Hier ist ein Wendepunkt, Herr Doktor! Super Arztroman Doppelband - Conny Walden - E-Book

Hier ist ein Wendepunkt, Herr Doktor! Super Arztroman Doppelband E-Book

Conny Walden

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Beschreibung

Dieser Bandenthält folgende Romane: (349XE) Wendepunkt des Schicksals (Thomas West) Ein Goldfisch in der Nordsee (Conny Walden & Anna Martach) Ein Wettrennen beim Kitesurfen; Dr. Sören Wiebold ist fasziniert von seiner Gegnerin, doch als sie auf dem Brett einen Zusammenbruch erleidet, gelingt es ihm, sie in letzter Sekunde zu retten. Im Krankenhaus entwickelt sich zwischen den beiden eine Romanze. Doch weshalb vermeidet Jule jedes persönliche Gespräch? Und warum versucht ein fremder Mann sie zu finden?

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Thomas West, Anna Martach, Conny Walden

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Inhaltsverzeichnis

Hier ist ein Wendepunkt, Herr Doktor! Super Arztroman Doppelband

Copyright

Wendepunkt des Schicksals

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​Ein Goldfisch in der Nordsee

Hier ist ein Wendepunkt, Herr Doktor! Super Arztroman Doppelband

Conny Walden, Anna Martach, Thomas West

Dieser Bandenthält folgende Romane:

Wendepunkt des Schicksals (Thomas West)

Ein Goldfisch in der Nordsee (Conny Walden & Anna Martach)

Ein Wettrennen beim Kitesurfen; Dr. Sören Wiebold ist fasziniert von seiner Gegnerin, doch als sie auf dem Brett einen Zusammenbruch erleidet, gelingt es ihm, sie in letzter Sekunde zu retten. Im Krankenhaus entwickelt sich zwischen den beiden eine Romanze. Doch weshalb vermeidet Jule jedes persönliche Gespräch? Und warum versucht ein fremder Mann sie zu finden?

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Wendepunkt des Schicksals

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 141 Taschenbuchseiten.

Ein schrecklicher Baggerunfall ruft Dr. Alexandra Heinze zu einer Baustelle. Für den Verletzten besteht kaum noch Hoffnung, doch die Ärztin kämpft verbissen um das Leben des siebenfachen Vaters.

1

Der Mann dudelte die Zahlen herunter, als hätte er sie die ganze Nacht über auswendig gelernt. Lars Bader musterte den jungen Mann gegenüber in der Konferenzecke seines Büros mit mürrischer Miene: Ein smarter Typ Ende zwanzig, also acht bis zehn Jahre jünger als Lars selbst. Mit schwarzen Ringen unter den Augen und einer soldatischen Frisur, mit der diese jungen Aufsteiger immer häufiger herumliefen. Wenn man einen Kahlkopf überhaupt eine Frisur nennen konnte.

Der junge Mann – er hieß Becker, der Vorname war Lars entfallen – legte seine Computerausdrucke zusammen und sah seinen Chef beifallheischend an.

„Gut gemacht, Herr Becker“, sagte er ohne die Spur eines Lächelns. „Mit diesen Verkaufszahlen können wir uns morgen auf der Hauptkonferenz sehen lassen.“ Er erhob sich, um dem Jüngeren das Zeichen für das Audienzende zu geben. „Machen Sie ein paar hübsche Grafiken aus dem Material und stellen Sie morgen den Computer samt Beamer in den Konferenzraum. Wir werden alle Register ziehen.“

Becker verabschiedete sich und bleckte dabei sein tadellosen Gebiss. Die meisten Mitarbeiter des Verlags hielten das für ein Lächeln.

Die Tür schloss sich, und Lars ließ sich in seinen Bürosessel fallen. Becker war nicht verkehrt. Es gab Schlimmere im Verlag. Karrieregeile Senkrechtstarter, die nur auf einen Fehler von ihm warteten.

Bei denen wusste man wenigstens, woran man war. Doch Lars war lang genug im Geschäft – die Stelle als Vertriebschef des großen Verlagshauses hatte er vor mehr als vier Jahren erobert – um solchen Lächlern wie Becker zu misstrauen. Auch die nutzten jede Gelegenheit, um einem ans Bein zu pinkeln. Becker allerdings würde noch ein Weilchen zu ihm halten. Immerhin wurde Lars als heißer Kandidat für die Geschäftsführung gehandelt. Und Becker wäre blöd, es sich mit ihm zu verderben.

Lars hängte sein silbergraues Jackett über die Stuhllehne, er trug schon seit Jahren maßgeschneiderte Anzüge, und zündete sich eine Zigarette an. Die Geschäftsführung – zum Greifen nah das Ziel, endlich. Nachdenklich strich er sich über seinen blonden Bürstenhaarschnitt. Es stand Fifty-fifty. Er oder Harald Maresch, der Marketingchef. Die Sitzung morgen würde die Weichen stellen.

