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Ludwig Rellstabs historischer Roman "1812" entführt den Leser in das dramatische Jahr 1812 in Europa, geprägt von Napoleon Bonapartes Feldzug gegen Russland. Der Autor zeichnet ein detailliertes Bild dieser historischen Ereignisse und verwebt sie geschickt mit fiktiven Charakteren und Handlungssträngen. Rellstabs literarischer Stil ist geprägt von einer präzisen Beschreibung der Schlachten und politischen Intrigen, die das Schicksal der Nationen bestimmen. Dieses Werk stellt einen wichtigen Beitrag zur historischen Fiktion dar und fasziniert mit seiner Mischung aus Fakten und Fiktion. Ludwig Rellstab, selbst Historiker und Kenner der napoleonischen Kriege, bringt in "1812" sein umfangreiches Wissen und seine Leidenschaft für die Geschichte ein. Als Experte für diese Epoche konnte er authentische Details in die Handlung einbauen und die Figuren mit historischer Genauigkeit zum Leben erwecken. Rellstab zeigt in diesem Buch sein Talent, historische Ereignisse mit fiktionalen Elementen zu verbinden und so eine fesselnde Erzählung zu schaffen. "1812" ist ein Muss für Liebhaber historischer Romane, die sich für die napoleonischen Kriege und die politischen Intrigen dieser Zeit interessieren. Ludwig Rellstabs packende Darstellung der Ereignisse von 1812 und seiner fiktiven Charaktere machen dieses Buch zu einem spannenden und lehrreichen Leseerlebnis, das sowohl Unterhaltung bietet als auch tiefe Einblicke in die historischen Gegebenheiten gewährt.
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An einem lauen Aprilabende des Jahres 1812 traf Ludwig Rosen, ein junger Deutscher, eben mit der sinkenden Sonne vor dem Städtchen Duomo d'Ossola am Abhang des Simplon ein. Er war zu Fuß von Baveno am Lago Maggiore ausgegangen, und daher ziemlich ermüdet, wiewohl seine Wanderung durch dieses reizende Gartengelände, das die hohe Mauer der Alpen stets vor dem rauhen Nordwinde schützt, nichts weniger als beschwerlich gewesen war, sondern ihn auf jedem Schritte mit neuen Freuden und Genüssen überrascht hatte. Er würde diese noch lebhafter empfunden haben, wenn er nicht aus dem südlichern Italien gekommen wäre, nachdem er den Winter teils in Sizilien und Neapel, teils in Rom zugebracht hatte. Gern hätte er länger in diesem schönen Lande der Freude geweilt, das selbst, während das ganze Festland von furchtbaren Stürmen des Krieges erschüttert wurde, seinen Charakter einer durch den nächsten Schutz der Götter behüteten, heitern Zufluchtsstätte der Künste wenigstens für den Fremden zu bewahren gewußt hatte; allein eben jene gewaltigen Begebenheiten, welche die beiden Hälften des übrigen Europa gegeneinander in Waffen riefen, forderten auch ihn zu einer beschleunigten Rückkehr auf. Seine Mutter und Schwester lebten in Dresden in weiblicher Stille und Zurückgezogenheit; mehr aus Neigung als durch die Umstände dazu gezwungen, da das Vermögen der Mutter ihr eine unabhängige, wenngleich nicht glänzende Lage gewährte. Den Vater hatte Ludwig schon in seiner Kindheit verloren. Wie, wußte er selbst nicht, denn die Mutter hatte zwar bisweilen einige Andeutungen von dem unglücklichen Schicksale desselben gegeben, sich aber niemals näher darüber erklärt. – Die vier letzten Jahre waren, wiewohl traurig genug, doch wenigstens so ruhig für Norddeutschland gewesen, daß zwei einzelne Frauen sich auch ohne besondern männlichen Schutz den Ereignissen des Lebens gewachsen fühlen konnten. Jetzt aber rückten die Kolonnen der französischen Heere wieder auf allen Landstraßen vor; Deutschland war mit dem beginnenden Frühling aufs neue in ein Feldlager verwandelt. Deshalb kehrte Ludwig zurück, denn sein Herz trieb ihn an, in so bedenklicher Zeit der Mutter, die überdies, wie ihm die Schwester schrieb, an einem besorglichen Brustübel kränkelte, ratend und schützend zur Seite zu stehen. Er gehorchte dieser Stimme der Pflicht, obgleich mit schwerem Herzen. Nicht daß Italien ihn so