Die
Inselärzte auf Sylt
Der Umfang dieses Buchs entspricht 86 Taschenbuchseiten.
Ein Wettrennen beim Kitesurfen; Dr. Sören Wiebold ist
fasziniert von seiner Gegnerin, doch als sie auf dem Brett einen
Zusammenbruch erleidet, gelingt es ihm, sie in letzter Sekunde zu
retten. Im Krankenhaus entwickelt sich zwischen den beiden eine
Romanze. Doch weshalb vermeidet Jule jedes persönliche Gespräch?
Und warum versucht ein fremder Mann sie zu finden?
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Alfred Bekker
© Roman by Author
Cover: Mara Laue, 2021
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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1
„Du darfst morgen nach Hause, Nadja“, sagte Dr. Sören Wiebold
zu dem kaum fünfjährigen Mädchen, und die Kleine strahlte heller
als draußen der Sonnenschein. Die Mutter des Mädchens saß neben dem
Bett und lächelte den Arzt glücklich an, der neben der Allergologie
auch als Internist tätig war. Ein guter Arzt, dachte sie. So
zugewandt wünschte man sich einen Mediziner.
„Vielen Dank, Herr Doktor, ich weiß nicht, was wir ohne Sie
getan hätten“, seufzte sie. Ihr Blick drückte aus, dass sie zu
jeder, wirklich jeder Danksagung bereit war und sich auch mehr als
einen warmen Händedruck vorstellen konnte.
Sie lächelte kurz.
Vielleicht auch etwas verlegen.
Und dabei hoffte sie, dass ihr Kopf dabei nicht so rot wie
eine Tomate wurde.
Und wenn schon!, dachte sie. Dann kann ich es auch nicht
ändern.
Emily Wicker war alleinerziehend, die Herzschwäche ihrer
Tochter, einhergehend mit einer schweren Allergie gegen zahlreiche
alltägliche Dinge, Medikamente und Nahrungsmittel, hatte auch
andere Organe angegriffen, und die Erkrankung hatte sie sehr schwer
belastet. Der kompetente und dazu verflixt gut aussehende Arzt
hatte das Herz der jungen Frau vom ersten Moment an schneller
schlagen lassen.
Ja, da konnte sie sich durchaus mehr vorstellen.
Sehr viel mehr.
Aber bis jetzt war die Sache zwischen ihnen nicht wirklich in
Gang gekommen.
Leider.
Sie hatte bereits mehrfach angedeutet, dass sie ihn gerne zum
Essen einladen würde, weil sie ihm so dankbar für die Gesundung
ihres Kindes war. Dr. Wiebold hatte stets abgewunken mit der
Begründung, dass das ja sein Job sei, Menschen gesund zu machen.
Aber Emily gab nicht so schnell auf…
Sie konnte sehr hartnäckig sein.
Ihre Tochter Nadja Wicker war hier in der Harm-Breding-Klinik
erstklassig betreut worden, und nun ging es ihr fast schlagartig
besser. Das entsprach ganz und gar den Richtlinien des
Klinikgründers Harm Breding, der die Gesundung der Patienten an die
erste Stelle gesetzt hatte.
Emily stand auf und machte Anstalten, den Arzt zu umarmen,
doch er wich geschickt einen Schritt zurück, drehte sich zu
Schwester Laura um und gab noch einige Anweisungen. Lächelnd winkte
er dem Mädchen noch einmal zu und verließ dann fast fluchtartig das
Krankenzimmer. Schwester Laura folgte ihm Sekunden später.
Draußen auf dem Flur stand Lernschwester Nicole und sortierte
die Patientenakten in den fahrbaren Aktenwagen. Von hier aus wurden
die Anweisungen zur Behandlung und Medikation übertragen in den
täglichen Arbeitsplan. Nicole schmunzelte in sich hinein, hatte sie
doch durch die offene Tür gerade den sinnlosen Versuch der Mutter
bemerkt, sich auf eine sehr persönliche Art beim Arzt zu
bedanken.
Dr. Dr. Sören Wiebold seufzte und warf Nicole einen gespielt
drohenden Blick zu. „Wehe, Sie sagen ein Wort darüber. Sie haben
nichts gesehen.“
Sie machte große Augen, in denen es vor Vergnügen funkelte.
„Was soll ich nicht gesehen haben, Herr Doktor?“, fragte sie mit
vorgeblicher Unschuldsmiene. Alle drei lachten daraufhin kurz
auf.
So laut, dass man es bis zum Flur hörte.
Es war nicht die erste Angehörige oder Patientin, die ihm
schöne Augen machte.
Sowas kam öfter vor.
Einem Mann, dessen heilende Hände manchmal Wunder vollbringen
konnten und der so verständnisvoll und einfühlsam, flogen die
Herzen sicherlich nur so zu.
Darüber brauchte sich letztlich niemand zu wundern.
Er wusste damit umzugehen und das Ganze erst gar nicht an sich
heranzulassen.
Denn das war grundsätzlich einfach besser so.
Alles andere zog nur Verwicklungen und Probleme nach
sich.
Und denen wusste er anscheinend geschickt auszuweichen, selbst
wenn sie hübsch waren.
Noch vier Patienten, dann hatte er seinen täglichen Durchlauf
wieder hinter sich gebracht. Zum größten Teil handelte es sich um
sogenannte Routineaufgaben, die natürlich auch erledigt werden
mussten. Nach einer guten Stunde war er auch damit fertig. Nun
durfte natürlich kein Notfall mehr reinkommen, bis zu seinem
Dienstschluss.
„Haben Sie es mal wieder geschafft, Dr. Sören?“
Er wandte sich nach der älteren Frau im Schwesternzimmer um
und lächelte sie an. „Die Visite ist beendet, die kleine Nadja ist
eine schon fast entlassene Patientin, und nun brauche ich dringend
…“
„Eine Auszeit auf dem Board mit dem Lenkdrachen als Zugpferd“,
ergänzte Schwester Roswitha, die gute Seele der Klinik.
