Kann ich wirklich kein
Kind bekommen?
Die Inselärzte auf Sylt: Arztroman
von Eva Joachimsen und Conny Walden
Zu Frauenärztin Dr. Olivia Gaubitz wird eine Patientin namens
Melanie Schauer geschickt, die ein tragisches Schicksal erlitten
hat. Sie hatte bereits sieben Fehlgeburten und ihre Frauenärztin
ist ratlos, was noch möglich ist, um der Frau ihren größten Wunsch,
ein eigenes Kind, zu erfüllen.
Dr. Olivia Gaubitz hört sich das Schicksal der Frau an. Durch
die vielen Fehlgeburten ist auch die Beziehung zu dem Ehemann der
Frau sehr angespannt. Schafft Dr. Gaubitz es, der Frau ihren
größten Wunsch zu erfüllen?
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
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Alfred Bekker
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Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Prolog
Sie schluchzte.
Mit der Hand wischte sie sich über die Augen.
Es war so furchtbar.
Warum ich?, dachte sie.
Warum passiert das ausgerechnet mir? Oder besser gesagt: Warum
passiert das ausgerechnet mir nicht.
Tränenüberströmt saß Melanie Schauer vor dem Schreibtisch
ihrer Frauenärztin. „Ich kann keinen Grund für Ihre Probleme
finden, organisch sind Sie gesund und auch alle anderen Werte sind
in Ordnung.”
“Aber, es muss doch eine Ursache geben!”
“Sie sollten einmal eine Pause einlegen, sich eine andere
Aufgabe suchen, statt krampfhaft weiter zu versuchen, ein Kind zu
bekommen.”
“Sowas sagt sich so leicht.”
“Natürlich…”
“Ich kann das nicht so einfach! Eine Pause einlegen, wie Sie
sagen.” Sie schüttelte energisch den Kopf.
“Das würde aber auch Ihrem Körper guttun, dann kann er sich
erholen.“
Genau das wollte Melanie überhaupt nicht hören. Nein, davon
wollte sie nichts wissen.
Wie viele Frauen bekamen Kinder und dachten sich nichts dabei.
Bei denen schien das fast von selbst zu passieren. Nur bei mir
klappt es einfach nicht, dachte Melanie. Aber war das denn wirklich
zuviel verlangt? Ein Kind im Arm zu halten und eine Familie zu
gründen? Sollte sie sich wirklich damit abfinden, dass sie
eventuell darauf verzichten musste? Sie weigerte sich innerlich
entschieden, diesen Gedanken zu akzeptieren. Aber gleichzeitig
stieg die pure Verzweiflung in ihr auf. Ein Kloß saß ihr im Hals
und ließ sie kaum Luft holen.
Vor lauter Schluchzen konnte sie kaum sprechen, als sie sagte:
„Ich bin schon siebenunddreißig, mir läuft die Zeit davon.“
„Immer mehr Frauen sind Spätgebärende. Sie haben noch ein paar
Jahre Zeit und etwas Entspannung würde Ihnen und Ihrem Mann sehr
helfen. Manche Paare brauche einfach einmal eine Auszeit von dem
Kinderwunsch, damit es klappt.“
Wild schüttelte Melanie ihren Kopf. „Nein, das hilft nicht.
Das haben wir nach den ersten drei Fehlgeburten versucht.
Inzwischen gibt es keine Entspannung mehr, wir streiten doch nur
noch.“
„Machen Sie sich gegenseitig Vorwürfe?“ Die Ärztin, eine
ältere Dame, musterte ihre Patientin aufmerksam.
Wieder quollen dicke Tränen aus ihren Augen. „Die ganze
Familie meines Mannes setzt uns unter Druck.“
„Ich empfehle Ihnen eine Paartherapie, aber bis Sie da einen
Termin bekommen, sollten Sie sich bei Frau Dr. Gaubitz in der
Harm-Breding-Klinik untersuchen lassen. Frau Dr. Gaubitz ist eine
sehr kompetente Gynäkologin, vielleicht erkennt sie etwas, was ich
übersehen habe. Trotzdem sollten Sie sich einen Therapeuten
suchen.“ Damit überreichte sie ihrer Patientin die Überweisung, die
sie während des Gesprächs geschrieben hatte.
„Meinen Sie, Frau Dr. Gaubitz kann mir helfen?“ Hoffnungsvoll
schaute Melanie ihre Ärztin an. Inzwischen griff sie nach jedem
Strohhalm.
„Vielleicht, versprechen kann ich nichts. Der menschliche
Körper und die menschliche Psyche sind sehr kompliziert. Ich habe
Patientinnen, denen von ihren Ärzten völlige Unfruchtbarkeit
diagnostiziert worden waren und die inzwischen mehrere Kinder
haben. Keiner weiß, warum diese Frauen Kinder bekommen
konnten.“
Sie stand auf und reichte der Frau die Hand. „Ich wünsche
Ihnen alles Gute.“
“Ich danke Ihnen”, murmelte die Patientin.
Nachdenklich schaute sie der Patientin hinterher, die noch
immer niedergeschlagen den Raum verließ. Leider waren Ärzte keine
Götter in Weiß, auch wenn sie manchmal so bezeichnet wurden. Für
das Ehepaar Schauer wäre es besser, sich mit der Kinderlosigkeit
abzufinden, sich eine neue Aufgabe zu suchen, statt die nächste
Fehlgeburt zu provozieren. Der Körper von Frau Schauer würde es
nicht mehr lange mitmachen, zumal es immer besonders belastende
Spätaborte gewesen waren, schlimmer war es aber, dass ihre Psyche
längst schlappgemacht hatte.
1
Dr. Olivia Gaubitz stieg vom Fahrrad und stellte es an einer
Holzabsperrung ab, um zu Fuß weiterzulaufen. Sie wollte auf die
Aussichtsdünen bei List steigen und weiter durch die Dünen
herumstreifen. Eine Empfehlung ihres Kollegen Dr. Sören Wiebold.
„Wenn das Wetter gut ist, kannst du von dort bis Dänemark sehen.
Und die Dünenlandschaft lädt zum Wandern ein“, hatte er gemeint.
Der junge Oberarzt sah sehr gut aus und war überaus charmant. Da
sie erst seit kurzem auf der Insel lebte, wies er sie immer mal
wieder auf lohnenswerte Ausflugsziele hin. Vermutlich mit der
Absicht auf ein paar gemeinsame Stunden. Doch obwohl Olivia ihn
recht sympathisch fand, hatte sie kein Interesse an einer neuen
Partnerschaft. Erst einmal brauchte sie Abstand von ihrer alten.
Deshalb hatte sie sich auch nach Sylt beworben. Möglichst weit weg
von ihrem Ex.
Als am Morgen auch noch die alte Ladenbesitzerin beim
Einkaufen gemeint hatte: „Heute haben wir besonders gute Sicht“,
beschloss sie, ihren Hausputz, den sie sich für ihren Tag
vorgenommen hatte, zu verschieben und lieber eine Radtour zu
unternehmen. Etwas Proviant, Wasser und ihre Kamera hatte sie
schnell in einen Rucksack gepackt und sich gleich nach dem
Frühstück auf den Weg nach List gemacht. Jetzt stand die Sonne
schon ziemlich hoch und der Aufstieg auf die Düne wurde
schweißtreibend, dabei war sie eigentlich gut trainiert, fuhr sie
doch regelmäßig Fahrrad oder joggte. Sie war dankbar über die
Holztreppe, die Steigung im rutschenden Dünensand zu nehmen, wäre
sicher viel anstrengender geworden. Oben wurde sie von einem
herrlichen Ausblick belohnt, Sören hatte nicht zu viel versprochen.
Die Heidelandschaft zwischen den Dünen mit ihren Wanderwegen sah
wunderschön aus. Zum Greifen nah waren die Lister Häuser, die
Leuchttürme und in der Ferne war die dänische Insel Rømø noch
deutlich zu erkennen.
Wie gut, dass die Digitalkameras so bequem waren und sie keine
Rücksicht auf die Anzahl der Fotos nehmen musste. Sie konnte sich
noch gut erinnern, wie ihr Vater, als sie Kind war, immer die Filme
wechseln musste. Schon damals hatte er ihr die Liebe zum
Fotografieren nahegebracht.
Den ganzen Tag wanderte sie durch die Dünen, kehrte in einem
Restaurant ein und fuhr abends müde, aber zufrieden mit dem Fahrrad
zurück. Natürlich dauerte die Rückfahrt länger als die Hinfahrt,
dabei hatte sie Glück und hatte den Wind im Rücken.
Kurz vor ihrer Wohnung stieß sie auf Chefarzt Dr. Thorben
Wiebold, der mit seinem Cockerspaniel von dem abendlichen
Spaziergang zurückkam.
„Haben Sie Ihren freien Tag genutzt, um unsere wunderschöne
Insel zu erforschen?“, fragte er.
„Ja, Ihr Sohn hatte mir die Lister Aussichtsdüne empfohlen und
nachdem die alte Frau Simon meinte, die Sicht wäre heute besonders
gut, habe ich kurzerhand umdisponiert und meinen Haushalt Haushalt
sein lassen und bin aufs Fahrrad gestiegen.“
„Und? War die Sicht wirklich gut?“, fragte er. Bodo lief auf
sie zu und schnupperte an ihren Beinen, dabei wedelte er mit dem
Schwanz. So aufgefordert bückte sie sich, um ihn zu streicheln, was
ihm sichtlich gefiel.
„So klare Sicht habe ich selten erlebt. Ich konnte Rømø gut
erkennen.“
„Zwischen den Inseln gibt es eine Fährverbindung. Wenn Sie
alles von Sylt erkundet haben, können Sie auf unserer Nachbarinsel
weitermachen“, empfahl er ihr. Anschließend meinte er lächelnd mit
einen Blick auf seinen Hund: „Jetzt müssen Sie leider den ganzen
Abend weiterstreicheln. Bodo wird nicht müde, seine
Streicheleinheiten einzufordern.“
„Oh, das überlasse ich lieber Ihnen, ein bisschen muss ich
noch aufräumen, auch wenn ich das Putzen auf einen Regentag
verschoben habe.“ Sie richtete sich auf, verabschiedete sich und
fuhr weiter. Sie hatte mit ihrem neuen Job wirklich Glück gehabt.