Lars griff zu seinem Diktiergerät, um ein paar Briefe zu diktieren. Die Tür zum Vorzimmer ging auf, seine Sekretärin stand auf der Schwelle und machte ein erschrockenes Gesicht. „Herr Dr. Barth hat angerufen – ob Sie den Termin bei ihm vergessen haben …“

„Was für einen Termin, zum Teufel?“ Sein etwas blasses, jungenhaftes Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Lars zog seinen elektronischen Planer aus der Jackentasche. Für Montagnachmittag war kein Termin vorgesehen!

„Er wartet mit Herrn Maresch in seinem Büro auf Sie.“ Die Sekretärin verhaspelte sich.

„Was haben Sie denn da wieder versaubeutelt, Frau Häring!“, rief er wütend und sprang auf.

„Ich weiß von nichts, wirklich nicht, Herr Bader.“ Sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Seine manchmal harsche Art brachte sie jedes Mal aus der Fassung. Statt sie weiter anzuschnauzen, raffte Lars sämtliche greifbare Unterlagen über aktuelle Vorgänge zusammen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Chef von ihm wollte. Bilanzen? Statistiken? Ein Bericht über die Messe? Am besten, er nahm alles mit. Er konnte ja nicht zugeben, dass er keinen Schimmer von dem Termin hatte.

Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Oberbauch. Er presste die Zähne zusammen. Der Magen. Machte ihm schon seit Monaten Schwierigkeiten. Er schob eine von diesen Kautabletten, die die Magensäure neutralisierten, in den Mund und verließ sein Büro.

Die Chefetage lag im obersten, im sechsten Stock des weiträumigen Verlagskomplexes am Rande der Stadt. Die Chefsekretärin öffnete ihm die Tür zum Geschäftsführer. Der sah ihm fragend entgegen.

„Ein Telefonat mit Köln. Der Fernsehsender, mit dem wir ins Geschäft kommen wollen. Ich konnte es unmöglich abwürgen.“ Das kalte Grinsen um Mareschs Mundwinkel entging ihm nicht.

„Schon gut, Herr Bader.“ Der Chef zeigte auf einen freien Sessel an der linken Seite seines gewaltigen Schreibtisches. Auf der rechten saß sein Konkurrent.

„Natürlich“, dachte Lars, „nicht die Häring – dieser linke Hund von Maresch hat den Termin in seinem Vorzimmer versanden lassen.“ Das war nicht das erste Mal. In den letzten vier Wochen ging Maresch sogar soweit, seinem Konkurrenten um den Chefsessel wichtige Informationen vorzuenthalten: Briefe, Faxe, E-Mails. Er wollte um jeden Preis auf den Stuhl, auf dem jetzt noch Barth saß. Der kramte gerade in irgendwelchen Unterlagen.

„Also, wer von den Herren will anfangen?“, fragte der Chef, ohne aufzusehen.

Kalt lächelnd wies Maresch mit der Hand auf Lars. „Ich lasse Ihnen gerne den Vortritt, Herr Bader.“

„Du linkes Arschloch“, dachte Lars und lächelte genauso eisig zurück. „Gerne“, sagte er und spähte auf die Papiere, in denen sein Chef wühlte. Er entdeckte Briefköpfe von Firmen, mit denen er auf der Messe zu tun hatte. „Vielleicht zunächst die wichtigsten Kundenkontakte von der Messe.“ Er sprach aufreizend gedehnt und in der sachlichen Gelassenheit, für die er im ganzen Verlag bekannt war.

Eine Stunde verbrachten sie beim Chef. Die Sitzung lief glatt, und der Noch-Geschäftsführer schien zufrieden. Er wollte einen sauberen Einstand, morgen, wenn man ihn in den Vorstand berufen würde. Maresch und Lars vermieden den offenen Schlagabtausch. Sie verabschiedeten sich vom Chef, und jeder der drei wusste, dass die große Schlacht auf morgen vertagt war.

2

„Das erste, was Sie tun, wenn Sie zu einem Notfall kommen“, Alexandra legte die rechte Hand an den Kehlkopf der Übungspuppe, „Sie tasten die Halsschlagader des Patienten. Wenn Sie keinen Puls fühlen können, und auch der Brustkorb sich nicht mehr hebt, wissen Sie, dass Sie es mit einem Herz-Atem-Stillstand zu tun haben.“

Alexandra sah in die erwartungsvollen Gesichter der jungen Frauen um sich – auch eine Handvoll Männer war unter der Gruppe. Die Notärztin gab an diesem Montagnachmittag Unterricht in der Krankenpflegeschule – Notfallmedizin. Sie hatte Jürgen Wiesenberg von der Intensivstation mitgenommen. Falls ein Notfall dazwischenkam, würde er die Unterrichtsstunde fortsetzen. Der vierunddreißigjährige Krankenpfleger hatte zwar selbst erst vor einem knappen Jahr sein Examen abgelegt, war aber in jeder Beziehung so fit, dass man ihm getrost die Lektion über Wiederbelebung überlassen konnte. Sogar die jungen Assistenzärzte fragten ihn manchmal um Rat, wenn sie sich unsicher waren.

