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Die Liebe zu einem Fußballverein kann man nicht erklären. Sie entsteht und hält meistens ein Leben lang. Es sind oft nicht nur die Erfolge, die den Fan an den Verein binden. Gerade Pleiten, Abstiege und Frusterlebnisse schweißen Bündnisse für die Ewigkeit. Davon gibt es in Hannover 96s Vereinsgeschichte genug. Aber auch wundersame Ereignisse, wo der Leinephoenix aus der Asche auftauchte, in letzter Sekunde dem Abstiegstod von der Schippe sprang oder übermächtige Gegner in Endspielen niederrang. Dennoch muss ein Fan der Roten aus härterem Holz geschnitzt sein als ein erfolgsverwöhnter Bayern- oder BVB-Fan. Erstaunlicherweise gibt es unzählige Anlässe, diesen sympathischen Verein aus der Landeshauptstadt Niedersachsens zu lieben. Leider wird er in der öffentlichen Wahrnehmung oft verkannt. Wir haben uns auf die für uns 111 besten Gründe beschränkt und möchten unsere Begeisterung für diesen großartigen Club und unsere wunderbare Stadt mit den Lesern teilen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 332
Stephanie Ristig-Bresser und Michael Bresser
EINIGE WORTE VORWEG
Hätte er nicht beim fulminanten 3:2-Heimspiel-Sieg gegen Leverkusen im Dezember 2012 gleich zwei Elfer reingehauen und damit unsere Roten zum glücklichen Spielgewinn geführt, wäre dieses Buch vielleicht nicht geschrieben worden. Wir hatten nämlich mit Michaels Agenten Kurt um diesen Sieg gewettet. Dass er dann gleich mit einem Buchvertrag um die Ecke kam, konnten wir ja nicht ahnen. Nun ja: Vielleicht ist auch Facebook schuld, denn schließlich verdanken wir diesen unseren dortigen Flachsereien über grandiose Siege und schmachvolle Pleiten unserer Roten, dass die Idee zu diesem Buch an uns herangetragen wurde.
Ein Buch über Hannover 96 also, über unsere alte rote Liebe zu einem wundervollen Verein in einer wundervollen Stadt in einem wundervollen Land. Jeder 96-Fan unterschreibt den vorigen Satz sicherlich zu 100 Prozent, mag sich mit diesem Buch auf die Reise begeben, magische Momente wieder erleben und auch ein paar Tränen trocknen, wenn wir auf die »Stunden der Wahrheit« zu sprechen kommen.
Aber es gibt da sicherlich eine Mehrheit, die unsere Roten nur aus der Ferne wahrnehmen. Sie sehen nur: mausgraues Mittelfeld. Mit diesem Buch möchten wir auch genau ihnen Lust machen, einmal genauer hinzusehen. Hannover 96 hat mehr zu bieten, als es zunächst den Anschein hat. Vom Torjäger bis zum Startrainer, von der Deutschen Meisterschaft bis zum DFB-Pokal, von schrägen Vögeln und Jahrhundert-Talenten aus den eigenen Nachwuchsreihen, von Skandalnudeln bis hin zu Vereinspleiten – die Geschichte von Hannover 96 hält jede Menge Geschichten bereit.
In jedem Fall ist bemerkenswert, dass viele Profis, die in Hannover 96 Station machten, weiterhin mit Hannover 96 verbunden bleiben. Dieter Hecking, Ralf Rangnick, Per Mertesacker, Gerald Asamoah und viele mehr … Für sie war, ist und bleibt Hannover 96 ein Stück Heimat. Viele werden gar zum Wiederholungstäter und kommen wieder: Mirko Slomka etwa, aber auch eben besagter Szabolcs Huszti. Hannover 96 übt eben eine enorme Haftkraft aus. Genauer hinschauen lohnt sich also. Versprochen!
Und dann haben wir noch etwas zu sagen: Bitte erwarten Sie ruhig ein 96-Geschichtsbuch der anderen Art. Spielstatistiken, Vereinshighlights und Saisonberichte können Sie prima und faktengerecht in anderen, gut recherchierten und nützlichen 96-Chroniken nachlesen – zum Beispiel bei Hardy Grüne oder dem Autorenteam der Notbremse. Klasse, Jungs, weiter so! Bei uns geht es ganz schlicht um ein ganz großes Gefühl: um Liebe. Und Sie wissen sicherlich: Eine alte, rote Liebe rostet nicht – dafür neckt sie sich umso mehr, genauso wie auch die Fantasie bisweilen mit ihr durchgeht. Bitte lesen Sie also die eine oder andere Passage mit einem Augenzwinkern oder gestatten sich ein: »Was wäre, wenn …«
In jedem Fall: Begeben Sie sich mit uns auf eine Reise ins 96-Land – lesen und lieben Sie mit!
Stephanie Ristig-Bresser und Michael Bresser
PS: Und wenn Sie noch mehr davon wollen, schauen Sie doch mal auf unserem Blog zum Buch vorbei: www.111-gruende-hannover-96-zu-lieben.de. Da möchten wir Sie regelmäßig mit neuem, rotem Fußball-Lesestoff versorgen!
1. KAPITEL
Prolog – Samstag im Stadion, 15.20 Uhr. Ich taste mich zusammen mit meinem Partner Osssy etwas zögerlich durchs Marathontor des Stadions. Jedes Mal dasselbe. Obwohl schon etwa 50–60 Auftritte mit der Alten Liebe hinter uns liegen, vibriere ich am ganzen Körper. Lande dann wie in Trance vor der Nordkurve beim Tontechniker, der uns die Mikros in die Hand drückt. Kurzer Soundcheck – Osssy brüllt »9«, ich kreische »6« – Na bitte, geht doch, alles klar!
Jetzt spüre ich die geballte Wucht der Fans in der Nordkurve. Es erschlägt mich fast. Diese Kraft, diese Emotionen … Mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Stolz, dabei zu sein, schwanke ich durchs Einlasstor in den Fanblock. Hände strecken sich mir entgegen, Abklatschen, Umarmungen, Schulterklopfen: Alles echte Fans, Leute, die ich im Laufe der Zeit richtig lieb gewonnen habe. Menschen, die »egal, ob’s regnet oder schneit« dem Verein die Treue halten. Hier fühl ich mich wohl, hier bin ich zu Haus.
Der Stadionsprecher ist inzwischen mit der Mannschaftsaufstellung durch und dann ertönt es: »Fans von 96 – Schals hoch und lasst uns zusammen mit Dete und Osssy die Hymne Alte Liebe singen.« Jetzt bin ich frei, tauche in die Musik ein und schwebe geradezu. Ein großes Gefühl der Dankbarkeit durchrieselt mich.