Die schöne Insel, die netten Kollegen und besonders natürlich
dieser hervorragende Chefarzt. Inzwischen nahm sie ihm nicht mehr
übel, sie zu der Fotoausstellung überredet zu haben. Sie hatten
damit wirklich eine gute Werbung für die Harm-Breding-Klinik
gemacht und der Fotokalender, der dadurch entstanden war, würde
Geld für kranken Kinder erlösen.
*
Malte Schauer kam abgespannt von der Arbeit nach Hause. Die
Selbständigkeit mit seiner Autowerkstatt wurde von Jahr zu Jahr
anstrengender. Wie sehr hatte er sich in der ersten Zeit, nachdem
er den Betrieb vom alten Venske übernommen hatte, ins Zeug gelegt,
seine beiden Mechaniker hatten am selben Strang gezogen, da sie
kurz vor der Rente nicht arbeitslos werden wollten. Außerdem hingen
sie nach den vielen Jahren an der Werkstatt. Auch Melanie hatte ihn
unterstützt und abends, wenn sie von ihrem Steuerberater kam, noch
seine Buchhaltung gemacht. Doch inzwischen waren die beiden
zuverlässigen Mechaniker Rentner und auf die neuen Mitarbeiter
konnte er sich nicht verlassen. Ständig musste er sie
kontrollieren. Weil er Melanie nach den ersten Fehlgeburten schonen
wollte, hatte er sich dazu die Qual der Buchhaltung
aufgebürdet.
Kaum klappte die Tür ins Schloss, überfiel ihn Melanie gleich
mit ihren Neuigkeiten, dabei war er nur müde und wollte ein kleines
Nickerchen machen. „Meine Frauenärztin schickt mich zu einer
anderen Ärztin in die Harm-Breding-Klinik“, erklärte sie.
„Dort können sie sicher mehr untersuchen als in so einer
kleinen Arztpraxis“, erwiderte er nur, dabei glaubte er nicht mehr
an eigene Kinder. Die Ärzte hatten sie doch schon gründlich
untersucht, es war halt nicht alles heilbar. Menschen waren eben
keine Autos.
„Du hörst gar nicht zu“, warf Melanie ihm vor, da er gleich in
die Küche marschiert war und sich eine Flasche Wasser aus dem
Kühlschrank holte.
„Doch, doch, du sollst im Krankenhaus weiter untersucht
werden. Das ist sicher richtig.“ Er trank gleich aus der Flasche,
obwohl er wusste, dass Melanie sich darüber ärgern würde. „Tut mir
leid, ich bin müde. Momentan muss ich für zwei arbeiten, da Norbert
mit seinem Bandscheibenvorfall im Bett liegt. Und dann noch dieser
Kunde! Der Neue hat der Aussage vertraut, dass das Auto laut
geworden ist, weil der Auspuff kaputt ist, ihn gewechselt. Der kam
nach zwei Tagen wieder, weil das Geräusch immer noch da war. Also
habe ich mir den Wagen angeschaut. Zwei Radlager waren hin. Habe
ich selbst ausgetauscht, jetzt sitze ich auf den Kosten für den
Auspuff. Was meinst du, soll ich den Gesellen rauswerfen?“ Malte
ärgerte sich, den Mann eingestellt zu haben. Der Neue war nicht der
Hellste, aber er hatte lange suchen müssen, um überhaupt einen
Monteur zu finden. Da Melanie nicht antwortete, fragte er nach:
„Was meinst du?“
„Behalte ihn, es gibt doch keine Kfz-Mechatroniker in der
Gegend. Eigene Schuld, du hättest längst wieder ausbilden müssen“,
warf sie ihm vor. An seinen Problemen schien sie nicht sehr
interessiert zu sein, dabei lebten sie von dem Geld, das er mit der
Werkstatt verdiente.
„Auszubilden schaffe ich momentan nicht. Die Bewerber sind
nicht fit genug, da muss ich zu viel Zeit investieren. Du weißt
doch, der Letzte hat den Job geschmissen, nachdem er durch die
Zwischenprüfung gefallen war und der davor hat schon nach einem
halben Jahr aufgegeben, weil die Berufsschule zu anstrengend
war.“
Erst nach dem Abendessen kam er noch einmal auf seine Probleme
zu sprechen. „Kannst du mir wieder im Büro helfen? Ich komme
einfach mit der Arbeit nicht hinterher.“ Das war natürlich nur ein
Teil des Vorschlags, aber vielleicht würde es Melanie ablenken,
wenn sie aus der Wohnung herauskäme und etwas Sinnvolles zu tun
bekäme.
„Du weißt doch, wie schlecht es mir geht. Ich bin
krankgeschrieben und mein alter Chef wollte mich nicht behalten,
weil ich ständig krank war.“
„Ich weiß, ich will dich auch nicht drängen. Irgendwie wird es
schon weitergehen.“ Anschließend schaltete er den Fernseher an,
denn er musste sich ablenken.
2
Am nächsten Morgen wartete nach der Visite der stationären
Patienten eine Frau in der Ambulanz auf Olivia. Wie sie der
Überweisung und dem Krankenbericht, die ihr vorlagen, entnahm,
hatte die Patientin schon sieben Fehlgeburten erlitten und ihre
Frauenärztin hatte sie ihr überwiesen, weil sie keinen Grund für
diesen Zustand gefunden hatte. Als Erstes dachte Dr. Gaubitz bei
sich, dass sich das Ehepaar lieber auf etwas anderes konzentrieren
sollte, statt verzweifelt Nachwuchs zu bekommen. Häufig lösten sich
Fruchtbarkeitsprobleme, wenn das Paar sich von dem krampfhaften
Wunsch verabschiedete, dann waren sie entspannt. Manches Paar war
nach einer Adoption mit einem eigenen Kind überrascht worden. Aber
das alles hatte die Ärztin ihr sicher schon geraten, also würde sie
sich mit diesen Empfehlungen zurückhalten. Das Einzige was ihr in
den Unterlagen auffiel, war, dass die Schilddrüsenwerte knapp
unterhalb der Norm lagen. Allerdings nicht so stark, dass man
eingreifen musste. Konnte das der Grund sein? Leider besaß sie
nicht die nötige Kompetenz auf diesem Gebiet.
Erst einmal wollte sie die Patientin kennenlernen und sich mit
ihr unterhalten. Melanie Schauer wirkte tatsächlich sehr
verzweifelt. Einfühlsam tastete sich Dr. Gaubitz voran. Sie fragte
Frau Schauer nach ihren Zielen in der Jugend, um einen Eindruck von
ihr zu bekommen. Bereits bei der Vorstellung war die Frau in Tränen
ausgebrochen. Erst einmal musste sich die Frau beruhigen. „Schon
als Kind war mein Herzenswunsch, eine große Familie zu haben, einen
netten Mann, mehrere Kinder, ein Häuschen im Grünen. Meinen
Traummann habe ich zum Glück schnell gefunden, dann haben wir auf
ein Haus gespart und vor ein paar Jahren konnten wir ein altes Haus
erwerben und haben es mühsam renoviert und modernisiert. Kurz
darauf hat mein Mann von seinem Chef die Autowerkstatt am
Ortsausgang übernommen. Anfangs mussten wir uns anstrengen, sie
finanzieren zu können. Erst dann konnten wir an Kinder denken. Es
hat lange gedauert, bis ich schwanger wurde. Meine Ärztin hat mich
immer wieder beruhigt und gesagt, ich solle Geduld haben, das kann
dauern, bis es klappt und ich solle nicht in Panik verfallen.
Unsere Eltern und Geschwister fragten laufend nach, wann wir
endlich Kinder planten. Dabei versuchten wir es doch schon längst.
Als ich dann schwanger wurde, waren wir überglücklich und feierten
es mit einem Restaurantbesuch.“ Auf ihrem Gesicht erschien ein
Lächeln bei der Erinnerung. „Doch leider währte die Freude nicht
lange und ich verlor das Kind.“ Wieder fing sie an, herzzerreißend
zu weinen. Geduldig wartete Dr. Gaubitz, bis sie sich etwas
beruhigt hatte und stockend weitererzählte. „Meine Ärztin meinte,
wie sollen mit einem neuen Versuch etwas warten, damit sich mein
Körper erholen kann, denn die Schwangerschaft war schon ziemlich
weit fortgeschritten. Doch ich war über dreißig, da tickt doch die
biologische Uhr. Also haben wir es erneut versucht und ich wurde
auch schnell wieder schwanger. Doch auch dieses Kind verlor ich,
wie auch die fünf weiteren.“
Dr. Gaubitz tat die Frau leid. So ein großer Kinderwunsch,
dann die Schwangerschaft und die Hoffnung und schließlich die
Fehlgeburt mit der Verzweiflung. Die behandelnde Frauenärztin hatte
in ihren Augen alles richtig gemacht. Leider war das Ehepaar immer
zu ungeduldig gewesen und hatte dem Körper der Frau keine
ausreichende Erholungszeit gegönnt. „Jetzt bin ich schon
siebenunddreißig und habe Angst, dass ich bald zu alt bin.“
„Wie geht es Ihrem Mann?“, fragte Dr. Gaubitz.
„Er ist auch traurig.”
“Verstehe.”
“Nach den ersten drei Fehlgeburten war er sehr aufmerksam und
liebevoll. Inzwischen stacheln ihn seine Eltern auf.”
“In wie fern?”
“Sie sagen, dass er die falsche Frau geheiratet hat, die keine
Kinder will. Er soll sich scheiden lassen.“ Sie schniefte, putzte
sich die Nase und wischte die Tränen mit dem Ärmel weg. Sie konnte
kaum sprechen, als sie weitererzählte.
„Was sagt denn Ihr Mann dazu?“, fragte Dr. Gaubitz.
Frau Schauer zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht.”
“Was heißt das: Ich weiß es nicht?”
“Inzwischen besucht er seine Familie allein.”
“Ach, so.”