unwiderstehlich gefesselt hätte, sondern weil ihm bangte, sein unglückliches, entwürdigtes Vaterland zu betreten, in dem er tiefere und schwerer zu heilende Wunden entdeckte, als das Schwert der Franken demselben geschlagen hatte. Ludwig befand sich in dem für Glück und Schmerzen empfänglichsten Alter; er war dreiundzwanzig Jahre alt. Seine Seele neigte sich früh zum Ernst, denn sie reifte unter ernsten Geschicken. Die Jahre der Studien, welche andere in sorglosester Heiterkeit zuzubringen, sich höchstens bei den Büchern einigermaßen zu sammeln pflegen, waren für ihn eine Zeit strenger Schule gewesen. Denn kaum an dem Trost der Wissenschaften vermochten damals deutsche Jünglinge von ernsterm Gemüte sich einigermaßen freudig emporzurichten, so niederschlagend war der Blick auf die Gegenwart, war die Aussicht auf die Zukunft. Ein Jahr lang hatte er nun sein Vaterland nicht betreten, seit zwei Jahren Mutter und Schwester nicht gesehen; denn von Heidelberg aus, wo er das letzte Jahr seiner Studien zubrachte, hatte er seine Reise angetreten. Jetzt stand er wieder vor der schneebedeckten, riesigen Grenzmauer, welche die ernste deutsche Erde von den Fluren des heitern Italien scheidet. Ach, wie schlug ihm das Herz nach allem, was er jenseit der Alpen liebte und verehrte, wie drängte es ihn nach den lieben Armen der Seinigen, nach den Heiligtümern des vaterländischen Herdes! Aber was er liebte, war in Trauer eingehüllt, was er verehrte, schmachvoll entweiht! Darum scheute sich sein Fuß vor der Heimat, zu der doch das ganze Herz ihn sehnend hinzog.
Mit diesen Gefühlen in der Brust näherte er sich dem freundlichen Städtchen, dem letzten Orte Italiens, der ihm ein Obdach gewähren sollte. Ein Hügel zur Seite des Weges lockte ihn, denselben zu besteigen; um noch einmal, bevor die letzte italienische Sonne ihm unterginge, einen Scheideblick auf das schöne Land zu werfen, das ihm oft so schmeichelnden, süßen Trost für die Schmerzen seiner Seele geboten hatte. Er schritt durch das duftende, frisch aufgeschossene, hohe Gras hindurch, geradeswegs dem Gipfel zu. Von oben sah er mitten in das Städtchen hinein, das, wie stets im Süden, mit der Abendstunde erst recht belebt wurde. Auf den Feldern grünte alles im reichsten, nicht einmal mehr im ersten Schmucke des Lenzes, während jenseits jener hohen Bergkolosse, die hinter der Stadt aufstiegen, vielleicht die Blüten noch im dumpfen Winterschlaf lagen. Hier aber prangten die Ulmen, die Kastanien in der Fülle des Laubes, ein gewürzig duftender Teppich, mit Tausenden von wilden Nelken und Aurikeln besät, dehnte sich über die Wiesen hin; das Getreide war bereits hoch aufgeschossen, ja, selbst die Rebe hatte sich schon mit dem vollen Schmucke ihres breiten Laubes bekleidet und zierte die Giebelseiten der reinlichen Häuser. – Ludwig konnte zur Rechten weithin die Landstraße übersehen, zur Linken lagen Markt und Gassen von Duomo d'Ossola fast zu seinen Füßen. Er sah die fröhlichen, zwanglosen italienischen Mädchen mit ihren breiten Strohhüten auf dem Markte lustwandeln, deutlich konnte er den Kram einer Fruchthändlerin, die ihre Körbe mit Orangen und Feigen vor sich aufgestellt hatte, erkennen, Knaben schlugen den Ballon gewandt in die Lüfte, französische Dragoner, von denen ein Pikett in der Stadt stand, saßen auf einer Bank vor dem Wachthause und schwatzten. Er hörte das fern brausende Getöse der durcheinander schwirrenden Stimmen jubelnder Knaben, lachender Mädchen, ausrufender Verkäufer; ja, sogar einzelne Töne von den Gesängen eines Zitherspielers, der einen großen Kreis von Hörern um sich versammelt hatte, drangen durch die Stille des Abends zu ihm herüber. Dieses kleine, bunte, verworrene Treiben menschlicher Lust und Betriebsamkeit stach wunderbar gegen den majestätischen Ernst, die feierliche Stille des Hochgebirges ab, das sich steil, mächtig, den Fuß und Gürtel in bläuliche Nebel gehüllt, dicht hinter dem Städtchen auftürmte und die Schneehäupter in den Wolken verbarg.