„Und dann muss alles sehr schnell gehen“, sagte Alexandra und drehte die Puppe auf die Seite. „Stabile Seitenlagerung, den Mund des Patienten von Erbrochenem und falschen Zähnen befreien.“ Die Schwesternschülerinnen schrieben eifrig mit. „Dann wieder in Rückenlage, den Kopf in den Nacken, mit der Linken die Nase zuhalten, mit der flachen Rechten das Kinn hochziehen, und dann pressen Sie Ihre Lippen fest auf den Mund des Bewusstlosen, sehen Sie – so.“ Alexandra demonstrierte die Beatmungstechnik. Einige der Schwesternschülerinnen verzogen angewidert das Gesicht.

„Zweimal, achten Sie darauf, ob der Brustkorb sich hebt. Wenn ja, können Sie davon ausgehen, dass Sie nicht den Magen, sondern die Lungen aufblasen.“ Alexandra sah auf und bemerkte den Widerstand in einigen Gesichtern. „Falls Sie sich ekeln, legen Sie ein dünnes Taschentuch oder eine Kompresse über den Mund des Notfallopfers. Oder schieben Sie ihm einen Güdel-Tubus in den Rachen.“

Sie rutschte auf den Knien vom Kopf zur Brust der Puppe. „Und dann sofort die Herzdruckmassage. Mit dem linken Handballen auf das untere Drittel des Brustbeins, den rechten Handballen drübergelegt, und dann mit ausgestreckten Armen.“ Sie presste die Brust der Puppe zusammen. Der kleine schwarze Ball in der Zahlenskala, die an den Blasebalg im Inneren der Puppe angeschlossen war, sprang knapp über den roten Bereich.

„Fünfmal, wenn Sie allein sind. Es ist unheimlich anstrengend – täuschen Sie sich nicht! Und jetzt sind Sie dran.“

Der Kurs übte an zwei Puppen. An der einen assistierte Alexandra, an der anderen Wiesenberg. Die meisten Krankenpflegeschüler bliesen die Luft neben den Mund der Puppe, oder drückten bei der Herzdruckmassage viel zu zaghaft zu.

„Übung macht den Meister“, bemerkte Alexandra trocken. „In der Klinik werden Sie meistens zu zweit sein. Deswegen jetzt die Wiederbelebung zu zweit.“ Gemeinsam mit dem Krankenpfleger demonstrierte sie die Technik. Danach waren wieder die Schüler dran.

Die zwei Stunden vergingen im Flug, kein Notruf störte Alexandra. Später, im Krankenhausgarten, verabschiedete sie sich von dem Pfleger. „Vielen Dank, Herr Wiesenberg. Das haben Sie wirklich gut gemacht. Ich werde ein gutes Wort bei der Oberschwester für Sie einlegen, vielleicht können wir in Zukunft öfter gemeinsam unterrichten!“

„Wäre mir ein Vergnügen, Frau Dr. Heinze. Auf Wiedersehen.“ Er bog in den Parkweg zum Hintereingang des Marien-Krankenhauses ein.

Alexandra sah ihm nach. „Schwer in Ordnung, der Mann“, dachte sie. Seine zurückhaltende, besonnene Art beeindruckte sie. Sie hatte sich schon manchmal gefragt, was ihn bewogen haben mochte, mit Anfang dreißig noch einmal einen neuen Beruf zu lernen. Und noch dazu Krankenpfleger. Alexandra hatte schon miterlebt, dass manche Patienten ihn für einen Arzt gehalten hatten.

Sie ging auf den Eingang des Personalwohnheimes zu. Da kein Notfall zu drohen schien, konnte sie einen versprochenen Krankenbesuch einschieben.

Über das Treppenhaus erreichte sie die zweite Etage des Personalwohnheimes. Vor Zimmer 212 blieb sie stehen und klopfte. „Herein!“ Alexandra betrat das kleine Apartment. Sie hatte hier schon den einen oder anderen Kaffee getrunken. Doch jedes Mal, wenn sie dieses Apartment betrat, war sie überrascht von der Eleganz, mit der es eingerichtet war: Niedrige Möbel in Leder und Holz, schwarz über chromblitzenden Beinen und Verstrebungen, Musikanlage in gläsernem Regal, ein großflächiger Spiegel in schwarzem Rahmen neben dem Garderobenschrank, die Wände nur sparsam geschmückt mit zwei hängenden Topfpflanzen, einer Popart-Uhr, und über dem Bett ein großflächiges Ölgemälde. Eine Schale mit einer Magnolienblüte inmitten eines mittelalterlichen Burgturms. Durch die zinnenartigen Fenster des Turms leuchtete ein blauer Himmel. Alexandra wusste, dass die Bewohnerin dieses Apartments das Bild von ihrem ehemaligen Verlobten, einem Kunstmaler, geschenkt bekommen hatte.

„Hallo, Alexandra – wie schön, dass Sie kommen!“ Die Frau auf dem schwarz gerahmten Bett richtete sich auf. Sie schob die schwere Baumwolldecke mit den rot-gelben Ornamentstickereien beiseite und schlüpfte in ein Paar rote Lederpantoffel. Auf dem Glastisch vor dem Bett stand eine Kobaltvase mit einem Strauß dunkelroter Rosen.

„Bleiben Sie doch liegen, Ute“, sagte Alexandra, aber die Frau überhörte das einfach. Ute Reinhard schätzte es nicht besonders, von anderen in einer Situation der Schwäche gesehen zu werden. Sie stand auf und gab Alexandra die Hand.

