Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Der Letzte macht das Licht aus", spottete das DDR-Volk und niemand ahnte, dass dieser Letzte einmal der Staatschef höchstpersönlich sein würde. Als Flüchtling aus dem Osten Deutschlands hatte Erich Honecker am 13. März 1991 das gleiche Motiv wie Millionen seiner Landsleute vor ihm: Er wollte und konnte nicht mehr in seinem Land leben, weil ihm dessen Verhältnisse nicht mehr gefielen und er politisch verfolgt wurde. 50 Jahre nach der brutalen Trennung Deutschlands durch und dem Beginn der Fluchten über die Mauer erzählt dieses Buch 250 spektakuläre, spannende, bedrückende und beeindruckende Geschichten von Menschen, die von Deutschland nach Deutschland in die Freiheit wollten. * 250 Fluchtgeschichten von 1961 bis 1989 erstmals in einem Band * Eindrucksvoll, mitreißend und mitunter unfreiwillig komisch * Die Absurdität der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 277
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»DER LETZTE MACHT DAS LICHT AUS …«
KLAUS BEHLING
ZU LANDE, ZU WASSER UND IN DER LUFT –250 FLUCHTGESCHICHTEN AUS DER DDR
BERLIN STORY VERLAG
Abbildung Backcover: Erich Honecker (re.) und Michail Gorbatschow (schaut auf die Uhr) auf der Ehrentribüne bei der Militärparade zu 40 Jahren DDR in Ost-Berlin (Oktober 1989). Im Hintergrund rechts Raissa Gorbatschowa © picture-alliance/Sven Simon
Piktogramme: »Ein Mensch rennt« © STIMA – Fotolia.com;
»Symbol Mann« © Dirk Schumann – Fotolia.com
Behling, Klaus:
»Der Letzte macht das Licht aus …«
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft –
250 Fluchtgeschichten aus der DDR
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2011
ISBN 978-3-86368-708-3
© Berlin Story Verlag
Alles über Berlin GmbH
Unter den Linden 40, 10117 Berlin
Tel.: (030) 51 73 63 08
Fax: (030) 51 73 63 06
www.BerlinStory-Verlag.de, E-Mail: [email protected]
Umschlag: Norman Bösch, Katharina Schering
Satz: Norman Bösch
WWW.BERLINSTORY-VERLAG.DE
VORWORT
DER MAUERBAU UND DIE SECHZIGER JAHRE
DIE SIEBZIGER JAHRE
DIE ACHTZIGER JAHRE UND DAS ENDE DER DDR
EIN NACHSATZ
QUELLEN
Der Letzte macht das Licht aus …«, spottete das DDR-Volk und niemand ahnte, dass dieser Letzte einmal der Staatschef höchstpersönlich sein würde. Als Flüchtling aus dem Osten Deutschlands hatte Erich Honecker am 13. März 1991 das gleiche Motiv, wie Millionen seiner Landsleute vor ihm: Er wollte und konnte nicht mehr in seinem Land leben, weil ihm dessen Verhältnisse nicht mehr gefielen und er politisch verfolgt wurde.
So endete die Geschichte der Flucht aus der DDR mit einem Treppenwitz, der wohl einmalig auf der Welt ist.
Begonnen hatte sie gleich nach der Gründung der beiden deutschen Staaten. Nach den Statistiken des Bundesministeriums des Innern (1996) verließen bis zum 13. August 1961 insgesamt 2 738 562 Menschen die DDR. Jeder hatte dafür seinen individuellen Grund. Manche zog es zu ihren Familien im anderen Teil Deutschlands, andere wollten am wirtschaftlichen Aufschwung im Westen teilhaben. Wieder andere flüchteten vor Repressionen in der DDR oder sahen ganz einfach in den freiheitlichen und demokratischen Grundstrukturen der Bundesrepublik Deutschland die lebenswertere Alternative.
Obwohl diese Bundesrepublik von Anfang an mit dem Anspruch antrat, der Staat aller Deutschen zu sein, machte sie den Landsleuten im Osten den Wechsel in den Westen nicht leicht. Wer sich dort ansiedeln wollte, hatte sich einem »Notaufnahmeverfahren« zu unterwerfen, dessen Ausgang manchmal ins Abseits führte. Viele DDR-typischen Ausbildungen – vom »Neulehrer« der ersten Jahre bis zum Abitur der ostdeutschen Schulabgänger – wurden nicht anerkannt, umfangreiche Datensammlungen im Westen gaben Hinweise auf inzwischen vom nunmehrigen Flüchtling vielleicht bedauerte politische Jugendsünden. Heute fast vergessen ist auch, dass es erhebliche Hürden zu überwinden galt, um als »politischer Flüchtling« anerkannt zu werden.
Gerade angesichts dieser Verhältnisse war das Verlassen der DDR stets mehr als ein Umzug in Deutschland. Die innerdeutsche Migration – auch aus dem Westen kamen rund 500 000 Menschen in den Osten, davon etwa zwei Drittel »Rückkehrer«, die zunächst aus der DDR geflohen waren – kann durchaus als »Abstimmung mit den Füßen« gewertet werden. Es war in der Summe eine Abstimmung gegen die Deutsche Demokratische Republik und für die Bundesrepublik Deutschland.
Mit dem Bau der Mauer in Berlin änderte sich das Motiv der Flüchtlinge. Wer nun in den Westen kam, wollte im Osten einfach nur noch weg.
Das gelang bis zum 31. Dezember 1988 immerhin 383 181 Menschen auf dem offiziellen Weg der Ausreise. Eine peinliche Bilanz für die DDR mit einer makabren Dimension: 33 755 ihrer Landeskinder hat die DDR zwischen 1964 und 1989 als Häftlinge an die Bundesrepublik Deutschland verkauft. Aus diesem Menschenhandel kassierte sie rund 3,4 Milliarden Mark, in harter Währung, versteht sich.
