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Was passiert, wenn Mann eine Frau mit Kind heiratet? Ein Stiefpapa erzählt aus seinem kunterbunten Alltag in einer Kleinfamilie. Als Michael Andrea heiratet, wird er Stiefvater des fünfjährigen Max. Die neue Rolle fordert dem Mittdreißiger alles ab, denn Kinder erklären sich die Welt in ihrer völlig eigenen Logik. Das Leben wird schlagartig turbulent, und Michael erkennt, dass Mann den Umgang mit Kindern nicht aus Büchern lernen kann, das Leben selbst aber umso amüsantere Lektionen schreibt. Was für eine Mutter selbstverständlich ist, stellt für Michael zunächst unüberwindbare Hürden dar: Max baden, ihn aus der Kita abholen (aber bitte pünktlich!) oder auch den Junior zu bekochen - und sei es nur mit Spaghetti bolognese, die ja jedes Kind immer mag. Woher soll Michael auch wissen, dass sich der Geschmack des Sprösslings stündlich ändert? Außerdem erschweren die liebe, aber manchmal auch anstrengende Verwandtschaft, Vermieter und Arbeitgeber das Leben der Kleinfamilie. Der früher geruhsame Singlealltag mutiert zum Abenteuerspiel. Michaels Singleleben ist vorbei. Mit Andrea und dem fünfjährigen Max hat er ein buntes Leben voller Herausforderungen geheiratet. In SEIT GESTERN HASSE ICH MÖHREN erzählt der Autor lustige Episoden rund um seinen verrückten und liebenswerten Familienalltag. Wie gelingt es Mann, trotzdem Fliegen zu fangen, auch wenn Sohn Max diese als Familienmitglieder sieht? Wie zaubert Mann Gerichte, die auch des Sohnes Gaumen erfreuen? Warum hilft Unfreundlichkeit beim Job im Elektromarkt gegenüber unangenehmen Kunden? Diese und viele andere Fragen beantwortet Michael Bresser in vielen kleinen humorvollen Geschichten, wie sie nur der Alltag einer Patchworkfamilie schreiben kann.
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Seitenzahl: 247
Michael Bresser
Für Steffi und Marten, die Liebsten in meinem Leben. Für Oma Waltraud, meine Schwestern, Schwäger, Schwägerin, Schwiegermutter, Tanten, Onkel und Nichten. Schön, dass ihr an unserem Leben teilhabt. Für alle Freunde, Freundinnen und Bekannte. Gut, dass es euch gibt. Für Opa Helmut und unbekannterweise Opa Joachim. Wir denken oft voller Liebe an euch.
Patchlife und ganz viel bunt – so schaut das liebe Beziehungsleben vieler Menschen heutzutage aus. Eine Tatsache, mit der einhergeht, dass nicht nur der neue Partner ins Leben tritt, sondern mit ihm auch dessen Kinder und weitere Anverwandte – einschließlich des Expartners und Ex-Ex und Ex-Ex-Expartners natürlich. Wenn man plötzlich Papa wird und sich darauf nicht neun Monate mental vorbereiten, geschweige denn langsam übers Windelwechseln, Flasche geben und Breichen füttern in seine neue Rolle hineinwachsen konnte, kann das den männlichen Part oft vor interessante Herausforderungen stellen und amüsante Erlebnisse bescheren. Auch die liebe Verwandtschaft sorgt für erheiternde Momente. Über und für all diese Facetten eines bunten, vielfältigen Familienlebens ist Seit gestern hasse ich Möhren geschrieben.
Geschichten, wie sie das Leben schreibt, Geschichten wie ich sie erlebt habe könnte, Geschichten, die Sie vielleicht in ähnlicher Form erlebt haben. Wenn dem so ist, bin ich erleichtert: Wir sind also nicht allein mit unserem chaotischen Leben, das vielleicht gerade deshalb so liebens- und lebenswert ist. Genau deshalb ist mir auch Michael, der Protagonist dieses Buches, so sympathisch. Nicht weil er den selben Namen trägt, sondern auch, weil er so ähnlich tickt wie ich selbst. Fast könnte ich es selbst sein. Aber ich muss Sie leider enttäuschen: Der Michael dieses Buches ist mein ausgeschmücktes Ich. Und genauso verhält es sich auch mit Andrea und Max und all den anderen Personen, die in all diesen kleinen Geschichten auftauchen. Sie haben schon verdammt viele Ähnlichkeiten mit meiner eigenen Familie. Ein Augenzwinkern hat sie einen Hauch anders gemacht. Ich kann Ihnen jedoch versichern: Im wahren Leben sind sie alle viel liebenswerter, gerade weil sie so sind, wie sie eben sind. Ich würde sie mit niemandem tauschen wollen. Sie sind die Lieben meines Lebens, das Salz in meiner Lebenssuppe. Und vielleicht halten auch Ihnen die Geschichten einen Spiegel vor und zeigen Ihnen, wie wertvoll, kostbar und bunt ihr Familienleben doch eigentlich ist, und welche wunderbaren Perlen und Schätze unser Alltag für uns bereit hält. Wir müssen es nur erkennen.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und viele lustige und erhellende Momente!
