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Die DDR ist seit bald 25 Jahren Geschichte. Vieles gerät langsam in Vergessenheit, etliches hat sich im Laufe der Zeit mit anderem verwoben und nicht weniges sollte nach 1990 verdrängt und unpopulär werden. Die DDR - ein großes Fragezeichen also? Die bekannten Autoren Klaus Behling und Jan Eik haben sich mit viel Spürsinn daran gemacht, viele dieser großen und kleinen Fragen an die DDR und ihre Geschichte zu sammeln, zu sichten - und sie zu beantworten. Entstanden sind so 111 kluge, lehrreiche und amüsante Kapitel, die ein lebendiges und facettenreiches Bild der DDR vor Augen führen. Mit leichter Hand verfasst, manchmal kurios, zuweilen nachdenklich, aber ganz bestimmt mit vielen Aha-Effekten für die "Ehemaligen" und ebenso vielen Lerneffekten für alle anderen. Ein vielgestaltiges Mosaik eines untergegangenen Landes, dargestellt in 111 Fragen und ihren höchst lesenswerten Antworten.
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Seitenzahl: 431
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SONDERAUSGABE
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Tel.: 01805 / 30 99 99(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)www.buchredaktion.de
KLAUS BEHLING / JAN EIK
WER, WARUM, WIESO, WESHALB?
eISBN 978-3-86789-811-91. Auflage dieser Sonderausgabe
Alexanderstraße 110178 BerlinTel. 01805 / 30 99 99Fax 01805 / 35 35 42(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)© 2013 by BEBUG mbH / Edition Berolina, Berlin
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Ein Wort voraus
Erinnerungen an ein Jahrhundert-Experiment
I. Verwurzeltes und Verwachsenes
Warum gab es am 7. Oktober 1949 einen Fackelzug?Wieviel zahlte die DDR für den Zweiten Weltkrieg?Was war das »Pankower Regime?Was unterschied Biox Ultra vom »Bonner Ultra«?Weshalb hieß die DDR-Bahn »Deutsche Reichsbahn«?Warum trat Walter Ulbricht im Schlafrock im Fernsehen auf?Wer war noch mal Erich Honecker?Was ist eigentlich »unverbrüchlich«?Weshalb gab’s ein Abstellgleis für SED-Funktionäre?War Egon Krenz ein Totschläger?
II. Sozialistische Menschengemeinschaft
Wie funktionierte eine Hausgemeinschaft?Wollte ein Ofensetzer wirklich Erich Honecker ermorden?Wie erging es den Wandlitzer Witwen?Wie konnte man mit Kinderkriegen Geld verdienen?Warum hatten Rentner niemals Zeit?Wie gingen kalte Krieger mit warmen Brüdern um?Warum waren viele Jugendliche mit 14 zum ersten Mal besoffen?War gemeinsames Töpfchensitzen wirklich so schlimm?War die DDR prüde?Wie erging es Republikflüchtigen West?
III. »Plane mit, arbeite mit …«
Was war ein »Schwindelkurs«?Warum kostete ein Schweineohr 1948 in der HO drei Mark?Wie konnte Herr B. im Sozialismus Millionär werden?Warum fuhren manche Bauern in der Erntezeit in Urlaub?Wo sind die Aluchips und Ost-Mark-Scheine?Was meinte »Überholen ohne Einzuholen«?War die Plattenbau-Wohnung ein Paradies?Warum musste man 20 Jahre auf ein Telefon warten?Weshalb stank es so in Leuna und Bitterfeld?Was ist aus dem Volkseigentum geworden?
IV. Handel und Wandel
Warum waren Gemüse dreckig und Bieretiketten schief?Warum war die Werbung so merkwürdig?Warum kosteten alte Autos mehr als neue?Was machte man mit Konsummarken?Weshalb mussten Gäste in Gaststätten anstehen?Warum funktionierten die Versandhäuser nicht?Weshalb trugen viele Bürger stets einen Dederon-Beutel bei sich?Warum wollten manche rückwärts in den Intershop?Was war die »Mondstaubserie«?Warum gab es im »Russen-Magazin« Halberstädter Würstchen?
V. Die größte DDR der Welt
Warum gab es die DDR?Wer legte der DDR Hallsteine in den Weg?War Berlin die »Hauptstadt der DDR«?Warum war 1968 die »Prager Volkszeitung« konterrevolutionär?Was widerfuhr Werner Lamberz in Afrika?Weshalb hatte die DDR Angst vor Polen?Was unterschied Reisekader von Reisekoffern?Wie wurden aus leeren Flaschen Medikamente?Wie kam die DDR zu einer Karibikinsel?Wer wohnt heute in den ehemaligen DDR-Botschaften?
VI. Leere Beutel, leere Kassen
Warum gab es so selten Bananen?War die DDR 1989 pleite?Warum hatte die DDR Ferienbungalows auf Gran Canaria?Warum gab es Damenschlüpfer zum Basteln?Was gestattete die »Gestattungsproduktion«?Was war der »Mindestumtausch«?Wie verscherbelte die DDR ihre Kulturschätze?Was ist eine »Wieger«?Warum verschwanden Transit-LKW von der Autobahn?Wer erbte Wilhelm Piecks Briefmarkensammlung?
VII. Brüder und Schwestern
Was war in den West-Paketen?Was war ein »Interzonenpass«?Weshalb bezahlte die SED Schwarzarbeit im Westen?Wie wurde die DDR heimliches Mitglied der EG?Was war die »gesamtdeutsche Olympiamannschaft«?Was war eine »Aggression auf Filzlatschen«?Wer war Gunnar Jauer aus Kopenhagen?Warum bekämpfte die FDJ den Ochsenkopf?Warum war Salzgitter »das schlechte Gewissen der DDR«?Wie tauchte die RAF in der DDR unter?
VIII. Angst vorm Klassenfeind
Was machte das »innerdeutsche Ministerium« in Bonn?Warum starben Wismut-Kumpel für die Bombe?Warum gab es keine West-Zeitungen?Wie hätte Bonn 400 Millionen Mark sparen können?Wie konnte man der Stasi entwischen?Was war in der DDR »Opium für’s Volk«?Warum durfte Angelika Unterlauf nicht lächeln?Weshalb mochte Kurt Hager keine neuen Tapeten?Wieso gab es bei Wahlen so viele Ja-Sager?Warum brachten Witze manche in den Knast?
IX. Im Gleichschritt
Wann entstand die NVA?Warum sollte ein »Rügenhafen« gebaut werden?Was war der »Dienst für Deutschland«?Wer fühlte sich von wem weshalb bedroht?Was verkündete die Wehrkunde?Weshalb fürchteten NVA-Soldaten Schwedt?Waren Spaten-Soldaten auch Genossen?Wofür bekam man den »Blücher-Orden«?Waren »die Freunde« wirklich Freunde?Warum sind frühere NVA-Offiziere nicht »a.D.«?
X. Zwischen Rotlicht und Urlaub
Was hatte der »Magazin«-Akt mit dem Parteilehrjahr zu tun?Wie verschwanden aufmüpfige Sätze berühmter Leute?War Jazz tatsächlich in der DDR verboten?Warum wurden Schlösser und Kirchen abgerissen?Weshalb klaute die Gewerkschaft Häuser?Wo gab es geheime Rundfunksender?Warum fuhren FDGB-Urlauberschiffe für Neckermann?Weshalb trug Hauptmann Fuchs immer einen Schlips?Warum gab es für »Nieten in Nietenhosen« echte Jeans?Weshalb sahen Busen und Hintern wie Feuermelder aus?
XI. Feine Gesellschaft
Wäre Karl-Eduard von Schnitzler Kaiser geworden?Warum brauchte die junge DDR Helden?War die DDR für Brecht Exil oder neue Heimat?Wer konnte in der DDR Millionär werden?Was machte Heinz Quermann auf dem Bitterfelder Weg?Warum kamen West-Künstler in die DDR?Waren Generaldirektoren mächtig oder ohnmächtig?Wie stand Erich Honecker zu Robert Havemann?Wie ging es dem sozialistischen Erb-Adel?Warum wurde Konrad Naumann abgesägt?
Eine allerletzte Frage
Was sind die skurrilsten Erinnerungen an die DDR?
Quellenverzeichnis
Die DDR wurde fast so alt, wie das von Bismarck gegründete Deutsche Reich. Dennoch gilt das eine als fester Pfeiler der Geschichte, die andere jedoch nur als Periode, von der man noch nicht so recht weiß, was sie war. In jedem Fall war sie der erste Versuch, einmal alles ganz anders zu machen. Ein Jahrhundert-Experiment.
Es begann am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands und endete am 3. Oktober 1990 mit dem Verschwinden der DDR aus der Geschichte.