Doch auch all dass reichte nicht, um die wachsende Unzufriedenheit im »ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat« zu bändigen. Weiteren 178 182 Personen gelang die Flucht »mit mäßigem Risiko«, so das Bundesinnenministerium. Für 40 101 Menschen war sie mit tödlichen Gefahren verbunden.
Wie diese Gefahren aussahen und was Menschen sich einfallen ließen, um von Deutschland nach Deutschland zu gelangen, wird hier an 250 Beispielen erzählt.
15. August 1961: Zwei Tage nach dem Mauerbau hat Conrad Schumann die Nachmittagswache an der Bernauer Straße, Ecke Ruppiner Straße erwischt. Es ist 15.40 Uhr. Dem Oberwachtmeister der Bereitschaftspolizei ist anzusehen, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlt. Lieber wäre der gelernte Schäfer bei seiner Herde. Plötzlich scheint er sich aus seinen Träumen von saftigen Wiesen und sanften Hügeln zu reißen. Conrad Schumann läuft Richtung Grenze, springt über den tags zuvor flüchtig ausgerollten Stacheldraht und wirft noch in der Bewegung seine MPi von der Schulter.
Auf der anderen Seite stehen zwischen schaulustigen West-Berlinern auch Klaus Lehnartz und Peter Leibing. Die beiden Fotoreporter drücken fast gleichzeitig auf den Auslöser.
So entsteht das wohl bekannteste Fluchtfoto aus den Tagen des Mauerbaus. Es geht um die ganze Welt. Jahrzehntelang streiten die Fotografen um die Urheberschaft an der berühmten Aufnahme. Schließlich bekommt Peter Leibing Recht.
Nach wenigen Schritten im Westen angekommen, verschwindet Conrad Schumann in einem Kleinbus der Berliner Polizei. Er bringt ihn ins nächste Polizeirevier. Ein West-Kollege bietet ein Schinkenbrot an, dann wird der Flüchtling befragt: »Ich wollte nicht in die Lage kommen, auf Menschen schießen zu müssen«, ist Schumanns simple Antwort.
Später siedelt er sich in Bayern an und findet einen Job bei Audi in Ingolstadt. Glücklich wird er nicht im Westen. Jahrzehntelang verfolgt ihn die Angst, doch noch Stasi-Agenten in die Hände zu fallen. Er leidet unter Depressionen. Nach der Einheit erfährt er aus den Stasi-Akten, dass seine Sorge nicht unbegründet war.
Am 20. Juni 1998 erhängt sich Conrad Schumann im Alter von 56 Jahren in seinem Obstgarten.
Nebenbei: Mehr als 40 Jahren nach dem berühmten Sprung prägt die Staatliche Münzprägestätte Hamburg aus 925er Silber 25 000 Mauerbau-Gedenkmedaillen. Sie zeigen hinter dem springenden Conrad Schumann das Brandenburger Tor aus östlicher Sicht. Und so springt auf dem Bild der Volkspolizist plötzlich von West nach Ost!
18. August 1961: Eigentlich sollte es nur ein schöner Tag auf der Ostsee werden. Um 7.30 Uhr läuft an diesem spätsommerlichen Tag die Seebad Binz aus dem Hafen Wolgast zu einer Tour »Vor Bornholms Küste« aus.
Fast zwei Stunden später hat der Wind auf fünf bis sechs Stärken aufgefrischt. Die meisten der rund 250 Passagiere sitzen unter Deck und kämpfen mit der Seekrankheit. Saurer Geruch von Erbrochenem wabert durchs Schiff, die Gesichter sind grün. Da teilt Kapitän Harms per Bordfunk mit, dass er wegen des Wetters mit dem Ausflugsschiff nur noch rund um Rügen schippern will.
Eine Gruppe von jungen Leuten, denen die raue See nichts anzuhaben scheint, ist enttäuscht. Sie feiern auf dem schaukelnden Oberdeck und wollen auf den erhofften Blick auf Dänemarks Küste nicht verzichten. Deshalb schreiben sie dem Kapitän einen Zettel: »Seiner Majestät, dem Herrn Admiral auf der Seebad Binz untertänigst übermittelt: In Anbetracht der guten Stimmung auf dem Oberdeck bitten zehn Berliner stellvertretend für die meisten Passagiere um die Fortsetzung der Fahrt in Richtung Bornholm. Gezeichnet: Neptun«.
Der Kapitän ist verunsichert. Seit knapp einer Woche ist in Berlin die Grenze dicht, die Jungen kommen aus Berlin … noch während er grübelt, setzt sein Steuermann Paul Kropp vorsichtshalber einen Funkspruch an Rügen Radio ab. Der gelangt dort in die Hände eines inoffiziellen Mitarbeiters der Stasi und der Grenzpolizei. Nun ist plötzlich von »Meuterei« auf der Seebad Binz die Rede.
In Saßnitz glaubt Oberstleutnant zur See, Günther Franke, für ihn sei nun die Stunde der Bewährung gekommen. Er läuft mit seinem Grenzboot G 442 im Alarmstart aus. Als er das Ausflugsschiff erreicht, ist dort an Bord alles ruhig. Dennoch geleitet er es in den Hafen Saßnitz zurück. Dort warten schon Polizei und Staatssicherheit auf die jungen Leute, die so gern weiter Richtung Bornholm gefahren wären. Die Stasi hatte ermittelt, dass sie alle der »Jungen Gemeinde« oder den Baptisten angehörten.