Das Spiel beginnt!
Dete Kuhlmann, Stadionsänger des Alte Liebe-Songs
Schon bevor jedes Heimspiel beginnt und uns in seinen Bann zieht, sorgen die beiden Stadionsänger Dete und Osssy für Gänsehaut-Momente. Seit der Saison 2010/11 singen sie zu jedem Heimspiel die Stadionhymne 96 – Alte Liebe live, inmitten von Fans in der Nordkurve. Den Song in der jetzigen Form haben Martin Hylla, Kai Hoffmann, Osssy Pfeiffer und Dete Kuhlmann geschaffen. »Als der NDR mich damals gefragt hat, wo wir den Song denn präsentieren wollen, war ganz klar: Präsentierteller geht nicht. Die Hymne gehört dahin, wo sie am meisten gefühlt wird. Und das ist in der Nordkurve.«
»Ich bin einfach ein Roter – und gut ist.« Dete Kuhlmann ist das von Kindesbeinen an. Sein erstes Spiel besuchte er 1956, damals noch auf der alten Pferderennbahn, als noch nicht an die Bundesliga zu denken war und die Roten in der Oberliga Nord gemeinsam mit dem HSV, Arminia Bielefeld, dem VfL Osnabrück, Werder Bremen und Eintracht Braunschweig kickten. Seitdem sind die Roten für Dete nicht mehr wegzudenken. Mal war die Liebe stärker, dann ruhte sie ein wenig, insbesondere in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Detes Liebe zur Blues- und Rockmusik auch berufliche Ausmaße annahm und Tourneen in ganz Deutschland mit sich brachte. Doch die rote Liebe entflammte immer wieder – und 96 ging sowieso immer mit, weil Detes Schwager der Frank Hartmann war, der bei 96 und später bei Bayern und dann wieder bei 96 spielte und schließlich auch in der Geschäftsführung der Roten mitmischte. Deswegen war Dete immer bestens im Bilde, erlebte Höhen und Tiefen mit, die Roten als Fahrstuhlmannschaft, auch wenn er nicht immer live dabei sein konnte. Einen neuen Schub hat Detes 96-Liebe übrigens bekommen, seit Detes Sohn Hardcore-Fan ist. Der besucht fast jedes Spiel der Roten, ob auswärts oder im Heimstadion, »ob’s regnet oder schneit«.
»Gemeinsam im Fanpulk unterwegs zu sein, ist schon etwas sehr Kraftvolles – faszinierend, aber auch fast beängstigend zugleich. Einmal, vor vielen Jahren, bin ich gemeinsam mit einer ganzen Horde Fans nach Bielefeld zum Auswärtsspiel bei Arminia gefahren. In Bielefeld angekommen, sind wir auf dem Weg ins Stadion durch einen Tunnel gegangen, da fingen einige Fans an zu singen: ›Hurra, Hurra, jetzt ist Hannover da.‹ Viele stimmten mit ein. Das war so erhebend und verbindend, dass es mir fast Angst gemacht hat. Man hat dann das Gefühl, alles und noch viel mehr zu können. Wenn da ein paar Bielefelder dagegengesungen hätten, hätte das ganz leicht kippen können«, schildert Dete seine Erlebnisse. »Deswegen glaube ich wirklich, dass Fans eine Mannschaft zum Sieg tragen können.«
Zur Entwicklung von Hannover 96 sagt Dete: »Was in den letzten Jahren passiert ist, ist nicht zu toppen. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch erlebe, dass wir in der Europa League mitkicken. Dadurch hat sich natürlich auch 96 weiter entwickelt, ist professioneller geworden. Die alten Fans aber sind geblieben, es sind vielleicht ein paar neue dazugekommen. Jetzt ist es wichtig, wieder ein Gleichgewicht zu finden, damit sich alle wohlfühlen. Der Hardrocker und der Gärtner, der Ultra und der Familienvater mit zwei Kindern. Der muss sich auch mal zwischendurch eine Wurst holen können, ohne Angst um seine Kinder haben zu müssen. Und es ist auch wichtig, dass das für ihn erschwinglich bleibt. Es müssen mehr Kinder ins Stadion, nicht nur wir alten Säcke. Die Kinder bilden das Fundament für später.« Nach Detes Ansicht gibt es deshalb in der kommenden Zeit einiges zu tun: »Für einige Menschen, die ich kenne, ist 96 ihr Lebenselixier, auch wenn wir uns das nicht vorstellen können. Auch für diese Fans muss der Stadionbesuch nach wie vor erschwinglich bleiben. Denn Fußball, das ist wie ein soziales Auffangbecken. Fußball ist nicht nur ein Wirtschaftsfaktor.«
Doch zurück zur Alten Liebe: »Ich bin zwar ein alter Sack, der schon Jahrzehnte Musik macht, aber vor jedem Auftritt im Stadion bin ich extrem aufgeregt. Man hat ja nur drei bis vier Minuten. Die müssen aber sitzen.« Und sie sitzen. Jedes Mal.
»Die Geschichtsbücher müssen umgeschrieben werden«, mit diesen bedeutungsschwangeren Worten kommentierte Dr. Wolf-Dieter Mechler, seines Zeichens Mitarbeiter im Historischen Museum Hannover und Kurator einer Ausstellung rund um Hannover 96, im Frühjahr 2012 einen denkwürdigen Fotofund: Die Enkelin einer ehemaligen Schatzmeisterin hatte ihn beim Aufräumen entdeckt.1 Die Fotos zeigen unter anderem die ersten Gehversuche der Roten, als sie den Ball noch mit den Händen beförderten. Denn wo seit der Gründung im April 1896 nämlich exakt »Hannoverscher Fußballclub von 1896« draufstand, war zu Beginn nur Rugby drin. Diese Tatsache war aber natürlich hinlänglich bekannt und insofern keine Sensation – bis auf einige Datierungen, die hierdurch verändert werden mussten.
