinnig gewesen, aber sie hatte eine Chance gesehen, Dr.
Wiebold Junior kennenzulernen und wollte sie nutzen.
Schon vor mehreren Tagen hatte sie Sören Wiebold zum ersten
Mal gesehen, ihr war gleich die exzellente Beherrschung des
Lenkdrachens aufgefallen; auf ihre Nachfrage bei Jan Peters hatte
sie den Namen des Sportlers erfahren – zunächst ohne den Zusatz
Doktor. Sie fand ihn vom ersten Augenblick an aufregend und wollte
ihn um jeden Preis kennenlernen. Mit einer so dramatischen
Entwicklung hatte sie nicht rechnen können, aber im Grunde war es
ein Glücksfall, dass Sören sie gerettet hatte. Nun fühlte er eine
moralische Verpflichtung, sich noch länger um ihr Wohlergehen zu
kümmern.
Wohlergehen, das richtige Stichwort. Sie war hier
Privatpatientin und hatte Anspruch auf eine umfassende
Rundum-Betreuung. Nach all der Aufregung und dem überaus
erfreulichen Gespräch mit Dr. Wiebold Junior war es nun an der
Zeit, sich etwas verwöhnen zu lassen.
Jule klingelte nach der Schwester, um ihre Wünsche zu
äußern.
6
Lisa Seybold aus der Verwaltung kam mit einem ganzen Stapel
Unterlagen auf die Station. Das war nicht ungewöhnlich, für jeden
Patienten gab es eine Unzahl an Dokumenten, die ausgefüllt,
archiviert, weitergeleitet und der Statistik zugeführt werden
mussten. An diesem Tag hatte Anna noch ein anderes Anliegen.
„Laura, kannst du bitte mit dieser Patientin reden? Die
Krankenkassenkarte wird nicht akzeptiert. Bei einer Privatpatientin
erstellen wir ja sowieso eine Rechnung, die von ihr bezahlt werden
muss, aber die Krankenkasse verweigert die Karte, so dass es hier
unklare Verhältnisse gibt.“
Laura runzelte die Stirn. „Sprichst du von Jule
Brinkhorst?“
„Ja, woher weißt du das?”
„Naja…”
„Ich habe doch noch gar keine Namen genannt.“
„Ach, nur so ein Gedanke, weil wir ja im Augenblick nicht
besonders viele Private haben“, erwiderte Laura schnell.
„Ja, das finde ich ein bisschen seltsam. Mit dieser
Krankenkasse kann man bei einem Klinikaufenthalt auf Wunsch auch
direkt abrechnen, ohne dass die Patienten in Vorleistung treten
müssen.
„Hm…”
„Aber wenn die Karte nicht akzeptiert wird …“
„Und was sagen die, warum das nicht geht?“
„Angeblich ist Frau Brinkhorst kein Mitglied.“
„Wie bitte?”
„Ja, so war die Auskunft.”
„Aber sie hat doch die Karte …“ Laura unterbrach sich. Das
ungute Gefühl in ihr verstärkte sich, aber Lisa gegenüber wollte
sie kein Wort darüber verlieren. Sie nahm der Kollegin die Papiere
ab und blätterte sie durch. „Ich werde versuchen das zu klären“,
sagte sie dann entschlossen. Danach kamen die beiden jungen Frauen
noch ein bisschen ins Erzählen, aber im täglichen Betrieb eines
Krankenhauses bleibt nur wenig Zeit für Persönliches.
Laura wollte Jule Brinkhorst sofort aufsuchen, doch die war
zur Krankengymnastik gegangen und würde erst später zurückkommen.
Zwei Notfälle kamen herein und mussten versorgt werden,
Patienten mussten zu weiteren Untersuchungen gebracht werden, die
übrigen Patienten brauchten ebenfalls ihre tägliche Versorgung, und
natürlich gab es auch noch viel Büroarbeit, und die tägliche
Medikation musste auch noch vorbereitet werden. Das alles fraß eine
Menge Zeit, auch wenn es sich dabei um Routinearbeiten handelt.
Darüber vergaß Laura zunächst die Nachfrage bei Jule
Brinkhorst.