Damit wittert die DDR-Staatsmacht die Chance, ein Exempel statuieren zu können und schon acht Tage später gibt es gegen die zwölf Jugendlichen eine Gerichtsverhandlung vor dem Bezirksgericht Rostock. Das SED-Organ des Bezirkes, die Ostsee-Zeitung, gibt am 25. August 1961 die politische Linie vor: »Durch NATO-Kirche Verbrecher geworden«.
Jürgen Wiechert (18) und Dietrich Gerloff (25) werden zu den Rädelsführern der angeblichen Meuterei erklärt. Sie bekommen acht Jahre Zuchthaus und werden im Oktober 1963 begnadigt. Fünf weitere Personen erhalten Haftstrafen zwischen neun und vierundzwanzig Monaten, vier junge Männer Strafandrohungen zwischen drei und sechs Monaten auf Bewährung.
Ihre letzte Fahrt »Vor Bornholms Küste« macht die Seebad Binz am 15. September 1961. Über die angebliche Meuterei dreht das DDR-Fernsehen einen »Blaulicht«-Krimi, in dem der Einsatz des Küstenschutzbootes als »vorbildliche Pflichterfüllung« der Grenzer gelobhudelt wird.
19. August 1961: Die Bernauer Straße ist in den Augusttagen 1961 die verrückteste Straße der Welt. Die Häuserfronten gehören zum Osten, die davor befindlichen Bürgersteige sind bereits Westen. Folge: Immer wieder versuchen Ortskundige, aus den inzwischen geräumten Wohnungen in die Freiheit zu gelangen. Rudolf Urban probiert es an einem eilig geknüpften Seil aus dem Haus Nr. 1. Er stürzt ab und verstirbt am 17. September. Rentnerin Ida Siekmann verfehlt am 22. August das auf der Westseite ausgebreitete Sprungtuch und liegt zerschmettert auf der Straße.
Dass die Bernauer und Brunnenstraße zu den heißesten Ecken im geteilten Berlin gehören, ist jeden Tag in den Zeitungen zu lesen. Berliner Morgenpost, 6. Oktober 1961: Einige »Volkspolizisten« werfen Steine Richtung Westen, zertrümmern die Windschutzscheibe eines Lkw. Ein West-Funkwagen rast heran, ein VP-Offizier schießt. Nur weil der Streifenführer West just in diesem Moment den Kopf drehte, entgeht er dem Tod. Telegraf, 18. Oktober 1961: In neun Aufgängen der Bernauer und zweien der Brunnenstraße werden die Wohnungen mit Gewalt geräumt. Ein Mann aus dem Räumkommando springt in der Frühstückspause in den Westen. Der Tagesspiegel, 24. Oktober 1961: Schreie aus einer Wohnung. Von Westseite herbei geschaffte Leitern bleiben ungenutzt. Ein unbekannter Flüchtling wurde offenbar überwältigt und abgeführt. Die Welt, 25. Oktober 1961: Ein West-Berliner Polizist und ein Zöllner fangen mit bloßen Händen einen »Volkspolizisten« auf, der aus dem ersten Stock eines Grenzhauses springt. Er bringt seine Maschinenpistole mit, die er in West-Berlin abliefert. Telegraf, 21. Dezember 1961: Ein 22-jähriger Arbeiter und seine 21-jährige Ehefrau stemmen das vermauerte Fenster einer Wohnung auf und gelangen so unbemerkt in die Freiheit. Die Welt 26. April 1962: Seit mehr als zwei Wochen liegt ein neunjähriger Junge mit Rückenverletzungen im West-Berliner Lazarus-Krankenhaus. Er hat sie sich beim Sprung von einem vierstöckigen Haus an der Bernauer Straße zugezogen. Seine Eltern haben es nicht mehr geschafft und sind seither verschwunden. Der Junge soll nun in ein West-Berliner Kinderheim kommen.
24. August 1961: Der Schneider Günter Litfin, 24 Jahre alt, will etwas vom Leben haben. Deshalb arbeitet er am Ku’damm, wohnt aber noch in Ost-Berlin. Dadurch verdient er gut, denn für eine West-Mark bekommt er vier bis fünf Ost-Mark.
Doch im Sommer 1961 hetzten Ost-Berliner Zeitungen immer heftiger gegen die rund 50 000 »Grenzgänger«. Deshalb hat sich Günter Litfin eine kleine Wohnung in der Rankestraße besorgt. Mit seinem Bruder hat er sie renoviert, am 13. August sollte eigentlich der Umzug starten. Das geht nun nicht mehr. Günter Litfin versucht es dennoch.
Am 24. August gegen 16.15 Uhr probiert er es über den Bahndamm von Friedrichstraße Richtung Lehrter Stadtbahnhof. Plötzlich peitschen Schüsse: Ein Transportpolizist schießt Sperrfeuer. Günter Litfin bekommt panische Angst. Er springt am Humboldthafen in die Spree. Nun schießen die Trapos gezielt. Litfin wird in Hals und Kopf getroffen und versinkt. Gegen 19.10 Uhr birgt die Feuerwehr Ost die Leiche und schafft sie ins VP-Krankenhaus. Günter Litfin ist das erste Todesopfer der Mauerschützen.
25. August 1961: Am 24. August 1961 liegt das DDR-Küstenschutzboot G 423 der 6. »Grenzbrigade Küste« anderthalb Seemeilen vom Strand entfernt auf der Höhe Brock vor Anker. Der Schiffskoch, der Rudergänger und der fürs Geschütz zuständige Matrose, Ari-Gast genannt, sind fest entschlossen, den Törn für die lange geplante Flucht in den Westen zu nutzen.