Ihr Henkersmahl hielt sie gut ein Jahr zuvor, am 7. Oktober 1989 im Palast der Republik. Es gab Zuchtwachtelbrüstchen auf Maispüree, Forellenröllchen mit Dillsauce und Lachskaviar, Schaumbrot von Räucherzunge und Weißgebäck dazu. Dann folgte eine »Extra starke Putensuppe mit Pistazienklößchen und Tomatenroyal«. Als Hauptgericht wurden das »Filetensemble Trianon«, Kalbsfilet mit Schinkenduxelles, Rinderfilet mit Gemüsebukett, Hühnermedaillons mit Pfirsichhälften, Madeirasauce und Kartoffelspezialitäten gereicht. Das »Dessert Surprise«, aus Eis und Schokoladen-Marzipan-Biskuit bestehend, rundete das Mahl ab.
Eine Surprise, vulgo Überraschung, erlebten auch die nicht in das Haus mit den vielen Lampen geladenen Gäste. Für sie gab es erst auf die Fresse, später – nach der »Zuführung« – Marmeladenbrot und Muckefuck. Auf dem Pappeimer stand »VEB ROKOMA« und gelernte DDR-Bürger wussten, dass damit die »Rostocker Konserven- und Marmeladen-Fabrik« gemeint war.
Für die meisten Menschen zwischen diesen beiden Polen war es ein Fest gespannter Erwartung. Der Stachelpelz der DDR hatte seine ersten Löcher und Sowjetführer Michail Gorbatschow mahnte die Zuspätkommer. Alle wussten, dass es so nicht weitergeht, keiner ahnte, wie es weitergehen würde. Jeden freute der freie Tag am 7. Oktober für den alljährlichen Herbstputz im Garten, einen Besuch oder einen Ausflug.
Dann folgte fast ein Jahr lang Leben in der schönsten DDR der Welt. Sie war ein freies Land mit freien Menschen geworden. Das Volk überprüfte mit Argusaugen die sanitären Einrichtungen der bis dahin Mächtigen, wer Bananen essen wollte, kaufte sich welche im Westen, wer Paris sehen mochte, fuhr mit dem Bus dorthin. Die einstmals gefürchtete Stasi wanderte »in die Produktion« und auch wieder hinaus, der freie Sonnabend an den Schulen bürgerte sich ein und die »Aktuelle Kamera« galt plötzlich als spannende Abendunterhaltung.
Ein großer, dicker Mann aus dem Westen versprach in naher Zukunft das Paradies auf Erden und ein kleiner, dünner Mann aus dem Osten sorgte dafür, dass bis dahin alles in halbwegs geregelten Bahnen verlief. Das Volk drohte: »Kommt die De-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr«. Es bekam seinen Willen, denn so ganz ohne Leute wäre es ja auch nicht weitergegangen.
Schließlich rauschte das schwarz-rot-goldene Fahnentuch am Mast hinunter und ohne Hammer, Zirkel, Ährenkranz wieder rauf. Die Revolution war beendet.
Was folgte, sind die Erinnerungen an die verflossene DDR: »Ein himmelblauer Trabant, fuhr durch das Land …«
Unsinn. Den himmelblauen Trabant gab es gar nicht. Stattdessen gab es, so die »Lackpalette« des Zwickauer Sachsenring Werkes, acroblau, alaskablau, azurblau, blaugrau, gletscherblau, kristallblau, lichtblau, neptunblau, pastellblau und taubenblau.
Auch Jeansblau gab es nicht. Und das Naserümpfen liegt förmlich in der Luft: Jeans? »Wisent« oder »Boxer«, das war es doch schon! Weit gefehlt. Ob »Camping« oder »College«, »Goldfuchs«, »Shanty« oder gar »El Pico« und »Walk« – sogar in der Welt der blauen Hosen, die ja nun wirklich vom Klassenfeind stammten, war in der DDR Kreativität und Vielfalt angesagt.
So ist das mit den Erinnerungen. Jeder hat die seinen, mit dem Vergehen der Zeit werden sie ohnehin immer goldiger. Nóstos, die Rückkehr oder Heimkehr, und Algos, der Schmerz, wie es die Griechen nannten. Zusammengefasst zu Nostalgie, verballhornt zu »Ostalgie«, beides meint das »schmerzende Heimweh«.
Für die einen sind die Erinnerungen angenehm: »Der Meister spricht von Malimo, denn Malimo hat Weltniveau«. Für andere klingen sie eher bedrohlich, etwa wenn es hieß: »Weißkohl ist ja sooo gesund« und wieder andere sehen es gelassen: »Sind wir mit der Zeit im Druck – im Betrieb und auch zu Hause – freut sich jeder auf die ›Muck‹ für die kleine Raucherpause«.
Wer, wieso, warum, weshalb fast vierzig Jahre lang etwas tat oder auch nicht, findet sich im DDR-Zettelkasten. Wie alle solche Sammlungen ist er natürlich nicht vollständig, aber er erinnert an vieles, das heute vergessen ist. Wer war denn eigentlich noch einmal der Mann mit der Fistelstimme auf den grünen Briefmarken – und was stand in solchen Zeitungen wie »Der Rüttler« oder »Der Furchenkieker«? Warum war das Gemüse in den Läden immer dreckig und weshalb saßen die Bieretiketten schief? Und war der Jazz in der DDR tatsächlich verboten?
Einhundertundelf Fragen und manche Antworten.
Alles begann mit einer großen Illusion. Als am 7. Oktober 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, hieß es vollmundig, nun sei erstmals in der Geschichte ein Staat der Arbeiter und Bauern entstanden. Nur waren es weder Arbeiter noch Bauern, die das Sagen hatten, sondern eine Partei, die sich als deren »marxistisch-leninistische« Vorhut ausgab.
Dass der Gründungsakt ausgerechnet mit einem Fackelzug unseligen Angedenkens erfolgte, wurde kaum wahrgenommen. Die Menschen hatten Anderes im Sinn und um das Überleben zu kämpfen.
Im Osten wie im Westen wissen viele, dass es so wie bisher nicht weitergehen darf. Der »Zusammenbruch« nach zwei verheerenden Kriegen steckt in den Köpfen und in den Knochen. Die Städte liegen in Trümmern, wo einstmals gearbeitet wurde, heult nun der Wind durch die Ruinen. Wie die Zukunft aussehen könnte, weiß niemand, Hoffnungen und Träume kreisen hier wie da um das magische Wort »Demokratie«.
Der neue Staat im Osten hat es sogar in seinen Namen gesetzt. Daran, dass dies nur ein Vorwand ist, um eine Diktatur zu errichten, lässt SED-Chef Walter Ulbricht schon vor der Staatsgründung keinen Zweifel: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«
Dafür wird von Anfang an die Politik verschleiert, Legionen gutwilliger Menschen werden im Glauben gewogen, sie wären beim Aufbau einer »neuen Gesellschaft« willkommen. Das sind aber beileibe nicht alle. Manche werden einfach nicht mitgenommen, andere zerrieben. Die einen gehen fort, die anderen resignieren. Das DDR-typische »privat geht vor Katastrophe« krallt seine ersten Wurzeln in die Gesellschaft.
Die Arbeiter und Bauern haben im Arbeiter- und Bauern- Staat nicht viel zu sagen. Je länger ihnen das verborgen bleibt, umso länger wird die Diktatur dauern. Deshalb versucht die Führung das Volk Glauben zu machen, es wäre der »Tischler« Walter Ulbricht, der unter der Präsidentschaft des »Tischlers« Wilhelm Pieck das Land führt und später vom »Dachdecker« Erich Honecker beiseite geschoben wird. Dass Letzterer nicht einmal seine Lehre abschloss, verschwiegen seine Biographen. Dafür sorgte »Expedient« Erich Mielke, der sehr bald nicht mehr – wie einstmals gelernt – für den Versand von Waren und Gütern, sondern den von Menschen verantwortlich zeichnete.
Aus diesem vermeintlich proletarischen Stammbaum versucht die SED, ihren Führungsanspruch herzuleiten – so wie einst die Hohenzollern aus ihrer adligen Herkunft.
Zusätzlich braucht jede Diktatur eine Schicht von Funktionären, um zu funktionieren. Das erstrebenswerte Ziel vieler davon war es, den sozialen Status der Arbeiter- und Bauernschaft zu verlassen. Deren Tätigkeit auch nur für einen begrenzten Zeitraum auszuüben, galt als Strafe, euphemistisch »Bewährung in der Produktion« genannt.