Als sie am Ende der Schicht erschöpft die Klinik verließ,
bemerkte sie einen Mann, der sich an der Pforte nach einer
Patientin erkundigte. Das war nichts Ungewöhnliches, aber offenbar
gab es schon beim Namen Unstimmigkeiten. Natürlich bekam ein
Fremder keine Auskunft, Datenschutz und Privatsphäre wurden strikt
eingehalten, sie galten ebenso wie die ärztliche Schweigepflicht
als Grundvoraussetzung.
Laura schüttelte den Kopf, es war schon seltsam, auf welch
verrückte Ideen manche Leute kamen. Vermutlich lag wieder irgendein
Prominenter auf einer der Stationen, und es gab immer wieder Fans
und Reporter, die nach der Devise „Frechheit siegt“ vorgingen, um
ein Autogramm, ein Selfie und ein Interview zu erzwingen. Laura
schüttelte noch einmal den Kopf und ging weiter, lächelnd atmete
sie draußen tief die frische Luft ein, dann dachte sie daran, noch
einmal zurückzugehen, um mit Jule Brinkhorst zu sprechen. Aber der
Tag war lang genug gewesen, sie verschob das Gespräch auf den
nächsten Tag.
7
Es war spät am Abend, der Mond stand hoch am Himmel, die
Nordsee rauschte unablässig, und der strenge Duft nach Meer und
Salz erfüllte die Luft. Die Schritte des Mannes, der hier am Strand
entlang ging, wurden von den unaufhörlichen Geräuschen der Nordsee
verschluckt. Dies hier war eine wenig bekannte Bucht, die in der
Nähe der Harm-Breding-Klinik lag, sie war der bevorzugte Ort für
Dr. Thorben Wiebold, um Ruhe zu finden und abzuschalten. Das
gesamte große Grundstück befand sich im Privatbesitz, und außer dem
Eigentümer, der nur selten auf Sylt war, gab es nur wenige
Menschen, die hierher kamen. Thorben und sein Sohn waren zwei
davon.
Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr, und Thorben machte mit
seinem Hund, dem übermütigen Cockerspaniel Bodo, den letzten
Spaziergang des Tages. Das war ein Ritual, von dem er nur dann
abwich, wenn es einen Notfall in der Klinik gab. Das kann zwar
immer wieder einmal vor, aber jeder wusste, dass Dr. Thorben diese
langen Spaziergänge brauchte, um mit der harten Realität fertig zu
werden. Um den überaus aktiven Hund zu necken warf er Steine oder
Muscheln ins Wasser, denen Bodo schwanzwedelnd hinterherrannte,
ohne sie jemals zu finden. Mit aufgestellten Ohren und
gelegentlichem Bellen beschwerte sich Bodo darüber, dass er
Gegenstände aus dem Wasser nicht apportieren konnte, aber er kam
jedes Mal fröhlich aufgeregt zu seinem Menschen zurück, nur um im
nächsten Augenblick erneut nach einem Stein zu suchen.
Der stetige Wind drückte Hose und Jacke gegen den schlanken
Körper des Arztes, die leicht ausgestellten Rockschöße eines
englischen Jacketts wirbelten bei jedem Windstoß mit. Thorben
Wiebold hatte eine Vorliebe für den englischen Stil mit dem
bequemen Schnitt von Tweed-Stoffen, zahllosen Taschen und
kontrastierenden Flicken an den Ellenbogen. Zufrieden hielt er das
Gesicht in den Wind und genoss den Geschmack von Salz auf der
Zunge. Ab und zu warf er einen Blick auf den Zugang zur Bucht, wo
er hoffte, seinen Sohn Sören zu sehen. Es kam oft vor, dass Vater
und Sohn gemeinsam diesen Abendspaziergang machten, aber heute
hatte Thorben extra darum gebeten, dass sein Sohn nach dem Dienst
zu ihm kam.
Die Schicht war schon einige Zeit zu Ende, Thorben vermutete,
dass Sören zunächst noch Jule Brinkhorst aufsuchte. Genau darüber
wollte er mit ihm reden. Seiner Meinung nach ging das alles viel zu
schnell. Sollte aus der Lebensrettung eine dauerhafte persönliche
Verantwortung werden?