Hätte Herr Dr. Mechler geahnt, was ich letztes Wochenende beim Ausmisten unseres Dachbodens entdeckt hatte, hätte er sich solche Äußerungen für meine Speicherjuwelen aufgehoben. Neben einem der ersten Original-Grammofone, von Emil Berliner selbst liebevoll entwickelt und gefertigt, stapelten sich Hunderte Schellackplatten: Richard Tauber, Duke Ellington, Arthur Preil, Claire Waldoff, Rudi Schuricke, Marian Anderson und wie sie alle heißen – die Musik der Zwanziger, Dreißiger- und Vierzigerjahre buhlte um meine Beachtung. Und inmitten dieser musikalischen Prachtstücke versteckte sich eine schlichte, unbeschriftete Hülle mit einer ebenso unbeschrifteten Platte: Beim Anhören staunte ich nicht schlecht. Es war ein Interview, das ein gewisser Hermann Löns, damals Reporter beim Hannoverschen Anzeiger, mit einem gewissen Herrn Ferdinand Wilhelm Fricke führte, der sich ganz schön wichtig nahm und genauso aufgebracht klang. In der Sitzung, nach der dieses Gespräch aufgezeichnet wurde, schien wohl etwas nicht nach seinem Plan gelaufen zu sein. Exklusiv für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, habe ich dieses Gespräch vom 19. April 1901 transkribiert, denn es ist ein wahrhaft historisches Tondokument:
»Löns: Herr Fricke, heute hat der Hannoversche Fußballclub darüber abgestimmt, welche Ballsportart in Ihrem Club dominieren soll. Können Sie uns etwas darüber verraten, wie die Abstimmung ausgegangen ist?
Fricke: Lieber Herr Löns, was da heute passiert ist, ist eine bodenlose Frechheit, ja bodenlos. Ach, was sag ich, bodenlos? Eher am Boden, ganz unten angekommen ist unser Verein. Jetzt soll es sich zukünftig nur noch um den einfachen Fußball drehen, den Fußball, der am Boden stattfindet. Ich finde dafür keine Worte. Ein Ball wird mit Füßen getreten, beschmutzt. Meine eindeutige entschiedene Meinung dazu ist: Das gehört sich schlicht nicht. Fußball, ich meine Rugby, ist da viel eleganter und umsichtiger mit dem Ball. Handfester einfach …
Löns: Nun ja, die Redewendung lautet doch aber, etwas hat ›Hand und Fuß‹. Ließe sich denn nicht beides kombinieren?
Fricke: Wo denken Sie hin? Das eben war eine Kampfabstimmung, es ging nur um entweder oder … Das war bewusst in die Wege geleitet und inszeniert von meinem Vereinskollegen Fritz Schlüter. Wenn ich den zu fassen kriege, der kann sich von mir was anhören. Allein wie man auf die Idee kommen kann, mit einen runden Ball zu spielen, der in ein eckiges Tor muss. Schauen Sie sich unseren Ball an: stromlinienförmig, wie das Ei das Kolumbus eben, so formschön.
Löns: Nun, Herr Fricke, das Ei des Kolumbus bezeichnet ja eine einfache Lösung für ein komplexes Problem. Wäre es nicht eine Lösung, wenn sich beide Disziplinen nebeneinander im Verein etablieren würden?
Fricke: Nein, Herr Löns, so einfach ist dann nun wiederum nicht. Es gab da ein eindeutiges Votum und als kleiner aufstrebender Verein müssen wir uns auf eines konzentrieren. Ich muss sagen, für den Moment bin ich maßlos enttäuscht. Aber nun ja, immerhin kann ich jetzt noch immer von mir sagen, ich sei der Begründer des Rasensports in Hannover gewesen. Das kann mir keiner mehr nehmen, auch wenn ich selbst Rugbyspieler bleibe. Zu gerne würde ich Mäuschen spielen und wissen, was da in hundert Jahren über uns geschrieben wird. …
Plötzlich mischt sich ein weiterer junger Mann ins Gespräch ein: Das kann ich dir ganz genau sagen, lieber Freddy …
Löns: Moment, wer sind denn Sie und was wollen Sie uns mitteilen?
Der junge Mann: Ich bin Fritz Schlüter und ich sage Ihnen: Dieser Umschwung bedeutet einen Markstein in der Geschichte des HFC von 1896 und damit sind Erfolge in ganz anderen Dimensionen möglich.«
Liebe Leserin, lieber Leser, so ähnlich mag sich diese Momentaufnahme zugetragen haben. Denn: Bei diesem Gespräch wie auch bei meinem vermeintlichen Dachbodenfund handelt es sich um pure Fantasie: kein Grammofon, keine Schellackplatten, kein Interview. Schade eigentlich. In den wahren Geschichtsbüchern ist aber festgehalten: Hermann Löns praktizierte dieser Tage tatsächlich als Journalist in Hannover, Ferdinand Wilhelm Fricke ging wirklich als Begründer des Rasensports in die Annalen ein und wurde 1924 zum Ehrenpräsident von Hannover 96 – trotz dieses Streits, der den Verein entzweite. Und es ist verbürgt, dass 96 zunächst Rugby spielte, bis im April 1901 die Entscheidung für den »richtigen Fußball« fiel. Verzeihen Sie Ferdinand Wilhelm Fricke seinen emotionalen Ausbruch, verzeihen Sie mir meinen fantastischen Ausflug – und freuen wir uns gemeinsam, dass auch für den Rugby-Fußball seit einigen Jahren bei Hannover 96 gilt: »It’s coming home, football’s come home.« Denn nach dem Umbau im Jahr 2004/05 fanden die Rugby-Europameisterschaften im Heim-Stadion der Roten statt. Ein Kreis hat sich geschlossen.
Wir schreiben den 26. Juni 1938. Um den Titel im Berliner Olympiastadion ringen: der niedersächsische Gaumeister Hannover 96 – man beachte den »gleichgeschalteten Titel« – und der mehrmalige Deutsche Meister Schalke 04. Veranstaltet werden die Meisterschaften übrigens vom Deutschen Reichsbund für Leibesübungen. In der gesamten Saison haben die 96er mit »Elan, Kampfkraft und einem Sturm, der zu schießen versteht« überzeugt. »Dieser Sturm fackelt nicht lange.«2 Und doch: Die Schalker, die seit 1934 drei Meisterschaften für sich gewinnen konnten, scheinen allzu überlegen zu sein. Die Roten können nur mit Zweierlei punkten: ihrer unvoreingenommenen Spielbegeisterung – und einem Publikum, das komplett hinter ihnen steht. Der zwölfte Mann wurde schon damals ganz großgeschrieben und auch die ersten Ansätze von Fan-Devotionalien scheint Hannover 96 erfunden zu haben: Das Stadionbild ist bestimmt von Regenschirmen in Schwarz-Weiß-Grün. Zudem haben sich die Fans der Roten ausstaffiert mit Trompeten und Schellen, mit denen sie sich lautstark Gehör verschaffen.