Doch da war ja immer noch der hehre Anspruch vom Arbeiter- und Bauernstaat. Dieser Widerspruch wurde »gelöst«, indem sich die Funktionäre zu Arbeitern ernannten, nämlich zu »Partei-Arbeitern«. Auch den Offizieren der »bewaffneten Organe« verlieh man, in der sich permanent militarisierenden DDR, per Gesetz den bevorzugten Status. Nun stimmte das ausgefeilte Privilegiensystem der »herrschenden Klasse« wieder: Ihre Abkömmlinge wurden bevorzugt zum Abitur und Studium zugelassen, bekamen schneller eine Wohnung und landeten in den Startlöchern beruflicher Karrieren. Der »real-existierende« DDR-Sozialismus hatte seine feudalen Strukturen gefunden.
Doch da waren ja noch diese vermaledeiten Arbeiter und Bauern. Nichts fürchtete die »Partei der Arbeiterklasse« so wie sie. Nicht einmal den »Klassenfeind«. Gegen den konnte man rüsten, ihn mit Propaganda bekämpfen oder einfach aussperren. Aber was war, wenn die Arbeiter und Bauern aufmuckten. Da blieb nur, sie mit ein paar Zugeständnissen ruhigzustellen. Intellektuelle und andere »bürgerliche Elemente« waren mit der Palette von A wie Anbiedern bis Z wie Zuchthaus beherrschbar. Aber doch nicht die Arbeiter und Bauern! Sie ließen sich mit »Bewährung in der Produktion« ebenso wenig disziplinieren, wie mit der Drohung, keine Karriere machen zu können. Sie blieben das revolutionäre Potential in der DDR, ob sie es wollten, oder nicht.
Als diese Arbeiter das am 17. Juni 1953 zum ersten Mal zu merken schienen, mussten die Panzer der sowjetischen Besatzungsmacht heranrollen, um die Macht der Funktionäre zu sichern. Fortan konzentrierte sich die »Partei der Arbeiterklasse« darauf, die unsichtbare Kraft der Arbeiterklasse nicht noch einmal aufbrechen zu lassen. Ging sie dabei in eine Richtung, die ihren Lehnsherren in Moskau spanisch vorkam, genügte ein kurzer Ruck am Faden der Marionetten, um sie wieder in Reih’ und Glied einschwenken zu lassen.
Diese Diktatur nach Gutsherrenart bekam den schönen Namen »Sozialismus in der Farben der DDR«. Sie dauerte fast vierzig Jahre.
Erst ganz zum Schluss nahmen die Arbeiter und Bauern dann doch noch das Heft in die Hand. Sie gingen auf die Straße und machten so »ihrem« Staat deutlich, dass es nun reicht. Fackeln, Trommeln und Fanfaren brauchte dazu niemand, Kerzen genügten.
Die kleine DDR trug die größten Reparationsleistungen, die je ein Land im 20. Jahrhundert erbringen musste.
Grundsätzlich sah das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 vor, dass an jede Besatzungsmacht aus ihrer Zone zu zahlen sei. Da die Sowjetunion jedoch die größten Schäden erlitten hatte, erhielt sie das Recht, auch aus anderen Zonen Reparationen zu erhalten.
Doch die West-Alliierten waren sich bald einig, mit den Nazis »das falsche Schwein geschlachtet« zu haben, so Winston Churchill. Unter dem Vorwand, zugesagte Lebensmittellieferungen aus der Sowjetzone blieben aus, stoppte der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay am 25. Mai 1946 die Reparationslieferungen gen Osten. Die Briten und Franzosen schlossen sich an.
Nun konnte sich die Sowjetunion nur noch an ihrer Zone zwischen Ostsee und Erzgebirge schadlos halten. Bis März 1947 wurden rund 11.800 Kilometer Eisenbahngleise demontiert, das war knapp die Hälfte aller Schienenwege, die es 1938 gab. Ebenfalls abgebaut wurden etwa 2.000 bis 2.400 Betriebe. Damit entstand in den ersten zwei Jahren nach dem Krieg neben den Zerstörungen ein zusätzlicher Substanzverlust an industriellen Ausrüstungen und Infrastruktur von knapp einem Drittel des Vorkriegsbestandes. Ein großer Teil dieser Beute verrottete hinter der sowjetischen Grenze, denn die schwerfällige Bürokratie war nicht in der Lage, zu organisieren, dass die Sachen weiter genutzt werden konnten.
Mit dem Befehl Nr. 167 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom Juni 1946 begann die Entnahme der Reparationsleistungen aus der laufenden Produktion der inzwischen in der Besatzungszone gebildeten »Sowjetischen Aktiengesellschaften« (SAG). Sie umfassten etwa 200 größere Betriebe, die wesentliche industrielle Basis der späteren DDR.
Nachdem mit Wirkung vom 1. Januar 1954, infolge eines von der Sowjetunion gefassten Beschlusses, die Reparationszahlungen an sie eingestellt worden waren, wurden die SAG-Betriebe in DDR-Eigentum überführt. Eine Ausnahme blieb die Wismut, die als wichtigster Uran-Lieferant Moskaus für die atomare Aufrüstung von unverzichtbarer, strategischer Bedeutung war.
Die Reparationen belaufen sich 1946, also vor Gründung der DDR, auf 48,8 Prozent des Bruttosozialproduktes der Zone. Ein Jahr später sind es noch 38,4 Prozent, 1948 dann 31,1 Prozent und im Gründungsjahr der DDR immer noch 19,9 Prozent. Damit bluten Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen weit mehr aus, als die West-Länder. Dort gehen nur zwischen 14,6 Prozent des Bruttosozialproduktes 1946 und 6 Prozent im Jahr 1949 für die laufenden Verpflichtungen in der Nachkriegszeit drauf.
Eine genaue Abrechnung der Reparationsleistungen auf Heller und Pfennig gibt es nicht. Sie wird durch die unterschiedlichen Bezugsgrößen – Preise in Reichsmark im Wert von 1936, US-Dollar von 1938 oder Ost- und West-Mark von 1953 (offizielles Ende der Reparationszahlungen) – erschwert.
DDR-Nostalgiker nutzen dies gern, um eine wesentlich höhere Belastung Ostdeutschlands im Vergleich zum Westen bei den Reparationszahlungen zu errechnen. In der Spitze liegt diese Art der Betrachtung bei 98 Prozent (knapp 100 Milliarden DM zu Preisen von 1953) der Zahlungen durch die DDR und nur 2 Prozent (gut 2 Milliarden DM) durch die Bundesrepublik. Daraus wird dann die politische Forderung entwickelt, die Bundesrepublik sei der DDR einen Ausgleich dafür schuldig gewesen.
Wissenschaftlich seriösere Rechnungen schätzen, dass der Osten etwa 12 bis 14 Milliarden US-Dollar, bezogen auf die Preise des Jahres 1938, und der Westen rund 12 Milliarden US-Dollar für die Befriedigung ausländischer Ansprüche nach dem Zweiten Weltkrieg aufbringen musste. Angesichts der unterschiedlichen Größe der Territorien und der unterschiedlichen Bevölkerungszahl bleibt somit eine wesentlich höhere Belastung der späteren DDR zu konstatieren.
Hinzu kommt, dass im Westen ein großer Teil der Zahlungen, besonders die Wiedergutmachung an Israel, aus der sich die DDR völlig herausgehalten hat, erst zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs erfolgte. Im Osten erwiesen sich die Reparationsleistungen von Anfang an als Stein um den Hals beim wirtschaftlichen Neustart. Er begleitete die DDR bis zu ihrem Ende.
Kurz davor, nach den Wahlen am 18. März 1990, wurde Pfarrer und Sozialdemokrat Markus Meckel DDR-Außenminister. Lauthals verkündete er, nun könne man ja endlich auch den immer noch ausstehenden Friedensvertrag schließen. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) ist entsetzt: Das hieße, plötzlich mit rund 50 ehemaligen deutschen Kriegsgegnern über deren eventuelle Forderungen zur Wiedergutmachung verhandeln zu müssen. Er lädt seinen unerfahrenen DDR-Kollegen in sein Privathaus nach Bonn ein. Danach hat Meckel begriffen, wie Politik gemacht wird, das Wort »Friedensvertrag« ist von ihm nie mehr zu hören.
Stattdessen steht im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der den Weg zur deutschen Einheit öffnet, ausdrücklich, dass er »anstelle eines Friedensvertrages« geschlossen wurde. Damit sind dann also auch die Kosten des Zweiten Weltkrieges endgültig bezahlt. Eine Verrechnung zwischen den ehemaligen deutschen Teilstaaten findet nicht statt.
Als Rocksänger Udo Lindenberg 1983 den alten Glenn-Miller-Titel »Chattanooga Choo Choo« coverte und als »Sonderzug nach Pankow« schickte, wusste jeder: Hier geht es um eine Satire auf die DDR-Regierung. Doch die saß damals in Berlin-Mitte und hatte ihr Domizil in Wandlitz vor den Toren der Stadt. Warum also ausgerechnet Pankow?