Die 12-köpfige Besatzung ist beim »Backen und Banken«, dem Essen, im Achterdeck. Die Meuterer holen ihre Waffen aus der Waffenkammer und eine kurze Salve Richtung Mannschaftsdeck macht dem Rest der Besatzung schnell klar, wer nun an Bord das Sagen hat. Um 17.55 Uhr wird der Anker gelichtet und das Wachboot vom Typ DELPHIN läuft mit Höchstfahrt Kurs 250 Grad WSW, Richtung Travemünde.
Das bleibt bei den Marine-Beobachtern an Land nicht unentdeckt, aber die Posten glauben, ihre Kameraden hätten einen streng geheimen Sonderauftrag. So unterbleibt ein Alarm.
Nach 40 Minuten Fahrt passiert das DDR-Schiff die »Tonne Rot« und um 18.45 Uhr die »Tonne 3« an Backbord der Ansteuerung auf Travemünde. Um ihre Meuterei zu signalisieren, hatten die Flüchtlinge die DDR-Fahne an der Rah verkehrt herum gehisst.
Zwei zufällig anwesende Fähnriche der Bundesmarine von der Crew IV / 60 R helfen beim Anlegemanöver, dann springen Koch, Rudergänger und Ari-Gast an Land und bitten um »politisches Asyl«.
Derweil gelingt es der eingesperrten Rest-Besatzung das Schott zum Niedergang mit einer Axt aufzubrechen. An Deck gekommen, stellen die Männer verwundert fest, dass sie im Westen sind. Der 1. Wachoffizier befiehlt, Vorder- und Achterleine zu kappen. Unbehelligt vom westdeutschen Wachboot Falke in der Hafeneinfahrt, läuft G 423 gegen 19.10 Uhr mit Höchstgeschwindigkeit zurück Richtung Osten.
Die Verfolgung der »Verreter« (O-Ton Stasi-Akten) dauert bis kurz vor dem Ende der DDR an. Ihr Ziel ist die Rückholung und Aburteilung der Fahnenflüchtigen. Und das ist durchaus ernst gemeint: Als der ehemalige Rudergänger 1986 (!) plant, an der Beerdigung seiner Mutter in Cottbus teilzunehmen und deshalb ein Zimmer im Interhotel Lausitz bucht, soll er verhaftet werden. Allerdings sagt der Mann kurz vorher seine DDR-Reise ab.
22. September 1961: Das Foto gehört zu den Klassikern aus den Tagen des Mauerbaus: Aus der dritten Etage des Hauses Bernauer Straße 7 wirft ein Mann sein Kind. Unten wartet die Feuerwehr mit dem Sprungtuch. Der Kleine fällt mit ausgebreiteten Ärmchen, die Beine angewinkelt, als würde er auf seinem Töpfchen sitzen.
Der Junge heißt Michael F. und ist damals vier Jahre alt. Seine Mutter Margarete (49) sprang als erste, Vater Willy (60) folgt wenig später und verletzt sich die Hüfte im Sprungtuch. Für den kleinen Michael endet der Sprung in die erhoffte Freiheit mit einer Kopfwunde – die Narbe ist heute noch zu sehen. Eine Erinnerung an verlorene Träume.
Das abgestürzte Leben des Michael F.: Seine Heimatstadt Berlin hat der Mann nie verlassen. Probleme in der Schule ließen eine Berufsausbildung illusorisch werden. Michael: »Irgendwie bin ich auf die schiefe Bahn geraten. Habe Autos geklaut und andere dumme Sachen gemacht.« Die Jahre vergehen zwischen Gefängnis und Hilfsarbeiterjobs, Alkohol, Geldsorgen und Obdachlosenheim. Michael F. findet keinen Weg aus diesem Teufelskreis.
Im Januar 2000 wird der kleine Ganove zum Verbrecher. Mit einem Hammer schlägt er einen 70-jährigen Laubenpieper nieder, erbeutet 400 Mark. F.: »Ich hatte zu viel Alkohol getrunken, war obdachlos und brauchte Geld.« Der Mann stirbt an den Folgen des Überfalls. Michael F. geht für zehn Jahre ins Gefängnis. Jetzt ist er wieder draußen. Ohne Wohnung, ohne Geld. F.: »Ich habe ein paar Termine beim Arbeitsamt nicht eingehalten.« Die Freiheit hat ihm kein Glück gebracht.
28. September 1961: Im September 1961 scheint es auf dem Städtischen Friedhof Pankow zu spuken. Anwohner beobachten, wie sich vor einem mit einer schweren Steinplatte abgedecktem Grab immer wieder Trauergäste versammeln, die dann plötzlich spurlos verschwunden sind.
Was damals niemand ahnt: Durch das Grab gelangen sie in den Westen, insgesamt sind es 24 Personen. West-Berliner Studenten haben das Schlupfloch gebaut, das unter der Grabplatte im Osten seinen Eingang hat. Es fliegt auf, als eine junge Frau mit Kind auf eigene Faust flieht und ihren leeren Kinderwagen am offenen Grab zurücklässt.
12. Oktober 1961: »Köllnische Heide« heißt bei der Deutschen Reichsbahn kurz »Khd«. So steht es auf dem Stellwerk. Sechzig Meter daneben versuchen am 12. Oktober 1961 zwei Männer, die Westseite zu erreichen. Es ist gegen 4.30 Uhr, als sie ein Posten der Transportpolizei entdeckt. Seit wenigen Stunden hat auch sie einen Schießbefehl. Der Trapo schießt erst in die Luft, dann gezielt. Eine Kugel verletzt den 20-jährigen Klaus-Peter Eich aus der Bersarinstraße 49 schwer an Lunge und Wirbelsäule. Er stirbt noch am gleichen Abend. Mit einem Fährtenhund wird der zweite Mann bis zum Bahnhof Plänterwald verfolgt. Dort verliert sich seine Spur.