Gehör verschafft sich dann zunächst mal der Herr Reichssportführer Hans von Tschammer. Denn erst einmal müssen natürlich Hakenkreuz-Gedöns und Hitlergruß sein, man darf ja keine Chance verstreichen lassen, das gemeine Volk mit nationalsozialistischen Ritualen zu indoktrinieren. Schließlich ist Fußball ja auch nicht zum Spaß gedacht, sondern »das erwachte Deutschland verlangt, dass die Jugend nicht nur aus Freude am Spiel und um der eigenen Gesundheit willen Sport treibt; dieses Deutschland verlangt, … dass die gesamte Erziehung und Ausbildung für ein Volk mit einem ausgeprägten Wehrgeist erfolgt.«3 Kriegspläne, ick hör dir trapsen. Kleiner Nebenkriegsschauplatz – geben wir außerdem zu Protokoll: Alle Sportler, alle Schiedsrichter, schlicht jeder, der aktiv dieses Spiel mitgestaltet, ist Arier. Juden dürfen – zumindest bei 96 – schon seit 1933 nicht mehr Mitglied im Verein sein (den Verein sanieren dürfen sie trotzdem gern, dazu in einem anderen Kapitel mehr).
Doch zurück zum Spiel. Auch wenn es ausgemacht zu sein scheint, dass Schalke mit seinem technisch anspruchsvollen Kurzpassspiel – dem berüchtigten »Schalker Kreisel«, wohl einem Vorläufer des späteren Tiki-Taka – die Meisterschaft in den Pott holt, kommen zunächst die Roten besser ins Spiel. Doch der Spieß dreht sich um. Nach einer knappen halben Stunde steht es nach einem Elfmeter 1:0 für Weiß-Blau, wenige Minuten später kann Schalke auf 2:0, den Pausenstand, erhöhen. In der Halbzeit hat Trainer Fuchs die Roten offenbar wieder aufgebaut. Zumindest spielen jetzt die 96er nach der Pause motiviert auf – und schaffen es, rasch auf 1:2 zu verkürzen. 96 stürmt weiter aufs Schalker Tor, sodass Schalke den Ball abstauben und ungestört einnetzen kann; Schalke führt mit 3:1. Irgendwie schaffen es die Roten fast in letzter Minute, zum 3:3 auszugleichen. In der Verlängerung sind beide Mannschaften zu erschöpft, um noch etwas zuwege zu bringen.
Also muss das Spiel neu aufgelegt werden, so ist es damals die Regel. Am 3. Juli 1938 kommt es zur Wiederholung. Dabei treiben die Schalker gewisse Vorahnungen um. Es geht um Voodoo, der aus Hannover kommt. Ihr Spruch »Trotz Spuk und böser Geister, Schalke bleibt doch deutscher Meister«. Leider haben sie die Rechnung ohne den genannten Spuk und die bösen Geister gemacht. Denn die Roten beweisen ordentlich Moral und entzaubern die Weiß-Blauen und deren Tiki-Taka. Zwei Minuten vor Spielschluss ist das Glück auf 96er Seite, sie erhalten einen Elfmeter und können glücklich ausgleichen und sich damit in die Verlängerung retten. Und auch hier ist der Dusel (wieder gewürzt mit ein wenig Voodoo?) wieder auf der Seite der Roten. Am Schluss steht es 4:3 für Hannover 96 und der Lorbeerkranz, den es damals tatsächlich anstatt eines Pokals gab, wandert an die Leine.
Das Wunder war vollbracht. Jesus war über den See Genezareth getappt, in Lourdes wurde Blinden das Augenlicht geschenkt, und Kronsbeins No-Name-Truppe hatte den Roten Teufeln aus Kaiserslautern die Hörner gestutzt. Kenner der Wunder-Branche mögen einwenden, dass diese drei Ereignisse nicht ganz auf einer Ebene liegen. Doch, sagen wir. Und ebenso die 200.000, die ihre Mannschaft am Hannoveraner Bahnhof erwarteten.
Bereits um zehn Uhr morgens platzte die Stadt aus allen Nähten. Dabei wurde die Mannschaft erst gegen 17 Uhr aus Hamburg zurückerwartet. Jeder wollte einen Blick auf den Deutschen Meister 1954 erhaschen. Ein schwieriges Unterfangen, schließlich drängte sich fast die halbe Stadt vor dem Bahnhof. Die Niedersachsen fühlten sich stolz wie Bolle. Hannover war Messestadt und wirtschaftswunderte fleißig. Dennoch lechzten die Niedersachsen nach nationaler Anerkennung, die der wunderbaren Leinestadt noch heute völlig unberechtigt oft verwehrt wird. Hannover war wer, Deutscher Meister nämlich und das gegen eine Truppe voller Nationalspieler, gegen die Roten Teufel. Und die Menschenmasse vor dem Bahnhof war Hannover. Auch die Spieler waren stolz über das Erreichte. Wegen des Geldes allein spielte in den Fünfzigern keiner Fußball. Damals war eine gute Ausbildung wichtiger als geschickte Beine. Jeder der Meisterjungs erhielt eine Prämie von 20.000 Mark brutto und eine Urlaubsreise auf die Seychellen. Kleiner Spaß. Natürlich nur 1000 Mark und eine Butterfahrt nach Borkum und nach Waging am See. Lediglich Erfolgstrainer Fiffi Kronsbein erhielt einen VW; schließlich hatte sich der geschäftstüchtige Meistermacher Prämien für norddeutsche und deutsche Meisterschaft im Vertrag zusichern lassen. Aus heutiger Sicht Bescheidenheit einer anderen Welt.
Als die Mannschaft eintraf, dauerte es gefühlte Stunden, bis sie sich einen Weg durch die jubelnde Menschenmasse gebahnt hatte. Freudentränen flossen. Mit Pferdedroschken fuhr die Mannschaft im Schneckentempo zur Maschsee-Gaststätte. Die Polizei war überfordert, den Weg zu räumen. Aber wer wollte sich an diesem Tag aufregen. Die Menschen standen auf den Balkonen und jubelten ihren Roten zu. Selbst die Hunde sollen sich das Fell rot gefärbt haben, um die Mannschaft zu feiern. Schließlich gelangte der Konvoi zum Ziel. Hannover 96 und Victoria Linden, der deutsche Rugbymeister, wurden von den Stadtoffiziellen geehrt. Ein großer Tag, den die Meisterkicker ihr ganzes Leben nicht vergessen haben dürften.
Der einzige Wermutstropfen: Dieses Ereignis, das ganz Hannover einte, liegt fast 60 Jahre zurück. Wir hätten nichts gegen ein neues Freudenfest in der Hannoveraner Innenstadt. Bei den Prämien würden wir dem Verein auch unter die Arme greifen. In Charlys Eck zahlen wir an jedem Spieltag einen Euro in die Reisekasse, damit wir Schlaudraff und Kollegen bei Gewinn der Meisterschaft in den verdienten Urlaub nach Wernigerode schicken können. Leider ereignen sich Wunder nur alle Jubeljahre. Doch Hoffen ist wohl noch erlaubt.