Ihr Michael Bresser
1. KAPITEL
1
Lachunterricht und Ratematik
In meiner Kindheit habe ich Hausaufgaben immer gemocht. Fast immer. Na gut, zumindest manchmal. Wahrscheinlich wird die Vergangenheit mit der Zeit beschönigt, aber die Erledigung der Hausaufgaben beendete das Pflichtprogramm des Tages, und ich durfte endlich mit meinen Freunden auf dem heruntergekommenen Bolzplatz in der Nachbarschaft Fußball spielen. Auch wenn Aufsätze über Ferien in der Bretagne und Plättchen schieben in Mengenlehre nicht zu meinen absoluten Tageshighlights gehörten: Was getan werden musste, wurde ohne großes Murren getan. Sagt jedenfalls meine Mutter.
Heute hasse ich Hausaufgaben, weil Max sie hasst, zumindest meistens. Manchmal machen sie auch unerwarteterweise Spaß, aber selten, schließlich hält diese lästige Tätigkeit genau wie Schlafen und Essen vom Spielen ab. Ein Stimmungstöter erster Güte.
»Max, wie viel ist 35 + 10? Das weißt du.«
»Gibt es Ufos nur in England?«
»Ich weiß noch nicht einmal, ob es in England welche gibt. Konzentrier dich bitte.«
»Fahren in diesen Ufos Außerirdische?«
»Ich weiß es nicht. 35 + 10 war unser Thema. Rechne bitte. Wir haben noch 30 weitere Aufgaben.«
»Ich werde später sowieso Lokführer, da brauche ich keine Mathematik. Ich muss nur fahren können.«
»Und wie willst du den Bremsweg berechnen?«
»Okay, dann werde ich Servicekraft bei der Deutschen Bahn. Da muss ich nur Essen in die Mikrowelle schieben. Das habe ich bei YouTube gesehen.«
»Aber du musst kassieren. Woher willst du ohne Mathematik wissen, wie viel Wechselgeld du dem Kunden geben musst?«
»Stimmt, das ist blöd. Also Koch.«
»Da musst du die Zutaten abwiegen. Das geht nur mit Mathematik. Du musst in jedem Beruf rechnen.«
Max überlegt.
»Dann werde ich gar nichts und bleibe immer bei euch wohnen. Ist doch auch schön.«
»Wir würden uns schon freuen, wenn du irgendwann deine eigenen Wege gehst. Und dafür brauchst du Mathematik. 35 + 7? Bitte!«
»War es nicht 35 + 10? 15.«
»Jetzt bin ich selbst durcheinander. 15 ist falsch. Bei beiden Aufgaben. Wie kommst du darauf?«
»Mathematik ist öde. Ich rechne lieber mit Ratematik. Sind Außerirdische eigentlich gefährlich?«
»Lass uns vielleicht lieber zuerst deine Sachunterrichtsaufgaben erledigen.«
»Lachunterricht, das liebe ich.«
Am Ende des Nachmittags hat Max zwar seine Sachkundeaufgaben erledigt, doch ich trage verzweifelt die Lösungen in Max’ Mathematikheft ein. Er hat mir fest versprochen, weder Andrea noch seinem Lehrer davon zu erzählen.
Als ich fertig bin, sagt er: »35 + 10 sind 45. Meinst du, ich weiß das nicht? Ratematik beherrsche ich in Perfektion. Nächste Woche schreibe ich übrigens einen Mathetest. Kommst du mit in die Schule und hilfst mir wieder?«
Ich überlege.
»Den würde ich auch mit Ratematik lösen, und darin bist du definitiv besser.«
2
Du kennst mich nicht
Ernährung ist ein schwieriges Thema. Nicht für Andrea und mich, wir verhalten uns gustatorisch flexibel. Laut meiner Mutter war ich bereits als Kind ein Allesesser. Wenn sie da nicht ihre Erinnerung trügt. Als Kind hasste ich jegliche Art von Kohlspeisen, und die gab es in meinem Elternhaus an jedem Tag. Selbst an Weihnachten! Nur am Geburtstag hatte ich freie Essenswahl und Eier mit Spinat wurden aufgefahren. Aber vielleicht irre ich mich genau wie meine Mutter. Wir selbst machen es natürlich besser und bieten unserem Kind die komplette Fülle geschmacklicher Genüsse. Irgendwann wird er uns das danken.
Stiefvater und Sohn sind abends allein. Andrea muss noch arbeiten. Ich habe den Jungen unter größter Anstrengung von Shaun dem Schaf losgeeist. Nun steht Max vor dem Kühlschrank. Zur Auswahl stehen Käse aus der Normandie, Holland, Irland und Italien. Salami, Mortadella und Meerrettichpastete aus niedersächsischer Erzeugung. Fruchtjoghurts, Schokopuddings, Knuspermüslis. Ein Schlaraffenland.
»Nichts zu essen da«, kommentiert unser Sprössling enttäuscht. »Da muss ich heute hungern.«
»Bitte? Der Kühlschrank ist doch pickepackevoll. Du kannst essen, was dein Herz begehrt.« Ich fasse es nicht.