„Kommen Sie, nehmen Sie Platz. Kaffee?“ Obwohl Alexandra ablehnte, verschwand Ute in ihrer Kochnische, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Alexandra betrachtete die Frau, wie sie an der Arbeitsfläche ihrer kleinen Küche stand und Kaffeepulver in den Filter löffelte. Sie war relativ groß, einen halben Kopf größer als die Notärztin. Ihr rotbraunes Haar hing zu einem lockeren Zopf geflochten fast bis zu den Hüften über ihren Rücken herab. Ein gerader Rücken – schon die Art, wie Ute dort stand, verriet die tatkräftige, energische Frau, die sie war.

„Wie geht es Ihnen, Ute?“

„Ach ja, es ging schon schlechter.“ Sie stellte die schwarze Kaffeedose zurück ins Regal. „Aber auch schon wesentlich besser.“

„Wieder eine Grippe?“ Alexandra hatte kurz nach Antritt ihres Spätdienstes einen Patienten auf der Intensivstation eingeliefert und dabei erfahren, dass die Stationsschwester sich krank gemeldet hatte.

„Die Grippe hört überhaupt nicht mehr auf“, seufzte Ute, „den ganzen April schon geht das so, und den halben März. Wird höchste Zeit, dass es Mai wird und der Frühling kommt.“ Ute nahm gegenüber von Alexandra auf ihrer Bettcouch Platz. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Ärger und Kummer. „Ich ertrag mich bald selber nicht mehr“, fügte sie etwas leiser hinzu. Zwei braune, fast schwarze Augen glänzten in ihrem scharf geschnittenen Gesicht. Die große, schmale Nase bog sich ein wenig in der Mitte des Nasenrückens. Das verlieh ihrem ansonsten schönen Gesicht etwas Interessantes. Manchmal wurde sie gefragt, ob sie Sinti und Roma unter ihren Vorfahren hatte. „Ich bin eine ganz normale Schwäbin“, pflegte sie dann lachend zu entgegnen.

Alexandra wusste, dass Ute sich auch durch eine Grippe nicht von ihrer Arbeit abhalten ließ. Es musste ihr schon ziemlich mies gehen, dass sie sich heute krank gemeldet hatte. Aber davon sprach sie natürlich nicht – typisch.

„Haben Sie Fieber, Ute?“

Sie winkte ab. „Ein bisschen. Ich bin so wackelig auf den Beinen, dass mir heute vermutlich jede Infusionsflasche aus der Hand gerutscht wäre.“

„Ich finde es gut, dass Sie im Bett geblieben sind, Ute, Sie müssen sich endlich einmal richtig auskurieren.“ Alexandra wusste, dass sie noch mehr zu sagen hatte. Sie suchte nach Worten. „Ihre ständigen Infektionen zermürben Sie. Das ging doch schon im letzten Jahr so, wenn ich mich recht entsinne?“ Die andere nickte stumm. „Ich glaube, Sie sind ziemlich am Ende.“

Ute stand auf um in der Küche zu verschwinden. Während sie mit Tasse und Löffeln klapperte, rief sie: „Mein Immunsystem spinnt einfach!“ Sie kam mit einem Tablett zurück und stellte Tassen und Kannen auf den Glastisch.“

„Ein Zeichen, dass Sie erschöpft sind.“

„Sieben Jahre Intensiv – das haut auch eine Pferdenatur wie mich irgendwann um“, seufzte Ute. Ein für sie ungewöhnliches Geständnis. Und sie war nicht einmal eine Pferdenatur, auch wenn sie jeder dafür hielt. Ihre Größe, ihre starke persönliche Ausstrahlung und ihre unglaubliche Leistungsfähigkeit hatten ihr den Ruf der Powerfrau schlechthin eingebracht. Selbst Höper, der chirurgische Oberarzt, sonst weit entfernt von Rücksichten oder gar Hemmungen, hatte Respekt vor ihr.

Nur Alexandra wusste, dass diese imposante Frau im Grunde sehr zerbrechlich war. Und dass sie seit mindestens einem Jahr weit über ihre Grenzen ging. Sie wusste aber auch, dass Ute zu den Menschen gehörte, die keine Grenzen akzeptieren wollten.

Sie hatten sich vor etwas mehr als einem Jahr näher kennengelernt. Alexandra konnte sich lebhaft an die Nacht erinnern. Sie hatte ein Unfallopfer auf die Intensiv gebracht. Ute hatte Nachtdienst damals. Zwei Stunden hatten sie um das Leben der Frau gekämpft, bevor sie gestorben war. Die Erschütterung danach hatte den Weg der beiden Frauen zueinander geebnet. Sie sprachen lange miteinander, auch in den folgenden Tagen und Wochen. Und irgendwann waren sie so etwas wie Freundinnen geworden, die sich Dinge anvertrauten, die man nicht jedem erzählt. Obwohl sie sich immer noch siezten. Bis heute. „Merkwürdig“, dachte Alexandra.

Sie merkte rasch, dass Ute nicht weiter über ihren Zustand sprechen wollte. Also wechselte sie das Thema. „Von wem sind diese wunderbaren Rosen?“, fragte sie.