13. Oktober 1961: Vom lieblichen Geruch des weltberühmten Kölnisch Wassers ist in der Kanalisation Berlins nun wahrlich nichts zu spüren. Dennoch sind sie bis Mitte Oktober 1961 ein relativ sicherer Fluchtweg von Ost nach West. Organisiert wird das Ganze von einer Gruppe von Leuten um Detlef Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler im Studentenwerk der Freien Universität. Die Presse gibt ihnen den anerkennenden Namen »Unternehmen Reisebüro« – sie holen ohne jede kommerziellen Interessen im Laufe der Monate rund 600 Ost-Berliner rüber.
Wer Glück hat, darf den Weg durch den Gleimkanal zwischen Prenzlauer Berg und Wedding nehmen. Auch der Tunnel unter der Esplanadenstraße ist sauber, weil er nur Regenwasser transportiert. Doch diese Orte sind bei den verschiedenen West-Berliner Fluchthilfeunternehmen so begehrt, dass bald »Schleichquoten« festgelegt werden müssen. Wer durch die Jauche unter der Alten Jakobstraße watet, muss nicht so lange warten. Zwischen dem 13. September und dem 13. Oktober führt Dieter Thieme hier 128 Menschen in die Freiheit.
Das größte Problem bei all dem waren die »Deckelmänner«. Sie mussten nach dem Einstieg der Flüchtlinge die Gullys in Ost-Berlin wieder verschließen. Das blieb oftmals nicht unbeobachtet und so trieben Volkspolizisten am 13. Oktober 1961 mit Tränengas Fluchtwillige aus dem Tunnel unter dem Berliner Pflaster. Die »Glockengasse 4711« war aufgeflogen. Dennoch gehen die Fluchten durch die Abwasserkanäle noch weit über ein Jahr lang weiter.
Doch die Stasi lässt sich etwas einfallen: Als Sperrgitter werden an der Sektorengrenze bald Hohlstäbe mit einem Stahlkern eingebaut. Sägt jemand daran, beginnt dieser Kern unbemerkt zu rotieren und löst Alarm aus.
Probleme ganz anderer Art gibt es, als im Sommer 1962 eine Gruppe von sieben Leuten in den Westen will. Eine etwas beleibtere Frau bleibt im engen Loch der ausgesägten Gitterstäbe stecken. Selbst als sie sich nackt auszieht, geht es nicht vorwärts und nicht rückwärts. Die Fluchthelfer reiben sie mit Schmierseife ein, zerren von vorn und schieben von hinten – dann flutscht es endlich!
Oktober 1961: Irgendjemand hat vergessen, das genaue Datum auf den Film zu schreiben, aber die Bilder kennt die ganze Welt. Sie laufen bis heute, immer wieder: Berlin im Oktober 1961. Eine kleine Gruppe von Menschen rennt panisch auf den doppelten Stacheldraht zwischen spanischen Reitern zu. Ein Loch ist vom Westen aus vorbereitet, doch ein Mädchen bleibt mit ihrem Rollkragenpulli am Draht hängen. Ein Mann reißt das Metallstück weg, es schnippt gegen ihren Kopf und als das Mädchen dann im Westen ist, blutet die Schramme an der Stirn.
Dieser Mann heißt Werner Hullin, damals 28 Jahre alt. Er hat es im Zirkus Barlay vom Hilfsarbeiter beim Zeltaufbau bis zum Raubtierdompteur gebracht. Als Hullin dann später mit dem Zirkus Busch durch den Osten zog, spionierte er für den Westen russische Militäranlagen aus. Das brachte ihn in Stasi-U-Haft, aber er kann fliehen. An der 1955 noch offenen Sektorengrenze zeigt er seinen Ausweis vor, »Stellvertretender Zeltmeister« steht als Beruf darin. Doch das »Z« ist so verschnörkelt, dass es der kontrollierende Polizist als »W« liest; er salutiert vor dem vermeintlichen stellvertretenden Weltmeister mit der Preisboxer-Figur und lässt ihn passieren.
Zwölf Jahre später: Ein Freund Hullins hat sich in Ost-Berlin verliebt und bittet ihn, bei der Flucht seiner Freundin zu helfen. Ein zufällig anwesendes Kamera-Team dreht die berühmten Bilder.
Werner Hullin hat nichts davon. Er zieht in den 70er-Jahren nach Andernach, betreibt dort Molles Bierstube und ist selbst sein liebster Gast. Hin und wieder sind die Heldentaten von früher Gesprächsthema am Tresen. »Ich erinnere mich genau, das war damals in Reinickendorf hinter dem Bahndamm«, erzählt Werner Hullin. Sogar der Stern druckte eine große Reportage darüber. »Für drei junge Menschen, die nicht mehr in dem Konzentrationslager Ostberlin leben wollen, ist der Augenblick gekommen, den Sprung in die Freiheit zu wagen«, schreibt das Magazin. »Ziemlich schwülstig und übertrieben«, sagt Hullin und zapft ein neues Bierchen: »Das Mädchen wollte zu ihrem Freund. Das war schon alles!«
Werner Hullin stirbt am 11. Januar 2008, ohne den Film noch einmal gesehen zu haben.