“Mir sagte er, was sich nicht ändern lässt, lässt sich nicht
ändern.”
“Tja…”
“Kinder wären ihm nicht so wichtig. Aber das stimmt nicht. Wir
streiten häufig.”
“Ich verstehe…”
“Er hat schon eine Adoption vorgeschlagen, aber ich will ein
eigenes Kind haben.“
„Haben Sie mit ihnen darüber gesprochen?“
Melanie schüttelte den Kopf. „Nein, bloß nicht. Das haben sie
gesagt, als ihre Nachbarn ein Kind adoptiert haben. Nein, ich will
ein eigenes Kind. Ich will die Schwangerschaft erleben, ein Baby im
Arm halten, ein Kind stillen und aufwachsen sehen. Seine Eltern
sind auch gegen eine Adoption. Sie sagen, wer weiß, was man sich da
ins Nest setzt.“
Eine Weile schwieg Dr. Olivia Gaubitz, um ihrer Patientin die
Möglichkeit zu geben, weiterzusprechen. Aber auch Melanie Schauer
sagte nichts mehr, sie weinte nur noch leise und Dr. Gaubitz
reichte ihr die Box mit den Papiertaschentüchern, denn Frau Schauer
hielt nur noch ein völlig durchnässtes Tuch in der Hand. Dann schob
sie ihr auch noch den Papierkorb hin. Achtlos warf Melanie Schauer
die gebrauchten Tücher hinein.
Sie atmete tief durch.
“Es tut gut, das alles mal aussprechen zu können”, erklärte
sie dann. “Auch, wenn es furchtbar schmerzt.”
„Am besten untersuche ich Sie erst einmal gründlich.
Vielleicht ist etwas übersehen worden“, erklärte sie. Sie musste
der Patientin irgendetwas anbieten, obwohl sie nicht daran glaubte,
einen anderen Befund zu bekommen als ihre Vorgänger. Da die nächste
Patientin schon wartete, ließ sie Frau Schauer einen neuen Termin
geben. „Dann habe ich Zeit und untersuche Sie gründlich. Planen Sie
ausreichend Zeit ein, nicht dass Ihr Mann sie vermisst, wenn Sie
nicht zurückkommen.“
„Der merkt es doch sowieso nicht“, flüsterte Melanie Schauer.
Diese Bemerkung ließ Dr. Gaubitz aufhorchen. Da schien noch mehr im
Argen zu liegen, aber für heute hatte sie die arme Frau genug
gequält, nach ihrem Mann würde sie bei nächster Gelegenheit
fragen.
3
Dr. Sören Wiebold wollte noch einmal das schöne Wetter
genießen. Bald würde es zu kalt für den Wassersport sein. Zum
Kitesurfen reichte die Zeit vor der Arbeit nicht. Aber eine Runde
schwimmen würde guttun. Zum Glück war der Strand nicht weit weg und
er hatte erst die Spätschicht. Seine kleine Wohnung hatte er
aufgeräumt. Jetzt genoss er Sonne, Wind und Sand. Nach einer ersten
langen Schwimmrunde legte er sich in den Sand und beobachtete die
junge Familie mit den zwei kleinen Kindern. Die Kleinen buddelten
begeistert im Sand, irgendwann stand der Vater auf und grub einen
Kanal zum Wasser und mit Hilfe der Kinder einen kleinen Hafen im
Sand, dort konnten die beiden ihre Spielzeugboote gefahrlos
schwimmen lassen. Als er klein war, hatte sein Vater ab und zu,
wenn er sich von der Klinik losreißen konnte, auch mit ihm im Sand
Burgen und Häfen gebaut. Leider war es viel zu selten gewesen. Aber
seine Mutter war häufig mit ihm am Strand gewesen und hatte mit ihm
Ball gespielt und Drachen steigen lassen.
Nach einer zweiten Runde im Wasser verließ er den Strand. Er
hatte ausreichend Zeit, sich Sand und Salz abzuduschen, eine
Kleinigkeit zu essen und dann seine Schicht zu beginnen.
Hoffentlich kamen heute keine schweren Fälle herein. Bei dem
schönen Wetter hatte keiner einen Krankenhausaufenthalt verdient.
Er lächelte über sich selbst, natürlich hatte auch bei schlechtem
Wetter niemand eine Verletzung oder Krankheit verdient.
Im Krankenhaus begegnete er im Flur Dr. Olivia Gaubitz. Sie
wirkte sehr nachdenklich. „Moin, ist heute viel los?“, fragte
er.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Nein, zum Glück ein ruhiger
Tag. Deine Empfehlung, einmal auf die Lister Aussichtsdüne zu
steigen, war sehr gut. Ich bin gestern mit dem Fahrrad hingefahren
und dann in den Dünen gewandert. Es war herrlich. Die Sicht war
klar, ich konnte sehr weit sehen. Und die Dünenlandschaft ist
wirklich urig.“
„Hoffentlich hast du viele Fotos gemacht, der nächste Kalender
will gefüllt werden“, spottete er gutmütig.
„Du immer mit der Verwertung meiner Fotos. Ich mache es, weil
es mir Spaß macht und nicht, um damit Geld zu verdienen.“ Sie
zögerte, bevor sie weitersprach. „Obwohl die Einnahmen von dem
Kalender einen guten Zweck erfüllen.“
„Sag ich doch. Und die Ausstellung war auch sinnvoll. Heute
reicht es leider nicht mehr, wenn Ärzte gute Arbeit leisten,
sondern sie müssen bei den Politikern in Erinnerung bleiben, damit
sie nicht auf einer Abschussliste landen.“ Gemeinsam liefen sie in
Richtung Treppenhaus.
„Das man als Arzt auch noch politische Arbeit leisten muss,
habe ich nicht erwartet, als ich anfing, Medizin zu
studieren.“
„Dafür ist auch eher der Geschäftsführer und vielleicht noch
der Chefarzt zuständig, aber die sind für Unterstützung jeglicher
Art immer dankbar.“
„Kann ich verstehen. Die Arbeit ist wirklich hart und hat doch
mit Medizin gar nichts zu tun.“
Trotz des schönen Tages und der geringen Urlaubsgäste wartete
auf Sören in der Notaufnahme Arbeit. Eine Frau hatte sich beim
Teekochen verbrüht. Zum Glück hatte sie gleich richtig reagiert und
war sofort unter die Dusche gesprungen, bis der Krankenwagen sie
abgeholt hatte. Nach einer Erstversorgung konnte sie deshalb auch
wieder nach Hause, musste aber regelmäßig zur Kontrolle und
Versorgung der Wunde vorbeikommen.
Der nächste war ein Heimwerker, dem beim Bohren und Anbringen
einer Lampe ein kleiner Betonsplitter ins Auge gefallen war. Mit
ruhiger Hand entfernte Sören den Fremdkörper und beruhigten den
Patienten.
„Sie dürfen nie ohne Schutzbrille solche Arbeiten machen.
Diesmal haben Sie Glück gehabt, denken Sie beim nächsten Mal
daran“, ermahnte ihn Dr. Wiebold zum Schluss.
Als er aus dem Behandlungsraum hinaus war, meinte er zu
Schwester Laura: „Die Leute lernen es nie. Wie lange werden
Sicherheitshinweise gegeben, trotzdem hält sich niemand
daran.“
„Na ja, wenn man nicht täglich so etwas macht, weiß man es
nicht.“ Dann lächelte sie ihn an. „Sonst wären Sie doch
arbeitslos.“
„Blödsinn“, er drohte ihr mit dem Zeigefinger. „Die normalen
Krankheiten würden uns sicher reichen. Dann hätten wir vielleicht
einmal Zeit, in Ruhe mit den Patienten zu sprechen und nicht immer
nur zwischen Tür und Angel.“
4
Mit fliegenden Ohren kam Bodo zu seinem Herrchen gerannt. In
der Schnauze trug er den Ball, denn Dr. Wiebold geworfen hatte. Er
konnte das Spiel stundenlang spielen. Leider hielten seine Menschen
es nie so lange aus. Viel zu früh brachen sie das Ballspiel wieder
ab. So wie jetzt.
„Komm, Bodo, wir müssen nach Hause, das Abendessen wartet auf
uns.“
Essen klang gut, deshalb wedelte Bodo mit dem Schwanz. „Wie
gut das ich dich habe, sonst würde ich sicher gar nicht mehr an die
frische Luft kommen.“ Dr. Wiebold strich im Hund über den Kopf. „Da
hatte Sören die richtige Idee gehabt, als er mir einen Hund
verordnete.“ Brav trug der Hund den Ball nach Hause, dort ließ er
ihn achtlos fallen, da das Fressen, dass Herrchen in seinen Napf
füllte, viel wichtiger war.
Dr. Wiebold nahm sich Zeit, das Essen, das seine Haushälterin
zubereitet hatte, aufzuwärmen und in Ruhe zu genießen. Die
Haushaltshilfe war ein Glücksgriff, sie war herzlich, fleißig und
eine hervorragende Köchin. Die leckeren Mahlzeiten lockten ab und
zu auch seinen Sohn an. Nach dem Essen studierte er die Krankenakte
eines Patienten ein weiteres Mal, dessen Diagnose schwierig war,
deshalb suchte er in den Fachbüchern nach ähnlichen Fällen. Bodo
lag währenddessen unter dem Couchtisch und schnarchte laut. Erst
spät am Abend klappte Dr. Wiebold seine Bücher zu und ging zu Bett.
Bodo wachte dabei natürlich auf und folgte ihm ins Schlafzimmer,
dort legte er sich auf den Bettvorleger. Das Bett mitzubenutzen
hatte Herrchen ihm mühsam abgewöhnt, nur dass er im Wohnzimmer
bleiben sollte, war nicht gelungen. Sören lachte ihn deswegen immer
aus. „Bei meiner Erziehung warst du konsequenter.“
„Da bin ich auch noch von deiner Mutter unterstützt worden. –
Du hattest mir versprochen, dich um die Erziehung des Hundes zu
kümmern“, erinnerte er Sören an das damalige Weihnachtsgeschenk und
das Hilfsangebot.