Ludwig stand in Gedanken verloren. Plötzlich weckte ihn der Schall eines Posthorns, und munterer Peitschenknall schlug an sein Ohr. Ein mit vier Pferden bespannter offener Reisewagen kam die Landstraße von Baveno daher und rollte dem Städtchen zu. Es saßen zwei Frauen darin. Die eine, ältere, war offenbar eine Dienerin. Die jüngere, deren dunkles Gewand durch ein weißes, leichtes Spitzentuch gehoben wurde, trug über dem Strohhut einen grünen Reiseschleier, den sie eben zurückschlug, so daß er im Luftzug rückwärts flatterte. Dieser Anblick weckte eine lebhafte Erinnerung in Ludwig auf. Gerade bei seinem Eintritt in Italien, als er über den Großen Bernhard in das Tal von Aosta hinabstieg, hatte er ein weibliches Wesen getroffen, dessen Bild ihm nicht verloren gegangen war und für welches er ein ähnliches Zeichen des äußern Erkennens in der Vorstellung trug. Damals nämlich sah er beim Besteigen des Berges, kurz vor dem Hospizium, vor sich eine Karawane, wie es schien, von reisenden Engländern, unter denen ihm eine auf dem Maultiere sitzende schlanke weibliche Gestalt auffiel, die sich das Antlitz, um gegen den blendenden Glanz des Schnees geschützt zu sein, durch einen grünen Schleier verhüllt hatte. Obwohl die Reisenden sich nur wenige hundert Schritte vor ihm befanden, und er, von einem seltsam lebhaften Gefühl getrieben, sich bestrebte, sie einzuholen, so gelang es ihm dennoch nicht, da sie zwar nur durch einen kurzen Raum, aber durch einen mühsam zurückzulegenden Weg von ihm getrennt waren. So blieb der grüne Schleier ihm ein leuchtender Zielpunkt auf den weißen Schneefeldern, bis er in der Pforte des Hospiziums verschwand. Er hoffte, abends an der Tafel den Gegenstand seiner ahnungsvollen Teilnahme kennen zu lernen; doch vergeblich. Nach dem, was er hörte, vermutete er, daß die Unpäßlichkeit einer ältern Dame, wahrscheinlich der Mutter des jungen Mädchens, die Ursache sei, weshalb beide in ihrem Gemache blieben. Am andern Morgen hatten die Reisenden ungewöhnlich frühzeitig ihren Weg fortgesetzt. Ludwig erfuhr es kaum, als ihn ein Gefühl der Sehnsucht nach der Fremden ergriff, das er selbst belächeln mußte, welches ihn aber dennoch mit einem unwiderstehlichen Reiz antrieb, ihr so rasch als möglich zu folgen, obgleich es anfangs seine Absicht gewesen war, einen Tag im Hospizium zu verweilen. Ein junger, rüstiger Wanderer, wie er war, mußte er, zumal abwärts, eine Karawane englischer, mit vielem Gepäck belasteter Reisender bald einholen. In der Tat entdeckte er auch schon nach wenigen Stunden bei einer Wendung des Tales, die einen weiten Blick abwärts gestattete, den grünen Schleier, dieses magisch lockende Zeichen, nach dem sein Auge spähte, tief unter sich, wie er im Sonnenschein aus der Ferne her schimmerte und leuchtete. Nunmehr blieb derselbe das Banner der Hoffnung, unter dem er seinen Einzug in Italiens Fluren hielt; er folgte ihm mit unablässiger Anstrengung; allein der vielfach gewundene Weg rückte ihm das Ziel seines Strebens bei jeder neuen Windung wieder aus dem Auge. Wie glücklich aber war er, wenn er nun die nächste Biegung erreicht hatte und es dann näher vor sich erblickte! So dauerte das neckende Spielwerk fort, bis er in die tiefern Regionen des Berges gelangte, wo der Pfad ebener und zuletzt für die schmalen Gebirgswagen fahrbar wird.