20. August und 2. September 1961: Als das Fährschiff Saßnitz am 9. Juli 1959 auf der »Königslinie« ins schwedische Trelleborg in Dienst gestellt wurde, durften auch DDR-Bürger mitfahren. Für 36 Mark konnten sie den Trip über die Ostsee und den zollfreien Einkauf genießen und im schwedischen Fährhafen gab es sogar ein paar Stunden Landgang. Das änderte sich, nachdem ein paar Passagiere am Ausgang des Hafens um Asyl gebeten hatten. Aber immerhin: Die Überfahrt – nun ohne Landgang – gibt es auch noch nach dem Mauerbau und natürlich wird sie schnell zum Geheimtipp, um in den Westen zu gelangen. Doch die Flucht auf diesem Weg hat oft dramatische Konsequenzen: Am 20. August 1961 springen ein Jugendlicher aus Oranienburg und einer aus Berlin-Weißensee in Schweden von Bord der Fähre. Schwer verletzt bleiben sie auf dem Kai liegen, bis sie ein Rettungswagen abholt. Am 2. September springt ein 27-jähriger Tourist aus Leipzig gegen einen Fahnenmast. Er will sich dort festklammern und dann langsam zu Boden gleiten. Das misslingt. Der elastische Mast schleudert ihn zurück und er fällt zwischen Bordwand der Saßnitz und Kaimauer ins Wasser. Alle Rettungsversuche kommen zu spät.
Es gibt keine Statistik über die Opfer, dennoch stellt die Kopenhagener Zeitung Aktuell ein Jahr nach dem Mauerbau fest: »Die Ostsee hat weit mehr Opfer gekostet, als die Mauer in Berlin.« Schätzungen gehen von rund 160 Fluchten über Fähren und Urlauberschiffe aus. Im dänischen Gedser hat Hafenkapitän Petersen in der Nähe des Liegeplatzes der Seebad Warnemünde ein Holzfloß vertäuen lassen, auf das sich ins Wasser gesprungene Flüchtlinge retten können. Angeblich hatte ein DDR-Kapitän zuvor versucht, einen Flüchtling mit rückwärts laufender Schraube zu zermalmen.
Inzwischen hat die DDR die Mitfahrt ihrer Bürger auf den Fähren nach Schweden und Dänemark verboten. Das »Loch« ist dicht.
5. Dezember 1961: Das Mauerjahr 1961 neigt sich dem Ende zu und Schlupflöcher zwischen Ost- und West-Berlin sind rar geworden. Auf der Bahntrasse bei Albrechtshof gibt es noch eins, doch nicht mehr lange: Am 1. Dezember soll das Gleis zwischen Nauen und Spandau gekappt werden. Bisher ist es hinter dem Bahnhof Albrechtshof nur durch ein Eisentor mit Stacheldraht gesichert.
Das ist die Chance für Lokführer Harry Deterling, damals 28 Jahre alt. Er will mit seiner Frau und den vier Kindern unbedingt in den Westen und vertraut dabei auf die 1140 PS seiner Dampflok. Auch Passagiere wären im Zug vor Schüssen geschützt, denn sein Heizer, Hartmut Lichy (18), und einige Freunde und Bekannte wollen mit.
Deterling schiebt Sonderschichten und hofft, irgendwann für die Tour nach Albrechtshof eingeteilt zu werden. Am 5. Dezember 1961 ist es endlich so weit: Er soll den Zug um 19.33 Uhr ab Oranienburg fahren.
Die »Fahrgäste« bekommen unauffällig Bescheid und steigen unterwegs zu. Deterling setzt kurz vor Albrechtshof die Notbremse außer Betrieb, braust mit 60 Stundenkilometern durch den Bahnhof und dann kracht auch schon das Grenztor beiseite.
Sechs Männer, zehn Frauen und sieben Kinder haben ihre Endstation erreicht. Sieben andere Fahrgäste, darunter der Zugbegleiter, zwei NVA-Soldaten und ein Transportpolizist trotten wütend auf dem Bahndamm zurück.
Die Zonen-Grenzwächter reagieren sofort. Schon am nächsten Tag zersägen sie die Gleise. Zwei Tage später, am 7. Dezember, startet die Stasi den ersten Versuch, den Lokführer in die DDR zurück zu holen. Die Amerikaner fliegen ihn aus.
Harry Deterling und Hartmut Lichy werden in Abwesenheit im Osten zu dreizehn bzw. sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Lokführer bekommt anonyme Morddrohungen, muss öfters umziehen und kann Post nur über Deckadressen empfangen. Dennoch findet die Stasi immer wieder seine Spur. Deshalb bewacht ihn bis 1989 die Polizei. Erst im Mai 1990, inzwischen seit gut einem Jahr in Pension, traut er sich zum ersten Mal wieder in die DDR.
7. Dezember 1961: Zwei junge Männer, die Kragen ihrer Mäntel hochgeschlagen, betreten gegen 21 Uhr die Bahnhofskneipe in Gerwisch, einem kleinen Nest bei Magdeburg. Sie wissen genau, dass der Zug, den sie nehmen wollen, dort nicht halten wird. Am Tresen trinken sich Peter Albrecht (22) und sein Freund Curt Kain (23) ein bisschen Mut an.
Sie warten auf den amerikanischen Militärzug, den »Freedom Train«, der seit dem 8. Dezember 1945 zwischen Berlin und Frankfurt am Main pendelt. Er ist amerikanischen Soldaten und deren Familienangehörigen vorbehalten. Diese Züge dürfen von der DDR nicht kontrolliert werden. Nur an der Grenze Helmstedt/Marienborn überprüfen die Russen anhand von Listen die Zahl der Passagiere.
An der Brücke kurz nach dem Bahnhof wird gebaut. Dort fährt der Zug langsam, Peter Albrecht und Curt Kain wollen aufspringen.