„Danke”, sagte der Arzt.
„Das war es doch, was Sie sagen wollten, oder nicht?”
Schwester Roswitha war etwas verlegen.
„Ja, das war es.”
„Tut mir Leid, ich kann manchmal einfach nicht an mich
halten.”
„Ich weiß”, sagte er.
Aber er schien ihr das nicht übel zu nehmen.
Genau genommen konnte man Schwester Roswitha ohnehin nur sehr
schwer etwas übel nehmen.
Dafür sorgte schon ihre spontane, offene Art.
Das Hospital hatte sich von der Fachklinik für Allergiker zu
einem allgemeinen Krankenhaus mit Schwerpunkt Allergologie
entwickelt, besaß sechs Stationen für die unterschiedlichsten Arten
von Erkrankungen und nahm auch Patienten von Belegärzten auf. Der
Name war geblieben, er stammte von einem berühmten Allergologen,
der mit bahnbrechenden Behandlungen vielen Menschen das Leben
erleichtert hatte.
Schwester Roswitha arbeitete seit ungezählten Jahren hier, es
gab kaum etwas, was dieser Frau entging, und so streng sie auch
öfter wirken mochte, so herzensgut war sie im Grunde.
Und das wussten hier auch alle sehr zu schätzen.
Sie kannte Sören, seit er als Kind hier herumgetobt war und
sie ihn unzählige Male ermahnt und ausgeschimpft hatte. Mindestens
ebenso oft hatte sie in umarmt, getröstet oder ihm kleine
Süßigkeiten aus ihrem privaten Vorrat zugesteckt. Sie wusste, wie
es in ihm aussah, dass es ihn förmlich nervte, von den Frauen
angehimmelt zu werden, es war ihm einfach lästig. Aber davon ließ
er sich nach außen hin nichts anmerken.
„Das Wetter ist ein Geschenk, und ich bin froh, dass meine
Schicht vorbei ist. Da kann ich losziehen und mir den Wind durch
den Kopf blasen lassen“, erklärte er lächelnd. Kitesurfen war seine
Leidenschaft, und in jeder freien Minute stand er auf dem Board und
ließ sich vom Lenkdrachen mit dem Wind über das Meer ziehen.
Ein herrliches Gefühl war das!
Man brachte schon eine Menge Kraft, Fingerspitzengefühl,
Erfahrung und Routine, um wie Sören auch noch allein zu starten. Er
liebte es, mit dem Wind um die Wette zu fahren, um die kunstvollen
Sprünge auszudehnen und immer neue Figuren zu probieren. Hier auf
Sylt gab es viele, vorwiegend jüngere Menschen, die dem Kitesurfen
anhingen und oft spontan einen Wettbewerb austrugen. Schon oft
hatte man Sören geraten, an Meisterschaften teilzunehmen, aber
jedes Mal winkte er lächelnd ab.
Das war einfach nicht seine Sache.
„Um da mitzuhalten, müsste ich regelmäßig trainieren, und
außerdem viel durch die Welt reisen.
Das alles verträgt sich nicht mit meiner Berufung als Arzt.“
Ja, er benutzte bewusst das Wort Berufung, und die stand bei ihm an
erster Stelle. Er fühlte sich berufen, zu heilen. Und dieser
Berufung hatte er letztlich sein Leben gewidmet - nicht irgendeinem
sportlichen Wettkampf. Das war nur Zeitvertreib. Aber als ein
Lebensinhalt, dem man sich wirklich mit Haut und Haaren und dem
nötigen Ehrgeiz widmete, reichte ihm das nicht. Er wollte etwas
wirklich Bedeutungsvolles tun. Und die Heilung kranker Menschen,
die Linderung ihrer Leiden war seiner festen Überzeugung nach etwas
wirklich Bedeutungsvolles.
„Passen Sie auf sich auf, Doktor, das Wetter kann schnell
umschlagen“, riet Schwester Roswitha ihm gutmütig besorgt. Ihre
mütterlichen Gefühle für Sören kamen immer mal wieder hervor. Sören
mochte Roswitha und empfand ihre fürsorgliche Art nicht als
aufdringlich. Er wusste, sie meinte es immer gut mit ihm.
Wirklich.
Der Arzt verließ die Klinik und lief in flottem Trab Richtung
Südkap, wo es ideale Bedingungen gab und mittlerweile mehr als eine
Kitesurfer-Schule für Nachwuchs in der fröhlichen-bunten Community
sorgte.
Die Bedingungen waren ideal.
Traumhaft.
Schon von Weitem sah er die Surfer über die Wellen tanzen. Ja,
es sah aus, als würden sie tanzen und einer geheimen Choreographie
folgen.
Ein toller Anblick.
Er konnte sich gar nicht sattsehen.
All die bunten Segel der Surfer und Kitesurfer bildeten eine
bunten Kulisse vor dem strahlend blauen Himmel, an dem sich nur ein
paar Schönwetterwolken verirrt hatten. Der Wind blies beständig,
und Sören Wiebold konnte es gar nicht abwarten, endlich auf dem
Board zu stehen.
Der Inhaber einer der ältesten dieser Schulen, Jan Peters, war
ein Freund von Sören, hier konnte der Arzt seine Ausrüstung
deponieren und jederzeit darauf zugreifen. Das ersparte es ihm,
jeweils alles von zuhause aus mitbringen zu müssen. Aus Spaß und
als Freundschaftsdienst hatte Sören hier auch schon Unterricht
gegeben. In letzter Zeit hatte er aber aufgrund der vielen Arbeit
nicht die Möglichkeit, Unterricht zu geben.