Jetzt war er den Wandernden so nahe, daß er sie hätte anrufen können; der Weg schlug sich noch einmal um eine scharf vorspringende Felsecke; er eilte, sie zu erreichen, und hoffte von nun an der Wandergenosse der Reisenden zu werden. Doch als er umbog, sah er kaum hundert Schritte vor sich ein mit Reben dicht umsponnenes Häuschen, vor dessen Tür zwei Sesselwagen hielten, wie man sich deren hier im Gebirge zu bedienen pflegte. Der Führer, welcher das Maultier der holden Unbekannten geleitet hatte, half derselben soeben absteigen, und ein ältlicher Herr bot ihr sofort den Arm, um sie an den char à banc zu führen. So sollte sie in demselben Augenblicke, wo Ludwig sie zu erreichen hoffte, ihm ganz entrissen werden? Zu lange hatte seine Phantasie sich mit dem reizenden Abenteuer beschäftigt und sich romantische Zauberschlösser gebaut, als daß er diesen Raub an seinem eingebildeten Glück so leicht hätte ertragen können. Fast bestürzt, eilte er hastig vorwärts; nur einmal wollte er das Antlitz des lieblichen Genius sehen, der ihn an wunderbaren Zauberfäden in das Land der Künste und der Schönheit eingeführt hatte. Dennoch wäre sein Bestreben vergeblich gewesen, hätte nicht ein Zufall, in dem er einen neuen Wink des Schicksals erkennen wollte, ihm Beistand geleistet. Plötzlich sah er nämlich, trotz seiner Eile, etwas Glänzendes im Wege liegen. Es war ein Armband mit einem goldenen Schloß. Entzückt hob er es auf, weil dieser Fund ihm die Veranlassung bot, dem Wagen, der schon davonzurollen drohte, ein lautes Halt nachzurufen. Zugleich winkte er mit der Hand zum Zeichen, daß er etwas wolle. Die Führer, welche die Reisenden begleitet hatten, wandten sich um und kamen ihm entgegen; er aber eilte hastig an ihnen vorüber und an den Wagen, wo die verschleierte Dame saß. »Sollte ich so glücklich sein,« redete er sie in der Gewohnheit, seine Muttersprache zu gebrauchen, deutsch an, obgleich er sie fortdauernd für eine Engländerin gehalten hatte; »sollte ich so glücklich sein, Ihnen ein verlorenes Gut zurückstellen zu können?« Dabei reichte er ihr das Armband dar. Die junge Dame warf einen überraschenden Blick auf den Finder und dann auf die eigene Hand, wo sie erst jetzt die leere Stelle entdeckte. »Es ist in der Tat das meinige,« erwiderte sie; »ich danke Ihnen sehr.« Der Klang dieser Worte überraschte Ludwig auf ganz eigene Weise, denn sie wurden zwar geläufig und mit ungemeinem Wohllaut, aber doch mit Beimischung eines fremdartigen Akzents, der sogleich die Ausländerin verriet, gesprochen. Er fühlte, daß er errötete, und hob daher das Auge nur scheu zu der Sprechenden empor, die eben, was sie schon früher, als Ludwig herantrat, tun wollte, den Schleier unbefangen zurückschlug. Als er das holde Antlitz so plötzlich unverhüllt erblickte, brachte der milde Glanz ihrer Schönheit ihn in die äußerste Verwirrung. Es war ihm, als sei plötzlich eine Heilige vor ihn getreten, so durchdrang ein Gefühl süßer Beklemmung und Ehrfurcht seine Brust. Ihr blaues Augenpaar, von langen Wimpern beschattet, weilte mit dem Ausdruck der Unschuld und Güte auf ihm. Ein freundliches Lächeln schwebte ihr um die Lippen, und ein so sanfter, edler Reiz waltete in ihren Zügen, daß Ludwig von überwältigender Rührung unwiderstehlich ergriffen wurde. Vergeblich suchte er ein Wort