„Habe ich doch auch. Ich habe die Sauberkeitserziehung
übernommen, habe ihm beigebracht, an der Leine zu laufen und auf
den Namen zu reagieren. Alles andere ist deine Aufgabe.“
Tatsächlich hatte Sören einen Teil seines damaligen Urlaubs damit
verbracht, auf dem Sofa zu schlafen und den Welpen mitten in der
Nacht in den Garten zu befördern, wenn sein Geschäft zu dringend
wurde.
*
Verärgert kratzte Malte Schauer das verbrannte Essen von
seinem Teller und warf es in den Mülleimer. „Melanie, du musst dich
damit abfinden, dass wir keine Kinder bekommen können. So kann es
nicht weitergehen.“ Wütend ballte er seine Hände, als Melanie
daraufhin wieder einmal in Tränen ausbrach. Seit langem war mit
seiner einst tatkräftigen und lebhaften Frau nichts mehr
anzufangen. Alles drehte sich nur noch um ihren Kinderwunsch.
Inzwischen war sie in Depressionen versunken. Leider war sie
beratungsresistent und ließ sich nicht bewegen, eine Psychotherapie
zu machen. Vielleicht hätte so eine Therapie auch schon längst das
Kinderproblem gelöst. Mehrere Ärzte hatten sie darauf hingewiesen,
aber Melanie versuchte es stur weiter. Schluckte Pillen, Hormone
und solchen Kram, aber das Einzige, was sie erreichte, war, dass
sie zwar schwanger wurde, die Kinder aber nicht austragen konnte.
Vielleicht war das Problem wirklich ein psychisches und kein
körperliches. Er war auf jeden Fall am Ende seiner Kräfte. So sehr
er seine Frau auch einst geliebt hatte, inzwischen schwankten seine
Gefühle zwischen Verantwortungsgefühl, Mitleid, Liebe und Hass.
Schon lange überlegte er, ob es nicht für sie beide besser wäre,
wenn sie sich trennen würden.
„Aber du willst doch auch Kinder. Früher hast du es immer
gesagt. Du wolltest eine ganze Fußballmannschaft haben. Jetzt wären
wir dankbar, wenn wir wenigstens ein Kind bekämen“, stieß sie unter
Schluchzen hervor. Er musste sich sehr anstrengen, um sie zu
verstehen.
„Jetzt wäre ich froh, wenn wir wieder normal miteinander reden
könnten. Ohne Schuldzuweisungen, ohne ständige Tränen“, fauchte er
gereizt.
„Wie denn, du schaust dich doch nach anderen Frauen um. Du
bist kaum noch daheim. Mit niemanden kann ich reden. Dazu deine
Eltern, die ständig sticheln, ob wir nicht endlich Kinder
bekommen.“ Wieder schossen Tränen in ihre Augen. Die Quelle schien
unerschöpflich zu sein.
„Meine Eltern sind keine Unmenschen“, schrie er sie an. „Wenn
wir ihnen unsere Probleme erzählen würden, hätten sie Verständnis.
Aber du musst es ja geheim halten. Das erhöht den Stress doch
nur.“
„Ich will aber kein Mitleid. Außerdem hat deine Mutter doch
schon mehrmals angedeutet, dass du dich lieber nach einer anderen
Frau umschauen sollst.“
„Sie bekommt nur mit, dass wir unglücklich sind und uns
ständig streiten. Da ist es doch naheliegend, eine Trennung
vorzuschlagen. Um dich zu schützen, habe ich den Kontakt zu meinen
Eltern stark eingeschränkt. Du bist nicht einmal mehr Weihnachten
und zu den Geburtstagen im letzten Jahr mitgekommen. Was meinst du,
was es dadurch für Gerüchte entstehen.“
„Ich kann nicht mehr, immer diese Hoffnung, wenn ich schwanger
bin und dann die riesige Enttäuschung, wenn ich wieder eine
Fehlgeburt habe.“
Natürlich tat sie ihm leid und er hatte Mitleid. Er war doch
auch jedes Mal enttäuscht, wenn es wieder einmal nicht geklappt
hatte. Dabei verbot er sich schon lange, zu hoffen und sich zu
freuen, wenn der Schwangerschaftstest eine Schwangerschaft verriet.
Er schluckte seinen Ärger hinunter, ging zu ihr und nahm sie in die
Arme. „Melanie, ich liebe dich doch. Aber du machst es mir mit
deinen Depressionen und Vorwürfen nicht leicht.“
Natürlich hätte er das nicht sagen dürfen. Sofort stieß sie
ihn von sich. „Du denkst immer nur an dich. Wie ich mich fühle, ist
dir völlig egal.“
„Und wie ist es bei dir? Interessierst du dich für meine
Gefühle? Du bleibst morgens im Bett liegen, statt dir Arbeit zu
suchen, damit du mal auf andere Gedanken kommst. Aber ich muss
Aufstehen und den Laden am Laufen halten. Trotz aller Probleme
freundlich zu meinen Mitarbeitern und den Kunden sein. Fehler darf
ich mir nicht erlauben, denn das könnte tödlich sein.“
Wütend verließ er die Wohnung und rannte lange durch die
Braderuper Heide. Wieder einmal war es ihm nicht gelungen, ruhig zu
bleiben. Darüber ärgerte er sich sehr. Aber seine Nerven lagen
schon seit langem blank. Immer schneller schlug Mitleid in Hass um.
Er sorgte sich, dass ihm eines Tages die Hand ausrutschen würde,
deshalb suchte er häufig in der Natur nach Ruhe. Freunden mochte er
sich nicht anvertrauen, das hätte Melanie garantiert als
Vertrauensbruch angesehen.
5
Ein paar Tage nach dem ersten Besuch erschien Melanie Schauer
wieder in der Klinik. Diesmal wollte Frau Dr. Gaubitz sie gründlich
untersuchen. Da sie viel Hoffnung in die Klinikärztin setzte, war
sie ausgeglichener als die Tage vorher. Schließlich hatte noch kein
Arzt sich so ausführlich mit ihr unterhalten. Wie aufmerksam die
junge Ärztin ihr zugehört hatte! Seit langem fühlte sie sich
endlich einmal bei einem Arzt verstanden und gut aufgehoben. Von
vielen war sie immer wieder enttäuscht worden. Selbst Malte hatte
sie am Morgen in den Arm genommen, sie geküsst und ihr viel Erfolg
mit der neuen Ärztin gewünscht. Daher kam sie entspannt im
Krankenhaus an und ließ sich von einer älteren Schwester gleich
Blut abnehmen.
„So viel?“, wunderte sie sich.
„Ja, meine Chefin will wirklich alles gründlich untersuchen,
sie meint, die einfachen Dinge sind bei Ihnen schon längst ohne
Ergebnis untersucht worden.“ Während sie das Blut abnahm und in
kleine Röhrchen gab, plauderte sie freundlich mit Melanie. Melanie
konnte sich gut vorstellen, in dieser Klinik als Patientin zu
liegen, wenn alle Krankenschwestern so angenehm und herzlich waren.
Bisher hatte sie Krankenhäuser immer mit unangenehmen Erinnerungen
verbunden. Als Kind hatten die Ärzte sie nach einem
Blinddarmdurchbruch mehrmals operiert und sie hatte lange im
Krankenhaus liegen müssen. Seitdem gruselte es ihr davor. Die
Aufenthalte nach ihren Fehlgeburten hatten auch nicht geholfen,
Vertrauen in den Medizinbetrieb zu gewinnen.
„So, nachdem ich Sie gequält habe, können Sie zu Frau Doktor
gehen.“ Die Schwester brachte sie noch an die Tür und reichte Dr.
Gaubitz ein paar Unterlagen.
„Guten Morgen, Frau Schauer, wie geht es Ihnen?“, begrüßte die
Ärztin sie.
„Danke, etwas besser. Ich setzte viel Hoffnung in Ihre
medizinischen Fähigkeiten.“ Melanie Schauer lächelte sie an.
„Leider kann ich keine Wunder bewirkten, auch wenn ich es gern
möchte. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich gründlich nach den
Ursachen suchen und auch weitere Fachärzte hinzuziehen werden, wenn
es nötig ist. Jetzt möchte ich sie erst einmal gynäkologisch
untersuchen. Es kann immer mal etwas übersehen werden, manchmal
erkennt man Krankheitszeichen auch erst, wenn sie sich
weiterentwickelt haben, stärker geworden sind.“
Sie ließ sich Zeit und untersuchte wirklich alles sehr
gründlich, nahm einen Abstrich und kontrollierte mit dem
Ultraschallgerät die inneren Organe, sogar eine
Gebärmutterspiegelung machte sie. Währenddessen erklärte sie
ständig, was sie tat und auch die Ergebnisse.
„Wie ich erwartet habe, ich kann keine Auffälligkeiten
feststellen“, sagte sie zum Schluss und fügte, als Frau Schauer
gleich enttäuscht zusammensank hinzu: „Eigentlich ist es ein Grund
zur Freude, wenn man gesund ist. Jetzt werden wir richtig loslegen.
Die Ergebnisse der Blutuntersuchungen liegen in ein paar Tagen vor.
Lassen Sie sich bitte von Schwester Angelika einen neuen Termin
geben.“ Dann schaute sie Melanie Schauer ernst an. „Die Probleme
können auch bei Ihrem Mann liegen, deswegen würde ich gern mit ihm
sprechen und ihn untersuchen lassen. Das würde dann mein Kollege,
der Urologe Dr. Vollmer, machen.“
„Ich weiß nicht, ob er dazu bereit ist.“
„Ist er denn schon mal untersucht worden? Gibt es dazu einen
Bericht?“
Melanie schüttelte den Kopf. „Er wollte es immer nicht, er
meinte, an ihm kann es nicht liegen, schließlich wäre ich ja
schwanger geworden.“
Dr. Gaubitz nickte. „Das klingt logisch, kann aber trotzdem
sein. Am besten bringen Sie ihn zu ihrem nächsten Termin mit, dann
können wir alles in Ruhe mit ihm besprechen.“
*
Am Abend wollte Melanie ihrem Mann von dem Tag erzählen und
auch Dr. Gaubitz Wunsch, ihn zu untersuchen, erwähnen, doch er
reagierte gereizt.