Das hängt mit dem Barockschloss Schönhausen zusammen, das viele Jahre »Schloss Niederschönhausen« genannt wurde. Von 1949 bis 1960 residierte dort, also in Berlin-Pankow, der erste und letzte Präsident der DDR, Wilhelm Pieck. Im an den Schlosspark angrenzenden Villenviertel wohnen damals SED-Chef Walter Ulbricht und die Mitglieder der Regierung. Alles ist mit einem grünen Bretterzaun von der Außenwelt abgeschirmt. Die Bonzen nennen ihre Häuser rings um den Majakowskiring »Das Städtchen«, das Volk sagt respektlos »Ghetto« dazu. Diese Führung ist von Moskau eingesetzt und kann sich keiner Legitimation durch freie Wahlen rühmen.
Deshalb sind die roten Bonzen auch dem schwarzen Kanzler im anderen Teil Deutschlands von Anfang an ein Dorn im Auge. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 dachte Konrad Adenauer darüber nach, wie man eigentlich ein Land nennt, dessen bloße Erwähnung schon den Verdacht auslösen könnte, man würde es als existent betrachten. Schließlich fiel ihm mit Blick auf die »Zoffjetzone« nur noch ein, den Ort ihrer Regierung zur Marke zu machen. So redete man dann jahrelang vom »Pankower Regime«, denn allein die Benutzung der Worte »Deutsche Demokratische Republik« hätte ja Akzeptanz bedeuten können. Für Adenauer genügte bald ein kurzes, hartes »Pankoff« für die Umschreibung des beargwöhnten deutschen Zweitstaates.
Die Geschichte seines ersten Regierungssitzes ist jedoch viel länger als dessen Zeit als Symbol für das »Pankower Regime«.
Ihr wichtiger Teil begann 1740, als der Alte Fritz noch der junge Fritz war und den preußischen Thron bestieg. Er schenkte Schloss Schönhausen seiner ungeliebten Frau Elisabeth Christine. Der König wollte lieber in Potsdam »Ohne Sorgen«, französisch »Sanssouci«, und ohne Frau leben. Das ließ sich Preußen 16.000 Taler kosten.
Doch es lag wohl kein Segen auf dem damals noch weit vor Berlin liegenden Anwesen; im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wurde es an dem einzigen Tag, an dem russische Truppen Preußens Hauptstadt besetzten, zerstört. Friedrich bezahlte 1764 seiner Gattin den Wiederaufbau. So entstand das Schloss in seiner heutigen Form. Sechzig Jahre später schuf Peter Josef Lenné den Park.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfiel beides. 1920 ging dann alles in den Besitz Preußens über. Die Nazis bauten das Schloss 1935 zu einem Ausstellungsgebäude um. Fünf Jahre lang wurden dort die von der »Reichskammer der bildenden Künste« geförderten Werke gezeigt. Dann mutierte das Haus zum Lager und beherbergte die im »Dritten Reich« verpönte »entartete Kunst«. In den Räumen stapelten sich nun Werke von Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Franz Marc und vielen anderen. Es war eine geheime Schatzkammer.
Und es ist schon fast so etwas, wie ausgleichende Gerechtigkeit, denn während Berlin mitsamt seiner »NS-Kunst« in Schutt und Asche versinkt, bleiben Schloss Schönhausen und das angrenzende Villenviertel nahezu unzerstört.
Ab 1945 sind die Russen wieder da. Diesmal etabliert sich die Besatzungsmacht für Jahrzehnte. Das Schloss wird zum Offizierskasino, etwas später dann zu einer Internatsschule für die privilegierte Ausbildung von Kindern hoher sowjetischer Offiziere und deutscher Spitzenfunktionäre.
Als DDR-Präsident Wilhelm Pieck eine Kanzlei braucht, zieht er ins Schloss. Sein Schreibtisch trägt bis 1955 ein Emblem aus Hammer und Ährenkranz, das nur inoffiziell galt. Erst mit Gesetz vom 26. September 1955 wird dann das offizielle Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz und eingebundener schwarz-rot-goldener Fahne daraus. Für die Bundesrepublik bleibt es das »Spaltersymbol des Pankower Regimes« – sein öffentliches Zeigen steht dort bis 1969 unter Strafe. Das Schloss ist derweil längst »Gästehaus der DDR-Regierung«, in dem nun ausländische Staatsmänner logieren.
Es ist fast ein Treppenwitz der Geschichte, dass es ausgerechnet Sowjetführer Michail Gorbatschow war, der dort 1989 als letzter Gast das Licht ausmachte. Mit ihm ging der kleinere deutsche Teilstaat, doch zuvor tagte noch der »Runde Tisch« des DDR-Übergangsparlamentes in den Nebengebäuden des Schlosses. Später fanden dort Teile der »Zwei-plus-Vier-Verhandlungen« statt, mit denen die USA, die Sowjetunion, England und Frankreich den Weg zur deutschen Einheit öffneten.
So begann und endete die Geschichte der DDR letztlich in Pankow.
Inzwischen ist das Schloss für 8,6 Millionen Euro restauriert und zum Museum geworden. In einem Seitengebäude sitzt die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Es war auch mal als Zweitsitz des Bundespräsidenten vorgesehen, das war jedoch der Bundespräsidialverwaltung zu teuer.
Biox Ultra ist eine Vorkriegs-Zahnpasta, die im VEB Elbe Chemie Dresden die DDR überlebt hat. »Bonner Ultra« war ein Propaganda-Begriff der 50er und 60er Jahre, der die DDR nicht überlebt hat.
Erklärt wurde das merkwürdige Wort »Ultra« früher nicht. Es stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie »jenseits« im Sinne von »darüber hinaus«. Gebraucht wird es, wenn jemand als besonders fanatisch beschrieben werden soll. Das erfand eine italienische Zeitung – in der Landessprache steht »ultra« für »extrem« – nachdem Fußballfans des AC Torino Anfang der 50er Jahre nach einem misslungenen Spiel den Schiedsrichter bis auf den Flugplatz verfolgten und bedrohten.
Die »Bonner Ultras« waren wohl so etwas wie die italienischen Rowdys und verfolgten die DDR mit Hass und Missgunst. Aber die wusste sich zu helfen und baute einen »antifaschistischen Schutzwall«: »Der Sieg wurde errungen von den friedliebenden Deutschen, von den guten Deutschen, über die Bonner Ultras und deren Handlanger in Westberlin.« Dass die Speerspitzen des Schutzwalls nach innen zeigten, ermunterte die Bonner Ultras zu weiteren Frechheiten und die DDR befahl ihren Untertanen: »So dürft ihr das nicht sehen.«
Die deutsch-deutschen Querelen begannen 1945. Auf die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches folgte kein Friedensvertrag. Als im Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, hielt sie sich von Anfang an für die Rechtsnachfolgerin des vorangegangenen Staates. Das wollte die DDR weder akzeptieren noch nachahmen. Probleme wie die dann nötige Wiedergutmachung an den Opfern des Holocaust oder auch die Einhaltung von Pensionszusagen an frühere Beamte und deren Witwen und manches andere aus dem Erbe der Vergangenheit hielten sie ab. Die DDR stellte sich auf den Standpunkt, sie sei etwas völlig Neues und habe demzufolge mit all dem nichts zu tun.
Die Bundesrepublik hingegen fühlte sich für »Ganz-Deutschland« verantwortlich. Doch wo lag das nach den Nazi-Raubzügen quer durch Europa? Man einigte sich auf die Grenzen von 1937. Aus Bonner Sicht bestand damit auch Anspruch auf die DDR und die verlorenen Ost-Gebiete, die auf West-Karten als »unter zeitweiliger polnischer bzw. sowjetischer Kontrolle stehend« bezeichnet wurden. Selbst die TV-Wetterkarte, die auf Beschriftung verzichtete, zeigte »Deutschland« inklusive Pommern und Ostpreußen.
So etwas verstand der Osten als unausgesprochene Kriegserklärung. Wer die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges nicht akzeptiert, will sie verändern und das würde nicht ohne Gewalt gehen.
Die DDR strebte damals die deutsche Einheit an und orientierte sich an den Abkommen der Alliierten, insbesondere dem von Potsdam. Die Ost-Grenze an Oder und Neiße war aus ihrer Sicht ein für allemal festgeschrieben. Nun konnte es nur noch um das Verhältnis von West- und Ost-Deutschland gehen, zu dem die Bonner Ultras mit Blick auf den verlorenen Osten »Mitteldeutschland« sagten.
Mindestens einmal pro Jahr wurden im Westen dazu auch Trommeln gerührt und Reden gegeifert. Da waren dann auch gleich die »Sudetendeutschen« dabei, die »der Führer« 1938 »heim ins Reich« geholt hatte, die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben und alle anderen, die gern deutsch tümelten. Die lettischen SS-Veteranen bekamen ihre deutsche Rente allerdings erst nach der Einheit.