Dr. Wiebold betrat gut gelaunt in das Geschäft, das zur Schule
gehörte. „Jan, wir haben beste Bedingungen.“
„So?“
„Willst du mitkommen, oder musst du Unterricht geben?“
Jan Peters, blond, schlank, mit bemerkenswerten Muskeln und
einen seltsam schiefen Mund, der ein besonderes Lächeln erzeugte,
lachte seinen Freund an. „Habe leider keine Zeit, später
vielleicht.“
Sören stürmte in die hinteren Räume, wo es Umkleidekabinen
gab, und schlüpfte in einen Neoprenanzug, dann nahm er die leichten
Schuhe mit, die ihm auf dem Board besseren Halt gaben, und suchte
seine Ausrüstung.
„Sind ein paar hübsche Fische draußen“, meinte Jan und
schnalzte mit der Zunge.
„Ich bin aber nicht zum Angeln hier, mein Freund. Ich treibe
Sport.“
„Ja, ja, ich weiß, dabei könntest du an jedem Finger zehn
haben, du musst nicht mal einen Köder auswerfen, und du müsstest
sie höchstens unter medizinischen Gesichtspunkten unter die Lupe
nehmen. Aber ich gebe nicht auf. Früher oder später wird dir schon
das richtige Glück begegnen.“
„Ich habe kein Interesse daran, Jan, nicht, seit Judith …“ Er
drehte sich abrupt um und ging hinaus.
Ja, die Sache mit Judith.
Das hing ihm nach.
„Diese verflixte Judith hat nicht nur dein Herz gebrochen, sie
hat die Überreste auch noch versteinert oder eingefroren. Aber wir
werden ihn schon wieder zurückholen in das Reich der
Lebenslustigen.“ Jan schaute dem Freund gutmütig hinterher. Er
kannte die Geschichte der unglücklichen Liebe. Judith war ein
unglaubliche selbstsichere Frau, die in ihrem Beruf als Architektin
aufging, so wie Sören als Arzt.
Auch eine Art Berufung.
Nur eben eine ganz andere.
Und das vertrug sich nunmal nicht.
Keiner der beiden konnte zurückstecken, weder im Beruf noch in
der Liebe. So kam es von Zeit zu Zeit zu einer stürmischen
Neuauflage der Beziehung, aber sobald sein Dienst rief oder ein
lukrativer Auftrag irgendwo auf der Welt die Frau lockte, kam es
unweigerlich zum Streit und zur Trennung. Irgendwie war die Liebe
bislang immer stark genug gewesen, um den endgültigen Bruch zu
verhindern. Doch beim letzten Mal war es anders gewesen, und nun
schien es endgültig aus zu sein.
Es gab keinen Weg zurück mehr.
Endgültig, so schien es.
Sören hatte keinen Blick mehr für schöne Frauen.
Der allerdings machte sich jetzt bereit und ließ zwischendurch
den Blick schweifen. Es waren mehrere Kitesurfer unterwegs. Die
bunten Lenkdrachen tanzten in einer Höhe von rund dreißig Metern
und leuchteten auffallend durch den nur wenig bewölkten Himmel,
während auf dem unruhigen Wellengang der Nordsee zahlreiche
Surfboards mit den Sportlern tanzten. Ein befreites Lachen löste
sich aus der Kehle des jungen Mannes, während der Wind ihn schon
bei den ersten Metern auf dem Board streichelte.
2
Schon fast eine Stunde hatte Sören Wiebold auf dem Wasser
verbracht, als er in unmittelbarer Nähe einen weiteren Kite und
darunter ein Board bemerkte. Auf dem Brett stand eine junge Frau
mit einer tollen Figur, die ihren Lenkdrachen ausgezeichnet
beherrschte. Sie sah ihn fast im gleichen Augenblick und schenkte
ihm ein Lächeln, dann blitzten ihre Augen herausfordernd, was man
selbst auf die Entfernung bemerken konnte. Die beiden Sportler
befanden sich fast auf gleicher Höhe, die Frau nutzte jetzt aber
einen winzigen Vorteil und zog davon. Sören ließ diese
Herausforderung nicht unbeantwortet, er nahm sie an. Das war pure
Lebensfreude, die beide Menschen in diesem Augenblick antrieb, das
Gefühl vollkommener Freiheit, Teil von Wind und Wetter zu sein,
eins zu sein mit der rauen Natur.
Es war die unbekannte Schöne, die knapp von Sören einen
Landepunkt erreichte. Lachend schaute sie ihm entgegen, irgendwie
provozierend und doch unglaublich fröhlich. Wiebold war rasch bei
ihr und strahlte sie an.
„Das war großartig.”
„So?”
„Sie sind eine Meisterin auf dem Board.”
„Danke.”
„Wollen wir es noch einmal versuchen?”
„Nun…”
„Wer zuerst drüben am Landesteg am Südkap ist, bestellt für
den anderen mit.”
„Okay.”
„Bei einem Drink könnten Sie mir erzählen, wo Sie so
hervorragend surfen gelernt haben.”
„Abgemacht.”
„Ach, übrigens, ich bin Sören Wiebold.“ Er streckte die Hand
aus, etwas zögernd schlug sie ein.
„Ich bin Jule – also gut, gehen wir etwas trinken, wer als
letzter ankommt, zahlt.“
Schon hatte sie den Lenkdrachen in den Händen und steckte
einen Stab in den Sand, drehte den Drachen in den Wind, legte das
Board bereit.