Sie ahnen nicht, dass wenige Tage zuvor, am 22. November 1961 bereits ein 20-jähriger aus Gerwisch genau das versucht hatte. Dabei wurde er vom Zugbegleiter der DDR-»Reichsbahn« beobachtet. Der gab heimlich Alarm und die Russen hielten den DB 610 am Grenzbahnhof Marienborn auf. Sie durften den Zug zwar nicht betreten, aber ihn nach Gutdünken aufs Abstellgleis schieben, so lange sie wollten, durften sie. Die Sache geriet damals zur diplomatischen Affäre, bis Präsident John F. Kennedy persönlich entschied, Siegfried Pump an die ostdeutschen Behörden auszuliefern. Wegen eines Flüchtlings wollte man keinen Ärger.
Als der »Freedom Train« heran keucht, sind die beiden an den Gleisen. Der Zug fährt schneller, als sie gehofft hatten. Trotzdem springen sie. Albrecht ist ein trainierter Sportler. Er war Vize-DDR-Meister im Geräteturnen der Jugend, gehört zur Jugend-Nationalmannschaft. Auch Handballer Kain hat genügend Kondition, um aufzuspringen. Die beiden haben unverschämtes Glück, denn sie treffen zufällig die einzige Tür des Zuges, die nicht durch einen Drahtbügel zusätzlich von innen gegen Aufsperren gesichert ist.
Plötzlich stehen die beiden vor einem US-Offizier. Er will wissen, ob jemand die blinden Passagiere gesehen hat. Das war nicht der Fall. Nur deshalb dürfen sie bleiben. Die Grenzpassage erfolgt ohne Zwischenfälle. Die Amerikaner geben ihnen Militärjacken und Käppis, dann dürfen sie in Helmstedt, dem »Checkpoint Alpha«, den Zug verlassen.
Frei sind Peter Albrecht und Curt Kain noch nicht, denn die Amerikaner fürchten, die Stasi steckt hinter der ganzen Geschichte. So werden sie von den verschiedensten Dienststellen befragt, der Höhepunkt ist der Lügendetektor der CIA. Doch die beiden Magdeburger haben nichts zu verbergen. Kain arbeitet später bis zur Rente bei VW in Wolfsburg, Albrecht führt eine Firma in Braunschweig.
Der »Freedom Train« wird noch bis zum 23. Mai 1990 fahren.
3. Januar 1962: Wenn ein Matrose unerlaubt sein Schiff verlässt, sagen Seeleute: Er ist »achteraus gesegelt«. Als das DDR-Urlauberschiff Fritz Heckert am 3. Januar 1962 im kalten und nieseligen Rostocker Hafen zur großen Fahrt nach Afrika ablegt, ahnt niemand, dass nicht nur zwei Besatzungsmitglieder, sondern auch 24 Passagiere »achteraus segeln« werden.
Das Ziel heißt Conakry, die Hauptstadt des westafrikanischen Guineas. Das SED-Regime will etwas gegen sein Stacheldraht-Image tun und gleichzeitig um die Anerkennung des zwischen Ost und West schwankenden Tropenstaates kämpfen. Deshalb bekamen 354 handverlesene DDR-Bürger einen Urlaubsscheck für das Schiff.
Mit dabei sind Hans Busse und seine Freundin Brigitte, genannt »Kiki«. Dem Mann geht es gut in der DDR. Er hat beim Rundfunk Karriere gemacht, fährt ein schickes Wartburg-Cabrio und hat sogar einen Reisepass. Doch den darf er nur benutzen, wenn Kiki als Faustpfand zu Hause bleibt. Ihn bedrückt diese Unfreiheit. Die beiden sind sich einig: Wir steigen unterwegs ab.
Die erste Gelegenheit dazu gibt es nach einer Woche Fahrt in Casablanca. Schon am ersten Abend kehren zehn Urlauber nicht auf die Fritz Heckert zurück. Eine Zahnärztin aus Naumburg ist darunter, ein Ärzteehepaar aus Freital, eine Bibliothekarin aus Leipzig. Auch ein Schiffsingenieur bleibt verschwunden – alles Leute Anfang 30, gut qualifiziert. Ihnen geht es nicht um materiellen Wohlstand, denn den haben sie in der DDR auch.
Hans Busse und Freundin Brigitte kehren an Bord zurück. Dort herrscht Aufregung. Kapitän Willi Leidig bekommt ein Telegramm von der Rostocker Seereederei. Er solle die »ideologische Arbeit verstärken« wird hilflos angewiesen.
Seemannslieder-Barde Horst Köbbert, zur Unterhaltung auf der Fritz Heckert, sorgt für gute Stimmung, doch die Atmosphäre ist gespannt.
Am nächsten Tag zögert Hans Busse nicht lange. Kiki zieht drei Pullover übereinander und er verstaut sein Vermögen am Körper: zwei Foto-Apparate, 17 000 Ost- und 300 West-Mark. Beim Ausflug nach Rabat setzen sich die beiden ab. Mit Hilfe der Botschaft der Bundesrepublik können sie noch am selben Abend in ein Flugzeug nach Deutschland steigen.
Wieder verschwinden neben den beiden auch weitere Urlauber und bei einem Abstecher nach Tunis »segelt« auch Schiffsärztin Brigitte Janiak »achteraus«. Mit 24 Passagieren und zwei Besatzungsmitgliedern weniger fährt die Fritz Heckert durch die tobende Biskaya Richtung Heimat.
Dort tagt wenig später die Leitung der DDR-Einheitsgewerkschaft FDGB, der das Urlauberschiff offiziell gehört. Intern wird beschlossen, »dass unsere Urlauberschiffe bis auf Weiteres nur in sozialistischen Häfen festmachen«.