Die DDR nannte das alles – sicher nicht völlig zu Unrecht – Revanchismus. Dagegen kämpfte sie.
Ihr Streben nach Einheit in den 50er Jahren beruhte darauf, dass die Sowjetunion als Sieger des Zweiten Weltkrieges das Ländchen zwischen Ostsee und Erzgebirge nicht unbedingt als Provinz brauchte. Der geht es um mehr Sicherheit. Deshalb knüpft sie zunächst an die traditionelle russische West-Politik der Zaren an: Deutschland als Gegengewicht zu Frankreich, das wiederum von Großbritannien in der Waage gehalten wird. Dazu muss die »großdeutsche Lösung«, die Einverleibung Österreichs in das deutsche Staatsgebiet, rückgängig gemacht und Deutschland neutralisiert werden. Ersteres geschieht nach der Befreiung des Alpenlandes, bei der die Rote Armee die wichtigste Rolle spielte. Deutschland zum neutralen Staat zu machen, gelingt nicht. Erst 1957 entscheidet sich deshalb Moskau mit der Zusage langfristiger Lieferungen wichtiger Rohstoffe für die endgültige Einbeziehung der DDR in den neu entstandenen Ostblock.
Die »Bonner Ultras« setzen derweil auf das Bündnis mit den USA. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer bleibt die »Zoffjetzone« eine »Irredenta«. Das heißt so viel wie »unerlöste Provinz« und stammt aus der Zeit des Freiheitskampfes in Tirol.
Den USA ist es in der Nachkriegszeit nicht gelungen, die Entwicklung der Sowjetunion zur zweiten Weltmacht zu verhindern. Deshalb sind sie Jahrzehnte später nun auch gezwungen, die Unantastbarkeit der neuen Grenzen festzuschreiben, was bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975 geschieht. Eine Veränderung »mit friedlichen Mitteln« behält sich der Westen vor, die »Bonner Ultras« haben sich in Realpolitiker verwandelt.
Einer ihrer in den Ost-Augen übelsten Vertreter, der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, kam am 24. Juli 1983 zum ersten Mal zu Besuch in die DDR. Als reicher Onkel aus dem Westen brachte er die Bürgschaft für einen ersten Milliarden-Kredit mit. Für die DDR war das dann das Nonplusultra.
Die »Deutsche Reichsbahn« (DR) unterhielt im Jahre 1935 ein Streckennetz mit einer Betriebslänge von 68.728 Kilometern. Fast fünfzig Jahre später, 1982, waren es noch 14.231 Kilometer und der alte Name zierte noch immer die Hochbauten, Lokomotiven und Wagen in der DDR.
Das hatte einen guten Grund. Die »Deutsche Reichsbahn« bekam nach dem Krieg von der Sowjetunion die Betriebs- und Eigentumsrechte in West-Berlin. Dazu gehörte auch der S-Bahn-Betrieb. So hatte die DDR stets ein Standbein beim Klassenfeind. Dies wäre durch eine Umbenennung der »Deutschen Reichsbahn« gefährdet gewesen. Erst nach einem Streik der West-Berliner Reichsbahnangestellten legte die DR Anfang der 80er Jahre große Teile des S-Bahn-Netzes still. Gleichzeitig wurde verhandelt und ab 1984 übernahm die BVG West die Betriebsrechte. Die Bedienung der Fernbahnhöfe in West-Berlin und der Güterverkehr, und somit das »Hausrecht« auf den Bahnanlagen, blieben bis zur Gründung der Deutschen Bahn AG am 1. Januar 1994 in der Hand der DR und damit Ost-Berlins.
Begonnen hatte alles unmittelbar nach dem Krieg. Bei der bereits zuvor vereinbarten Besetzung Berlins herrschte unter den Alliierten Einvernehmen darüber, von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) bereits getroffene Entscheidungen zu akzeptieren. Mit Blick auf die Eisenbahn wurde es »von allen Beteiligten als natürlich und zweckmäßig empfunden«, sie in Berlin nicht auch noch zu spalten. Von einer schriftlichen Vereinbarung sahen die Siegermächte ab, um nicht falsche Weichen für spätere Entwicklungen zu stellen. Den Westmächten war die Sicherung ihrer Transporte nach West-Berlin wichtig, das garantierten die Sowjets über alle Krisen hinweg.
Der SMAD-Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 regelte mit Wirkung vom 10. August in der Sowjetischen Besatzungszone die Errichtung einer deutschen »Zentralverwaltung des Verkehrs für die Leitung und Verwaltung der Reichsbahndirektionen und Schifffahrt«. Schon zum 1. August 1945 war die Bildung einer »Reichsbahndirektion Berlin« befohlen worden, die entsprechend den vorausgegangenen mündlichen Absprachen ganz Berlin umfasste.
Mit diesem Erbe startete die DDR. Für sie stellte sich die Frage der Umbenennung zum ersten Mal, als die Beschriftung des »rollenden Materials« – bislang englisch als »USSR Zone DR« gekennzeichnet – verschwinden sollte.
Experten erwogen, um das »DR« kreisförmig den Schriftzug »Deutsche Demokratische Republik« anzubringen.
Doch dann wurde ihnen ein ganz anderes, viel schwerwiegenderes Problem bewusst: Die Nazis hatten in ganz Europa Eisenbahnwagen gestohlen und diese »Fremdwagen« der DR als »Beutegut« einverleibt. Nach der Kapitulation war anderes zu tun, als sie auszusortieren. Niemand wusste, wie viele Wagen betroffen waren, Ansprüche aus den verschiedensten Ländern waren zu erwarten. Sie konnten schon aus rein praktischen Überlegungen nicht befriedigt werden, denn die DR hatte die Transporte der sowjetischen Besatzungsmacht zu sichern. Das ging nicht, wenn von den ohnehin knappen und veralteten Wagen auch noch welche abgegeben werden würden.
Als die »Sowjetische Kontrollkommission« (SKK), die vom 10. Oktober 1949 bis zum 28. Mai 1953 bei allen Entscheidungen der provisorischen Regierung der DDR das letzte Wort hatte, von den Umbenennungsplänen erfuhr, stoppte sie die Aktion. Moskau fürchtete angesichts des sich verschärfenden Kalten Krieges einen staatsrechtlichen Streitfall heraufzubeschwören, der sich vermeiden ließ. Dahinter stand, dass sich die DDR nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches sah. Auch die weitere Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen stand in den Sternen. Alle Schritte, die hier die Bewegungsfreiheit einengten, mussten vermieden werden.
Einfach die »Deutsche Reichsbahn« im Handstreich zur DDR-Bahn zu machen, blieb auch später kompliziert. Der kleinere deutsche Teilstaat war in den ersten zwanzig Jahren seiner Existenz international nicht anerkannt. Mit einer angeblich »nicht vorhandenen« Regierung würde aber niemand verhandeln – die internationalen Folgen einer Umbenennung der Bahn blieben so lange Zeit unkalkulierbar.
Und schließlich spielte auch das Geld eine Rolle. Ein neuer Name hätte erhebliche finanzielle Mittel beansprucht, denn es hätte ja von den Loks über die Wagen und Bahnhöfe bis hin zum letzten Formblatt alles neu gemacht werden müssen. Dieses Geld wollte man lieber für die »Stärkung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR« verwenden.
Im September 1969 formulierte das Verkehrsministerium deshalb einen pragmatischen Standpunkt, der bis zum Ende der DDR beibehalten wurde: Eine dringende Notwendigkeit zur Umbenennung – sieht man einmal von den Bevölkerungseingaben ab – bestehe nicht, weil sie politische und ökonomische Nachteile bringen könnte.
Was bleibt sind hunderte von Briefen an das ehemalige Ministerium für Verkehrswesen der DDR mit Namensvorschlägen. Eine Auswahl: »Deutscher Demokratischer Zugverkehr«, »Deutsche-Republik-Bahn«, »Bahn der Republik«, »Volkseisenbahn«, »Bahn des Neuen«, »Deutsche Sozialistische Bahn« oder schlicht »Eisenbahn der DDR«.
»Der Alte taugt nichts mehr«, brüllt Marschall Dimitri Ustinow im Kreml und Parteichef Leonid Breshnew sorgt dafür, dass Walter Ulbricht nach dem 31. März 1971 nicht mehr in der sowjetischen Presse erwähnt wird.
Das letzte, was über ihn dort zu lesen war, betraf seinen Auftritt vor dem 24. Parteitag der KPdSU. Dabei gab es für den Mann aus Ost-Berlin gar keine persönliche Einladung.
Er kam trotzdem und nicht nur das: Der ungebetene Gast hielt auch noch eine freche Rede. Walter Ulbricht verwies zunächst einmal auf seine langjährigen Erfahrungen im revolutionären Kampf. Sogar Lenin, den Gottvater der Weltrevolution, hatte er noch getroffen!