Erfolgstrainer Biskup wurde 1985 das »Goldene Lüttje-Lage-Gedeck der Stadt Hannover« verliehen. Denn die Leistung der Mannschaft in dieser Saison kann nur mit Superlativen angemessen beschrieben werden.
Das Team hatte 1984 knapp die Klasse halten. Angesichts leerer Kassen wurde auch in der Saison 1984/85 wenig von den Roten erwartet. Zur Entschuldung wurden wieder dringend mehr Zuschauer benötigt als die 3600, die in der Vorsaison im Schnitt die Tore des Niedersachsenstadions passierten. Doch warum sollten diese kommen? Das Ziel der Biskuptruppe lautete Klassenerhalt, was von Experten als schwierig genug eingeschätzt wurde. Der einzige bekannte Neuzugang hieß Franz Gerber, der sich eigentlich in den USA gemächlich in den Ruhestand kicken wollte. Zudem wurde die Mannschaft mit einigen Nachwuchskräften wie unter anderem Michael Gue und Maximilian Heidenreich vom Lokalrivalen Arminia ergänzt. Die Presse hängte schon vor Saisonbeginn die rote Laterne in Hannover auf.
Der Start verlief verheißungsvoll. Die ersten drei Spiele gegen Bürstadt, Nürnberg und den MSV Duisburg wurden gewonnen. Gegen Angstgegner Freiburg erreichten die Roten nur ein torloses Remis, ließen sich aber wenig von diesem Ergebnis beeindrucken. Die vor der Saison als »Kindergarten« belächelten Kicker wurden auf einmal respektvoll als »Rasselbande« tituliert. Zum Ende der Halbserie belegten die 96er Platz 4. Der Klassenerhalt schien bereits jetzt sicher, die Aufstiegsplätze lagen in Sichtweite. Auch die Zuschauer fanden wieder ihren Weg ins Stadion.
Doch es gab eine Durststrecke. Der Erfolg weckte Begehrlichkeiten bei den Spielern. Die Aufstiegsprämie sollte verdreifacht werden. Außerdem wollte das Team an den gestiegenen Zuschauerzahlen finanziell partizipieren. Doch Präsident Henze ließ nicht mit sich handeln. Die Öffentlichkeit war durch die Querelen und Beinahe-Pleiten der Vorjahre genug frustriert. Das neue, positive Bild des Clubs sollte nicht durch unvernünftiges Wirtschaften sofort wieder zerstört werden. Zum Glück besann sich die Mannschaft eines Besseren. Vor dem letzten Spieltag konnten Kassel, Nürnberg, Hannover und Saarbrücken aufsteigen. Ein Herzschlagfinale stand bevor. Dabei lag der Vorteil auf Seiten von 96. Nürnberg und Kassel spielten gegeneinander. Wenn die Roten ihr Spiel gegen Hertha BSC gewannen, würden sie in die Bundesliga aufsteigen.
Am letzten Spieltag strömten 60.000 Zuschauer ins Niedersachsenstadion. Die Sterne standen dabei exakt zwölf Jahre nach dem Wunder von Wuppertal gut für ein weiteres Wunder. In der 41. Minute half den Roten der Berliner Timme mit einem Eigentor. Als Hartmann kurz vor Schluss zum 2:0 einnetzte, kannte der Jubel keine Grenzen. Hannover hatte mit 50 Punkten und den meisten Saisontoren den Aufstieg geschafft. Biskup hatte durch seine ansteckende Begeisterung eine Truppe geformt, die Fußballdeutschland begeisterte. Nach neun kargen Jahren kehrte Hannover auf die große Fußballbühne Bundesliga zurück.
Wir erinnern uns gerne an Biskups »Rassler« und trinken einen Tomatensaft auf den Erfolgstrainer.
Das war ein Albtraum: Am 19.12.2012 demontierte der BVB im Achtelfinale unsere heiß geliebten Roten in ihre atomaren Bestandteile und spaltete anschließend die Kerne. Deprimierend. Wir weinten uns noch Tage später in den Schlaf, müssen aber festhalten: Das 5:1 war eine spielerische Glanzleistung der Westfalen, zudem wirkten die 96er verängstigt wie Sextaner bei der Standpauke ihres Direktors. Schwamm drüber. Es gibt Tage, die sind so gebraucht, dass sie nicht einmal der Fourth-Hand-Autohändler vom Mittellandkanal in sein Sortiment nehmen würde.
Dabei war das Westfalenstadion der Ort einer der glanzvollsten Auftritte in der hannöverschen Fußballhistorie. Und zwar am 03.09.1991. Dort stand man in Dortmund einer Mannschaft gegenüber, die am Ende der Spielzeit nur knapp den Meistertitel verfehlen sollte. Die Borussen hatten zu Saisonbeginn Ottmar Hitzfeld von den Grashoppers Zürich verpflichtet. Ein großer Stratege, der später alleine sieben Mal Deutscher Meister werden sollte. Die Mannschaft hatte zwar (noch) keine großen Stars, aber Stéphane Chapuisat, Michael Zorc oder Flemming Povlsen waren vielversprechende Spieler, deren Stern in den nächsten Jahren Fußballdeutschland erhellen sollte.
Was konnte ein solider Zweitligist gegen diese Mannschaft ausrichten? Der Lüttje-Lage-Ticker berichtet …
03.09.1991, Westfalenstadion in Bierstadt, 14.100 Zuschauer:
0. Minute: Ottmar Hitzfeld hat die Parole ausgegeben: Keine Überraschungen. Einige seiner Spieler sind davon nicht überzeugt. Michael Henke hat daraufhin die Spinde kontrolliert und alle Ü-Eier konfisziert. Aus Dortmunder Sicht sollte heute nichts mehr schiefgehen können. Hannovers Trainer Lorkowski setzt auf Geschlossenheit. Jörg Sievers hat daher die Torwand des »Sportstudios« vor seinem Kasten aufgebaut. Da wird sich zeigen, wie treffsicher Schappi und Konsorten wirklich sind. Einfach kann jeder.
20. Minute: Abwehrrecke Bodo Schmidt fasst sich ein Herz. Nach einer Ecke von Schappi hält er einfach mal drauf. Sievers und die ganze Abwehr träumen noch. 1:0 für den Favoriten. Auf geht’s, Hannover.
28. Minute: Schappi doppelpasst mit Flemming Povlsen. Die beste dänisch-schweizerische Kombination seit Carlsberg mit Toblerone-Aroma. Schappi verwandelt, und Lorkowskis Taktik geht schiefer als sämtliche misslungenen Bauwerke in Pisa. 2:0. Wir erkundigen uns nach einer früheren Verkehrsverbindung Richtung Hannover. Das muss man sich nicht über 90 Minuten antun.