Kaum zwei Minuten später befand sie sich wieder auf dem
Wasser. Aber Sören nahm dieses Mal die Herausforderung ernster und
ließ sich nicht so einfach von ihr abhängen. Das Südkap von Sylt
ist ein beliebter Ort für Kitesurfer, so waren viele der leuchtend
bunten Lenkdrachen am Himmel zu sehen, ohne dass die Sportler sich
zu nahe kamen. Sören und Jule tanzten und flogen nur so über die
Wellen, vollführten elegante und waghalsige Sprünge und spornten
sich gegenseitig wortlos an. Doch er bemerkte plötzlich aus dem
Augenwinkel, dass der Kite von Jule sich aus dem Wind drehte. Hatte
sie einen Fehler gemacht? Das war nicht unmöglich, aber das konnte
es nicht sein, wie Sören nun bemerkte. Sie schien sich an den
Leinen eher festzuhalten statt sie zu kontrollieren, der schlanke
Körper schwankte auf dem Brett, der Drachen drehte sich
unkontrolliert in den Wind, begann zu taumeln und stürzte in einer
steilen Kurve ins Wasser, wurde zum Spielball der Wellen. Jule
konnte sich offenbar nicht mehr auf den Beinen halten, sie sank
zusammen, schlug mit dem Kopf auf das Brett und fiel mitsamt den
Lenkleinen an den Händen ins Wasser.
„Nein!“ Der Schrei von Sören gellte über das Wasser, aber
seine Geschwindigkeit war so hoch, dass er schon längst ein gutes
Stück entfernt war, bevor er gezielt reagieren konnte. Er wurde
nicht nervös, auch wenn die Zeit drängte. Mit sicheren Griffen
zerrte er den eigenen Drachen aus dem Wind, behielt aber genug
Geschwindigkeit bei, um nach dem Richtungswechsel im Bogen zur
Unglücksstelle zu fahren.
Schließlich entdeckte er Jules Board, ließ die eigenen Leinen
los, riss den Helm vom Kopf und hechtete ins Wasser. Wo war
Jule?
Nicht zu sehen, aber die Leinen des Kite waren im Wasser
versunken, obwohl sie normalerweise obenauf schwammen. Ein guter
Anhaltspunkt.
Sören holte die Luft, atmete aus und wieder ein, tauchte dann
unter. Zu sehen war kaum etwas, die Nordsee präsentierte sich nicht
als blaue Lagune, der man bis auf den Grund sehen konnte. Er
tauchte wieder auf und griff nach der Hauptleine, hangelte sich
daran nach unten. Tatsächlich bekam er nach einigen Sekunden einen
Arm zu fassen. Die Leine hatte sich darum gewickelt. Mit beiden
Händen fasste Sören zu und zerrte die leblose Gestalt aus der
Tiefe. Er durchbrach die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft,
Wasser tretend hielt er Jules Kopf über Wasser, dann schaute er
sich um. Zum Strand waren es mehr als hundert Meter, ziemlich weit,
um eine leblose Gestalt schwimmend hinzubringen. Aber da dümpelte
das Brett der jungen Frau.
Irgendwie gelang es Sören trotz des Wellengangs den schlanken
Körper auf das Brett zu zerren. Er achtete darauf, dass der Kopf
auf der Seite lag, dann überzeugte er sich davon, dass Jule noch
atmete und ihr Herz schlug. Eine Beule bildete sich an ihrer Stirn,
weitere Verletzungen konnte er nicht erkennen. Hier draußen konnte
er als Arzt nicht viel tun.
Mit kräftigen Schwimmstößen bewegte er sich in Richtung Ufer,
schob dabei das Board vor sich her. Die hundert Meter schienen kein
Ende zu nehmen, es war kräftezehrend und frustrierend, sich mit der
Last voranzuschieben, weil der Wellengang offenbar jeden kleinen
Fortschritt zunichte machte. Aber mittlerweile hatte man am Ufer
bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Zwei Männer stürzten sich
in das Wasser und kamen rasch auf Dr. Wiebold zu.
„Kommen Sie, wir übernehmen das“, sagte der eine und schaute
Sören fragend an. „Schaffen Sie es noch allein bis ans Ufer?“
„Ja, danke.“ Das war eine Erleichterung, die Last loszulassen,
die restliche Strecke schaffte er nun wieder schneller, war dennoch
völlig ausgebrannt, als er endlich den Sand unter den Füßen
hatte.
Die beiden Männer hatten das Board ans Ufer gezogen und hoben
die junge Frau vorsichtig herunter. Sören atmete schwer, doch sein
durchtrainierter Körper wurde mit der Anstrengung gut fertig.
„Ich bin Arzt“, sagte er rasch. „Dr. Wiebold von der
Harm-Breding-Klinik. Hat jemand von Ihnen ein Handy und ruft bitte
dort an, dass rasch ein Rettungswagen losgeschickt wird?“
Sofort nickte eine junge Frau und fingerte ein Smartphone aus
der Strandtasche, ließ sich die Nummer geben und telefonierte. Aber
da beugte sich Sören schon wieder über die Verunglückte, maß den
Puls, lauschte auf dem Brustkorb nach Lungengeräuschen und prüfte
dann die weiteren Vitalzeichen, so weit es ihm möglich war. Jule
war nicht lange unter Wasser gewesen, es bestand also kaum die
Gefahr, dass sie zu viel Wasser geschluckt hatte. Aber schon der
Zusammenbruch auf dem Board warf viele Fragen auf.
Sören wünschte sich seine Notfalltasche herbei, aber das war
natürlich sinnlos. Er legte Jule in eine stabile Seitenlage,
öffnete den Mund und bat dann die beiden Helfer von eben, die
mittlerweile zahlreichen Neugierigen wegzuschicken. Er spürte große
Erleichterung, als sein Freund Jan mit einem Strandbuggy angefahren
kam. Besorgnis spiegelte sich im Gesicht des blonden Hünen, dann
wanderte sein Blick aufs Meer.
„Bist du in Ordnung?“, kam als erstes die ängstliche
Frage.