Ute lachte. „Unser guter Dr. Eisenbrand hat sie mir schicken lassen. Kaum zwei Stunden, nachdem ich mich krank gemeldet hatte.“ Felix Eisenbrand war Assistent auf der Intensiv. Noch nicht lange. Drei Monate höchstens. Alexandra hatte gleich gemerkt, dass er Feuer fangen würde. Ute war eine Frau, bei der viele Männer Feuer fingen.

Nachdenklich schlenderte Alexandra eine halbe Stunde später durch den Krankenhausgarten zurück in die Klinik. Sie hatte das Gefühl, das Ute in einer Krise war. Wahrscheinlich, ohne es vor sich selbst zuzugeben. Geschweige denn vor anderen. „Sie kann nicht mehr“, dachte Alexandra, „und irgendwann muss sie der Wahrheit ins Gesicht sehen.“

3

„Was kann ich noch für Sie tun, Herr Bader?“ Die Sekretärin schaute in sein Büro hinein. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Lars kannte das. Seit vier Jahren arbeitete er mit der Häring zusammen, und noch nie hatte sie gewagt zu sagen: Es ist halb fünf – ich mach jetzt Feierabend.

„Gehen Sie um Gottes Willen nach Hause, Frau Häring!“, brummte er mit seinem rollenden Bass. „Es ist ja schon nach fünf. Und nichts für ungut wegen dem Cheftermin – ich weiß inzwischen, dass die Schwachstelle nicht bei Ihnen lag.“

Ihr Gesicht hellte sich auf. „Danke, Herr Bader. Und machen Sie nicht mehr zu lange.“ Er winkte ihr zu, und sie schloss die Tür.

Machen Sie nicht mehr zu lange – auch so ein häringscher Standardsatz. Lars wusste genau, was sich dahinter verbarg: Das Bedürfnis seiner Sekretärin, den Privatmensch Lars Bader anzusprechen. Über dienstliche Belange hinaus war er in all den Jahren nicht mit ihr ins Gespräch gekommen. Und sie dürstete danach.

Die Häring war o.k., keine Frage. Lars mochte sie sogar. Aber Privates mit ihr besprechen? Das ging nicht. Mit niemandem hier. Man konnte keinem Menschen vertrauen in diesem Laden.

Lars erledigte noch einige kleinere Routinearbeiten. Immer wieder ging er zum Fenster und schaute auf den Firmenparkplatz hinab. Auf den grauen Benz von Maresch. Um viertel nach sechs war er endlich verschwunden. Vorsichtshalber wählte Lars die Nummer seines Vorzimmers. Niemand nahm ab. Also war auch seine Sekretärin schon aus dem Haus.

Dann kramte er einen Notizzettel aus seiner Brieftasche, legte ihn neben die Tastatur seines Computers und strich ihn sorgfältig glatt. Nur ein Wort stand darauf: Jäger.

Lars hatte laut lachen müssen, als Ulla – er hatte ein paar Mal mit der Sekretärin von Maresch geschlafen – ihm den Zettel mit dem Codewort ausgehändigt hatte. Maresch war kein Mensch, der die Wochenenden in irgendeiner Jagdpacht verbrachte. An Wochenenden pflegte er auf Partys, in Theater und Oper oder sonst wo seinen sogenannten gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Oder zu arbeiten. Genau wie Lars selbst. Und nur insofern war er ein Jäger – ein Mann auf der Jagd nach Erfolg. Und nach der nächsten Sprosse der Karriereleiter.

Jäger war Mareschs persönliches Codewort für seine wichtigsten Computerdateien. Die Dateien, in denen er die Infos vergraben hatte, die ihn auf den Chefsessel bringen sollten. Lars hatte Ulla einen Tausender für das Codewort in die Hand gedrückt. Sie hätte es ihm auch so gegeben. Aber auf diese Weise war sie in seiner Hand. Ein übles Spiel – Lars ekelte sich manchmal vor sich selber – aber alle spielten es, und wer nicht mitspielte, war out.

Lars klinkte sich ins EDV-Netz des Verlages ein. Jäger tippte er in die Tastatur. Mit dem Passwort öffneten sich die Pforten zu Mareschs Trümpfen.

Zahlenkolonnen erschienen auf seinem Bildschirm, Analysen neuer Märkte, vor allem die Prognosen für die Gewinne, die sich aus der Zusammenarbeit mit diversen Fernsehsendern ergeben sollten. Und natürlich Adressen von potentiellen Partnern in den USA.

Sicher wäre es ein Leichtes für Lars gewesen, einfach ein paar Zahlen zu ändern, Daten verschwinden zu lassen, unsinnige Berechnungen einzuschmuggeln. Aber soweit ging er nicht. Nie. Er hatte sich sehr verbogen, seit er in der Firma war. Aber nie so weit, wie Maresch und ein paar der Leute aus seiner Seilschaft. Selbst Schläge unter die Gürtellinie parierte Lars möglichst immer so, dass er sich noch ins Gesicht gucken konnte, wenn er vor dem Spiegel seiner Bürotoilette stand.