45. Minute: Halbzeit. Der Favorit dominiert das Match nach Belieben. So haben wir uns das nicht vorgestellt. Vielleicht zeigt Lorkowski unseren Kickern Bilder von 1938 und 1954, als Hannover die Fußballwelt auf den Kopf stellte. Ohne ein Wunder geht hier heute gar nichts.
71. Minute: Dortmund spielt bisher die Hannoveraner wie Hütchen im Trainingsspiel aus. Nur Sievers hält, was es zu halten gibt. Ganz starke Vorstellung des Torwarts. Dann eine Ecke für die Roten. Die Dortmunder Abwehr krabbelt unsortiert durch den eigenen Strafraum und Patrick Grün stellt per Kopf den Abschluss her. Nur noch 1:2. Verwunderung auf allen Seiten. Geht hier etwa doch noch was? Wir telefonieren mit Mama, dass wir doch zur ursprünglich geplanten Zeit nach Hause kommen.
82. Minute: Kopfballstafette im Dortmunder Strafraum. Ein Dortmunder köpft zu einem Roten, der wiederum zurück. Wir verlieren den Überblick. Die Spieler auch. Schulz lässt den Ball abtropfen, vor Breitenreiters Füße. Der kann sein Glück nicht fassen und erzielt den Ausgleich. 2:2. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Vielleicht. Die mitgereisten 1000 Hannoveraner stürmen die Bierbuden, während die Dortmunder wie schockgefroren auf ihren Plätzen erstarren.
88. Minute: Gekonnter Freistoß von Chapuisat, doch Sievers fliegt in die richtige Ecke. Es riecht nach Verlängerung. Lorkowski reißt vor Nervosität die Eckfahne aus dem Boden und winkt seinen Spielern hektisch zu: Jetzt nur keinen Gegentreffer fangen. Nur keinen Gegentreffer. Nur …
88. Minute: Hannover kontert. Jörg-Uwe-Klütz hält aus gut 25 Metern einfach mal drauf. Warum auch nicht. Jeder Ball in der gegnerischen Hälfte kann nicht in Sievers Tor einschlagen. So einfach ist Fußball. De Beer geht im Kopf schon das Elfmeterschießen durch und überlegt, wie er Groths Strafstoß halten wird. Am besten einen Salto schlagen und die Pille mit einem gedrehten Fallrückzieher in den Dortmunder Abendhimmel katapultieren. Aber so weit ist es noch nicht. Da ist der Ball auch schon im Netz. 2:3 für Hannover. Und nur noch wenige Minuten zu spielen.
89. Minute: Um die Dortmunder zu verwirren, tanzt Lorkowski Lambada hinter dem Hannoveraner Tor. Knut Reinhardt möchte Lorkowski durch das Tor umschießen, aber er kommt nicht mehr an den Ball.
90. Minute: Schlusspfiff. Hannover hat die Sensation gegen spielerisch überlegene Dortmunder geschafft. Hitzfeld denkt in diesem Moment, dass Lehrer oder Schweizer Nationaltrainer bessere Jobalternativen wären. Henke tobt über die Leistung von Schiedsrichter Schmidt. Da fällt ihm ein, dass es gar keine strittige Entscheidung gab. Egal. Der Schiri ist an Niederlagen immer schuld. Hannover bereitet sich mental auf die Heimfahrt vor. Leider wurden keine alkoholischen Getränke für die Rückfahrt besorgt. Mit dem Sieg hatte keiner vorher gerechnet. Doch Feiertier Lorkowski weiß einen Ausweg: Jede Autobahnraststätte ein Bier. Somit startet das hannöversche Straßenfest entlang der A2. Ein großer Tag für die Roten.
Während die Dortmunder sich auf die Liga konzentrieren konnten, gewannen die Roten bekanntermaßen den Pott. Die restlichen Spiele waren ein Klacks für die Lorko-Jungs verglichen mit dem Dortmund-Match. Und damit geht’s weiter mit einem Fußballkrimi, der da heißt: DFB-Pokal 1992.
23.05.1992. Die Lütje-Lage-Redaktion hat es sich auf der Pressetribüne mit Berliner Weiße und Buletten bequem gemacht. Heute spielt die Kämpfertruppe aus Hannover in der Bundeshauptstadt gegen die Mönchengladbacher Fohlen. Wir sind begeistert und freuen uns auf erfolgreiche 90, 120 oder 130 Minuten. Nehmen wir’s mal nach dem Motto: Dabei sein ist alles: Die Roten dürfen einmal mehr die Luft der 1. Liga schnappen. Ansonsten scheint alles ausgemacht: Die Fohlen werden den Pott nach Mönchengladbach holen.
15. Minute: Das erstaunt uns: Gladbach versucht, seiner Favoritenrolle gerecht zu werden, es bleibt aber beim Versuch. Klütz weicht Criens nicht von der Seite, Sundermann klammert Max, aber alles fair. Die Gladbacher wünschen bereits jetzt, am Niederrhein geblieben zu sein. Sie können sich hier nur blamieren, während die Niedersachsen unbekümmert nach vorne spielen. Trotzdem bestimmt das Mittelfeld das Spiel. Die Parole lautet Strafraumverbot. Sievers liest in der HAZ, Kamps die Rheinische Post. Noch sind die Torleute nicht gefordert.
45. Minute: Pfiff. Ach … das war der Halbzeit-Pfiff. Entschuldigung, die Redaktion war kurz eingenickt. Nur zu Ihrer Beruhigung: Wir haben nichts verpasst! Es steht nach wie vor 0:0.
67. Minute: 96 beherrscht mittlerweile das Spiel. Welcher Prophet hätte das vorhergesagt. Allerdings sind Torraumszenen seltener als Waren im DDR-Konsum. Vielleicht Ðelmaš. Der fummelt sich durch die Gladbacher Abwehr und schießt. Kamps wirft seine Zeitung in die Torecke und pariert.
90. Minute: Spielstand 0:0. Verlängerung. Bisher hatten die Roten das Spiel gut im Griff, versäumten es aber, ein Tor zu erzielen. Hoffentlich rächt sich das nicht. Uns dreht sich vom Berliner Limonaden-Bier-Mix der Magen um. Da können wir eigentlich gleich auf Alkohol verzichten und Kölsch trinken.
105. Minute: Die Gladbacher wirken jetzt stärker. Es scheint sich auszuzahlen, dass Trainer Jürgen Gelsdorf seine Fohlen auf der Mönchengladbacher Trabrennbahn Kondition bolzen ließ. Insbesondere Kalla Pflipsen ist fit wie ein gedopter Turnschuh und packt die Trickkiste aus. Die Hannoveraner wirken manchmal verwirrt, doch tödliche Pässe können unterbunden werden. Ein Tor fällt auch nicht. Noch halten die hannöverschen Wälle.