Nun endlich kam Sören im leichten Joggertrab angelaufen. Er
war nicht mal außer Atem, als er seinen Vater erreichte und sich
dann niederbeugte, um Bodo eine Portion Streicheleinheiten zu
geben.
„Ist alles in Ordnung, oder gab es noch besondere Vorfälle?“,
erkundigte sich der Klinikleiter.
„Nichts Auffälliges, nichts Besonderes, nein. Das ist schon
fast unnormal. Wahrscheinlich kommt es in den nächsten Tagen dann
knüppeldicke“, erwiderte Sören lächelnd. „Aber du wolltest noch mit
mir sprechen, Vater. Ist irgendetwas passiert? Gibt es etwas
Wichtiges? Oder können wir das auf morgen verschieben?“
„Ich nehme an, du möchtest noch eine Art Hausbesuch
machen?“
„Ja, du hast recht, ich möchte noch zu Jule.“
„Genau darüber möchte ich mit dir reden.“
Sören runzelte die Stirn. „Stört es dich, dass ich sie sehr
sympathisch finde? Magst du sie nicht? Was stimmt denn deiner
Meinung nach nicht mit dir?“
„Ich finde Frau Brinkhorst durchaus sympathisch“, gab Thorben
zu und begann langsam wieder an der Wasserlinie
weiterzugehen.
„Da kommt doch noch ein aber?“
„Ja, du hast recht, mein Junge. Bei aller Sympathie erscheint
mir die junge Dame doch etwas merkwürdig. Ihre Auskünfte und
Antworten sind vage und ausweichend.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, ihre Aussagen hörten sich für mich so an, als müsste sie
erst überlegen oder wären rasch erfunden. Schon bei der Frage nach
dem Hausarzt wurde ich stutzig, und die etwas lahme Auskunft hat
mich auch nicht überzeugt, so dass ich im Ärzteverzeichnis
nachgesehen habe. Ich konnte keinen Kollegen dieses Namens finden.
Allerdings hatte sie in der Tat eine Influenza und muss demnach
medizinisch versorgt worden sein.“
„Das alles muss aber doch nichts zu bedeuten haben“, erwiderte
Sören leichthin. „Sie wird sich geirrt haben, du meine Güte. Ich
finde nichts dabei, schließlich war sie gerade dem Tod von der
Schippe gesprungen. Nein, Vater, ich finde das jetzt nicht
ungewöhnlich oder merkwürdig. Worauf willst du eigentlich
hinaus?“
„Ach, ich weiß es selbst nicht genau, das ist nur ein Gefühl“,
gestand der Ältere. „Es macht mich nur stutzig, und ich möchte
nicht, dass du enttäuscht wirst, nachdem schon …“
„Nachdem Judith mich ins offene Messer laufen ließ“,
vollendete Sören den Satz.
„So drastisch wollte ich das jetzt nicht ausdrücken. Ihr
hattet unterschiedliche Ansichten, die immer wieder
aufeinandergeprallt sind, obwohl ihr beide euch durchaus bemüht
habt, Kompromisse zu finden. Aber Judith ist eine Frau mit sehr
festen eigenen Ansichten. Du wünscht dir eine Familie und eine
Frau, die für dich da ist. Judith will ihren Beruf ausleben, an
Projekten in der ganzen Welt arbeiten und nicht wirklich sesshaft
werden. Eine Familie ist für sie etwas Abstraktes. Sie braucht
keinen Ruhepol, sie will nur eine Art Stützpunkt. Oh – ich zweifle
nicht daran, dass sie viel für dich empfindet – empfunden hat – und
ich fand sie immer sehr sympathisch …“
„In der Tat, sehr sympathisch, wenn ich mich nicht irre“, warf
Sören ein. „Du hast sie schon früher als Schwiegertochter ins Auge
gefasst, und ich fürchte, du siehst es als persönliche Beleidigung,
dass sie nicht bereit ist, ihre Vorstellungen den unseren
anzupassen.“
„So weit würde ich nicht gehen, aber ja, ich bin enttäuscht.
Doch ich habe die Probleme zwischen euch nie ignoriert. Ihr seid
erwachsene Menschen und müsst eure eigenen Entscheidungen treffen.