Sicher, was er hier machte, war nicht legal. Aber anders gab es kein Durchkommen in diesem Dschungel namens Bellhaus-Verlag. Er druckte die Dateien aus, die ihm wichtig erschienen, verwischte seine Spuren auf Mareschs Festplatte, und vertiefte sich stundenlang in seine Beute. Lars, der Jäger. Langsam dämmerte ihm, was für eine Strategie Maresch morgen fahren würde.

Gegen halb neun klingelte das Telefon. „Lars, wo bleibst du denn?“ Carolas Stimme. Lars schlug sich an die Stirn. „Verdammt! Tut mir leid – ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass es später werden kann heute Abend.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Carola? Bist du noch dran?“

„Ja.“

„Hör mal, du weißt doch: morgen die Konferenz, da fallen die Würfel.“

„Die Würfel fallen bei dir schon seit Jahren. Tag für Tag.“ Ihre Stimme klang monoton. Wenigstens machte sie ihm keine Szene, wie sonst.

„Du weißt doch, um was es geht, Schatz! Wenn ich den Geschäftsführerposten hab, sind wir alle Sorgen los.“

„Welche Sorgen? Wir haben keine Sorgen. Abgesehen davon, dass wir weder eine Ehe noch ein Familienleben führen.“ Bitter klang sie.

„Jetzt fang nicht schon wieder damit an! Denk doch, was du dir dann alles leisten kannst. Wir …“

„Wahrscheinlich hab ich nicht genug Phantasie, um mir noch mehr Dinge vorzustellen, die ich mir leisten will.“

„Jetzt werd’ nicht grundsätzlich, verdammt, du weißt doch, dass ich weg vom Fenster bin, wenn ich nicht meine Karriere im Auge behalte.“

„Das sagst du schon seit neun Jahren. Und immer, wenn du ein Ziel erreichst hast, schmiedest du Pläne, wie du noch weiter nach oben kommst. Mich kotzt das allmählich an!“

„Carola, jetzt sei doch vernünftig, ich …“ Sie hatte unterbrochen. Einfach aufgelegt. „Scheiße!“, fluchte er und knallte den Hörer auf. „Ich hab dich nicht gezwungen, mich zu heiraten!“

Er zündete sich eine Zigarette an. Etwas in ihm wusste, dass sie recht hatte. Man war nie am Ziel in seiner Branche. Es musste immer weiter gehen. Wer stehenblieb, stürzte unweigerlich ab. Verdammt – so war das nun mal! Und er hatte es gewusst, als er in die Wirtschaft gegangen war, gewusst und gewollt.

Er stand auf und lief unruhig und rauchend in seinem Büro auf und ab. Diese Frau! Jahrelang hatte sie das Spiel mitgespielt! Und seit letztem Sommer, seit der Einschulung der älteren ihrer beiden Töchter, nörgelte sie nur noch an ihm herum. Ständig dieses unzufriedene Gesicht, ständig diese kraftraubenden Streitereien! Das Haus, die beiden Wagen, die Luxusurlaube – all das zählte plötzlich nicht mehr!

„Scheiß Frauengruppe“, murmelte Lars böse. Im Spätsommer hatte sich Carola dieser Selbsterfahrungsgruppe angeschlossen. War nicht seitdem der Wurm drin? „Was soll ich denn machen?“, fragte er laut. „Biobrot backen? Ponys züchten?“ Er drückte die Zigarette aus. „Ich wollte Karriere machen, und nun hänge ich mitten drin und muss weiter. Oder ich kann mir die Kugel geben! So ist das eben – basta!“

Natürlich gab es Augenblicke, in denen der Zweifel an ihm nagte. „All die Kraft, all der Stress – nur für die Karriere?“, sagte eine Stimme in solchen Augenblicken. Eine Stimme, die tief in seinem Inneren raunte. „Ist das Leben?“, fragte die Stimme dann. „Soll das alles gewesen sein, wenn du einmal ins Gras beißt?“

„Schluss jetzt!“, fegte er die Gedanken beiseite und ließ sich wieder in seinen Bürosessel fallen. So war er immer gewesen. Schon in der Schule, und später dann in der Uni. Alle Bedenken, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, hatte er einfach ignoriert. Anders hätte er nicht den Weg genommen, den er genommen hatte: Klassenbester, Examen mit Auszeichnung, rasanter Aufstieg im Verlag, jüngster Ressortchef in der ganzen Firma.

Lars arbeitete die Nacht durch. Er würde einen überzeugenden Vortrag halten, morgen, vor der Geschäftsführung. Er würde alle Register der Präsentationstechnik ziehen. Er würde Maresch alt aussehen lassen. Erst als ihn am frühen Morgen diese Gewissheit erfüllte, schaltete er seinen PC aus und ging nach Hause.

4

Herbert Mall stellte seinen neuen Fiat, angezahlt mit dem fällig gewordenen Bausparvertrag – die Monatsraten würden in diesem Jahr den Urlaub kosten –, auf dem provisorischen Parkplatz vor der Großbaustelle ab. Unter dem einen Arm die Zeitung, unter dem anderen die alte Aktentasche mit Thermoskanne und Stullen, betrat er die Bauhütte. Zum letzten Mal, aber das ahnte Mall zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal.