Max zuckt gelangweilt die Schultern.
»Das macht mich alles nicht an. Ich esse trockenes Brot.«
Wenn er nicht will, kann ich ihn nicht zwingen, sein Brot belegt zu verspeisen, denke ich. Aber wenn er das anderen Kindern erzählt. »Meine Eltern geben mir nur trockenes Brot.« Ich kann mir vorstellen, wie sich diese Info gleich einem Lauffeuer bei den perfekten Müttern von Max’ Klassenkameraden verbreitet. »Was für Rabeneltern. Das muss man dem Jugendamt stecken.« – »Wenn ich es mir recht überlege, sieht er immer ein wenig blass und unterernährt aus.« Ich sehe schon eine verkniffene ältere Dame vom Jugendamt an der Tür klingeln und mich mit spitzem Finger vor die Brust piksen. »Sie wussten, dass ich komme. Nur deswegen liegen die ganzen Lebensmittel im Kühlschrank. Ich werde Ihnen den Jungen entziehen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Nein, das will ich nicht. Ich werde autoritär.
»Du belegst jetzt dein Brot. Keine weitere Diskussion. Sonst spielen wir nicht mehr nach dem Abendessen.«
»Na gut«, sagt Max missmutig. Ich lege ihm zwei Vollkorntoastscheiben aufs Frühstücksbrett.
»Ich will keinen Toast«, erklärt er und mümmelt bereits seine Käsescheibe.
»Wieso willst du keinen Toast? Wir kennen uns seit sechs Jahren. Du hast immer dieses Toastbrot gegessen.«
»Aber nicht gern. Ihr habt nur immer angenommen, dass ich das Zeug mag. Ist aber nicht so.«
Das Kind, das unbekannte Wesen. Kein Problem.
»Du kannst wie ich Leinsamenbrot essen.«
»Das ist mit Körnern! Körner mag ich nicht.«
»Seit wann denn das? Du futterst doch immer die Kürbiskerne von unseren Brötchen. Sind das keine Körner?«
Max überlegt. »Schon. Aber im Brot mag ich die nicht. Bei Papa gibt es viel leckereres Brot als bei euch.«
Jetzt werde ich sauer.
»Du bekommst auch bei uns jedes Brot, das dir schmeckt. Jedes! Welches Brot möchtest du?«
»50 Prozent Weizen, 50 Prozent Roggen.«
»Pass auf: Wir gehen beide jetzt in den Supermarkt und kaufen dein Lieblingsbrot. Ich lass mir nicht nachsagen, dass wir dich verhungern lassen.«
»Wir sollen noch mal raus? Nee, ich will lieber spielen. Heute kann ich noch mal Toastbrot essen. Den Belag esse ich aber vorher.«
EINE WOCHE SPÄTER
Bevor ich Andrea kennenlernte, füllte ich als Single meinen Magen mit Fertiggerichten. Vorzugsweise von bofrost*, aber die Weight-Watchers-Menüs habe ich auch verputzt. Ich liebe die Abwechslung. Andrea brachte mir bei, dass frisch zubereitetes Essen viel besser schmeckt. Nun haben wir beschlossen, uns gesünder zu ernähren. Deshalb haben wir eine Biogemüsekiste abonniert. Ein netter Fahrer bringt alle 14 Tage einen bunten Gemüsemix direkt ins Haus. Wir hätten sie auch wöchentlich bestellen können, doch wir wollen es nicht übertreiben. »Du könntest auch kochen. Es muss nicht alles an mir hängen bleiben«, meint Andrea. Sie hat recht. Wir sind beide berufstätig, also sollte auch die Hausarbeit gerecht geteilt werden. Allerdings hat sie 30 Jahre Erfahrung mehr. Aber Rezepte lesen und sich an die Anweisung halten kann nicht so schwer sein.
Heute ist Andrea zur Elternversammlung von Max’ Klasse. Da erfreue ich unseren Sohn mit selbst gemachten Spaghetti bolognese. Mittags habe ich Biohackfleisch im Supermarkt gekauft. Tomaten, Zwiebeln und Möhren stammen aus der Gemüsekiste. Dazu Vollkornnudeln. Da soll mir jemand nachsagen, dass ich unser Kind schlecht ernähre. Besser geht es nicht.
Während ich in der Küche die Soße zubereite, schleicht sich Max herein.
»Was machst du da?«, fragt er misstrauisch.
»Kochen. Dein Lieblingsessen Spaghetti bolognese.«
»Warum kocht Mama nicht?«
»Weil Mama auf dem Elternabend ist. Ich kann auch kochen.« Dabei lehne ich mich etwas weit aus dem Fenster. Aber wenn ich genügend Selbstvertrauen ausstrahle, glaubt es Max vielleicht auch.
»Seit wann das denn?« Leider durchschaut Max meine Strategie.
»Seit … Ach, ist doch egal. Ich lese schon seit vielen Jahren Kochbücher. Jetzt bin ich bereit, mein theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen.«
»Aha.« Max glaubt mir nicht, doch zum Glück ist Spielen wichtiger als Diskussionen über ein eigentlich uninteressantes Thema.