120. Minute: 0:0 nach Verlängerung. Ein großer Erfolg für unsere Roten. Doch jetzt wollen wir den Pott. Die Gladbacher Spieler besprechen die Reihenfolge der Elfmeterschützen. 96-Trainer Lorkowski mimt den Kevin Costner und tanzt wie ein Eingeborenenschamane um die Mannen vom Niederrhein. Diese zeigen sich beeindruckt. Insbesondere Fach scheint für Störungen anfällig. »Alta, ich sach dir. Wenn ich meine Brüders hole …«, lesen wir von seinen Lippen ab. Es kann aber auch einfach »Ich will nach Hause. Mama, hol mich ab« heißen.
0:1: Kastenmeier rennt wie Attila der Hunne auf Sievert zu. Klatsch. Keine Chance für Colt.
1:1: MiloŠ Ðelmaš hat die Regenerationsphase eingeläutet und verwandelt aus dem Stand zum Ausgleich. Für Kamps hat’s gereicht.
1:2: Criens. Der Mann trifft zuverlässig wie meine Brotschneidemaschine. Zum Glück darf Hans-Jörg nur einmal schießen.
2:2: Wójcicki will es spannend machen. Wie beim Zwei-Band-Billard trifft er zunächst den Pfosten, dann pustet er, und der Ball kullert ins Netz.
2:2: Pflipsen geht belastet zum Punkt. »Wat hat der Lorko nur gesungen? War dat wat von Dschingis Khan?« Sievers hält. »Nee, dat war der Karnevalssong von de Toni Polster. Verdammte Kiste.«
2:2: Freund eifert seinem Vorbild Pflipsen nach. Kamps hält.
2:2: Sievers fixiert Fach. Dessen Herz rutscht in die Hose und kullert auf den Rasen. Colt hält. Einfach genial.
3:2: Kretzschmar hat Nerven aus Stahl und Eis im Blut. Volltreffer. So geht Elfmeter, Gladbach!
3:3: Neuns Schuss ist auch nicht schlecht. Zum Glück zählt der Treffer nur für ein Tor. Wenn Schjønberg jetzt trifft, brennt der Maschsee.
4:3: Schiedsrichter Heynemann macht es spannend. Da der Ball nicht zu 100 Prozent mittig auf dem Punkt ruht, muss der Däne zwei Mal korrigieren. Da haben sich schon ganz andere von aus der Ruhe bringen lassen. Aber nicht der Micha. Links an Kamps vorbei schießt Schjønberg die Hannoveraner in ein Meer der Glücksgefühle. Der hannöversche Sänger Klaus Meine pfeift eine Jubelmelodie und denkt über einen Wind des Wechsels in Fußballdeutschland nach. Gut, dass er die Hymne für diesen Tag schon zwei Jahre zuvor komponiert hat. Ein Skorpion muss auf alles vorbereitet sein. Niedersachsens Ministerpräsident Schröder träumt: »Wenn Hannover DFB-Pokal kann, kann ich auch Bundeskanzler. Memo an mich selbst: Wenn’s passt, kandidiere ich.« Die anderen 96-Fans denken an gar nichts mehr und verwandeln Berlin in ein rotes Jubelmeer.
Fußballtrainer ist oft ein kurzfristiger Job. Die Bezahlung liegt zwar deutlich über dem Hartz-IV-Satz, doch hat sich der Fußballlehrer gerade in seiner schmucken Villa mit Swimmingpool in bester Lage eingerichtet, steht bereits der Umzugswagen vor der Haustür. Ein Kollege verspricht, der Mannschaft stärkere Impulse zu geben, das Letzte aus den verwöhnten Kickern herauszuholen, trotz 20 Punkten Rückstand noch den Champions-League-Platz zu erreichen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, und es ist einfacher, den Übungsleiter zu wechseln, als kurzfristig die Mannschaft auszutauschen. Also greifen die Mechanismen des Geschäfts, wie eine beliebte Fußballreporterphrase weiß.
Dabei zahlt sich eine langfristige Zusammenarbeit aus. Otto Rehhagel und Thomas Schaaf saßen jeweils 14 Jahre auf Bremens Trainerbank und feierten beachtliche Erfolge.
Doch bei 96 weht ein deutlich anderer Wind: Seit Bestehen der Bundesliga wechselte Hannover in 50 Jahren 46 Mal den Übungsleiter, was eine durchschnittliche Jobdauer von einem guten Jahr bedeutet. Eine Hausnummer, auf die man nicht unbedingt stolz sein kann. Fiffi Kronsbein durfte immerhin vier Mal in der schönsten Stadt der Welt anheuern.
Wen haben wir noch auf Hannovers Trainerbank gesehen? Feuerwehrleute mit oft leeren Schläuchen wie Jörg Berger, Peter Neururer oder Rolf Schafstall. Diethelm Ferner mit Schlafwagenfußball (1979–1982). Oder Bayern-Startrainer Tschik »Bin nix Lehrer für Deutsch, sondern für Futball« Čajkovski, der an den Kränzen von Vorschusslorbeeren fast erstickte. Wer kennt eigentlich noch Bernd Laube? Der betreute die Mannschaft 1989 satte zwölf Tage als Interimstrainer.
Doch natürlich gab es auch gute Übungsleiter. Gerne erinnern wir uns an Werner Biskup, Reinhold Fanz oder Ralf Rangnick, die spannenden Offensivfußball spielen ließen. Ewald Lienen blieb zwar nur ein gutes Jahr an der Leine, konnte aber mit solider fußballerischer Hausmannskost überzeugen. Trainerfuchs Michael Lorkowski formte aus einer durchschnittlichen Zweitligamannschaft den DFB-Pokalsieger 1992.
Erst in den letzten Jahren wurde wieder Wert auf eine langfristige Zusammenarbeit mit den Trainern gelegt. Dieter Hecking durfte die Roten ganze drei Jahre betreuen (2006–2009).
Die meisten Bundesligaspiele hat der aktuelle Übungsleiter Mirko Slomka mit den Roten absolviert (118 / Stand 18.05.2013). Wir hoffen, dass er noch lange mit der Mannschaft arbeiten darf und das Team zu ungeahnten Höhenflügen motiviert. Schließlich liegt die letzte Meisterschaft fast 60 Jahre zurück. Auch Champions-League-Spiele konnten wir in der schönsten Stadt der Welt noch nicht bestaunen. Es ist also noch Luft nach oben.