„Ich schon, aber ich fürchte …“ Dr. Wiebold machte eine
Handbewegung zum Wasser hin, „die beiden Ausrüstungen eher
nicht.“
„Ich sorge dafür, dass die beiden Kites geborgen werden –
falls das noch möglich ist.“
„Gib mir Bescheid, wie hoch die Schäden sind.“
Jan winkte ab. „Mir scheint, du hast hier etwas Wichtigeres zu
tun, und bei einem Notfall springt sowieso die Versicherung
ein.“
In diesem Augenblick regte sich Jule. Nach einem gequälten
Stöhnen begann sie zu husten und spuckte Wasser. Sören lächelte
erleichtert. Er hielt ihren Kopf und sprach leise auf sie
ein.
„Bleiben Sie ruhig liegen, Jule. Ich bin Arzt und werde mich
um Sie kümmern. Ein Krankenwagen ist bereits unterwegs. Sie sind
vom Board ins Wasser gestürzt. Können Sie sich daran
erinnern?“
Veilchenblaue Augen hatte sie, sie standen groß und fragend in
dem ebenmäßigen Gesicht. Jule versuchte zu sprechen, begann aber
wieder zu husten.
„Nicht reden, alles wird wieder gut“, versicherte er mit
sanfter Stimme. In einiger Entfernung war die Sirene eines
Rettungswagens zu hören, der gleich darauf vor dem Sandstrand
stehenblieb. Zwei Sanitäter, Peer Schmitt und Ole Skamander, kamen
mit einer zusammengeklappten Tragbare auf die Menschenansammlung
zugelaufen, blieben dann verblüfft stehen.
„Hallo, Dr. Wiebold, sammeln Sie jetzt selbst neue Patienten
wie Muscheln am Strand?“, fragte Ole Skamander ironisch. Sören
wusste die etwas burschikose Art der beiden zu nehmen.
„Wenn ihr mir nicht genug Nachschub bringen könnt, muss ich
eben selbst auf die Suche gehen“, erwiderte er im gleichen
Tonfall.
Routiniert wurde die Patientin in den Rettungswagen gebracht.
„Kommen Sie nicht mit, Sören – Herr Doktor?“, fragte Jule mit
schwacher Stimme.
„Wir sehen uns später.“ Er strich ihr aufmunternd über das
Haar und machte sich auf den Weg zur Surfschule seines Freundes, wo
er duschen und sich umziehen konnte, bevor er ebenfalls in die
Klinik lief.
3
„Ganz ruhig weiter atmen, Frau Brinkhorst. Ja, so ist es gut.“
Die ruhige sonore Stimme von Dr. Thorben Wiebold verfehlte auch in
diesem Fall ihre Wirkung nicht.
Jule Brinkhorst atmete ruhig weiter, doch ihre Augen ruhten
mit einem ängstlichen Blick auf den älteren Mann, der in seinem
Leben schon unzählige Patienten behandelt hatte.
Direkt nach der Ankunft in der Klinik hatte man Jule in
Empfang genommen und erste Routineuntersuchungen vorgenommen. Dann
traf auch Sören Wiebold ein, er berichtete dem Internisten Dr.
Arthur Jablonski, was geschehen war. Die beiden Männer schätzten
sich, und so hatte der Internist keine Hemmungen, den anderen zu
bremsen.
„Sören, du siehst aus, als wenn du ein persönliches Interesse
an der Patientin hättest. Das ist nicht gut. Du solltest Diagnose
und Behandlung einem von uns überlassen.“
Sören Wiebold stutzte und runzelte die Stirn. „Wie kommst du
auf ein persönliches Interesse? Du lieber Himmel, ich habe die Frau
vor gut einer Stunde zum ersten Mal gesehen. Wir sind spontan um
die Wette gefahren, das war alles.“
Jablonski sagte kein Wort, er hoffte darauf, dass Wiebold die
Bedeutung der Worte und seine eigene Aufregung begriff, so dass er
die Vernunft wieder einschaltete.
Ja, wirklich. Sören hielt inne, schaute den Kollegen an und
grinste dann verlegen. „Habe ich mich sehr danebenbenommen?“
Arthur lachte leise auf. „Du kommst in deiner Freizeit wie ein
Verrückter angerannt und willst dich um eine Patientin kümmern, die
du gerade selbst aus dem Wasser gefischt hast. Das lässt zumindest
die Interpretation offen, dass da mehr ist als eine flüchtige
Bekanntschaft. Es hat dich also entweder schlagartig erwischt, oder
du traust uns nicht zu, eine ordentliche Diagnose zu erstellen. Da
ich jedoch unsere Fähigkeiten kenne, gehe ich ganz dreist von
Ersterem aus.“
Sören lachte auf. „Okay, du leidest nicht an mangelnden
Selbstbewusstsein – aber das wohl zu Recht. In Ordnung, ja, ich bin
bezaubert von dieser jungen Frau, und du verstehst sicher, dass mir
schon etwas daran liegt, sie in den besten Händen zu wissen.“
„Du musst dich nicht entschuldigen, Sören. Bitte doch einfach
deinen Vater um die Behandlung. Nach allem, was ich an Hand der
Krankenkassenkarte gesehen habe, hat sie ohnehin Anspruch auf
Chefarztbehandlung und Privatzimmer. Du hast einen Goldfische aus
der Nordsee gezogen.“
Sören Wiebold schüttelte lachend den Kopf und beschloss, dem
Rat des Kollegen zu folgen.
Dr. Thorben Wiebold schaute über die Brillengläser hinweg auf
seinen Sohn. Eine solche Bitte für eine keinesfalls todkranke
Patientin war ungewöhnlich. Sören würde sicher gute Gründe haben,
ihn darauf anzusprechen. Also waren die beiden in die Notaufnahme
gegangen.