Eine Viertelstunde später rufe ich den Sohn zum Essen.
»Für mich keine Soße.«
Jetzt bin ich wirklich enttäuscht. Da machst du dir die Mühe …
»Warum? Das ist doch dein Lieblingsessen, oder?«
»Aber das hast du selbst gekocht.«
»Es schmeckt immer besser, wenn man selbst kocht«, behaupte ich. »Probiere wenigstens.«
»Man vielleicht, aber du?«
Widerwillig lässt sich Max einen Löffel voll Bolognese neben seine Nudeln schöpfen, schüttet Käse über das Gesamtkunstwerk. Ich esse den ersten Löffel und bin stolz auf mich. Die Soße ist nicht angebrannt und schmeckt genau wie eine Bolognesesoße schmecken soll. Finde ich.
»Papas Soße schmeckt besser.«
Meine vor Stolz geschwollene Brust sinkt wieder in sich zusammen.
»Warum denn das?«
»Der nimmt Fertigsoßen aus dem Glas. Die sind besser gewürzt.«
Ich verzweifele.
»Beim zweiten Löffel schmeckt es besser. Du musst einfach mehr davon essen.«
Vollkommen unlogisch, aber es hilft. Max nimmt sich noch einen Löffel Soße, und noch einen …
»Iiiiiih!«
»Was ist denn nun los?«
»Da sind ja Möhren drin!«
»Möhren gehören in eine Bolognesesoße. Außerdem magst du doch Möhren. Mama gibt dir jeden Tag eine mit in die Schule.«
Max schüttelt den Kopf. Deprimiert und enttäuscht.
»Du weißt aber auch gar nichts über mich. Seit gestern hasse ich Möhren.«
Ich habe wieder mal versagt.
Am Abend telefoniere ich mit meiner Schwester und rede mir den Frust von der Seele. Die tröstet mich. Meine kleine Nichte mag weder Obst noch Gemüse, bis auf Bananen. Bei der älteren Nichte wechselt der Geschmack täglich, sodass meine Schwester nicht weiß, was sie für die Kinder kochen soll. Vielleicht liegt das Rabenelterngen bei uns in der Familie.
3
Oma weint
Max und ich lieben Musik. Das verbindet. Wenn er AC/DC geil findet, insbesondere die Phase mit Bon Scott in den 1970ern, freut mich das. Ich weiß allerdings nicht genau, ob er das nur sagt, um mir eine Freude zu machen. Aber egal, ich freue mich trotzdem.
Jetzt singt Max im Chor, im Polizeichor genau genommen. Die Trachtenträger haben an Max’ Grundschule geworben und den Jungen begeistert. Das sollte ich als früherer Punkrocker ablehnen. Wer bereits als Kind mit der Staatsmacht schmettert, wird nie zum Rebellen. Andererseits soll Max allein entscheiden, was ihm Spaß macht. Hauptsache, meine Kumpels bekommen keinen Wind davon.
Schon bald steht das erste Konzert bevor. Im großen Saal des NDR-Landesfunkhauses, direkt am Maschsee. Dort spielen musikalische Schwergewichte wie Anne-Sophie Mutter, Frank Peter Zimmermann und Max. Ich platze vor Stolz. Mit meiner Punkband Kaputtwix habe ich früher nur vor 20 Besoffenen im Jugendzentrum unserer westfälischen Kleinstadt gespielt. Und die haben mit leeren Bierbechern nach uns geschmissen. Zum Glück haben sie uns meistens verfehlt. Max hingegen steht eine große Karriere bevor. Vielleicht landet er irgendwann bei den Thomanern und geht auf Welttournee. Vor meinem inneren Auge läuft unser Sprössling unter tosendem Applaus in ein Stadion in Rio de Janeiro und intoniert die brasilianische Nationalhymne vor einem Länderspiel. Die kleinen Mädchen schmeißen ihm Teddybären zu, Millionen Menschen bewundern ihn vor den Fernsehern. Selbst Angela Merkel winkt ihm huldvoll zu. Na gut, Ruhm hat auch Schattenseiten.
Doch vor dem Ruhm steht der Schweiß. Der ist in diesem Fall die sogenannte Prä-Generalprobe im Gemeindezentrum der Erlöserkirche. Zum ersten Mal sind Vorchor 1, Vorchor 2, Nachvorchor und Hauptchor vereint. Was heißt vereint? 30 bis 40 Jungen laufen, quatschen und johlen wild durcheinander. Alles normal. Bin ich froh, kein Lehrer geworden zu sein. Dann kommandiert Chorleiter Wiedemann die Jungs zusammen. Wir Eltern sollen auch ruhig sein! Sofort! Zu Befehl der Leutnant. Aber militärischer Ton hin oder her, der Mann hat die Jungs gut im Griff. Alle tanzen nach seiner Pfeife und intonieren brav Muss i denn zum Städtele hinaus. Obwohl ich musikalisch vielfältig interessiert bin, hasse ich volkstümliche Musik. Wenn allerdings der Sohn mitsingt, öffnet sich mein Herz.