der Erwiderung; zu dem Erröten der Überraschung gesellte sich noch das der Verlegenheit. Als berühre der Widerschein seiner Glut das Antlitz der Unbekannten, überflog auch ihre Wangen jetzt ein flüchtiger Rosenschimmer; sie verbeugte sich, freundlich, aber befangen grüßend. Der Herr neben ihr zog seinen Hut ab, und der Wagen rasselte davon. Bestürzt folgte ihm Ludwig mit unverwandten Blicken und bemerkte es kaum, daß noch eine zweite, ältere Dame, ebenfalls in männlicher Begleitung, den andern Wagen bestieg und an ihm vorüberfuhr. Sein Auge heftete sich an den grünen Schleier, den er jetzt im Winde flattern und ferner und ferner verschwinden sah. Lange stand er so, bis die letzte Spur der Wagen verschwunden, bis die Staubwolke, die sich hinter ihnen erhob, wieder gefallen war. Es war ihm, als habe er geträumt! – – Das holde Bild verließ ihn nicht mehr. In ganz Italien suchte er es auf; doch umsonst. Trat es auch vor der Fülle der reizenden Gegenstände, die sein begeisterter Sinn mit allem Feuer der Jugend in sich aufnahm, in den Hintergrund, immer leuchtete es doch wieder von Zeit zu Zeit hell auf, und die leisesten Anklänge ähnlicher Erscheinungen riefen es mit ganzer Lebhaftigkeit in seine Seele zurück.
Und jetzt, als er auf der Ausgangsschwelle des romantischen Landes stand wie damals an dessen Eingang, jetzt erblickte er plötzlich, unvermutet, dieses Wahrzeichen seines Glücks, seiner Hoffnungen aufs neue! Kaum war er daher jener Reisenden ansichtig geworden, als er mit hochklopfendem Herzen den Hügel hinabeilte, um die flüchtige Erscheinung rasch zu ergreifen, ehe sie ihm wieder entschwinden möchte. Doch der Wagen, der wie ein Pfeil dahinrollte, war vorüber, bevor er die Chaussee gewonnen hatte. Ludwigs Spannung wuchs mit der Gefahr, seinen Wunsch (es war wohl mehr als ein Wunsch) nicht erreicht zu sehen. Im Städtchen mußten die Pferde gewechselt werden; dieser Umstand gab ihm die Hoffnung, daß er den Wagen noch einholen werde, bevor er wieder abführe. Denn das Glück, mit dem holden Wesen (und wußte er es denn auch, ob sie es war?) unter einem Dache übernachten zu können, wagte er sich kaum vorzuspiegeln. Er beschleunigte seine Schritte mehr und mehr; jetzt hatte er den freien Platz dem Wachthause gegenüber, wo der Gasthof lag, erreicht. Er sah den Wagen vor der Tür stehen, aber schon führte man neue Pferde herbei, um sie vorzulegen. Ein großer Kreis von Neugierigen hatte sich um die Reisenden versammelt. Ein Offizier, der von der Wache herkam, teilte die Menge und ging, ein Papier in der Hand haltend, auf den Wagen zu: die junge Dame mit dem grünen Schleier stieg bei seiner Annäherung aus und trat ihm einige Schritte entgegen. Der Offizier verneigte sich und sprach mit ihr, zwar sehr höflich, doch schien sein Achselzucken anzudeuten, daß er ihren Wünschen nicht willfahren könne. Ludwig näherte sich jetzt den Umstehenden; da jedoch die junge Dame, die dem Bilde seiner Erinnerung immer ähnlicher erschien, sich der entgegengesetzten Seite zugekehrt hatte, er aber um alles einen Augenblick erhaschen wollte, wo er ihr ins Angesicht sehen könnte, so umging er den Kreis der Versammelten und teilte ihn, von derjenigen Seite nach dem Wagen zutretend, wohin sie gewendet stand. Himmel, sie war es selbst! Nur bleich und ängstlich schienen