„Bitte, ich bin müde, ich will jetzt nichts mehr von Ärzten,
künstlichen Befruchtungen und anderem hören. Wir haben schon so oft
darüber gesprochen. Das bringt doch nichts“, genervt griff er zur
Fernbedienung und schaltete den Fernseher an, nur um in einer
Talkshow zu landen, über die er sonst immer schimpfte.
„Nie hörst du mir zu! Wie sollen wir jemals Kinder bekommen,
wenn du mich nie unterstützt“, beschwerte sich Melanie mit einer
weinerlichen Stimme.
„Was heißt hier nie unterstützt? Wer bringt das Geld nach
Hause? Wer muss den ganzen Betrieb alleine schaukeln, obwohl wir
Personalmangel haben. Du könntest mir helfen, dann hätte ich auch
mehr Zeit für dich. Aber du pflegst ja nur dein Selbstmitleid. Hast
du jemals gefragt, wie es mir damit geht?“
Obwohl sie wusste, dass er wenigstens teilweise recht hatte,
machte sie ihm weitere Vorwürfe und wurde immer lauter dabei.
Schließlich griff sie wutentbrannt nach ihrer Lieblingsvase, in der
ein wunderschöner Blumenstrauß war, und feuerte sie an die Wand.
Mit einem Knall zerbrach das Glas, Wasser, Scherben und Blumen
fielen zu Boden und verteilten sich dort. Erstaunlicherweise schien
das Malte wieder zur Besinnung zu bringen.
„Dir fällt hier die Decke auf den Kopf. Du solltest unbedingt
wieder arbeiten gehen“, stellte er fest. Dabei sprach er ruhig und
leise.
„Du willst mich nur zwingen, wieder zu arbeiten. Aber das kann
ich nicht. Ich will nicht noch einmal wegen Krankheit gefeuert
werden. Das ist mir zweimal passiert, das reicht. Wer nimmt schon
eine Mitarbeiterin, die ständig krank ist? Außerdem bin ich noch
immer krankgeschrieben.“
„Sprich bitte einmal mit deiner neuen Ärztin darüber, ob es
sinnvoll ist, daheim zu bleiben. Es ist nur ein Vorschlag von mir.
Ich will dich nicht zwingen, aber so kann es nicht weitergehen. Ich
will nicht ständig Vorwürfe hören und mit dir streiten. Dazu bin
ich abends einfach zu erschöpft. Wenn du arbeitest, kommst du aus
dem Haus und wieder unter Menschen. Hier vereinsamst du
doch.“
„Das schaffe ich nicht“, flüsterte sie mit gesenktem
Kopf.
„Du kannst mit wenigen Stunden anfangen. Ich wäre wirklich
froh, wenn du mir etwas von der Büroarbeit abnimmst, nachdem ich
nicht genug Personal habe.“ Er griff über den Tisch nach ihrer
Hand, drückte sie und strich mit dem Daumen über ihren
Handrücken.
6
Da Sören Wiebold es noch immer nicht geschafft hatte, Olivia
Gaubitz zu einem Besuch in der Bonbonmanufaktur zu überreden,
versuchte er es diesmal mit einer anderen Taktik.
„Habt ihr nicht Lust, gemeinsam das Erlebniszentrum
Naturgewalten Sylt zu besuchen? Wir haben schließlich eine Reihe
Neubürger unter den Kollegen und sollten ihnen unsere Heimat
näherbringen“, schlug er in einer Kaffeepause vor, wohl wissend,
dass natürlich niemals alle daran teilnehmen konnten, da der
Klinikbetrieb weitergehen musste.
„Das können wir nicht, irgendjemand muss schließlich
arbeiten“, murrte Schwester Laura auch gleich.
Verstehend nickte Sören. „Ich weiß und ich glaube nicht, dass
ich meinen Vater überreden kann, dass Krankenhaus für ein paar
Stunden zu schließen. Deshalb habe ich überlegt, dass wir den
Ausflug in drei Gruppen machen. Natürlich nur, wenn sich genug
Interessierte finden.“
„Wie willst du die Teilnehmer einteilen?“, fragte Dr. Behrens,
der Internist.
„Natürlich nach den Schichten. Ich wäre bereit, eine Gruppe zu
begleiten, vielleicht würdest du mit einer Zweiten gehen?“
Dr. Behrens nickte. „Klar, mache ich gern, obwohl ich kein
indigener Sylter bin.“ Er grinste breit über seinen Scherz.
Sören schaute sich suchend um, sein Blick blieb an Schwester
Laura haften, doch die schüttelte nur stumm den Kopf. Deshalb
suchte er weiter. Frau Schröder von der Anmeldung, eine ältere
Dame, nickte ihm zu.
„Dann hätten wir schon drei Fremdenführer: Frau Schröder, Dr.
Behrens und meine Wenigkeit. Wir müssen jetzt nur noch geeignete
Termine finden, dann machen wir einen Aushang und alle, die daran
teilnehmen möchten, tragen sich ein. Sicher gibt es im
Erlebniszentrum Gruppenkarten, die günstiger als Einzelkarten
sind.“
Frau Schröder, die am Empfang noch den meisten Freiraum hatte,
suchte schon am übernächsten Tag passende Termine heraus und hängte
eine Teilnehmerliste im Aufenthaltsraum auf.
Eine Stunde später entdeckte Dr. Thorben Wiebold den Aushang.
„Das ist eine tolle Idee für den Zusammenhalt der Mitarbeiter, wer
hatte die?“, fragte er. Er zückte gleich seinen Kugelschreiber und
trug sich nach einem Blick in den Terminkalender in die Gruppe von
Frau Schröder ein.
„Wieso? Bekommt derjenige eine Auszeichnung als Mitarbeiter
des Monats?“, fragte Schwester Heike. Mit dieser Bemerkung hatte
sie die Lacher auf ihrer Seite.
„Vielleicht.“ Der Chefarzt wirkte nachdenklich.
Schwester Heike grinste breit. „Mitarbeiter des Monats, die
Idee sollten wir in den Vorschlagskasten tun.“
„Alle werden mit einem großen Foto im Foyer hervorgehoben!“,
spottete Dr. Behrens. „Es war Wiebold Junior“, verriet er
anschließend.
Dr. Thorben Wiebold runzelte die Stirn. „Lieber kein großes
Foto mit Urkunde im Foyer, eher ein kameradschaftliches
Schulterklopfen.“
Die Umstehenden lachten und unterhielten sich dann weiter.
Lächelnd verließ der Chef den Raum. Er mochte es, wenn seine
Mitarbeiter sich gut verstanden und scherzten. Dabei halfen
natürlich gemeinschaftliche Unternehmungen.
*
Zwei Wochen nach dem letzten Arztbesuch erschien Melanie
Schauer mit ihrem Mann in der Klinik.
„Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, Ihre Frau zu
begleiten“, begrüßte Dr. Gaubitz Malte Schauer. Er wirkte auf sie
recht sympathisch. Schade, dass solche Schicksalsschläge viele
Paare auseinandertrieben, statt ihren Zusammenhalt zu
stärken.
„Meine Frau hat mich sehr gedrängt. Ich sehe den Grund nicht
ein, bin aber ihretwegen mitgekommen. An mir kann es nicht liegen,
sie ist doch schwanger geworden.“
„Wir wissen nicht, was die Fehlgeburt verursacht hat. Es kann
schon sein, dass auch die männlichen Gene dabei eine Rolle spielen.
Wichtig ist auf jeden Fall, dass Sie Ihre Frau weiterhin
unterstützen“, versuchte sie ihn zu ermuntern.
Mit Einwilligung von Frau Schauer ging sie im Beisein des
Mannes die Ergebnisse der Untersuchungen durch. „Die
gynäkologischen Untersuchungen waren wie erwartet in Ordnung und
auch die Blutuntersuchungen haben nichts Neues ergeben. Allerdings
ist der Schilddrüsenwert im Grenzbereich, wie ihre Frauenärztin
bereits festgestellt hatte, da sollten wir noch einmal gründlich
drauf schauen, selbst kleine Abweichungen können schon große
Auswirkungen haben. Aber erst einmal möchte ich, dass Sie, Herr
Schauer, sich gründlich untersuchen lassen. Schwester Heike bringt
sie gleich zu unserem Urologen.“ Anschließend bat sie Frau Schauer,
sich einen neuen Termin geben zu lassen.
Aber auch die Untersuchungen bei Malte Schauer waren
unauffällig.
Dr. Petow, der Urologe, erklärte Malte Schauer: „Bei Ihnen
finde ich keine Ursache für die Kinderlosigkeit. Manche Paare
müssen sich leider damit abfinden. Selbst Hormonbehandlungen und
künstliche Befruchtung helfen nicht jedem. Vielleicht entdeckt Dr.
Gaubitz doch noch etwas. Bis dahin können Sie versuchen, andere
Ziele für ihr Leben zu finden, möglicherweise klappt es zu einem
späteren Zeitpunkt mit dem Kinderwunsch.“
Malte nickte. „Ich weiß, ich hätte zwar gern ein Kind, aber
ich kann mich auch damit abfinden, keins zu haben. Aber meine Frau
klammert sich an den Wunsch. Sie ist völlig aufgelöst, weil es
immer wieder nicht klappt. Ich bin nicht mehr in der Lage, sie zu
trösten. Leider sind unsere Verwandten dabei nicht so hilfreich mit
ihren Fragen, wann wir endlich ein Kind bekommen.“
„Bitten Sie Ihre Bekannten, das Kinderthema nicht mehr
anzusprechen“ empfahl Dr. Petow. Bedauerlicherweise hatte er keine
Zeit, sich länger mit Malte zu unterhalten, deshalb verwies er ihn
an Frau Dr. Gaubitz. „Ich empfehle Ihnen eine Psychotherapie. So
ein Schicksalsschlag muss verarbeitet werden, dabei kann ein
Therapeut helfen, auch bei der Suche nach neuen Zielen im
Leben.“
7
Inzwischen hatten sich dreiviertel der Belegschaft für die
Ausflüge zu dem Erlebniszentrum Naturgewalten eingetragen. Selbst
diejenigen, die von Sylt stammten und schon mit der Schule
dagewesen waren, machten mit. Sören Wiebold stellte zu seinem
Bedauern fest, dass sich Olivia bei Frau Schröder eingetragen
hatte. Etwas tröstete ihn, dass sie nicht Dr. Behrens genommen
hatte, sondern die Pförtnerin, denn manchmal hatte er den Verdacht,
dass sie Dr. Behrens bevorzugte, was ihn wurmte. Er grübelte lange,
ob es nun Eifersucht oder nur gekränkte Eitelkeit war, die ihn so
empfinden ließ. Auch wenn er Olivia sehr sympathisch fand, war er
doch nicht in sie verliebt. Oder vielleicht doch?