Das gilt nun auch für dich und Jule, ich will und werde mich nicht
einmischen, du solltest nur darüber nachdenken, was ich gesagt
habe. Ich will nicht, dass man dir wehtut, niemand sollte das
tun.“
„Ich glaube, du siehst ein wenig zu schwarz, Vater. Ich bin
sicher, Jule kann das alles aufklären“, meinte Sören
beschwichtigend.
„Nun, wahrscheinlich hast du recht, und ich reagiere ein
bisschen zu heftig. Lass uns nach Hause gehen, Anna wird sich schon
wundern – ach nein, ich gehe nach Hause, und du machst einen sehr
speziellen Hausbesuch.“
Thorben schmunzelte und winkte Sören zum Abschied zu. Der
setzte sich wieder in Trab und lief auf die Klinik zu, wo Jule
hoffentlich noch auf ihn wartete.
8
Es wurde Nachmittag am folgenden Tag, ehe Schwester Laura dazu
kam, an das aufgeschobene Gespräch mit Jule Brinkhaus zu denken.
Sie nahm die Krankenkassenkarte und die Anmeldeunterlagen,
entschied sich dann aber spontan anders. Sie rief zunächst selbst
bei der Krankenkasse an und bekam einen überaus freundlichen
Mitarbeiter zu sprechen, dem sie die ganze Geschichte erzählte, um
dann noch einmal nachzufragen.
„Es tut mir leid, Frau Stettner, aber unter dem Namen Jule
Brinkhorst haben wir kein Mitglied.“
„Aber ich habe doch eine korrekte Karte hier vor mir, die
sieht wirklich nicht gefälscht aus“, beharrte Laura seufzend.
„Ach, das muss gar nichts bedeuten, mittlerweile kann man
gefälschte Karten aller Art dutzendweise auf dem Schwarzmarkt oder
im Internet kaufen, mit Foto und allem. Erst wenn die Abrechnungen
zu uns kommen, fällt es auf, und dann ist es oft schon zu spät. –
Sagen Sie, Ihr Oberarzt hat tatsächlich die Frau aus dem Wasser
gerettet? Der ist ja ein richtiger Held.“
Unwillkürlich lachte Laura auf. „Das Wort würde er sich
verbitten. Er ist Arzt aus Berufung, und Lebensrettung sein
tägliches Brot, wenn auch nicht immer so spektakulär. – Schauen Sie
doch bitte noch einmal nach, aber dieses Mal nur nach der Nummer,
nicht nach dem Namen“, schlug sie beharrlich vor.
„Na gut, weil Sie es sind und so freundlich bitten. Also, ich
höre …“
Laura gab die Nummer durch und hörte gleich darauf einen
scharfen Pfiff durch das Telefon.
„Die Nummer gibt es tatsächlich, aber die gehört zu einer
Maria Antonia Simon, und die Dame ist zweiundachtzig Jahre alt.
Trifft das auf Ihre Patientin zu?“
„Nein, ganz sicher nicht.“
„Frau Stettner, ich kann Ihnen nur raten, die Polizei zu rufen
und Anzeige zu erstatten. Ich kann das nicht tun, weil ich
offiziell von gar nichts weiß und uns kein Schaden entstanden ist.“
Seine Stimme war ernst geworden, nicht nur Krankenkassen litten
darunter, dass gefälschte Mitgliedskarten aller Art in Umlauf und
die finanziellen Schäden doch immens waren. Sein Rat war unter
diesen Umständen realistisch.
„Danke erst einmal für den klugen Rat. Darüber werde ich mit
meiner Vorgesetzten reden. Auf jeden Fall danke ich Ihnen herzlich
für Ihre Auskünfte.“ Sie legte auf und wirkte plötzlich
geistesabwesend.
Während des Gesprächs war sie ans Fenster getreten, das nach
vorne auf den Haupteingang zeigte. Mehrere Leute gingen ein und
aus, Besucher, Patienten, Lieferanten, Mitarbeiter. Nur wenige
blieben vorne stehen, wenn es nicht gerade stürmte und alle einen
geschützten Platz suchten. Nur die notorischen Raucher standen dort
und frönten ihrer Sucht, auch wenn die meisten vom medizinischen
Personal das gar nicht gerne sehen. Doch ausgerechnet der Chefarzt
hatte darauf bestanden, dass ein Glasdach über der Raucherecke
angebracht wurde.