Arthur Jablonski zeigte ein breites Grinsen und erklärte, was
er bis jetzt angeordnet hatte. Thorben Wieland wandte sich sofort
Jule zu und machte seine eigenen Untersuchungen. Arthur ging an
Sören vorbei und raunte über die Schulter: „Ich kann dich fast
beneiden.“
Der ältere Arzt blickte nach dem ersten Abhorchen auf das noch
sehr übersichtliche Krankenblatt. „Schwester Nicole bringt Sie
jetzt zum Röntgen, zum EKG und EEG. Wir werden schon herausfinden,
weshalb Sie fast ein nasses Grab in der Nordsee gefunden haben,
junge Frau.“
„Und Dr. Wiebold …“, begann sie.
„Sören? Ist mein Sohn, er wird sich schon um Sie kümmern, so
weit das nötig ist. Erst einmal sind Sie bei uns gut
aufgehoben.“
Es war nicht Schwester Nicole, die Jule Brinkhorst nach oben
zum Röntgen fuhr. Schwester Laura Stettner, seit fast drei Jahren
hier in der Klinik tätig, übernahm den Transport. Sie gehörte zu
denen, die hoffnungslos in den attraktiven Arzt verschossen waren,
machte sich aber keine ernsthaften Hoffnungen, dafür war sie zu
realistisch. Doch wenn sie ihn schon nicht haben konnte, wollte sie
wenigstens ein Auge auf die Frauen werfen, die sich ernsthaft für
Dr. Wiebold interessierten – oder andersherum. Jede Frau würde bei
Laura durch eine spezielle Kontrolle gehen müssen. Das galt auch,
und ganz besonders sogar, für Jule Brinkhorst.
Vom ersten Augenblick an, tatsächlich vom ersten Blick an,
hatte die hübsche Schwester Laura eine fatale Abneigung gegen die
Patientin verspürt. Es gab keinen bestimmten Grund dafür; weder war
Jule unfreundlich gewesen, noch gab es etwas in ihrem Umfeld, was
dieses Gefühl hervorrufen konnte.
Es war einfach so etwas wie eine atmosphärische Störung.
Etwas Chemisches.
Eine Abneigung, die schwer zu begründen, aber trotzdem sehr
manifest war.
Kurz nach dem Unfall hatte jemand aus der Surfschule von Jan
Peters die Tasche mit den persönlichen Habseligkeiten von Jule
Brinkhorst in die Klinik gebracht. Da sie ihren Kite bei Jan
gemietet hatte, war es leicht festzustellen, wohin ihre
Habseligkeiten in diesem Fall gebracht werden mussten. Es waren nur
ein unbestimmtes Gefühl, das Laura durchfuhr, als sie die Daten auf
der Krankenkassenkarte las; aus Erfahrung wusste sie, was die
einzelnen Codes bedeuteten. Privatpatientin mit Anrecht auf
Chefarzt! So eine war das also; eine reiche verwöhnte Frau, gewöhnt
an jeden Luxus und – sehr persönliche Betreuung durch den Oberarzt,
der hier irgendwann Chefarzt sein würde.
Es war ausgerechnet Schwester Roswitha, der gute Geist der
Klinik, die die knapp vierundzwanzigjährige Krankenschwester aus
den Gedanken riss.
„Wir das heute noch was, Schwester Laura?“, fragte sie scharf,
als sie feststellte, dass die junge Schwester mit dem Krankenbett
und der Patienten vor dem Aufzug stand und bereits zweimal die
geöffnete Tür ignoriert hatte.
„Ich – o ja, natürlich, Schwester Roswitha.“ Hastig schob die
das Bett in den wartenden Aufzug und fuhr mit Jule auf die
Station.
Roswitha hatte die Unterlagen persönlich abgeholt und die
Anweisung für die Spezialbehandlung der Patientin. Eigentlich
mochte auch Roswitha Patienten mit einem derartigen Status nicht
besonders. Viele von ihnen benahmen sich überheblich und hielten
eine Krankenstation für ein Hotel mit 24-Stunden-Service und
medizinischer Betreuung. Sie verweigerten jegliche Mitarbeit,
hetzten die Mitarbeiter durch die Gegend und waren der festen
Überzeugung, dass die Krankheit von Ärzten und Mitarbeiterin
geschaffen worden war, um sie aus ihren bequemen Leben zu isolieren
und zu quälen. Nun gut, nicht alle waren so, aber gerade hier auf
Sylt mit mehr oder weniger prominenten Personen hatte man schon
sehr schlechte Erfahrungen gemacht.
Bei Jule Brinkhorst befürchtete Roswitha derartige Ausfälle
jedoch nicht, die junge Frau machte einen netten Eindruck und
wirkte im Augenblick sehr dankbar für jede Handreichung. Dass sie
eine Sonderbehandlung erwartete und auch bekam, war nur recht und
billig, denn die monatlichen Beiträge an die Krankenkasse waren
auch dementsprechend teuer.
Schwester Roswitha schaute auf das Krankenblatt, wo Dr.
Wiebold die Diagnose und die angeordneten Maßnahmen wie auch den
Medikationsplan notiert hatte.
Natürlich war die Geschichte von der unglaublichen Rettung
sofort zum Thema im „Buschfunk“ geworden. Sören Wiebold rettete der
schönen jungen Frau nach einem Wettrennen mit dem Kite das Leben.
Offenbar eine Liebesgeschichte aus dem echten Leben, denn es blieb
ja nicht bei den Tatsachen; wie bei der Stillen Post dichtete jeder
etwas hinzu. Vermutlich hatte auch Schwester Laura bereits alle
möglichen „Details“ mitgekriegt und war in Eifersucht
entflammt.
Die Oberschwester wusste recht gut über die hoffnungslose
Liebe von Laura zu Dr. Sören Bescheid. Solange die Arbeit davon
nicht beeinträchtigt und kein öffentlicher Skandal heraufbeschworen
wurde, sollte das eine Privatangelegenheit sein und bleiben. Bisher
gab es an der Arbeit und Kompetenz der jungen Schwestern nichts zu
kritisieren.