Da Sörens Freunde an seinem freien Tag arbeiten mussten,
schnappte er sich sein Fahrrad und Bodo und machte einen langen
Ausflug über die Insel. Der Hund durfte neben ihm herlaufen und als
er sich ausgetobt hatte, fuhr er im Fahrradkorb mit. Sein Vater
hatte einen seiner seltenen Schachabende, deshalb würde er keine
Zeit für eine lange Gassirunde haben. Da war es gut, wenn Sören den
Hund am Abend abgekämpft ablieferte, in der Hoffnung, dass Bodo
anschließend friedlich schlief. Beim Überreichen des Cockerspaniels
hatte Sören versprochen, seinen Vater bei der Betreuung und
Erziehung des Tieres zu helfen, denn im ersten Augenblick hatte
Thorben verlangt, das Tier zum Züchter zurückzubringen. Inzwischen
liebte er seinen Bodo zum Glück und verwöhnte ihn reichlich.
Lange hatte Sören mit Bodo geübt, bis der Hund gemerkt hatte,
dass er es im Fahrradkorb bequemer hatte. In der Braderuper Heide
stellte er das Fahrrad ab und joggte ein Stück, immer darauf
bedacht, dass Bodo mithalten konnte und nicht überanstrengt
wurde.
„Schwimmen Sie auch noch? Das gehört doch beim Triathlon
dazu“, rief ein Wanderer, der ihn eine Weile schon beobachtet
hatte, fröhlich zu. Sören stoppte, lachte und erwiderte: „Das
Schwimmen spare ich mir für später auf. Ich starte erst im nächsten
Jahr beim Ironman auf Hawaii.“ Daraufhin brach der Mann in
Gelächter aus und Sören lachte mit. Bodo sah verwundert von einem
zum anderen und lief dann zu dem Fremden, um dessen nackte Füße
abzulecken.
„Aus, Bodo, komm sofort her“, befahlt Sören streng und
entschuldigte sich bei dem Wanderer.
„Kein Problem, ich habe selbst Hunde, die mich ständig
ablecken. Vielleicht sollte ich mit ihnen auch für den Ironman
trainieren.“
Noch immer lachend winkte Sören ihm zu und lief weiter. Am
Strand ließ er sich nieder und schaute eine Weile den Wellen zu,
während der Cockerspaniel, als hätte sich noch nicht genug bewegt,
herumlief, überall schnupperte und sich schließlich ausgiebig auf
einem toten Fisch, der am Strand lag, wälzte.
„Oh nein, jetzt musst du auch noch gebadet werden“, schimpfte
Sören, der sich ärgerte, nicht genug aufgepasst zu haben. Erst
einmal begnügte er sich damit, Stöckchen ins Wasser zu werfen und
von Bodo apportieren zu lassen. Hoffentlich reichte es fürs
Erste.
Zurück beim Fahrrad packte er Wasser, Apfel und das belegte
Brötchen aus, für Bodo hatte er etwas Trockenfutter und einen
faltbaren Wassernapf mitgenommen. Durstig stürzte sich der Hund auf
das Wasser und schlapperte es schnell aus. Bei seinem Futter
zögerte er lange, wahrscheinlich hoffte er, auch ein Brötchen zu
bekommen. Mit treuen Augen schaute er Sören an. „Nix für dich, du
Fresssack, du bleibst schön beim Hundefutter“, erklärte Sören und
wies mit dem Finger auf das Futter. Er hatte sein Brötchen längst
aufgegessen und verzehrte inzwischen den Apfel, als sich Bodo
endlich bequemte, sein Futter zu fressen. Auf dem Rückweg hielt
Sören noch bei einem Eisstand an und genehmigte sich eine
Eiswaffel. Der Kioskbetreiber hatte ein Herz für Hunde und ein
Wassernapf aufgestellt, an das sich Bodo hielt. Dabei hatte er die
letzten Kilometer wieder im Korb gesessen und neugierig
umhergeschaut.
Als beide dann am Abend müde nach Hause kamen, war Sören im
Kopf wieder frei. Die Gedanken an die Patienten konnten bis zum
nächsten Arbeitstag warten und auch das Ziehen im Bauch bei den
Gedanken an Olivia hatte nachgelassen. Im Garten von seinem Vater
füllte er schnell eine Plastikwanne mit Wasser und schrubbte Bodo.
Der Hund war so müde, dass er nicht wie sonst üblich, darum
kämpfte, aus der Wanne zu springen, sondern alles geduldig über
sich ergehen ließ.
Das Hundetuch hing wie üblich im Schuppen an der Wand, sodass
er Bodo anschließend abtrocknen konnte. Erst, als der Hund wirklich
sauber war, traute sich Sören, ihn an seinen Vater zu übergeben,
und klopfte an die Terrassentür. Schwanzwedelnd lief Bodo zum
Herrchen, holte sich ein paar Streicheleinheiten ab, bevor er sich
schnell in sein Körbchen verzog.
„Was hast du denn mit ihm angestellt, dass er so müde ist?“,
fragte Thorben.
„Er ist ordentlich gelaufen und nachdem er sich auf einem
stinkenden Fisch geaalt hatte, habe ich ihn noch ins Wasser
gescheucht.“
„Der Arme“, sagte der Schachpartner seines Vaters im
Hintergrund.
„Den Armen hätte ich nicht riechend im Fahrradkorb
mitgenommen, dann hätte er laufen müssen. Und Vater hätte ihn
sicher nicht ins Haus gelassen.“ Er wünschte den beiden noch viel
Spaß bei ihrer Partie und verschwand in seiner Wohnung. Nach dem
Duschen setzte er sich mit einem Buch auf den Balkon. Obwohl er
alleine unterwegs gewesen war, hatte er den schönen Tag
genossen.
8
Wieder einmal war Malte vor den nörgelnden Melanie in die
Natur geflohen. Er holte tief Luft. Sehr tief. In Sportkleidung und
Joggingschuhe lief er durch die Braderuper Heide. Als sich sein
Handy meldete, versuchte er es zu ignorieren. Nein, nicht jetzt!,
sagte er sich. Dieser Moment gehörte ihm. Nur ihm. Sicher war es
Melanie, die herumquengeln würde, weil er noch nicht zurück war,
dabei würden sie doch erst in einer Stunde zu Abend essen. Aber der
Anrufer gab nicht auf. Immer wieder klingelte das Gerät.
Schließlich zog er es entnervt aus der Tasche. Die Nummer auf dem
Display war ihm unbekannt, daher nahm er das Gespräch an. Noch
immer etwas kurzatmig meldete er sich mit: „Hallo?“
„Moin, spreche ich mit Malte Schauer?“
Und als er es bejahte, sprach die Anruferin weiter: „Ich bin
Franziska Tanner, erinnerst du dich noch an mich?“
Er runzelte die Stirn.
“Franziska?”
“Ja, Franziska?”
“Die Franziska?”
Irgendwie war er etwas schwer von Begriff und schaltete nicht
gleich.
Aber es war auch schon so verdammt lange her…
Die Erinnerung meldete sich mit einer gehörigen
Verzögerung.
Einen Augenblick überlegte Malte, dann fragte er verblüfft:
„Die Franziska aus der Schule?“ Die Schulzeit war schon so lange
her und Franziska war irgendwann von der Insel weggezogen.
Und dann hatte er sie aus den Augen verloren.
Sie sagte:
„Ja, genau, auch wenn es ewig her ist, würde ich dich gern
wiedersehen und in alten Erinnerungen schwelgen.“
„Bist du nicht gleich nach der Schule ins Ausland gegangen?
Nach Spanien? Mallorca!“ Malte hatte Mühe, im Gedächtnis
Erinnerungsfetzen hervorzukramen. Während der Schulzeit war er mit
Franziska eine Weile gegangen, wie sie damals sagten. Aber nach dem
Schulabschluss hatten sie sich aus den Augen verloren. Bei
Klassentreffen hatte ihre beste Freundin erzählt, dass sie ins
Ausland gezogen war.
„Nee, nicht gleich. Erst einmal habe ich im Hotel Nordsee in
Kampen eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht. Erst danach bin
ich nach Madeira gegangen. Inzwischen habe ich schon in
verschiedenen Ländern gearbeitet, zum Schluss auf einem
Kreuzfahrtschiff. Aber jetzt zieht es mich wieder in die Heimat.
Deswegen rufe ich an. Kannst du mir bei der Wohnungssuche helfen?
Bisher habe ich nichts gefunden.“
„Das wird schwierig, viele, die hier arbeiten, pendeln jeden
Tag vom Festland herüber, weil es auf der Insel so teuer ist. Die
meisten Häuser und Wohnung werden an Touristen vermietet. Das
bringt mehr Geld.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Hat deine
Freundin nicht besser Beziehungen?“
„Ich weiß, dass es schwierig ist. Bei Wiebke ist leider die
Mutter schwer krank, deshalb kann sie mich nicht unterstützen.