„Wir wollen unsere Patienten nicht noch kränker nach Hause
schicken, als sie hergekommen sind. Und wer die Finger noch nicht
von den Zigaretten lassen kann, muss nicht unbedingt auch noch in
schlechtem Wetter stehen. Aber es ist unsere Aufgabe, den Leuten
das Rauchen auszureden und ihnen bei der Therapie zu helfen.“
Damit war die Entscheidung gefallen, das Thema war beendet,
der Chef hatte ein Machtwort gesprochen. Wenn man bedachte, dass
der Chef nie geraucht hatte, so hatte er doch erstaunlich viel
Verständnis für die Bedürfnisse der Raucher.
Nun aber stand dort unten der Mann, den Laura am Tag zuvor
schon an der Pforte bemerkt hatte, als er sich nach jemandem
erkundigte. Wollte er jetzt womöglich warten, bis die Angebetete
oder der Superheld – wer auch immer der gesuchte Prominente war –
herauskam? Viel Aufwand, um ein Autogramm oder ein Selfie zu
ergattern.
Aber nein, irgendwie sah dieser Mann nicht aus, als würde er
jemanden so verehren, dass er sich durch endloses Warten zum Narren
machte. Dieser Mann hatte nach Lauras Ansicht einen guten Grund, um
jeden, der ein und aus ging, aufmerksam zu mustern. Na ja, egal,
sollte er ruhig da stehen, sie hatte andere Sorgen.
Laura zerbrach sich den Kopf, ob sie jetzt zuerst mit Jule
Brinkhorst, Schwester Roswitha oder Doktor Wiebold sprechen sollte.
Mit den Senior natürlich, denn Sören war in diesem Fall persönlich
involviert.
Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass es sich um einen
Irrtum oder ein Missverständnis handelte, daher war sicher das
erste Gespräch mit Jule Brinkhorst vorzuziehen. Oder – Laura
lächelte plötzlich, als sich ihre Gedanken in eine völlig verrückte
Richtung entwickelten – vielleicht war Jule Brinkhorst eine Zeugin
für die Polizei, und man hatte sie unter neuer Identität hierher
gebracht? Dann wäre den Beamten allerdings ein dicker Fehler
unterlaufen.
Laura lachte über sich selbst. So etwas gab es nur im Film.
Sie beschloss, mit Schwester Roswitha zu sprechen, bevor sie
irgendetwas unternahm. Die Oberschwester besaß auch die Autorität,
mit der Patientin im Zweifelsfall mit sehr deutlichen Worten zu
reden. Die alte erfahrene Fachkraft würde sicher einen Rat wissen,
es gab wohl kaum etwas, das sie noch nicht erlebt hatte.
In diesem Augenblick kam der Pfleger Fynn angelaufen.
„Laura, wir müssen heute allein fertig werden. Schwester
Roswitha wurde in den OP gerufen, sie muss für eine der Schwestern
einspringen, die sich beim Sport verletzt hat.“
Laura seufzte. Das war nicht das erste Mal, das Roswitha
einspringen musste, sie hatte viele Jahre als OP-Schwester
gearbeitet, bis ihr die Arbeit zu stressig geworden war. Dr.
Wiebold rief sie jedoch auch heute noch, wenn Not am Mann war. Das
hieß aber auch, dass Laura heute wohl kaum noch mit der
Oberschwester reden konnte. Nun gut, die Sache hatte sicher noch
bis zum nächsten Tag Zeit, Jule Brinkhorst würde sicherlich nicht
in der Nacht einfach davonlaufen.
Laura ging mit Fynn gemeinsam an die Arbeit, und als das Ende
ihrer Schicht nahte, war sie rechtschaffen erschöpft.