Jule lag total erschöpft im Bett und bekam kaum mit, dass
Laura sie in ein hübsches Einzelzimmer brachte. Die Schwester
überzeugte sich davon, dass es der Patientin im Augenblick an
nichts fehlte. Sie erklärte kurz die Funktionen der Fernbedienung
für das TV Gerät, aber Jule war nicht mehr aufnahmefähig.
„Drücken Sie einfach hier den großen Knopf“, sagte die und
schob den Nachtschrank direkt ans Bett. „Falls Ihnen etwas fehlt,
oder wenn es Ihnen nicht gut geht … es ist immer jemand in der
Nähe.“
„Danke“, hauchte Jule und schloss die Augen. Sie war noch
immer völlig erschöpft, spürte ihr Herz rasen und dachte mit
Entsetzen an die letzten Sekunden auf dem Board, an die sie sich
noch erinnern konnte. Vom eigenen Herzen aus war ein entsetzlicher
Schmerz durch den ganzen Körper gezuckt, die Beine hatten begonnen
zu zittern, Übelkeit hatte sie förmlich überschwemmt, und dann war
das Wasser immer näher gekommen. Sie hatte noch versucht, sich an
irgendetwas festzuhalten, aber außer der Steuerleine war nichts
dagewesen. Danach waren ihre Sinne geschwunden.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie das besorgte
freundliche Gesicht von Sören über sich. Er hatte sie aus dem
Wasser geholt, ihr das Leben gerettet, und sich dann auch weiter um
sie gekümmert.
Jule Brinkhorst dämmerte in einen heilsamen Schlaf hinüber,
aber selbst jetzt lächelte sie bei dem Gedanken daran, wie besorgt
und zärtlich Dr. Wiebold sich um sie gekümmert hatte, besser hätte
sie es nicht planen können. Ob er wohl morgen kam, um nach ihr zu
sehen? Ihre Gedanken verwirrten sich, und noch ehe Laura von außen
die Tür geschlossen hatte, war Jule eingeschlafen.
4
„Guten Morgen. Sie sind Frau Brinkhorst, nicht wahr? Ich
bringe Ihnen das Frühstück und Ihre Medikamente. Nachher kommt der
Doktor zur Visite … Frau Brinkhorst?“
Praktisch jede Stunde hatte die Nachtschwester einmal in das
Zimmer hineingeschaut und alles in Ordnung gefunden. Als jetzt die
Schwester der Frühschicht, Anja, das Frühstücktablett abstellte,
sah sie, dass Jule schweißbedeckt war und um Atem rang, während die
Hände fahrig und unbewusst über die Bettdecke tasteten.
Anja steckte den elektronischen Stift, mit dem sie draußen die
Anwesenheit signalisierte, in die Öffnung für den Notfall. Sofort
gab es draußen auf dem Flur und im Schwestern zum Alarm. Anja riss
die Bettdecke weg und öffnete das Nachthemd, gleich darauf kam die
Stationsschwester Lea herein, dicht gefolgt von Dr. Lukas, dem noch
sehr jungen Assistenzarzt. Er horchte hastig den Brustkorb
ab.
„Hat sie schon ihre Medikamente bekommen?“
„Nein, ich habe sie gerade gebracht.“
„Sofort EKG, Eiltempo bitte.“
Lea nickte Anja zu, und die packte Jule, die nicht mehr
ansprechbar war, wieder unter die Decke und fuhr das Bett hinunter
in den Untersuchungstrakt.
Sehr bleich und irgendwie klein lag Jule Brinkhorst gegen
Mittag wieder in ihrem Bett. Noch während des EKG war sie wieder zu
sich gekommen, angesichts der Umgebung und der Verkabelung bekam
sie zunächst Angst und riss alles herunter, bevor es zwei
Schwestern gelang, sie wieder zu beruhigen. Schließlich begann sie
zu weinen.
„Großer Gott, bin ich denn so schlimm krank?“, heulte sie.
„Was ist das denn? Muss ich vielleicht sogar sterben?“
Das war der Augenblick, in dem Sören Wiebold hereinkam, der
sich eigentlich auf der Station nach dem Befinden der besonderen
Patienten erkundigen wollte. Man hatte ihn zum EKG geschickt. Mit
zwei raschen Schritten war er bei ihr und umfasste sanft ihre
Schultern.
„Du wirst natürlich nicht sterben, Jule“, erklärte er mit
fester Stimme und ging ganz selbstverständlich zum Du über.
„Aber – ich fühle mich – ach, so schrecklich – weshalb bin ich
immer wieder …“ Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht, und sie
klammerte sich mehr als nur haltsuchend an Sörens Händen fest. „Du
darfst mich jetzt nicht verlassen – bitte, bleib bei mir“, flehte
sie. Ihre großen blauen Augen ließen den Arzt kaum zur Ruhe kommen,
er hatte keine Chance unbeeinflusst nachzudenken.
„Ist schon gut, Jule, ich bleibe hier, wenn dir so viel daran
liegt.“
Die Untersuchungen waren recht schnell erledigt, und Sören
konnte nichts neues beunruhigendes entdecken. Da sein Vater jedoch
die Anamnese der Vorerkrankungen und andere Einzelheiten
aufgenommen hatte, wollte er sich nicht einmischen und voreilig
etwas sagen.
Zum Erstaunen der Stationsschwester brachte Sören die
Patientinnen selbst auf die Station zurück und suchte dann seinen
Vater im Sprechzimmer auf.