Vielleicht kannst du im Bekanntenkreis herumfragen? Das würde mir
sehr helfen.“
„Na ja, das kann ich versuchen, aber ich verspreche
nichts.“
„Oh, vielen Dank. Ich melde mich wieder. Ich muss einchecken,
mein Flieger hebt gleich ab. Tschüs.“
Immer noch erstaunt schaute Malte sein Handy an. Dann steckte
er es kopfschüttelnd ein. Mit Franziska hätte er nie im Leben
gerechnet. Das war seine erste Freundin gewesen und hatte nicht
lange gedauert, sie waren beide noch zu jung gewesen. Außerdem
waren ihre Interessen zu unterschiedlich. Er interessierte sich für
Fahrzeuge und bastelte an Motorrollern und später Autos herum, sie
begeisterte sich für fremde Länder. Englisch und Französisch waren
ihre Lieblingsfächer, in denen sie auch immer Einsen hatte, während
er froh war, wenn er eine Vier bekam. Er grinste bei der Erinnerung
daran. Dafür war er in Physik und Mathematik gut und hatte in
beiden Fächern eine gute Zwei, auch Chemie und Biologie lagen ihm.
Er half ihr in Mathematik, sie ihm in Englisch. Französisch hatte
er gar nicht erst gewählt, sondern Dänisch, was ihm besser lag, da
daheim Friesisch gesprochen wurde.
Als sie dann in den Sommerferien nach Frankreich fuhr und er
zum Campen mit Freunden nach Rømø, wurden die Unterschiede
deutlicher. Kurz vor Weihnachten verplapperte sich ihre beste
Freundin und er erfuhr auf diese Weise, dass sie einen Freund in
Frankreich hatte, sofort trennte er sich von ihr. Unter ihrer
Treulosigkeit hatte noch lange gelitten.
Mit diesen Gedanken erreichte er seine Wohnung. Gut gelaunt
schloss er die Tür auf.
„Hast du einen Piratenschatz gefunden?“, fragte Melanie, weil
er so strahlte.
„Nein, nur einen überraschenden Anruf. Ich erzähle dir gleich
davon, erst einmal muss ich duschen.“
Beim Abendessen, Kabeljau mit Kartoffeln und Dillsauce,
berichtete er von dem Telefonat mit Franziska.
„Kennst du jemanden, der eine freie Wohnung hat?“, fragte er
zum Schluss. Beim Blick in ihr Gesicht musste er ein Seufzen
unterdrücken. Welche Laus war ihr denn schon wieder über die Leber
gelaufen?
„Nein, kenne ich nicht“, sagte sie kurz angebunden. „Diese
Franziska, das war doch deine Freundin in der Schulzeit.“ Natürlich
kannte sie Franziska, obwohl sie zwei Klassen tiefer gegangen war.
Franziska war die Schulschönheit gewesen. Endlos lange Beine, lange
blonde Haare, strahlend blaue Augen und dazu noch eine super
Schülerin. Alle Jungen waren hinter ihr her gewesen. Dass Malte das
Rennen gemacht hatte, war kein Wunder, denn er war sportlich, der
Fußballstar seines Vereins, sah mit seinem dunklen Lockenkopf und
den braunen Augen gut aus, dazu bastelte er mit den Freunden an den
Rollern herum. Er war das männliche Gegenstück zu ihr, während
Melanie nur ein unscheinbares Mauerblümchen gewesen war.
„Klar, ich habe gar nicht mehr an sie gedacht. Mir ist fast
das Handy aus der Hand gefallen, als sie sich meldete und als ich
nicht sofort schaltete, wer sie ist, meinte sie noch ob ich mich
noch an sie erinnere. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, dass
sie hier länger bleibt, die zieht doch immer in der Welt
herum.“
„Vielleicht hat sie hier eine Stelle in einem der großen
Hotels angenommen“, vermutete Melanie.
„Wahrscheinlich, aber kann ihr Hotel ihr nicht viel besser
eine Wohnung besorgen?“
Da er spürte, dass sie Franziska nicht wohlwollend
gegenüberstand, meinte er: „Bei Franziska und mir lagen schon
damals Welten dazwischen, ich war nur stolz, dass sie mich genommen
hatte. Peer und Jakob hat sie abgewiesen, dabei haben wir überhaupt
nicht zueinander gepasst. Sie hat die Nase gerümpft, als ich zelten
gefahren bin. Bei ihr musste es mindestens Frankreich sein. Dort
hat sie sich auch gleich einen neuen Freund angelacht.“ Er
schüttelte den Kopf bei der Erinnerung daran, dann grinste seine
Frau an. „Mit dir kann man wenigstens Pferde stehlen, du schimpfst
nicht, wenn wir in Schweden zwei Wochen zelten, obwohl es junge
Hunde regnet, und sich alles klamm anfühlt. Und notfalls wechselst
du selbst einen Autoreifen, statt den Minirock hochzuziehen und
Autofahrer anzuhalten.“
Jetzt lachte sie und er umarmte sie. „Dabei hättest du auch
Köchin im Sternerestaurant werden können. Dein Essen ist
phantastisch.“
*
Obwohl Melanie und Malte einen guten Tag hatten, an dem sie
sich verstanden und abends sogar Essen gingen, nagte der Zweifel an
Melanie. In der Schule war die Freundschaft zwischen Malte und
Franziska damals beobachtet und besprochen worden. Viele Mädchen
waren auf Franziska neidisch gewesen und so fragte sie sich, ob die
alte Liebe jetzt wieder aufflammte.
Zwei Tage später traf sich ihr Mann mit Franziska und besprach
mit ihr die Möglichkeiten einer Wohnungssuche. Obwohl Malte sie
gefragt hatte, war sie nicht mitgegangen. Beide Schauers hatten im
Bekanntenkreis ergebnislos herumgefragt. Deshalb hatte Malte eine
Liste mit Maklern und Wohnungsgenossenschaften zusammengestellt,
die er seiner Schulfreundin geben wollte. Mit jeder Viertelstunde,
die er weg war, wuchs Melanies Misstrauen. Und als er dann am
späten Abend zurückkam und erzählte, dass sie noch auf ein Bier in
einer Bar zusammengesessen und über ehemalige Klassenkameraden
gesprochen hatten, hörte sie schon gar nicht mehr richtig zu.
„Warum kommt sie ausgerechnet jetzt nach Sylt zurück?“, fragte
sie, ihre Stimme klang giftig.
Leider war Malte dadurch nicht gewarnt, sondern antwortete
unbedarft: „Sie meinte, sie komme in ein Alter, wo man sich Kinder
anschaffen sollte und die sollten hier auf Sylt aufwachsen, wo
Kinder noch unbeschwert spielen können und ihre Eltern und
Verwandte in der Nähe sind und sie bei der Kinderbetreuung helfen
können.“
„Und warum hat sie dann ausgerechnet dich nach einer Wohnung
gefragt?“ Schon wieder machte sie ihr
Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht, sodass Malte nur mühsam ein
Seufzen unterdrücken konnte.
„Keine Ahnung, vielleicht dachte sie, dass ich von meinen
Kunden eher so etwas höre“, vermutete er. Natürlich beruhigte das
Melanie nicht.
„Will sie denn weiterarbeiten, wenn sie Kinder hat?“, fragte
Melanie spitz.
„Weiß ich nicht, danach habe ich nicht gefragt. Noch hat sie
ja keine Kinder.“
„Ist sie verheiratet?“, bohrte Melanie nach.
„Das weiß ich ebenfalls nicht.“ Er grübelte. „Einen Ring hat
sie nicht getragen. Keine Ahnung.“
Überrascht zuckte er zusammen, als sie auf einmal explodierte:
„Sie will dich zurückhaben. Mit ihr kannst du Kinder haben und
glücklich sein. Sie ist ja auch so gebildet und lustig, während ich
nur die Dumme bin, die nicht von dieser verschlafenen Insel
weggekommen ist.“
„Aber Melanie, das habe ich nie gesagt und auch nie gedacht.
Ich bin doch auch immer nur auf der Insel gewesen und ich liebe
dich.“
„Du weichst mir ständig aus, wahrscheinlich hast du schon
längst eine Geliebte, aber jetzt ist es nicht nur eine Geliebte,
sondern die Frau deiner Träume, die du heiraten wirst, sobald sie
ein Kind hat und wir geschieden sind.“
Im ersten Augenblick war Malte wie erstarrt, doch dann schrie
er ebenfalls. „Mit dir ist es im Moment nicht mehr zum Aushalten.
Ständig machst du mir Vorwürfe, weinst nur noch, schaffst den
Haushalt nicht mehr, sodass ich, wenn ich müde aus der Werkstatt
nach Hause komme, auch noch aufräumen, putzen und Wäsche waschen
muss. Ich halte deine Anschuldigungen nicht mehr aus. Bisher bin
ich dann immer joggen gegangen, auch wenn du es mir nicht glaubst,
aber so geht es nicht weiter. Die Ärzte haben uns schon seit
längerem eine Paartherapie empfohlen, aber das willst du doch auch
nicht. Nein, ich bleibe nicht hier.“ Wütend stampfte er aus dem
Zimmer, riss einen Koffer vom Kleiderschrank und warf wahllos seine
Sachen hinein. Noch ehe Melanie sich von dem Schock erholt hatte,
verließ er die Wohnung.
9
Erst saß Melanie wie erstarrt da, dann erfasste sie ein
Weinkrampf, erst nach ein paar Stunden kam sie wieder zu sich. Sie
sah das Brotmesser auf dem Tisch liegen und griff es, wie in Trance
setzte sie es an ihre Pulsader am Handgelenk, doch dann kam sie zur
Besinnung. In einem, was Malte gesagt hatte, hatte er recht. Sie
brauchte dringend Hilfe. Also setzte sie sich so, wie sie war, mit
Pantoffeln und ohne eine Jacke überzuziehen, auf ihr Fahrrad und
fuhr bei strömenden Regen zu der Harm-Breding-Klinik nach
Westerland.
Klitschnass kam sie dort an, lehnte ihr Fahrrad an einen
Laternenmast und lief ins Gebäude. Der Empfang war nicht mehr
besetzt. Tränenüberströmt stürzte sie die Treppe zur Ambulanz hoch.
Natürlich war sie so panisch, dass sie sich verlief und durch die
Krankenhausgänge irrte, bis eine Krankenschwester sie
ansprach.
„Was suchen Sie? Hier dürfen Sie gar nicht hinein“, hielt die
junge Frau sie auf. Und als sie nicht antwortete, fragte sie: „Ist
etwas passiert? Sind Sie verletzt? Haben Sie einen Unfall
erlebt?“
Doch Melanie war nicht in der Lage zu antworten. Die Schwester
nahm sie am Arm und führte sie ruhig auf sie einsprechend zur
Notaufnahme.