ihre Züge, und sogar eine Träne war in dem schönen blauen Auge sichtbar. Von einem unbezwinglichen Gefühl getrieben, schritt Ludwig auf sie zu; so auffallend es sein mochte, er wollte die holde Gestalt, die ihn eingeführt hatte in Italiens schöne Wunder, beim Ausgange wieder begrüßen, wollte sie an den rasch vorübergeflogenen Augenblick jenes ersten Begegnens erinnern. Sein Mut dazu wuchs, da er sie unbegleitet sah; denn außer einem alten Diener, der vorn auf dem Bocke saß, und jener ältlichen Frau im Wagen, die ebenfalls allem Anschein nach nur in einem dienenden Verhältnis zur Reisenden stand, war niemand zu sehen. Hastig trat er daher aus dem etwas zurückgezogenen Kreise der Menge hervor. Ihr Blick fiel plötzlich auf ihn; da überflog ein so schneller freudiger Schreck ihre Züge, daß Ludwig keinen Augenblick zweifeln konnte, sie erkenne ihn wieder. Eben wollte er grüßen, die Lippen zur Anrede öffnen, als sie mit auffallender Hast die französischen Worte ausrief: »Voilà mon frère!« und ihm entgegeneilte. Ludwig, höchst bestürzt, ahnte ein Mißverständnis; doch bevor er sich faßte, ihr nur ein Wort entgegnen konnte, rief sie ihm italienisch, so daß alle Umstehenden es hörten, zu: »Gott sei Dank, Bruder, daß du kommst«, und setzte leise, aber hastig auf deutsch hinzu: »Ich bin verloren, wenn Sie mich verleugnen.« Ebenso schnell wandte sie sich zu dem Offizier zurück, nahm ihm das Papier aus der Hand und reichte es Ludwig, indem sie französisch sagte: »Dieser Herr will unsern Paß nicht gelten lassen, weil du nicht bei uns warst. Das kommt von deinen romantischen Seitenwegen, lieber Bruder! Sie sind Graf Wallersheim«, setzte sie leise deutsch hinzu.
Wie überrascht und bestürzt Ludwig durch das seltsame Abenteuer war, so begriff er doch schnell genug so viel davon, daß er es hier in der Gewalt habe, dem reizenden Wesen, das ängstlich, mit Tränen in den Augen vor ihm stand, einen wichtigen Dienst zu leisten. Er ging daher, ohne sich zu bedenken, auf die List ein und entgegnete: »Beruhige dich, liebe Schwester, ich werde schon mit dem Herrn sprechen.« Hierauf wandte er sich zu dem Offizier, und um Zeit zu gewinnen und einigermaßen das Verhältnis kennen zu lernen, sagte er ihm: »Ich muß Sie schon bitten, mein Herr, mir Ihre Bedenklichkeiten gegen unsern Paß zu wiederholen; Sie wissen wohl, daß Damen in solchen Angelegenheiten zu unerfahren sind.« – »Von diesem Augenblick an,« entgegnete der Offizier, »habe ich nicht die mindesten Bedenklichkeiten mehr. Sie waren aber im Paß als der Begleiter Ihrer Gräfin Schwester genannt, jedoch nicht zugegen. Er mußte mir daher unrichtig scheinen. Zwar sagte mir die Gräfin sogleich, daß Sie sich nur auf kurze Zeit entfernt hätten, um einen romantischen Seitenweg zu Fuß zu machen, und daß Sie den Wagen jenseits der Stadt wieder treffen würden; allein unsere Befehle sind für die Grenzorte, wie Duomo d'Ossola, so streng, daß ich gezwungen gewesen sein würde, die junge Dame zu bitten, so lange hier zu verweilen, bis Sie, Herr Graf, als der eigentliche Inhaber des Passes sich eingestellt hätten. Seien Sie aber versichert, daß ich es für meine Pflicht gehalten haben würde, einen meiner Leute auf die Straße nach Sempione zu senden, um Sie von dem Hindernis zu benachrichtigen. Indessen muß ich Sie doch warnen, sich nicht wieder von der Seite der Komtesse zu entfernen, da die Befehle, soweit unsere Bezirke reichen, überall von der Art sind, daß Sie leicht eine neue, ähnliche Unannehmlichkeit erfahren würden. Sind Sie erst über die schweizerische Grenze, so hört unsere Autorität freilich auf, und Sie werden mit freier Bequemlichkeit reisen können.«