„Was machst du schon hier, du hast doch gar keinen Dienst“,
wunderte sich der Senior, lächelte dann aber. „Kann es sein, dass
eine hübsche junge Dame eine bemerkenswerte Anziehungskraft
besitzt?“
Sören zuckte verlegen die Schultern. „Ich habe sie aus dem
Wasser gezogen und fühle mich in gewisser Weise für sie
verantwortlich. Vielleicht wäre es gar nicht zu diesem
Zusammenbruch gekommen, hätte ich die Wettfahrt …“
„Nun reicht es aber“, unterbrach der Ältere energisch. „Es ist
mir neu, dass du dich mit Schuldvorwürfen quälst – noch dazu, wo
die vollkommen überflüssig sind. Dieser Zusammenbruch war ebenfalls
völlig überflüssig.“
Er warf einen Blick auf die Daten der aktuellen
Untersuchungen, verglich sie mit den bisher erhobenen Ergebnissen
und brummte gutmütig.
„Nicht lebensbedrohlich, das hast du sicher auch schon
gesehen. Herzrhythmusstörungen nach einer akuten Influenza. Frau
Brinkhorst hat sich zu früh zu viel zugemutet, demnach hat ihr
Körper auf dem Brett einfach gestreikt – beziehungsweise tut er es
noch. Nun, komm, mein Junge, wir gehen gemeinsam zu ihr und
berichten ihr, dass sie mit einigen wenigen Medikamenten,
vorsichtiger Krankengymnastik und viel Ruhe schon bald wieder auf
den Beinen ist. Das Kitesurfen kann sie sich allerdings für
wenigstens vier bis sechs Wochen abschminken.“
Sören war erleichtert, diese Diagnose deckte sich mit dem, was
auch er aus den Daten gelesen hatte. Trotzdem lag es in der Pflicht
des behandelnden Arztes Jule auf die Gefahren einer Überlastung
hinzuweisen. Als die beiden Ärzte im Krankenzimmer eintrafen,
erschrak Jule zunächst, doch der ältere Doktor lächelte beruhigend
und machte eine abwehrende Handbewegung.
„Keine Sorge, Frau Brinkhorst, und bitte auch keine
zusätzliche Aufregung. Ihre Erkrankung müssen wir ernst nehmen,
aber es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir kriegen das
gemeinsam in den Griff.“ Er schaute die junge Frau über seine
Goldrandbrille hinweg an, bemerkte, dass deren blaue Augen den
Blick von Sören festhielten und freute sich ein wenig, dass sein
Sohn doch endlich mal Interesse für eine andere Frau als Judith
zeigte. Auf den ersten Eindruck legte er in der Regel viel Wert,
und Jule Brinkhorst wirkte intelligent und sympathisch, auch wenn
er sie nicht so recht einordnen konnte. Nun, das musste Sören
selbst wissen.
Dr. Thorben begann zu erklären, was seine Diagnose
bedeutete.
Er hob die Augenbrauen.
„Ich schlage vor, dass Sie zunächst hier in der Klinik
bleiben, es gibt hier alle Möglichkeiten für die Reha, und außerdem
kann dadurch sichergestellt werden, dass bei einem nochmaligen
Notfall Hilfe vor Ort ist. Allerdings dürften die Medikamente einen
weiteren Anfall verhindern.“
„Ja, natürlich bin ich damit einverstanden“, sagte sie rasch
und lächelte Sören an, der gerade ein strenges Gesicht
machte.
„Du warst ziemlich leichtsinnig“, warf er ihr vor. „Dein
Hausarzt, oder zumindest der behandelnde Arzt bei der Influenza
muss dich jedoch gewarnt haben, zu früh wieder mit dem Sport zu
beginnen. Da hätte selbst ein ausgedehnter Waldlauf zur Gefahr
werden können. Kitesurfen ist ein kräftezehrender Sport. Ich will
mir gar nicht vorstellen, was hätte passieren können, wenn du
allein draußen gewesen wärst.“
„Nun, ich – der Doktor sagte …“
„Wer war denn Ihr behandelnder Arzt? Wir brauchen unbedingt
Ihre Krankenakten, damit wir die Medikation an Ihre bereits
erhobenen Daten anpassen können.“
Erschrecken flog über ihr Gesicht, aber so kurz, dass Dr.
Wiebold glaubte, sich getäuscht zu haben.
„Ich – äh – Dr. Meinberg heißt er, glaube ich“, erwiderte sie
lahm.
„In Hamburg?“
„Nein, in – in …“
Nun runzelte der Arzt die Stirn, sie bemühte sich um ein
verlegenes Lachen. „Bitte entschuldigen Sie, ich habe da was
verwechselt. Dr. Meinberg war früher mein Hausarzt, in Hamburg hat
mich ein Dr. Streiter behandelt. Ich werde ihn gleich anrufen, dann
kann er die Unterlagen hierher schicken.“
„Das geht von uns aus viel einfacher, weil wir eine direkte
gesicherte Leitung benutzen können“, bemerkte Doktor Thorben und
war erstaunt, weil sie heftig den Kopf schüttelte.
„Das möchte ich nicht“, erklärte sie energisch. „Muss das denn
unbedingt noch heute und sofort sein?“ Jule regte sich sichtlich
wieder auf, und das würde ihrem Herzen gar nicht gut
bekommen.
Dr. Wiebold zog ein missmutiges Gesicht, aber Sören lächelte
aufmunternd und legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.
„So wichtig ist das doch wirklich nicht, Vater, oder?“
Thorben sah, dass sein Sohn offenbar zarte Gefühle entwickelte
und stellte ihm zuliebe die Dringlichkeit zurück, die Sören unter
anderen Umständen vermutlich selbst befürwortet hätte. Er nahm sich
jedoch vor, später unter vier Augen mit seinem Sohn darüber zu
reden. Persönliche Gefühle sollten einen Arzt nicht daran hindern,
seiner Berufung nachzugehen.