Wenn der Sohn mitsingen würde! Wirklich alle Kinder mühen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, nur einer bewegt seinen Mund nicht, zappelt herum und zeigt dem Nachbarn Hasenohren. Mensch Max, reiß dich doch zusammen. Ich möchte auch nicht wie andere übereifrige Eltern erzieherisch eingreifen. Aus meiner Jugend weiß ich, wie peinlich Eltern sind, die immer ihren Senf dazugeben müssen. Also blicke ich lieber in mein Buch, als Max’ Fisimatenten zu beachten. Vielleicht beruhigt er sich dann.
Nach fünf Minuten linse ich über den Buchrand. Max knufft gerade den Nachbarsänger in die Seite. Kann ich das als Besserung werten? Doch da brauche ich mir keine Gedanken drüber zu machen, denn Wiedemann schickt Max nach draußen vor die Tür. Das ist mir peinlich. Andere Eltern scheinen schadenfroh zu grinsen. Ihr Kind ist immer brav. Na klar. Ich gehe zu Max. Der spielt unbekümmert vor sich hin. Ist schon faszinierend, dass sich Kinder völlig ohne Spielzeug beschäftigen können. Doch das ist jetzt völlig fehl am Platz.
»Max, ihr habt nächste Woche Konzert. Ich finde es nicht gut, dass du nicht ordentlich mit den anderen singst, Herr Wiedemann auch nicht.«
»Ich hatte heute nicht so große Lust. Wann gehen wir wieder schwimmen?«
»Lenk bitte nicht ab. Zu deinem Auftritt im großen Konzertsaal des NDR-Landesfunkhauses kommen Oma und diverse andere Verwandte. Die wären enttäuscht, wenn du nicht singen würdest. Vielleicht weint Oma.«
Wenn das nicht überzeugt.
»Vielleicht habe ich nächste Woche Lust. Kommen unsere Seelen in den Himmel, wenn die Welt untergeht?«
»Ich nehme es an. Aber die Welt geht nicht unter. Das verspreche ich dir. Geh jetzt bitte rein, entschuldige dich bei Herrn Wiedemann und sing vernünftig. Bitte.«
»Na gut, wenn ich dir damit einen Gefallen tue.«
Max setzt sich in der Pause auf seinen Platz im Chor. Wiedemann schaut ihn finster an. Er geht auf ihn zu, packt Max an der Schulter und redet auf ihn ein. Eindringlich. Und siehe da: Nach der Unterbrechung steht Max wie eine Eins, lässt sich nicht ablenken und trällert wie eine Lerche.
Auf dem Nachhauseweg frage ich: »Was hat Herr Wiedemann denn zu dir gesagt?«
»Nichts.«
»Komm, du hast dich doch auf einmal super verhalten. Irgendwas muss doch passiert sein.«
»Wir singen im Chor der Polizei, und Polizisten ziehen immer am gleichen Strang. Da darf keiner aus der Reihe tanzen. Da habe ich dann mitgemacht. Warum nicht.«
Okay, wenn es wirkt, ist mein Sohn mit acht Jahren Polizist. Und die Ansprache zeigt nachhaltige Wirkung. Auch das Konzert verläuft optimal. Max blickt starr ins Publikum und konzentriert sich auf seine Aufgabe. Vor auserkauftem Haus. Die ganze Familie platzt vor Stolz. Max hat seine Lektion gelernt. Konzentration und Teamgeist sind wichtig.
Zumindest weiß er das bis zu den nächsten Hausaufgaben.
»3 x 4, wie viel ist das?«
»Wusstest du schon, dass Walter Ulbricht einen eigenen Zug besaß?«
»Max, jetzt konzentrier dich bitte. Denk daran, du bist Polizist. Die lassen sich nicht ablenken.«
Max schaut mich an. Nachdenklich, und auch ein wenig mitleidig.
»Michael, du brauchst jetzt nicht zu wiederholen, was Herr Wiedemann gesagt hat. Ich weiß, dass ich kein Polizist, sondern nur ein achtjähriger Schüler bin. Das zieht bei mir nicht mehr.«
4
Glücksspiel in Lutter
Ich bin kein ängstlicher Typ. Doch manchmal denke ich, dass gesunde Vorsicht im Leben nicht schaden kann, denn Unheil kann immer und überall lauern. Es tarnt und versteckt sich, es wiegt dich in Sicherheit, doch Vorsicht: Irgendwann offenbart es seine hässliche Fratze.
Ich denke an den letzten Sonntag. Eigentlich ein harmloses Ereignis. Schwägerin Renate feiert ihren 39. Geburtstag im Deutschen Eck in Lutter. Ein pittoreskes Fachwerkhaus von draußen; drinnen zeugen unter anderem die angegilbten Fotos vom lokalen Männergesangsverein aus den 1950ern von einem Siechen zwischen Leben und Tod. Tendenz zu Letzterem. Immerhin dürfte die letzte Renovierung höchstens 30 Jahre zurückliegen. Die frühere Wirtin ist vor einem Jahr mit zarten 85 Lenzen in eine höhere Dimension übergesiedelt und hat bis zum letzten Atemzug das Lokal geführt. Seit einem Jahr nun braten Herbert und seine kroatische Freundin Vera Frikadellen und servieren Erdnüsse und Bier aus Überproduktionen beinahe bekannter Brauereien. Daher wird das Essen von einem anderen Lokal geordert.