„Morgen, Herbert, alles klar?“ Der Polier war schon da.

„Nee, muss arbeiten heute.“ Mall schlug seine Zeitung auf, um einen Artikel über den Stürmer seines Lieblingsvereins zu lesen. Ralf Birsten hieß der Torjäger des Kölner Bundesligaclubs. Er hatte am Samstag einen gegnerischen Verteidiger k.o. geschlagen.

„Sei froh, dasste Arbeit hast, Mann“, sagte der andere. Mall brummte irgendetwas Unverständliches und ärgerte sich über die Sperre, die der DFB Ralf Birsten, dem Stürmer, angedroht hatte. Das jedenfalls stand in dem Artikel. „Scheißdreck“, brummte er. Seiner Meinung nach hatte Birsten den Verteidiger versehentlich mit dem Ellenbogen erwischt. Wenn er gesperrt würde, konnte der Verein die Meisterschaft vergessen.

Mall stieß einen Fluch aus, legte die Zeitung zusammen und goss sich einen Kaffee ein. Nun gut, morgen würde man mehr wissen.

Nach und nach trudelten die Kollegen ein. Manche wortkarg und muffig, andere mit flapsigen Bemerkungen, und wieder andere schimpfend – auf das feucht-kalte Aprilwetter, den Zulieferer, der gestern den falschen Beton gebracht hatte, auf die Frau zu Hause und den Finanzminister in Bonn.

Als Mall den ersten Kipper draußen vorfahren hörte, schloss er Tasche und Zeitung in seinen Spind ein und verließ die Bauhütte. Missmutig sah er auf das erste Fundament in der riesigen Baugrube. Ein Bürokomplex mit Tiefgarage sollte das werden.

Die Raupenfahrer winkten ihm aus der Baugrube zu und stiegen in ihre schmutzig-gelben Ungetüme. Sie würden ihm wieder den ganzen Tag lang den Dreck an den Grubenrand schieben, den er mit seinem Bagger auf die Kipplaster zu packen hatte. Morgen noch, höchstens übermorgen noch einen halben Tag – dann waren die Erdarbeiten abgeschlossen.

„Morgen, Herbert!“, grüßte der Lastwagenfahrer. „Scheißwetter, was!“ Es regnete nicht direkt, es nieselte, und man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte auf dem modrigen Lehmboden.

„Nicht Fisch und nicht Fleisch“, brummte Herbert, hievte seine zwei Zentner in den roten Bagger, und warf den Motor an. Die nächsten Stunden verliefen in monotoner Einförmigkeit: Die Kipplaster fuhren ein und fuhren aus, die Hebel für die Hydraulik des Baggerarmes vor- und zurücklegen, nach links und nach rechts schwenken, mit leerem Löffel zur Grube, mit vollem Löffel zum Laster, und alles begleitet vom Grollen des Dieselmotors.

Herbert Malls Gedanken schweiften von der Baugrube zum gesperrten Mittelstürmer, über seinen neuen Fiat zum Balkon seines geerbten Häuschen, wo sie in diesem Jahr den Urlaub verbringen würden, er und Lore, seine Frau und fünf der Kinder. Die zwei großen gingen schon eigene Wege – der Älteste würde in diesem Jahr seine Elektrikerlehre abschließen. Stolz erfüllte Herbert, und er ließ den Baggerlöffel tief in den Dreck sausen. Martina, die Zweitälteste, hatte im letzten Herbst ein Praktikum in einem Krankenhaus angefangen, wollte Krankenschwester werden.

Herbert Mall ließ den Löffel unten, weil gerade kein Laster anrollte. Und natürlich Lore, seine Frau – auch zu ihr schweiften seine Gedanken. Nervte ihn gewaltig zur Zeit. Der Laster schoss rückwärts durch die Einfahrt des Bretterzauns. Hat’s verdammt eilig, der Kerl! Mall wandte sich dem Löffel zu und holte ihn aus dem Erdhaufen. Wollte ihm das fünfte Bier abends madig machen, die Lore, und eine Schachtel Reval statt zwei würde es auch tun. Immerhin hatte er heute erst eine einzige geraucht. Nicht im neuen Auto, nein – zu Hause auf der Toilette, bevor er ging. Das musste sein, sonst konnte er nicht.

Er schwenkte den Bagger herum – und plötzlich sah er die Schräglage des Lasters. Dieser Idiot hatte es doch glatt so eilig gehabt, dass er viel zu nah an die Grube gefahren war! Und warum zum Teufel war er ihm so dicht auf den Pelz gerückt? Er hatte ja kaum Spielraum mit dem Baggerarm!

Jetzt bröckelte die feuchte Erde unter dem Zwillingsreifen, und das schwere Gefährt kippte nach links in die Grube, ganz langsam, ganz langsam – Mall brüllte, versuchte den Baggerarm herumzureißen, denn er sah genau, dass er mit dem Löffel auf Kollisionskurs war.

Der Laster kippte immer schneller, rutschte nach hinten weg, erwischte den Löffel des Baggers und riss ihn seitlich nach unten. Mall griff nach der rechten Tür, wollte abspringen, stürzte aber zurück und prallte durch die linke Tür nach draußen, direkt in die Grube, und Bruchteile von Sekunden später begrub ihn sein schweres Arbeitsgerät unter sich.