9
„Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie so direkt anspreche.“
Laura zuckte zusammen, sie war in Gedanken nach dem Ende ihrer
Schicht hinausgegangen, jetzt sah sie sich dem merkwürdigen Fremden
gegenüber. Höflich, aber distanziert blieb sie stehen und schaute
ihn an. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Das hoffe ich doch sehr. Sehen Sie, ich bin fremd hier und
auf der Suche nach einer Frau.“
„Im Krankenhaus? Wäre da nicht eine Annonce in der Zeitung
besser geeignet?“, erwiderte sie schlagfertig.
Er stutzte und lachte dann verlegen. „Nein, danke, in dieser
Hinsicht bin ich bereits bestens versorgt. Nein, ich suche diese
Frau, aber es kann sein, dass sie einen andern Namen benutzt als
den eigenen.“ Er hielt Laura ein Bild entgegen, darauf war eine
Frau zu sehen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Jule
Brinkhorst besaß. In diesem Augenblick kam einer der Ärzte aus dem
Haupteingang. Laura schob die Hand mit dem Bild zurück.
„Tut mir leid, ich kenne die Frau nicht. Im Übrigen schützen
wir die Privatsphäre unser Patienten, wir würden niemals
Informationen herausgeben, egal über wen. Vielleicht sollten Sie
bei der Polizei nachfragen.“
Der Arzt spürte, dass hier etwas nicht stimmte und kam näher.
„Belästigt dieser Mann Sie?“, fragte er und musterte den
Fremden.
„Nein, Doktor, der Herr hat sich bloß allgemein erkundigt“,
sagte Laura rasch. „Vielen Dank für Ihre Besorgnis, bis morgen.“
Sie lief rasch davon, um keine weiteren Fragen beantworten zu
müssen. Das Rätsel um Jule Brinkhorst hatte sich um ein weiteres
Puzzleteil erweitert, aber nichts davon ergab einen Sinn. Wer war
der Fremde, und warum suchte er sie?
Und vor allem: Was hatte er von ihr gewollt?
Zuhause in ihrem kleinen Apartment im Schwesternwohnhaus, in
dem natürlich auch andere vom Personal wohnten, bereitete sie sich
einen Tee, kam aber innerlich nicht zur Ruhe. Wenn sie ihrem Gefühl
folgte, dann war Jule Brinkhorst nicht ganz koscher, während ihr
der fremde Mann durchaus sympathisch erschienen war. Das Lachen in
den rundlichen Gesicht unter der fast vollständigen Glatze hatte so
echt gewirkt, Kleidung und Benehmen deuteten auf Intelligenz und
gehobenen Mittelstand, er machte nicht den Eindruck eines Stalkers.
Nein, dieser Mann hatte einen wichtigen und guten Grund, um sich
nach Jule Brinkhorst zu erkundigen. Aber auch ihn schien ein
Geheimnis umgeben, denn er machte auf den ersten Blick mit seiner
stämmigen Figur einen gemütlichen Eindruck, allerdings bewegte er
sich wie eine Raubkatze auf Samtpfoten.
Laura schüttelte über sich selbst und ihre absurden Gedanken
den Kopf. Ihre überragende Fantasie ging offenbar mit ihr durch.
Wahrscheinlich löste sich das alles durch eine Nachfrage bei Jule
Brinkhorst in Wohlgefallen auf, und sie musste aufpassen, diesen
Unsinn nicht auch noch auszusprechen. Dennoch ließ ihr die Sache
keine Ruhe. Statt sich also gemütlich in die Ecke zu setzen und die
Füße hochzulegen, ging sie unter die Dusche und zog sich um, dann
marschierte sie wieder zurück in die Klinik, entschlossen, jetzt
ein paar Antworten auf ungelöste Fragen zu bekommen.
10
In Jules Einzelzimmer stand Sören Wiebold und studierte das
Krankenblatt. „Deine Werte sehen schon viel besser aus“, stellte er
fest.
„Ich bin hier doch ans Bett gefesselt und muss demnach ein
braves Mädchen sein“, behauptete sie keck.