Eine Mannschaft mit einzigartigem Spielsystem entwickelt ein Trainer nicht in einer Saison. Die erst nach einigen Spielzeiten erzielten Erfolge von Jürgen Klopp bei Borussia Dortmund und Jupp Heynckes bei Bayern München demonstrieren das Erfolgspotenzial einer auf Vertrauen bauenden Ehe zwischen Trainer und Verein. Wir Roten können uns natürlich nicht mit den Möglichkeiten der Großen Zwei des Deutschen Fußballs messen. Never give up dreaming …
»11 Freunde: Im Sommer 2010 könnten Sie sogar Weltmeister werden.
Robert Enke: Ich weiß nicht, was bis dahin passiert.«
(aus einem Interview mit dem Magazin »11 Freunde« im Dezember 2008)
Dieses wird wohl die schwierigste Passage dieses Buches. Flachsen geht gut, Hannover 96 und die Eigenarten und Schrägheiten seiner Spieler auf die Schippe nehmen, die größten Triumphe feiern ebenso. Auch Talfahrten lassen sich schreibend gut meistern. Aber welche Worte gibt es für diesen Tod, diesen selbst gewählten Tod von Robert Enke? Die Frage nach dem Warum wird immer bleiben, die Frage danach, was die ausschlaggebenden Punkte waren, die Robert Enke zu diesem letzten Schritt geführt haben: War es die Diskussion um ihn als möglichen Torwart der Fußball-Nationalmannschaft? War es der vermeintliche Konkurrenzdruck, dem sich Robert Enke ausgesetzt fühlte? Waren es die Empfehlungen, ein Weltklassetorwart müsse möglichst viele Erfahrungen in einem Weltklasseverein machen, und ihre Empfehler, die Robert Enke einen Wechsel zu einem anderen, renommierteren Fußballklub nahelegten? War es die Angst, was nach diesem möglichen Wechsel passieren könnte? War es die Wertung eines sehr bekannten Fußballtrainers, auf den viele hörten, Robert Enke sei ein Torwart ohne Ausstrahlung? War es vielleicht eine Mixtur von alldem, vermengt noch mit der Trauer um seine verstorbene kleine Tochter Lara? Wir werden es nie erfahren, und es ist letztlich auch nicht wichtig.
»Robert Enke ist tot, und sie glauben, es war Selbstmord«, begrüßte mich Michael, als ich am Abend des 10. November von einer Businessveranstaltung nach Hause kam. Von welcher, weiß ich nicht mehr; das ist auch nicht mehr wichtig. Aber Michaels versteinerte Miene und seine Fassungslosigkeit und Traurigkeit habe ich noch sehr gut abgespeichert. Wir alle haben unsere Robert-Enke-Erinnerungs-Geschichten vor unserem geistigen Auge. Und sie werden immer bleiben, weil diese Tage so einschneidend für uns waren wie unser ganz persönlicher 11. September. Gemeinsam trauern, sich in den Armen liegen, im Dunkeln durch die Stadt marschieren, vorm Stadion Kerzen anzünden, persönliche Devotionalien ablegen, Robert Enke die letzte Ehre erweisen.
Was bleibt, ist ein trauriges und aufrichtiges Danke.
Danke, Robert Enke, du warst ein großartiger Fußballer und Sportler. Deine Glanzparaden, aber vor allen Dingen deine Einstellung, deine Präsenz, deine Ausstrahlung und dein Mannschaftsgeist haben Hannover 96 über Jahre getragen. Die Mannschaft, der Verein und die Fans haben dich gebraucht. Du warst unsere Integrationsfigur. Und vermutlich hätte dich die Nationalmannschaft auch ebenso gut brauchen können. Die Einschätzungen der Spieler der Fußballbundesliga sprechen ja eine deutliche Sprache: Sie wählten dich mehrmals zum besten Torwart der Bundesliga. Für viele 96-Fans bleibst du mit Sicherheit für immer die »Torwart-Nummer-eins der Herzen«.
Danke, Robert Enke, du warst ein wundervoller Mensch. Deine Bescheidenheit und deine respektvolle, faire und ruhige Art haben wir bewundert. Und dein nachdenkliches, manchmal melancholisches Wesen hat uns gut getan. Dein Stolz, deine offen gezeigte Liebe und später deine Trauer um deine Tochter Lara haben uns berührt. Das zeigte uns, dass Helden nicht immer toughe Supermänner sein müssen.
Danke, Robert Enke, für dein Engagement. Viele Jahre hast du dich aktiv im Tierschutz engagiert und warst Botschafter für die Tierschutzorganisation PETA. Nach dem Tod deiner Tochter hast du eine Stiftung gegründet, die Kinder unterstützt, die an ähnlichen Herzerkrankungen leiden und litten wie deine verstorbene Tochter Lara.
Und was bleibt? Neben diesem traurigen und aufrichtigen Danke bleibt und wächst hoffentlich die Erkenntnis mit ihren Konsequenzen, dass es im Fußball und auch im Leben nicht immer nur um das bedingungslose »Höher, schneller, weiter« geht. Es geht um uns Menschen mit unseren Stärken und Schwächen, und es geht darum, dass wir gut miteinander leben und gut miteinander umgehen. Es geht darum, dass wir uns gestatten, uns wohlfühlen zu dürfen, ganz wie jeder von uns mag, und nicht den Erwartungen anderer gerecht werden zu müssen. Es geht um Toleranz und Respekt. Um Respekt und die Menschenfreundschaft, die Robert Enke anderen Menschen gegenüber stets gezeigt hat.
»Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen«, dichtete vor 200 Jahren ein großer deutscher Denker. Er kannte wohl Robert Enke ziemlich gut, denn genau das konnte er ziemlich hervorragend. Der Beste muss nicht immer der Glücklichste sein – und vor allen Dingen darf auch ein richtig Guter einmal Schwächen zeigen und sogar scheitern, ohne sich damit gleich selbst zu demontieren. Weil er genau an diesen Zweifeln, Schwächen und Niederlagen weiter wachsen wird. Wenn er sie zeigen darf. Vielleicht bleibt zumindest diese Erkenntnis. Und vielleicht schaffen wir es, aus dieser Erkenntnis eine Haltung zu entwickeln – zum Leben wie zum Fußball. Dass ein Mensch sich auch einmal schwach zeigen darf, ohne gleich dafür verurteilt zu werden. Vielleicht schaffen wir es irgendwann, so stark zu sein.
»Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« Mit diesen Worten des ehemaligen Präsidenten Václav Havel verabschiedete sich Teresa Enke in ihrer Traueranzeige von Robert. Und so ist es auch: Alles hat einen Sinn, und es ist gut so. Danke, Robert Enke, dafür, dass du so warst, wie du warst. Auch ganz zum Schluss.