Mall hatte nicht einmal mehr Zeit zum Schreien. Und auch keine Zeit, um Schmerz zu empfinden. Das Letzte, was er spürte war der eisige Schreck, der durch seine achtundneunzig Kilo schoss, als er den Schatten des Baggers auf sich zukommen sah. „Vorbei, Herbert“, meldete irgend eine Ecke seines Hirns, und dann wurde es sehr dunkel.

5

„Wie alt ist die Patientin?“ Albert Kranz, der Chefinternist, sah von dem Beatmungsprotokoll auf.

„Neunundachtzig“, antwortete Jürgen Wiesenberg. Die alte Dame war vor zwei Tagen mit einem schweren Hinterwandinfarkt aus einem Altenheim eingeliefert worden. Seitdem wurde sie beatmet.

Dr. Albert Kranz seufzte und warf einen hilfesuchenden Blick auf seine Oberärztin. „Was meinen Sie, Frau Keller?“ Lore Keller hatte sich schon vor der Visite in die Befunde der Patientin vertieft.

„Wir haben getan, was wir konnten. Aber der Herzmuskel ist derart vernarbt, dass ich keine Hoffnung mehr habe. Das Herz ist vollkommen insuffizient – es spricht kaum noch auf Digitalis an. Die Frau hatte ja bereits zwei Infarkte.“

Der Chefarzt warf dem Internisten der Intensivstation einen fragenden Blick zu. Richard Kallweit nickte. „Das EKG sieht verheerend aus, das Lungenödem lässt sich kaum noch in den Griff kriegen. Meine Prognose: Infaust.“

Jürgen Wiesenbergs Nackenhaare richteten sich auf. Das ging ihm jedes Mal so, wenn er dieses Wort hörte – infaust: Nicht zu retten. Das meinten die Ärzte damit, auch wenn der Begriff wörtlich übersetzt eigentlich nur ungünstig bedeutete.

„Also gut.“ Albert Kranz legte die Kurve in das Fach unter den Monitor. „Nehmen wir noch einmal die wichtigsten Laborwerte ab und lassen den Vormittag vorübergehen. Wenn sich bis dahin keine neuen Aspekte ergeben, schalten wir den Respirator ab.“ Jürgen schrieb mit. „Ich möchte aber vorher noch einmal Bescheid bekommen, Herr Wiesenberg.“

„In Ordnung, Dr. Kranz.“

„Und reanimiert wird selbstverständlich nicht mehr.“

Jürgen zog seinen roten Kugelschreiber aus der Brusttasche der blauen Schutzkleidung und dokumentierte diese Anordnung, indem er den Namen der Patientin, rechts oben auf der Verlaufskurve, mit einem roten Dreieck einrahmte. Jeder Kollege, jede Kollegin würde sofort wissen, dass man diese Patienten im Falle eines Herzstillstandes nicht mehr wiederbeleben sollte.

„Danke, Herr Wiesenberg.“ Kranz verabschiedete sich mit Handschlag von dem großen, schwarzhaarigen Pfleger. Lore nickte ihm lächelnd zu. Der ruhige Mann, dessen Schnauzer ihm etwas von der Würde eines englischen Lords verlieh, hatte ihre Sympathie vom ersten Tag an gewonnen. Damals schon, vor einem Jahr, hatte sie den Eindruck, dass er so eine Art Fels in der Brandung des manchmal chaotischen Intensiv-Betriebes werden könnte. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Die gelassene und besonnene Ausstrahlung dieses Stoikers wirkte nicht nur auf die Patienten beruhigend, sondern auch auf das andere Pflegepersonal. Und sogar auf manche Ärzte.

Jürgen ließ die Visite ziehen und kontrollierte noch einmal die Vitalzeichen der Patientin: Blutdruck, Puls, Temperatur und Venendruck. Damit man um die Mittagszeit, wenn die Entscheidung endgültig getroffen werden sollte, verlässliche Vergleichswerte hatte. Auch die Einstellung des rhythmisch schnaufenden Beatmungsgerätes dokumentierte er: Atemdruck, Sauerstoffkonzentration und Atemfrequenz.

Danach verließ er das Zimmer und ging zwei Türen weiter, in die Zentrale der internistischen Einheit. Er nahm den Telefonhörer ab und bestellte das Labor. Hinter ihm, am Medischrank, war Ute beschäftigt. Sie löste gerade eine Brausetablette in einem Glas auf.

Jürgen sah sie fragend an. „Aspirin“, sagte sie. Und warf ihm einen dieser rätselhaften Blicke zu, mit denen sie nur ihn manchmal anschaute – Jürgen hatte das genau beobachtet. So wie jemand schaut, der sich ertappt fühlte. Er hatte keinen Schimmer, bei was sie sich von ihm ertappt fühlen könnte.

„Du solltest zu Hause bleiben und dich ordentlich auskurieren.“ Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Was ist mit unserer Beatmungspatientin?“, wollte sie wissen.

„Wenn sich bis zum Mittag nichts tut, soll sie abgehängt werden. Und keine Reanimation mehr“, antwortete er.