„Die Dame lief in der Intensivstation herum, sie ist leider so
verwirrt, dass sie mir keine Auskunft geben konnte, wen oder was
sie sucht“, mit diesen Worten übergab sie Melanie an die Schwester
in der Notaufnahme.
„Hallo, ich bin Schwester Laura. Können Sie mir Ihren Namen
sage?“ Noch immer wurde Melanie von einem Weinkrampf geschüttelt.
„Sind sie verletzt?“ Wieder antwortete Melanie nicht. „Ist ein
Angehöriger verletzt?“ Inzwischen holte Laura Handtücher aus einem
Schrank und reichte sie Melanie. „Gab es einen Autounfall?“ Doch
Melanie reagierte nicht, sie war wie erstarrt. Also fing Laura an,
sie mit einem Handtuch abzutrocknen, das Gesicht, die Arme und
Hände, die Haare. Am liebsten hätte sie sie unter die Dusche
gestellt, aber erst einmal sollte der Chef sich die Patientin
ansehen. „Wurden sie überfallen?“ Beim besten Willen konnte
Schwester Laura nichts von der Frau erfahren. Erleichtert atmete
sie auf, als Dr. Thorben Wiebold seinen Patienten behandelt hatte,
den ihre Kollegin inzwischen im Krankenbett auf die Station
schob.
„Die Dame war wohl auf der Suche nach der Notaufnahme.
Schwester Marina hat sie in der Intensivstation aufgegriffen und zu
uns gebracht.“
„Bringen Sie eine Decke“, wies Dr. Wiebold sie an. Er selbst
führte Melanie Schauer zu einem Stuhl, prüfte ihren Puls und ihren
Blutdruck, dann zog er eine Spritze auf und gab sie ihr. Während
Laura mit einer Decke zurückkam und Melanie einhüllte.
„Sie sind leicht unterkühlt. Sie sollten gleich warm duschen,
aber erst einmal erzählen Sie mir, was Sie so aufgeregt hat.“ Er
nahm ihre eiskalte Hand und hielt sie in seiner warmen. Geduldig
wartete er, bis das Beruhigungsmittel half.
„Wer sind Sie?“
„Melanie Schauer, ich wollte zu Frau Dr. Gaubitz.“
„Die hat leider heute Nacht keinen Dienst. Wie kann ich ihnen
helfen?“ Dr. Wiebold strahlte wieder einmal seine ruhige Autorität
aus. Häufig konnte er aufgeregte Patienten mit seiner Gelassenheit
beruhigen.
Anscheinend wusste die Frau nicht, was er für sie tun
konnte.
„Können Sie mir sagen, weswegen Sie bei Dr. Gaubitz in
Behandlung sind?“
„Meine Frauenärztin hat mich überwiesen. Ich hatte sieben
Fehlgeburten und will doch unbedingt Kinder haben.“
„Und meine Kollegin hat Sie bereits untersucht?“
Melanie nickte. „Aber Sie hat nichts gefunden.“
„Warum wollen Sie jetzt mitten in der Nacht mit ihr sprechen?“
Die Frau schien unter Schock zu stehen.
Diesmal hatte er Erfolg, als hätte er eine Schleuse geöffnet,
sprudelte Melanie mit den Ereignissen der letzten Zeit heraus. Mit
den Streitereien mit ihrem Ehemann, mit ihrer Verzweiflung, seinem
ständigen Verschwinden. „Er sagt, er joggt, aber das sind alles
Lügen, er hat eine andere Frau“, schrie sie plötzlich.
Geduldig hörte Dr. Wiebold ihr zu. „Heute hatte er Kontakt zu
seiner Jugendliebe, sie war lange im Ausland und kommt jetzt auf
Sylt zurück, weil sie Kinder möchte, die hier aufwachsen sollen.
Die will ihn doch zurückhaben.“
„Hat Ihr Mann Ihnen davon berichtet?“
„Ja, vorgestern kam er gut gelaunt von seiner angeblichen
Joggingrunde zurück und erzählt, dass sie ihn angerufen hat und um
Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung gebeten hat, weil sie
zurückziehen wollte. Heute haben sich die beiden in einer Bar
getroffen.“
„Vielleicht hat sie einen Ehemann oder Partner?“, schlug er
ihr vor.
Mit beiden Händen fuhr sie sich über das Gesicht, dann
streifte sie ihre nassen Haare zurück, „Ich weiß es nicht, aber
warum ruft sie Malte an? Sie haben doch angeblich seit der
Schulzeit keinen Kontakt mehr miteinander.“
„Ihrem Mann gehört die Autowerkstatt, oder?“ Und als sie
nickte, fuhr er fort. „Vielleicht hat sie sämtlichen Kontakt zu
ihren alten Bekannten verloren und hat die Telefonnummer Ihres
Mannes einfach im Internet gefunden.“
Mit großen Augen schaute sie ihn an, schwieg aber.
Wahrscheinlich musste sie das erst einmal verdauen.
„Bevor Sie weiter grübeln, sollten Sie sich mit Ihrem Mann
aussprechen. Sicher ist das hilfreich, wenn ein Mediator Ihnen
dabei hilft, damit Sie sich nicht wieder in gegenseitigen
Anschuldigungen verirren.“ Nach ein paar weiteren beruhigenden
Worten winkte er Schwester Laura, sich um sie zu kümmern.
Das Beruhigungsmittel half inzwischen, die Patienten hatte
sich beruhigt und ließ sich von Schwester Laura in ein
Patientenzimmer führen, wo sie warm duschte, einen heißen Tee
erhielt und sich schlafen legte. Laura fragte sie nach Ihrer
Telefonnummer, damit sie Ihren Mann benachrichtigen konnten und er
sich keine Sorgen machen musste. Kurz zögerte Melanie, doch dann
gab sie der Schwester die Nummer.
Nachdenklich schaute Dr. Thorben Wiebold der Patientin
hinterher. Mindestens dieser Zusammenbruch war eindeutig psychisch
verursacht. Ob die Fehlgeburten auch in der Psyche begründet waren?
Oder passten die beiden Ehepartner genetisch nicht zusammen? So
etwas kam vor, wie auch das Gegenteil, dass ein Partner, dem
Unfruchtbarkeit diagnostiziert worden war, doch noch Kinder bekam.
Wissenschaftler vermuteten, dass ein besonders fruchtbarer Partner
das Defizit ausgleichen konnte. Er nahm sich vor, am nächsten Tag
gleich mit ihrem Mann zu sprechen. Wer weiß, wie die zweite Seite
aussah. Sicher belastete diese Situation beide Partner, auch der
Mann litt, wenn sich sein Kinderwunsch zerschlug. Bestimmt hätte er
nicht so frei von seiner Jugendfreundin erzählt, wenn er mit ihr
eine Beziehung hätte oder sie sogar bald heiraten wollte.
*
Malte war vor Wut erst zur Werkstatt gefahren, hatte dort den
Koffer in sein Büro gebracht. Allerdings war er noch viel zu
aufgeregt, um zur Ruhe zu kommen, deshalb fuhr er weiter nach
Kampen, dort lief er über das rote Kliff und irrte lange Zeit
herum. Irgendwann fand er sich in der Kneipe wieder, in der er sich
früher mit seinen Freunden getroffen hatte.
Der Wirt Fiete kannte ihn noch immer sehr gut. „Na, du bist ja
völlig durchnässt, da brauchst du wohl einen Grog!“
Erst jetzt merkte Malte, wie durchnässt er war. Er war so mit
seinen Problemen beschäftigt gewesen, dass er nicht einmal gemerkt
hatte, wie stark es regnete. Trotzdem setzte er sich an die Bar und
nickte Fiete zu. „Ein Grog kann nicht schaden, obwohl noch gar
nicht die richtige Jahreszeit ist.“
„Passend ist sie bei Regen immer“, gab der Wirt trocken
zurück, bevor er in die kleine Küche verschwand, um das Getränk
zuzubereiten. „Oder willst du den Rum pur?“, rief er aus dem
Hintergrund.
„Nee, dann wärmt er nicht so“, gab Malte zurück und lachte.
Erstaunlich, dass er nach dem Theater, das Melanie ihm in den
letzten Monaten, nein, eigentlich schon Jahren, aufführte, noch
lachen konnte. Die ganze Zeit während er durch die Gegend irrte,
hatte er hin und her überlegt, was die beste Lösung wäre. Sollte er
sich wirklich trennen, so wie Melanie ihn verdächtigte? Natürlich
würde er nicht mit Franziska zusammenziehen. Die lebte doch in
einer ganz anderen Welt, sie reizte ihn nicht mehr, selbst wenn sie
noch immer so schön wie früher war. Nein, er liebte Melanie, auch
wenn es ihm manchmal schwerfiel, das zu erkennen. Natürlich konnte
er ihre Verzweiflung begreifen, aber es half doch nichts, ständig
in der Wunder herumzuwühlen, dann könnte sie doch nie verheilen.
Melanie sollte unbedingt eine Therapie machen, aber das wollte sie
nicht. Die Ärzte hatte es ihr schon mehrmals vorgeschlagen und auch
er hatte es ihr einmal nahegelegt. Da war sie wie eine Rakete in
die Luft gegangen. „Du hältst mich wohl für verrückt!“, hatte sie
ihn angeschrien. Seitdem hatte er das Thema nie wieder erwähnt.
Vielleicht würde sie ja mitmachen, wenn er hinginge. Das musste er
ihr unbedingt vorschlagen, denn so, wie es jetzt war, ging es nicht
weiter. Er war am Ende seiner Kräfte. Selbst wenn die neue Ärztin
etwas fand, was sich behandeln ließe, wie würde es dem Kind dann
gehen, wenn Melanie noch immer an Depressionen litt? Denn er konnte
sich nicht vorstellen, dass die so einfach mit der Geburt eines
Wunschkindes verschwanden.
„Na, gibt es daheim Probleme?“, fragte Fiete leise.
Erstaunt schaute Malte ihn an.