Das einzig Bunte an diesem grauschwarz-beigen Ort blinkt rot-grün und piepst wie ein zehnjähriges Handy auf LSD: der Flipperautomat. Nun habe ich auch in meiner Jugend Metallkugeln in solchen Automaten herumgejagt. Wenn mein Taschengeld sich der Ebbe entgegenneigte, hörte ich auf.
Nach kurzer Zeit entdeckt Max dieses faszinierende Gerät. »Mama, hast du mal ’nen Euro?« Hat sie. Leider erschließt sich unserem Liebling nicht der komplette Sinn des Spieles. Er jagt die Kugeln den Inlane hoch und lässt sie von freudigem Lachen begleitet ins Outlane plumpsen. Ohne die Flipperfinger zu bedienen. Durch die unorthodoxe Technik dauert jedes Spiel nur wenige Sekunden. Hauptsache, der Junge hat seinen Spaß, denke ich zu diesem Zeitpunkt. »Oma, hast du mal ’nen Euro?« Wenig später. »Michael? Ein Euro für den Flipper?«
»Ich hab nur einen Zweier und Scheine.«
»Zweier geht auch. Einen Schein kann ich wechseln lassen. Super.«
»Nee, das finde ich doch ein wenig kostspielig. Vergnügt euch lieber mit etwas anderem«, zeige ich mich als Spielverderber. Findet er blöd, was aber noch lange kein Grund ist, die Flinte ins Korn zu werfen.
Man kann auch Leute anschnorren, die man nicht kennt. Für diesen Mut bewundere ich Max. Mit dieser Taktik ergattert er bestimmt fünf weitere Euros, die im gefräßigen Bauch des Spiderman-Flippers verschwinden. Schließlich versiegt die Spendenfreudigkeit der Partygäste, zumindest bei Max. Doch auf einmal fragt sein Cousin Florian seine Mutter »Mama, hast du mal ’nen Euro?« Klar hat sie. Florian läuft freudestrahlend zu Max, und die Steppkes klatschen sich ab.
Da überkommt mich ein spontaner Anfall, erzieherisch eingreifen zu müssen, denn die Angelegenheit droht finanziell auszuarten, und schließlich wissen Erwachsene viel besser als ihre Kinder, was für Gefahren von solch einem harmlos wirkenden Apparat ausgehen. »Glücksspiel kann süchtig machen, Max. Es gibt Menschen, die nur noch vor sich hin vegetierend Münzen in solche Automaten schmeißen, dabei das ganze Marlboro-Lager leerquarzen und ihre Leber in Jägermeister konservieren. Die können ihren Job als Lokführer nicht mehr ausüben. Und das willst du später doch werden.«
Er blickt mich erstaunt an. »Wieso Glücksspiel? Wenn ich den Ball hochschieße und herunterkugeln lasse, hat das nichts mit Glück zu tun. Das funktioniert genauso, wie ich es will.«
5
Gutmensch
Ich halte mich für einen Gutmenschen. Auch wenn dieser Begriff gern als Schimpfwort von rechten Populisten und Wutbürgern verwendet wird, adelt er mich. Ich habe muslimische Freunde, spende für meinen Fußballverein und bin nett zu meinen Mitmenschen, zumindest oft. Okay, öfter als der Durchschnitts-BILD-Zeitungs-Leser. Aber an manchen Tagen fällt mir diese Einstellung verdammt schwer.
Wir bekommen heute Besuch von den Schreiers. Die kennen wir nicht persönlich. Joe hat sie mir bei unserem letzten Stammtisch in Charlies Eck empfohlen.
»Wir treffen uns übrigens mit einer netten Familie aus der Wedemark. Bekannte von meiner Freundin Ingrid. Die haben Kinder in Max’ Alter, sind sozial engagiert und künstlerisch interessiert. Ihr würdet gut zusammenpassen«, erzählt er beim letzten Bier.
Ich überlege. Max freut sich bestimmt über Kinderbesuch. Und wenn wir auf einer Wellenlänge schwimmen, warum nicht. Ich lasse mir die Rufnummer der Schreiers geben und lade sie am nächsten Tag für Samstag zum Kaffee ein. Am Telefon klingt er nett, dieser David.
Es ist 14.30 Uhr. Andrea hat den kompletten Vormittag Kuchen gebacken. Reistorte mit Ananas, die wir alle sehr lieben. Kakao- und ein Schokokusskuchen für die Kinder. Es ist alles für einen vergnüglichen Nachmittag unter Freunden bereit.
Als es klingelt, stürmt Max die Treppe herunter. Er kommt mit David, Birte und drei Kindern zurück. Die Schreiers sind etwas jünger als wir, Mitte 30 schätze ich. David trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose, Birte eine weiße Bluse zu dunkelblauem Rock. Etwas steif, vielleicht hätte ich doch nicht das Motörhead-Longsleeve anziehen sollen. Die Kinder wirken auch wie aus dem Ei gepellt.