„Das sollte auch noch ein paar Tage so bleiben. Ruhe, gutes
Essen und regelmäßige, vorsichtige Krankengymnastik – dann kannst
du in drei oder vier Tagen zurück in dein Hotel.“
„Ich habe eine Ferienwohnung, meinen Vermieter habe ich schon
angerufen, und er hatte mir auch noch einige Sachen
gebracht.“
„Nun, dann wirst du den Rest deines Urlaubs im Liegestuhl am
Strand verbringen. Du darfst gelegentlich Besucher empfangen,
spezielle Hausbesuche von deinem behandelnden Arzt – von mir.“ Die
Augen von Sören strahlten so lebhaft und glücklich wie lange nicht
mehr. Diese Veränderung war auch nach außen hin sichtbar, so dass
sich die meisten Menschen, die ihn kannten, für ihn mitfreuten.
Schwester Laura gehörte nicht dazu, und sie glaubte gute Gründe für
ihr Misstrauen zu haben.
Sören Wiebold hatte während der Dienstzeit keine Zeit für
ausgedehnte Privatgespräche, er war Arzt mit Leib und Seele, eine
Vernachlässigung seiner Arbeit würde ihm nie in den Sinn kommen. So
hielt er sich auch bei dieser Visite nur kurz auf und freute sich
darauf, später am Abend ganz privat zu Jule gehen zu können. Sobald
in der nächsten Woche seine Schicht wechselte, hätte er auch
tagsüber Zeit, um mit Jule mal in ein Café zu gehen oder einen
langen Spaziergang zu machen.
„Du wirst dir für die nächste Zeit das Kitesurfen aus dem Kopf
schlagen müssen“, erklärte er mit Bedauern in der Stimme. Noch
immer spürte er die Erregung, die er bei dem Wettrennen mit Jule
empfunden hatte, fühlte den Wind, die Gischt, die unbändige
Lebensfreude im Wettstreit mit einer ebenbürtigen Gegnerin. Nun,
das war eine absehbare Zeit der Rekonvaleszenz, dann konnten sie
wieder beide auf das Board steigen und erneut gegeneinander
antreten. Sören beugte sich vor und küsste Jule sanft auf die
bebenden Lippen, sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, drückte
ihn an sich und erwiderte den Kurs mit einer Heftigkeit und
Intensität, die Sören überraschte. Schließlich löste er sich sanft
von ihr, drehte sich an der Tür noch einmal um und schenkte ihr ein
glückliches Lächeln.
Jule kuschelte sich in ihre Bettdecke und war mit sich selbst
sehr zufrieden. Noch vor ein paar Tagen, als sie auf Sylt
angekommen war, hatte sie nur eine vage Vorstellung davon gehabt,
was sie tun wollte. Dann war ihr der äußerst attraktive Mann
aufgefallen, und nach einer ersten Erkundigung wollte sie unbedingt
seine Bekanntschaft machen. Die Ereignisse hatten sich dann
förmlich überschlagen, keinesfalls hatte sie damit gerechnet, dass
ihr die eigene Gesundheit einen Strich durch die Pläne machen
könnte. Noch viel weniger war vorauszusehen gewesen, dass
ausgerechnet ihr Lebensretter Sören Wiebold wurde, auf denen sie es
in gewisser Weise abgesehen hatte. Besser hätte es niemand planen
können, und sie war sehr zufrieden mit sich. Seit dem Aufwachen am
Strand hatte sie sich alle Mühe gegeben, Sören zu betören und für
sich einzunehmen – es sah ganz so aus, als wäre ihr das gelungen.
Ein wenig gelangweilt griff sie nach einem Buch, das war nicht
wirklich interessant, aber es war eine willkommene Ablenkung. Und
im Moment konnte jede stärkere Belastung zu erneuten Herzproblemen
führen.
Es klopfte kurz an der Tür. „Ja, herein.“
Die Tür öffnete sich, eine Gestalt huschte herein.
„Schwester Laura?“
„Hallo, Frau Brinkhorst, ich bin nicht im Dienst, kann ich
trotzdem kurz mit Ihnen sprechen?“
„Aber natürlich, ich bin froh, wenn es ein bisschen Ablenkung
gibt. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, Laura.”
„Gut.”
„Haben Sie Mitleid mit mir, oder gibt es einen bestimmten
Grund, dass Sie mich aufsuchen? Nein, sicher nicht. Ich wüsste
jedenfalls keinen.“