24. Januar 1962: Die ganzen Feiertage über haben Erwin Becker und seine Frau geschuftet, jede Nacht haben sie an der Oranienburger Chaussee gegraben. Zum Schluss ist es nur eine Sache von wenigen Stunden. 27 Meter lang, 60 Zentimeter breit und 110 Zentimeter hoch ist ihr Tunnel in den Westen, als der Kraftfahrer, seine Frau und 26 weitere Personen durchkriechen. Drei Stunden später wird der »Tunnel 28« (nach der Zahl der erfolgreichen Flüchtlinge so benannt) von Grenzwächtern entdeckt.
26. Januar 1962: Zuerst sah es aus wie ein Wasserrohrbruch, nicht ungewöhnlich um diese Jahreszeit in Berlin. In der Nacht vom 26. zum 27. Februar sackte das Pflaster auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Wollankstraße nahezu kreisförmig ein. Im Laufe des folgenden Tages entstand ein Loch, das immer tiefer wurde und am Nachmittag rund einen Meter erreichte. Das meldete ein Reichsbahnangestellter. Dann beobachtete der Bahnhofsvorsteher am Abend acht bis zehn Jugendliche, die aus einem Gewölbebogen kamen.
Der hochgelegene S-Bahnhof Wollankstraße gehört zu den Berliner Kuriositäten: Das Gebäude liegt auf Ost-Berliner Gebiet, ist aber nur über zwei Zugänge von der Nordbahnstraße aus in West-Berlin zugänglich. Die beiden nordöstlichen Gleise verlaufen auf einem Bahndamm, das südwestliche Gleis ruht auf Gewölbebögen. Vor dem Mauerbau boten dort Händler ihre Ware feil und sie wurden als Lager genutzt. Nach dem 13. August 1961 mauerte man sie zu. Wie auf dem gesamten Gelände der »Deutschen Reichsbahn« in West-Berlin hatte die DDR auf dem Bahnhof Wollankstraße das Sagen. Deshalb tauchen dort am 28. Februar gegen 1 Uhr Ost-Berliner Grenzwächter auf. Sie finden einen Tunneleingang.
Schnell wird klar, dass der Tunnel von West nach Ost gegraben wurde und kurz vor seiner Fertigstellung stand. Durch die Erschütterungen der Züge war er eingebrochen.
Obwohl deshalb noch niemand durch den Wollank-Tunnel fliehen konnte, kam er der DDR gerade recht. Erich Honecker, damals für »Sicherheitsfragen« im »Zentralkomitee der SED« zuständig, wies eine umfangreiche Propaganda-Kampagne an. Das hatte die DDR nach Entdeckung des Pankower Friedhofstunnels im Dezember 1961 versäumt, nun wollte er die Scharte auswetzen.
Deshalb lud der DDR-Verkehrsminister, Erwin Kramer, am 1. März zu einer Pressekonferenz auf den stillgelegten Berliner S-Bahn-Bahnhof ein. Nur die östlichen Korrespondenten dürfen einen Blick in das Loch werfen, die westlichen nicht einmal Kameras und Tonbandgeräte mitbringen, um die angebliche »Agentenschleuse« zu dokumentieren. So geht der Plan, den Tunnel als »aggressiven Vorstoß der westdeutschen Imperialisten gegen die DDR«, die trotz des für das ganze Berlin geltenden Viermächtestatus Ost-Berlin als ihre Hauptstadt bezeichnet, zu verkaufen, letztlich in die Hose. In West-Berliner Berichten ist in diesem Zusammenhang lediglich von einer »studentischen Aktion« zu lesen. Dass es die Fluchthelfergruppe um die Gebrüder Franzke von der Technischen Universität war, die unter der Wollankstraße grub, hielt man aus Sicherheitsgründen geheim. Das Ost-Berliner SED-Blatt Neues Deutschland trompetet zwar auftragsgemäß: »Westagenturen müssen eingestehen: Stollen – ein Werk von Banditen«. Im Westen interessiert das jedoch niemanden.
21. Februar 1962: Rudi Thurow ist 24 Jahre alt und Unteroffizier bei den Grenzpionieren. Er ist unzufrieden. Tagsüber baut er an den Grenzbefestigungen mit, nachts träumt er, wie schön doch ein Leben im Westen wäre. Diesen Traum teilt er mit seinen Pankower Freunden. Sie drängen ihn immer wieder: Wer, wenn nicht er könnte wissen, wie man am besten Mauer und Stacheldraht überwindet!
Und er weiß es auch: Im Süden Berlins gibt es die Exklave Steinstücken. Ein Stück West-Berlin, von einer Bahnlinie durchschnitten, und mitten in der DDR gelegen. Dort könnte es klappen. In der Nacht des 23. Februar probieren es die Männer. Rudi Thurow trägt seine Grenzer-Uniform und hat seine Maschinen-Pistole dabei. Als seine drei Mit-Flüchtlinge entdeckt werden, schießt er über die Köpfe der Verfolger hinweg und zwingt sie so auf den Boden. So gelangen alle vier unverletzt nach West-Berlin.
Dort packt der Fahnenflüchtige bei den Amerikanern aus, informiert sie über die pioniertechnischen Anlagen an der Grenze. Dafür revanchieren sich die Geheimdienstler mit einem Waffenschein. Rudi Thurow trägt 30 Jahre lang eine Pistole mit sich herum, denn er ahnt, dass der lange Arm der Stasi durchaus auch bis in den Westen reichen kann. Einen Entführungsversuch, einen Brandanschlag, vielleicht einen Unfall, all das hält er für möglich, denn von West-Berlin aus beteiligt er sich an Tunnelbauten und anderen Fluchthilfeaktionen.