Leonid Breshnew war sauer. Ja, Lenin! Im November 1922 auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationale waren er und Ulbricht mal im selben Zimmer – sie wechselten jedoch kein Wort miteinander. Das hatte er recherchieren lassen. Und jetzt das: Der »Große WU«, wie Brecht den DDR-Spitzenmann nannte, bramarbasierte, dass seine SED den Marxismus-Leninismus tatsächlich auf die konkrete Situation angewandt habe, wie Lenin es forderte. Das Ergebnis sei eine hochtechnologisierte, sozialistische Gesellschaft, für die die Sowjetunion nicht mehr Modell stehen könne. Sie müsse immer wieder neu lernen, habe Wladimir Iljitsch gesagt, zum Beispiel von der DDR.
Das Maß war voll. Die Männer im Moskauer Kreml haben den Eindruck, Ulbricht sei völlig außer Kontrolle geraten und überschätze sich maßlos. Seine Politik war ihnen schon längst ein Dorn im Auge.
Dass Ulbricht nicht mehr wie ein treuer Gefolgsmann der Sowjetunion regieren würde, meldete Erich Honecker schon am 21. Januar 1971, dreizehn der damals zwanzig Mitglieder der Parteiführung hatten das siebenseitige Geheimschreiben unterzeichnet. Sie forderten die Absetzung des SED-Chefs. Wie man das elegant deichseln könnte, hatte Honecker bereits im Juli 1970 mit Breshnew vorsorglich besprochen.
Im Fokus der Kritik stand Walter Ulbrichts »Neues System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft«. In bewusster Anlehnung an Lenins »Neues Ökonomisches System«, von Eingeweihten kurz NÖS genannt, war nun vom NÖSPL die Rede. Es sah im Kern mehr Kompetenz und Effektivität in der Wirtschaft vor und ließ sich so gegen das Dogma vom »Primat der Politik« interpretieren.
Doch das war nicht alles. Nach Bildung der sozial-liberalen Koalition in Bonn hatte Walter Ulbricht Abtast-Verhandlungen in Erfurt und Kassel zugelassen. Seit 1969 sprach er von Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik auf der Grundlage der »friedlichen Koexistenz«. Er zeigte sich flexibler als früher und wollte sich mit »diplomatischen Missionen« statt Botschaften begnügen.
All das bedeutete keinesfalls ein Aufgeben des Sozialismus in der DDR, sondern diente dem Machterhalt. Aber allein schon solche Akzente waren zu viel. Moskau gibt grünes Licht für einen stillen Staatsstreich.
Am Vormittag des 27. April 1971 verkündet Walter Ulbricht vor dem Politbüro des ZK der SED seinen Rücktritt als Erster Sekretär der Partei. Aus Altersgründen. Dann geht er aus dem Sitzungssaal.
Am Tag vor der Politbüro-Sitzung war Erich Honecker zu Walter Ulbricht auf dessen Landsitz am Döllnsee gefahren, um ihm zu erklären, dass er »freiwillig« zurückzutreten habe.
Vorher ließ er in aller Stille die Telefonleitungen zeitweilig kappen. Die ihn begleitenden Personenschützer erhielten den Befehl, statt der üblichen Bewaffnung Maschinenpistolen mitzuführen.
Unmittelbar nach dem Rücktritt drängt der neue Mann darauf, Walter Ulbricht auch die Einflussmöglichkeiten zu nehmen. Sein Beraterteam wird aufgelöst, er bekommt ein kleineres Büro. Kurz nach dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 lässt sich Erich Honecker von der Volkskammer als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wählen, ohne dass Walter Ulbricht zuvor von dieser Funktion zurückgetreten oder abgewählt worden wäre.
Nach dem Triumph hat nun die Tragik den vom Stalinismus geprägten Führer erreicht. Erich Honecker demütigt den alten Mann. Das »Walter-Ulbricht-Stadion«, die Potsdamer Akademie für Staat und Recht und die »Leuna-Werke Walter Ulbricht« werden in Nacht- und Nebel-Aktionen umbenannt, die DDR-Dauerbriefmarken mit seinem Porträt verschwinden. Die Krankheits-Bulletins des einstigen DDR-Führers erscheinen im »Zentralorgan«. Zu seinem 80. Geburtstag am 30. Juni 1973 zeigen Fernsehen und Zeitungen den hinfälligen, alten Mann im Schlafrock und in Hausschuhen in einem Sessel sitzend. Um ihn herum stehend die neue Führung der SED unter Erich Honecker.
Er fährt nun die politische Ernte Walter Ulbrichts ein. Endlich gelingt die internationale Anerkennung der DDR als souveräner Staat. Nach dem Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik von 1972 wird sie ein Jahr darauf Mitglied der UNO. Bei der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa thront Erich Honecker 1975 gleichberechtigt zwischen Helmut Schmidt und dem US-Präsidenten Henry Ford. Bis 1978 haben 123 Länder die DDR völkerrechtlich anerkannt.
Letzter Akt: Walter Ulbricht stirbt am 1. August 1973. Bei seinem Staatsbegräbnis ein paar Wochen später erscheinen unaufgefordert Tausende von DDR-Bürgern. Obwohl zu seinen Amtszeiten »den Zickenbart« kaum jemand mochte, spürten nun offenbar viele, dass mit Ulbricht auch ein Stück DDR-Geschichte zu Grabe getragen wurde.
Die allwissende »Google«-Suchmaschine im Internet bietet auf diese Frage – in Anführungszeichen gesetzt – etwa 25.100 Antworten an. Beim ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan sind es nur 204. Trotzdem haben inzwischen viele den 1989 gestürzten Staats- und Parteichef der DDR vergessen.
Das Honecker-Alphabet: Antifaschist und Altersstarrsinniger. Berufsjugendlicher und Breshnew-Gefolgsmann. Cerberus und Coca-Cola-Trinker. Diktator und Dachdecker. Ehemann und Ehebrecher. Fanatiker und Funktionär. Generalsekretär und Genosse. Häftling und Hasardeur. Ideologe und Intrigant. Jäger und Jungrevolutionär. Kleinbürger und Krebspatient. Landesvater und Liberalisierer. Mauerbauer und Machtmensch. Nomenklaturkader und Nostalgiker. Opa und Opportunist. Privilegierter und Parteichef. Querulant und Querkopf. Regierender und Russenfreund. Saarländer und Stalinist. Trommler und Täter. Utopist und Unbelehrbarer. Vater und Verräter. Weltverbesserer und Weltreisender. X-für-ein-U-Vormacher und Yachtbesitzer. Zerstörer und Zentralist.
Wo liegt die Wahrheit und wie sieht sie aus?
Heute käme wohl kaum jemand auf die Idee, ausgerechnet Erich Honecker zu den »großen Männern« der Geschichte zu zählen. Und das, obwohl er viele Jahre lang Macht ausgeübt und das Wohl und Wehe von 16 Millionen Menschen verwaltet hat.
Es ist historisch gewachsener und geübter Brauch, Diktatoren an der Macht zu bejubeln und danach an ihren Untaten zu messen. Den dahinter stehenden Menschen wird das nicht gerecht. Solange die Tragik ihres Lebens verborgen bleibt, ebnen sie unbewusst den Weg für immer wieder erscheinende Nachfolger irgendwo auf der Welt.
Bei Erich Honecker muss an allererster Stelle auf seinen eisernen Willen verwiesen werden. Ohne ihn hätte er das Zuchthaus der Nazis nicht überstanden. Kraftquell dieses Willens war der Glaube, bei ihm der an die Utopie des Kommunismus. Er lernt sehr früh, dass seine einfachen sozialen Ziele – ein Dach über dem Kopf für alle, gesichertes Auskommen und geregelte Freizeit – nur durch Herrschaft erreichbar sind. Sie muss die bestehenden Verhältnisse umkehren, das ist für ihn die »Revolution«.
Erich Honecker akzeptiert für sich den Status des Funktionärs im kommunistischen Herrschaftsapparat. Dessen Eliten bestechen nicht durch individuelles Charisma, sondern zeichnen sich durch Funktionstüchtigkeit aus. Das sichert den allmählichen Übergang von der Utopie zum pragmatischen Machterhalt, ohne diesen jemals grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit sind in den »Apparaten« gespaltene Persönlichkeiten vorprogrammiert.
Erich Honecker litt in jeder Lebenslage unter solch einer gespaltenen Persönlichkeit. Er war im Grunde seines Herzens ein bescheidener Mensch, der sich statt an goldglänzendem Luxus an seinem Kassler mit Sauerkraut erfreute. Gleichzeitig duldete er aber um sich herum einen Byzantinismus, in dem der kommandierende General der »Staatssicherheit« in der abgeschotteten »Waldsiedlung« dem Personal allen Ernstes befahl, sie hätten den »führenden Genossen« deren Wünsche an den Augen abzulesen.