»Wir grüßen euch. Möge dies ein unvergesslicher Tag werden.« Birte reicht mir die Hand.
»Moin«, sagt Andrea. »Wir freuen uns.«
»Darf ich euch unseren Nachwuchs vorstellen? Josef ist neun.« Er zeigt auf den größten Jungen. Er trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose und sieht aus wie David in klein.
»Hallo, Josef.«
»Ich fühle mich geehrt, in Ihre Räumlichkeiten eingeladen zu werden«, entgegnet Josef.
»Wie gewählt er sich ausdrückt«, lacht Birte. »Josef besucht einen Debattierclub im Gymnasium, obwohl er noch zur Grundschule geht. Ein kleines Genie.«
Das verschüchterte Mädchen im karierten Rock und gelber Strumpfhose heißt Sarah. Jakob, der Kleinste, ist vier. »Er ist hochbegabt. Wir haben uns überlegt, ihn schon jetzt einzuschulen. Was meint ihr?«
»Wenn er so talentiert ist«, murmele ich. Andrea blickt mich an und zieht die Augenbraue hoch.
»Kommt doch erst mal herein«, sagt sie.
»Gern. Ist aber auch kalt draußen.« David reibt sich die Hände.
»Die durchschnittliche Temperatur im Dezember letzten Jahres lag bei 3,8 Grad. Die Tiefsttemperatur in Hannover bei – 2,1. Da zieht man sich entsprechend an, Papa«, weiß Josef.
»Recht hast du, mein Sohn. Wie könnten wir ohne dein Wissen überleben.« Bin ich froh, dass Max kein Klugschnacker ist.
Zehn Minuten später haben die Schreiers ihre Garderobe abgelegt. Wir sitzen mit Birte und David um den Wohnzimmertisch. Sarah und Jakob sind mit Max im Kinderzimmer verschwunden. Josef sitzt lieber bei den Erwachsenen, weil unsere Gespräche seinen Wortschatz bereichern.
»Und du bist Autor, sagt Joe. Er hat mir auch einen deiner Romane mitgegeben. Willst du ehrliche Kritik hören?«, fragt David. Eigentlich nicht. Dennoch sage ich: »Aber gern, konstruktive Ratschläge schaden nie.«
»Du versuchst auf Teufel komm raus witzig zu sein. Das wirkt verkrampft und schreckt die Leserschaft ab. Wir möchten kleine Bonmots zum Schmunzeln. Und dieser verrückte Handyverkäufer, der in das Haus seiner minderjährigen Kundin einbricht, um den Vertrag zurückzuholen, völlig unglaubwürdig. Nicht wahr, Birte?«
»Habe ich auch so empfunden. Sorry, Michael, das war nix.«
Ich weise darauf hin, dass in keinem meiner Romane ein Handyverkäufer eine Rolle spielt. Klingt eher nach Tommy Jaud. Aber die Schreiers schwören, dass es sich um mein Buch handelt. Ich gebe ihnen schließlich recht. War ein schwaches Buch von mir.
»Die Schriftstellerei ist nicht jedem vergönnt, Michael. Mir auch nicht, wenn es dich tröstet. Daher bin ich Lehrer geworden. Mir ist es wichtig, jungen Menschen zu helfen, ihren Platz im Leben zu finden. Spielt Max eigentlich ein Musikinstrument?«
»Etwas Keyboard. Das hat er sich selbst beigebracht«, erzählt Andrea.
»Prima, ein musikalischer Junge. Kann er uns etwas vorspielen?«
Warum nicht. Wir holen Max ins Wohnzimmer, der sich nur widerwillig vom Bahnspielen mit den Schreier-Kiddies trennt. Birte muss unterdessen zum Auto. Sie hätten etwas vergessen. Mir fehlt sie nicht, stelle ich fest.
Max intoniert auswendig Guten Abend, Gute Nacht. Wir platzen vor Stolz. Da klingelt es. Birte. Andrea öffnet ihr. Frau Schreier schleppt einem Gitarrenkoffer, Bongos und zwei Flöten in die Wohnung.
»Ganz nett, was euer Sohn da fabriziert hat, aber durchaus ausbaufähig.« David tätschelt Max’ Kopf, was dieser mit angenervter Miene über sich ergehen lässt.
»Wir machen auch ein wenig Hausmusik, schließlich zahlt es sich aus, dass alle Kinder zwei Instrumente lernen. Bei Profis.«
Vor unserem Fernseher baut sich die Schreier-Band auf. David an der Gitarre, Birte Flöte, Josef schlägt die Trommeln und Sarah flötet auch. Der kleine Jakob spielt nichts. Er lernt Klavier und lehnt es ab, auf unserem Keyboard zu spielen, da Plastiktasten den Anschlag verderben.
He’s got the whole world in his hand. Ich wusste gar nicht, dass der Song 15 Strophen hat. Obwohl es eigentlich perfekt klingt, hasse ich es. David und Birte schütteln rhythmisch ihre Körper wie Whoopi Goldberg auf Ecstasy. Das ist nicht schön.