Durch die Wirren seiner Zeit war Erich Honeckers politische Vision von einer besseren Welt inhaltlich und organisatorisch vom Henker und Tyrannen Stalin vorgegeben. Er war auf dessen Vorstellungen von Partei und Sozialismus eingeschworen. Das machte ihn im Laufe seines Lebens zu einem geschmeidigen Machtpolitiker.
In kritischen Phasen der DDR-Entwicklung, wie nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953, den innerparteilichen Flügelkämpfen 1957 oder dem Zurückdrehen einer kulturellen Liberalisierung 1965, erwies er sich zunächst als bedingungsloser Gefolgsmann Ulbrichts. Skrupellos servierte er jedoch seinen Ziehvater ab, als sich die Chance auftat, selbst nach der Macht zu greifen.
Dabei war Erich Honecker niemals ein Zyniker oder Schwankender. Sein Glaube blieb unerschütterlich, auch als sich die Welt um ihn herum mehr und mehr veränderte.
Er hatte nicht die Gabe, seine Botschaften mitreißend zu vermitteln. Linkisch bei öffentlichen Auftritten, im gepressten Falsett mit aufgesetzt wirkenden, gellenden Akzenten und dem Faustgerecke im Habitus eines alternden Jungrevolutionärs, erschien er vielen als blasse Persönlichkeit. Im kleineren Kreis korrigierte sich dieser Eindruck. Dort war Erich Honecker oft ein eloquenter Unterhalter, überzeugend und sympathisch.
Dennoch blieben seine Gefühlsäußerungen bis auf wenige Ausnahmen im engsten Familienkreis – so zum Beispiel nach dem plötzlichen Tod seiner zweijährigen Enkelin Mariana – gebremst und kühl.
Als absolutistischer Sozialist liebte Erich Honecker keine neuen Gesichter um sich herum. Die Stabilität des »Apparates« war Garant für seine Macht, die er moderat ausübte. Bis ins hohe Alter glaubte er an sein gelungenes Lebenswerk, auf das er zufrieden blickte. Dessen Zusammenbruch muss für ihn eine traumatische Verkehrung des Erfolgs in den Absturz gewesen sein, den er nie für sich realisierte.
Wer also war nun eigentlich Erich Honecker? Es bleiben viele Fragen offen.
Vielleicht war er ein deutscher Patriot mit despotischem Talent, der an den Wirren der Geschichte tragisch scheiterte.
Ein altmodisch-hochgestochenes Synonym für unzerbrechlich, sollte man meinen. Doch bedeutete es mehr als das. Die »unverbrüchliche Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion« gehörte zur Staatsdoktrin der DDR wie die geschraubte Ausdrucksweise der Parteifunktionäre und ihrer Nachbeter, die Bertolt Brecht als »Kaderwelsch« charakterisierte.
Zu einer eigenen Sprache brachte es das »kleine zänkische Bergvolk am Rande des Großchinesischen Reiches« – so der DDR-Volksmund – in den vierzig Jahren seiner Existenz trotz mancher Mühe nicht. Dass gegen Ende selbst die unverbrüchliche Freundschaft »auf dem Scherbenhaufen der Geschichte« landete, steht auf einem anderen Blatt. Vergebens hatte Christoph Hein die oft zitierten »Sieger der Geschichte« davor gewarnt, sich voreilig zu »Siegern der Geschichtsschreibung« zu erklären. Die feierlich-pathetische ausufernde Sprache der Diktatur unterschied sich eben in mancherlei Hinsicht vom Deutsch der restlichen Welt.
Quellen des von westlicher Seite gerne als Parteichinesisch bezeichneten Konglomerats, das Altväterliches aus Partei-, Amts- und Diplomatensprache konservierte, waren neben den oft absonderlichen Eigen-Erfindungen das offiziell verpönte NS-Deutsch, von Viktor Klemperer als »LTI – Lingua Tertii Imperii«, die »Sprache des dritten Reichs«, vor aller Welt entlarvt.
Hinzu kam das Russisch der in unverbrüchlicher Freundschaft verbundenen Besatzungsmacht mit seinen endlosen Genitivhäufungen und Fremdwörtern zumeist französischen oder angloamerikanischen Ursprungs. Agronom, Aktiv, Brigade, Dispatcher, Estrade, Fakt, Festival, Initiative, Kollektiv, Kader, Kombine, Magistrale, Manifestation, Normativ, Perspektive und Traktorist gelangten auf diesem Umweg in den DDR-Wortschatz, in dem die Propaganda unseligen Angedenkens von Anfang an eine »führende Rolle« spielte. An linientreue 150-Prozentige mit einem »Bonbon« am Revers erinnerte sich der Volksmund ohnehin noch. Dass die Jugend, soweit sie nicht arbeitsscheu und dem Rowdytum verfallen war, sich wieder unter Wimpeln und in Kluft zu Heimabenden und Fahnenappellen, Fackelzügen und Gelöbnissen versammelte, gehörte samt Gesinnung zur alten wie zur neuen Weltanschauung. Der deutsche Gruß wurde durch den sozialistischen und unter auserwählten Kadern und führenden Repräsentanten gar kommunistischen, ersetzt; man schlug wieder heldenmütig Ernteschlachten, der Sozialismus schritt sieghaft voran und Ordens- und Titelsucht feierten fröhliche Urständ. Das altösterreichische Petschaft kam zu neuem Glanz und wurde in der DDR zu »die Petschaft«, und sogar noch dem letzten Postgehilfen wurde ein Dienstrang attestiert.
Einer besonderen Sprache bedienten sich neben Partei und Regierung »die Organe« – ebenfalls eine Übernahme aus dem Russischen – deren tapferste Behördenangestellte sich nach der berüchtigten sowjetischen Geheimpolizei als Tschekisten bezeichneten. Die zu bekämpfenden Delikte der vom allgegenwärtigen Klassenfeind gesteuerten feindlich-negativen Kräfte reichten von der Herabwürdigung über die Diversion, den staatsfeindlichen Menschenhandel und die Republikflucht bis hin zum landesverräterischen Treuebruch und zur Staatsverleumdung. Das wahre Ausmaß der Stasi-Terminologie und die davon geprägten Themen der Doktorarbeiten ihrer Anführer wurden den operativ zu bearbeitenden Problembürgern allerdings erst nach 1989 bekannt.
Planmäßig wurde auch die Alltagssprache im real existierenden Sozialismus von der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft bis zur Zahlbox im öffentlichen Nahverkehr in den Farben der DDR eingefärbt, was z.B. im Rahmen der Erfüllung der Hauptaufgabe durch vordringliche Maßnahmen zur Einhaltung und Absicherung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im sozialistischen Wohnungsbauprogramm seinen Ausdruck fand. Kurz gesagt, ging es stets irgendwo und irgendwie um die Rolle der Bedeutung.
Erinnert das etwa an die hohle Phraseologie gegenwärtiger Politik? Euphemismen, angefangen mit dem antifaschistischen Schutzwall und mit der Wunschkindpille keineswegs am Ende, waren jedenfalls beliebt, wie Bergbaufolgelandschaften, das Ehrenkleid der Nationalen Volksarmee oder die beliebte Sättigungsbeilage bewiesen. Brettsegeln, Hartbrandwichtel und Kulturistik bereicherten die Sprache, Goldbroiler, Grilletta und Ketwurst den Speiseplan, aus dem Königsberger Klopse und Hamburger Schnitzel verschwanden.
Um den Duden nicht allzu sehr ausufern zu lassen, tilgte man dafür in der Realität wie im Sprachgebrauch überflüssige Wörter wie Meinungsfreiheit, Postgeheimnis oder Weltreise. Als Dissident bezeichnete man dem Duden nach in Österreich »den Angehörigen einer abgespaltenen politischen Gruppe«. Wortverbindungen mit der Vorsilbe »West-« galten ohnehin als anrüchig, waren jedoch im Volksmund weit verbreitet. Derselbe erwies sich als einigermaßen resistent gegen zahlreiche Sprachwucherungen und ersetzte sie gerne durch Eigenschöpfungen. Legion ist die Zahl der satirischen Bezeichnungen für den fahrbaren Untersatz Trabant, für den Berliner Fernsehturm oder den stets ausreichend beleuchteten Palast der Republik.
Der Begriff Geschichtsklitterung hielt sich übrigens im Duden, in dem das letzte Wort mit den Vorsilben »unver-« am Ende dem Auflösungsprozess eine unerwartete Dynamik verlieh: die Öffnung der Mauer galt unverzüglich!
Weil selbst höhere Parteikader gelegentlich zu einer eigenen Meinung neigten, womit sie in Widerspruch zum wichtigsten Dogma der »Partei neuen Typus« gerieten: Die Partei hat immer recht! In den Anfangsjahren der DDR benötigte man für derartige Fälle noch kein Abstellgleis. Die nimmermüde Staatssicherheit und eine willige Justiz verhalfen – sowjetischem Vorbild getreu – »Abweichlern« zu einem längeren Zuchthausaufenthalt. Einer der ersten, den so der Bannstrahl der Partei trifft, ist der stellvertretende KPD-Vorsitzende im Westen, Kurt »Kutschi« Müller, den die Stasi am 22. März 1950 im Auftrag der Besatzer verhaftet. Müller, nach elf Jahren Nazihaft inzwischen Bundestagsabgeordneter seiner Partei, wird als Spion und »Titoist« verleumdet, ein sowjetisches Gericht verurteilt ihn zu 25 Jahren Gulag. Erst im Oktober 1955 kehrt er in die Bundesrepublik zurück.
Weniger Glück hat der fünf Monate später festgenommene Generaldirektor der Reichsbahn, Willy Kreikemeyer, hauptamtlicher KP-Funktionär seit 1923. Im französischen Exil hatte er im Auftrag der Partei amerikanische Hilfsgelder und Pässe an auserwählte Genossen weitergereicht, oft die Rettung in allerletzter Minute. Einer der so unterstützten hieß damals »Leistner«, und der verhört ihn jetzt: der frischgebackene Stasi-Staatssekretär Erich Mielke. Der Vorwurf gegen Kreikemeyer ist schwerwiegend: Zusammenarbeit mit Noel Field, den Stalins Schergen als Kopf einer amerikanischen Spionageorganisation in Budapest inhaftiert haben. Was sich in der Bunkerzelle neben dem Deutschen Theater zwischen Mielke und Kreikemeyer abspielt, ist bis heute ungeklärt. Nach Fields Freilassung im Oktober 1954 legt Mielke fest, Kreikemeyer habe sich am 31. August 1950 »an drei zusammengeknüpften Taschentüchern, die er an den Scharnieren seiner Zellentür angebracht hatte«, erhängt. Kreikemeyers Witwe erfährt im Juli 1957 durch den Generalstaatsanwalt der DDR vom Tod ihres Mannes: »Eine Eintragung in das Sterbebuch ist seinerzeit verabsäumt worden…«
Opfer der Noel-Field-Hysterie wird auch der prominente SED-Politiker Paul Merker, der 28 Monate in Untersuchungshaft verbringt, bevor ihn das Oberste Gericht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Juli 1956 hebt das Gericht das eigene Urteil auf.
Ebenfalls gefährlich leben in diesen Jahren die führenden Politiker der Blockparteien. Im Dezember 1952 wird der Handelsminister Dr. Karl Hamann (Liberaldemokratische Partei, LDPD) als Saboteur verhaftet und anderthalb Jahre später in einem Geheimprozess zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, sein Staatssekretär Paul Baender zu zwölf Jahren Gefängnis. Drei Wochen später werden die Urteile revidiert. 1956 kommt Hamann frei und flieht im Juni 1957 in den Westen.
Außenminister Georg Dertinger (CDU) entlarven die Organe im Januar 1953 als angeblichen Spion. Dertinger sitzt zehn Jahre in Bautzen II ab. Erst 1964 begnadigt ihn Ulbricht.
Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 gerät Justizminister Max Fechner (SED), ein ehemaliger Sozialdemokrat, ins Visier der Partei, hat er doch den Arbeitern nachträglich das Streikrecht zugesprochen. Zwei Jahre dauert die Untersuchungshaft, dann wird Fechner zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, jedoch nach einem Jahr entlassen. 1966 umarmt Ulbricht den »verdienten Arbeiterveteran« in einer öffentlichen Fernsehveranstaltung.
Auf eine ähnliche Geste warten andere Genossen vergeblich. Rudolf Herrnstadt, langjähriger sowjetischer Agent und 1953 Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, gerät zusammen mit dem Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser, einem ehemals hochrangigen Spanienkämpfer, in den Geruch der »Fraktionsbildung« – Todsünde in Ulbrichts Augen, der mit Recht um seinen Posten fürchtet. Den lungenkranken Herrnstadt schickt er dorthin, wo das Abstellgleis künftig häufiger endet: ins Staatsarchiv Merseburg, gelegen in einer der am stärksten von Umweltgiften belasteten Regionen der DDR. Zaisser, ebenfalls krank, wird aus der Partei ausgeschlossen, Anton Ackermann, Begründer der DDR-Auslandsspionage, in die Kultur abgeschoben. Im Mai 1973 begeht er Selbstmord – eine unter Parteifunktionären nicht ganz seltene Todesart. Gerhart Ziller, zeitweise Minister für Maschinenbau und für Schwerindustrie, zum Sekretär für Wirtschaft im ZK degradiert, wählt sie im Dezember 1957, Dr. Erich Apel, Wirtschaftsfachmann und stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats, erschießt sich acht Jahre später in seinem Büro.
Dem Zaisser folgenden Staatssekretär und bald wieder Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber ist keine lange Amtszeit beschieden. Im Oktober 1957 tritt er zurück. Im Februar 1958 wird er gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Fred Oelssner und dem hochrangigen Querdenker und Parteifunktionär Karl Schirdewan wegen »Fraktionstätigkeit und Abweichlertum« aus dem Zentralkomitee der SED ausgeschlossen. Schirdewan darf sich jahrelang in der Staatlichen Archivverwaltung bewähren, bevor Honecker die Parteirüge löscht.
Unter Honecker sind die Zeiten für führende Genossen moderater. Nur zweimal sieht er sich gezwungen, führende Kader auszuwechseln. Seinen Westexperten Herbert Häber opfert er im Interesse der Sowjets, dem großmäuligen Berliner SED-Chef Konrad Naumann beschert die eigene Großmannssucht einen neuen Arbeitsplatz – bei der Staatlichen Archivverwaltung in Potsdam.
Ja, sagen die Richter am Landgericht Berlin und verurteilen den letzten SED-Generalsekretär zu sechs Jahren und sechs Monaten Haft, weil er gemeinsam mit anderen DDR-Funktionären in vier Fällen für den Tod von Menschen an der Mauer verantwortlich sei.
Nein, sagt der Delinquent, denn er habe niemanden getötet und das Verfahren gegen ihn sei »verfassungs- und völkerrechtswidrig«.
Ja, sagen die Richter, stimmt, Egon Krenz hat niemanden getötet, aber er hätte die Möglichkeit gehabt, den Tod von Menschen an der Mauer zu verhindern. Das hat er nicht getan, seine Schuld liege also im »Tun durch Unterlassen«.
Nein, sagt Egon Krenz, er hat nach den DDR-Gesetzen gehandelt und ein Prozess darüber wäre nun nur noch »Kalter Krieg im Gerichtssaal«. Da möchte er schon wissen, was Deutschlands oberste Richter dazu meinen. Deshalb geht er in Revision.
Das Urteil ist rechtens und somit rechtskräftig, urteilt der Bundesgerichtshof im November 1999 und verwirft die Revision.
Dann soll das Bundesverfassungsgericht entscheiden, meint Egon Krenz. Doch das weist seine Verfassungsbeschwerde am 11. Januar 2000 zurück. Am 13. Januar 2000 muss er seine Haftstrafe in Berlin antreten, erst in Hakenfelde, dann in Moabit.
Nun gibt es nur noch eine Chance: Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Der verwirft am 22. März 2001 einstimmig die vom einstigen SED-Generalsekretär und DDR-Oberhaupt dort eingelegte Menschenrechtsbeschwerde.
Egon Krenz wird am 18. Dezember 2003 vorzeitig aus der Haft entlassen, seine Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt.
Für viele ehemalige DDR-Bürger ist das alles übelste »Siegerjustiz«. Sie verweisen auf den Rechtsgrundsatz »Nulla poena sine lege« – keine Strafe ohne Gesetz. Das heißt: Bewegt sich eine später als rechtswidrig eingestufte Handlung zum Zeitpunkt der Tat im Rahmen der Gesetze, darf sie nicht rückwirkend bestraft werden. Doch es gibt eine Ausnahme. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat sie 1946 angesichts der unfassbaren Verbrechen der Nazis formuliert. Seine »Radbruchsche Formel« sagt, dass sich Richter auch gegen Gesetze entscheiden müssen, wenn diese »unerträglich ungerecht« sind. Die Schüsse an der Mauer sieht die Justiz als Verstoß gegen die Menschenrechte. Deshalb verurteilt sie sie nachträglich.
Ob das nun gerecht oder ungerecht ist, wird eine Streitfrage bleiben. Es ist kaum zu glauben, aber eine exakte Statistik über die Verurteilungen von DDR