»Ganz fein habt ihr das gemacht«, lobe ich gönnerhaft. »Aber den Flötenlehrer würde ich wechseln. Ich bin zwar absoluter Laie, manch unsauberen Ton habe ich dennoch herausgehört.«
Andrea tritt mich unter dem Tisch, aber das musste einfach gesagt werden. David schaut mich finster an, dann klärt sich seine Miene auf.
»Kritik eröffnet die Chance zum Wachstum. Schön, dass du ehrlich bist. Wir schauen uns nächste Woche nach einem neuen Musikpädagogen für Sarah um. Super.«
»Wollen wir nicht Kaffee trinken«, versucht meine Frau, die Situation zu entschärfen, weil sie merkt, wie ich innerlich koche.
»Oh, wir trinken keinen Kaffee«, sagte Birte. »Nur Tee aus biologischem Anbau. Wir sind gegen Umweltgifte allergisch.«
»Kein Problem. Haben wir auch.«
Nachdem wir die Kuchen aufgetragen haben, tritt die nächste Herausforderung auf.
»Sind die selbst gebacken?«, fragt Birte.
»Natürlich«, sage ich.
»Auch das Mehl selbst geschrotet? Industriemehl vertrage ich nicht.«
»Wir sind nämlich Selbstversorger«, erzählt David stolz. »Wir ernähren uns von dem, was unser Gärtchen uns bietet. Birte backt jeden Tag Brot aus selbst angebautem Korn. Unser Gemüse züchten wir auch. Gerade für Kinder in der Entwicklung ist eine gesunde Lebensweise unverzichtbar. Das wäre bestimmt auch für Max gut. Er macht einen nervösen Eindruck auf mich. Industriegifte!«
»Eigentlich ist Max ganz glücklich, so wie wir leben. Mit eigenem Korn können wir mitten in der Stadt nicht dienen. Also wollt ihr keinen Kuchen?«
»Wenn er vom Biobäcker ist, würden wir eine Ausnahme machen, nicht wahr, Schnuffelchen?«
»Ja, die Männer könnten zum Biobäcker gehen«, stimmt Birte zu.
»Ich gehe allein«, sage ich rasch. »Das will ich David nicht zumuten. Bei der Kälte.«
»Da wäre ich dir echt dankbar«, stimmt der mir glücklich zu. »Wir beide können noch beste Freunde werden, was, Michael.«
»Beste Freunde. Das habe ich auch gerade gedacht«, lüge ich, ohne rot zu werden.
Ich fahre eine halbe Stunde nach Linden zur Biobäckerei. Währenddessen verfluche ich mich unentwegt, mich mit diesen Wichtigtuern verabredet zu haben. Freunde suche ich mir in Zukunft selbst aus. Als ich vor der Biobäckerei stehe, kommt mir eine Idee. Für einen Euro bekomme ich einige Verpackungen. Da sind die jungen Damen sehr zuvorkommend. Dann gehe ich zum Billig-Back-Shop nebenan und hole zwei Kuchen. Die verpacke ich mit den Biobäckerei-Verpackungen. Das ist kindisch, macht aber Spaß.
Wieder zu Hause, tische ich den vermeintlichen Ökokuchen auf.
»Da schmeckt man gleich den Unterschied«, doziert Birte. »Fast wie zu Hause«, schwärmt David.
»Vielleicht schrotet Andrea bald auch Körner. Außerdem solltest du Max eine Holzeisenbahn tischlern. Die sind einfach zu fertigen und viel gesünder für den Jungen als dieses Plastikzeugs. Bei uns kommt kein gekauftes Spielzeug ins Haus.«
»Das ist übrigens kein Biokuchen«, platzt es aus mir heraus. »Die hatten sich nur die Verpackung von dort geborgt. Der Biobäcker hatte geschlossen.«
Triumphierend schaue ich David an. Jetzt wird er wutentbrannt seine Gabel hinschmeißen und mit seiner Superfamilie im Schlepptau aus unserem Leben verschwinden.
David und Birte sehen sich tief in die Augen.
»Michael, wir wissen doch spätestens seit deinem Handyverkäufer-Roman, dass du einen Sinn für schlechte Späße hast. Es schmeckt hervorragend. Wir wissen, was Bio ist. So gut wie mit euch haben wir uns übrigens schon lange nicht mehr unterhalten. Wir treffen uns von nun an regelmäßig. Was haltet ihr davon?«
Als uns die Schreiers verlassen haben, beschließen wir, am nächsten Tag unsere Telefonnummer zu wechseln.
Ich rufe Joe an. »Was habe ich dir getan, dass du mir solche Leute auf den Hals hetzt?«
»Du hast meinen Geburtstag vergessen. Dafür solltest du einen kleinen Denkzettel erhalten.«
»Tut mir leid«, murmele ich. »Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Aber musste die Strafe so hart sein?«
»Quatsch, ich hatte gar keinen Geburtstag. Reiner Selbstschutz. Die Schreiers hatten angefangen, sich bei uns einzunisten. Und diesen Bio-Kram kann ich nicht ab. Ingrid schon, die vermisst die Vollhorste auch. Sonst sind sie sonntags immer bei uns aufgelaufen.«