Ludwig stand stumm vor Erstaunen, zumal da der alte Diener vom Bock abgestiegen war, ihm ohne Umstände die leichte Reisetasche, die ihm über die Schulter hing, abnahm, sie in den Wagen legte und ihn fragte, ob es ihm gefällig sei, einzusteigen. Verwirrt sagte er dem Offizier einige höfliche Worte und reichte ihm die Hand zum Abschiede. Der Diener schlug den Tritt des Wagens vollends herunter, der höfliche Franzose war der jungen Dame, die sich jetzt dicht in ihren grünen Schleier gehüllt hatte, beim Einsteigen behilflich, der Diener half Ludwig hinein, der Offizier verneigte sich tief, wiederholte sein bon voyage, Ludwig nahm, fast ohne zu wissen, was er tat, an der Seite seiner rätselhaften Unbekannten Platz – denn die Duenna hatte bescheiden den Rücksitz eingenommen –, und der Wagen rasselte dahin.
Solange man durch die Gassen des Städtchens fuhr und belebte Häuser am Wege standen, beobachtete die schöne Verschleierte das tiefste Schweigen, und den Versuch Ludwigs, sich durch eine Frage den Zusammenhang des höchst seltsamen Abenteuers, erklären zu lassen, lehnte sie durch einen stummen, ängstlichen Wink ab. Er blieb daher einige Minuten lang ganz seinen eigenen Vermutungen überlassen. In dieser Zeit fand er eine mögliche Auflösung des Rätsels, wenn auch nicht die wahre. Aller Wahrscheinlichkeit nach war seine Begleiterin eine Engländerin, vielleicht die Tochter eines Mannes von Bedeutung. Der neu ausbrechende Krieg hatte Haß und Wachsamkeit der Franzosen gegen die Einwohner dieses Landes verdoppelt; sie war daher mutmaßlich aus politischen Gründen genötigt, sich der List zu bedienen, um ein Land zu verlassen, das im Besitz der Feinde ihres Vaterlandes war, in dem man sie selbst vielleicht als Geisel betrachten und verhaften konnte. Ludwigs Herz schlug daher heftig vor Freude, daß die wunderbarsten Fügungen des Zufalls gerade ihn ersehen hatten, um einem Wesen, dessen süßer Reiz ihn so mächtig gerührt, ihn so lange in zarten, aber unzerreißbaren Fesseln gehalten hatte, diesen rettenden Dienst zu erweisen. Er richtete seinen Blick auf sie; sie saß sichtlich zitternd, beklemmt atmend neben ihm. Endlich verschwanden die letzten Häuser an der Seite des Weges, die Umgegend wurde einsam. Eine steil aufsteigende Strecke des Weges nötigte den Postillon, der aus dem Sattel fuhr, seinen raschen Trott in Schritt zu verwandeln, so daß das betäubende Rasseln des Wagens aufhörte. Da ergriff die schöne Verschleierte mit rascher Heftigkeit Ludwigs Hand, drückte sie warm und innig mit ihren beiden und sprach flüsternd aus beklommener Brust: »Sie sind mein Retter! Der Retter des Teuersten, was ich auf dieser Erde besitze!« Und wie erschöpft von der tödlichen Angst, von dem langen Zurückpressen der heftigsten Empfindungen in ihrer Brust, stieß sie schwer aufatmend ein gepreßtes Ach! aus, sank der ihr gegenübersitzenden Begleiterin an die Brust, umfaßte sie mit beiden Armen, verbarg das Haupt an ihre Schulter und brach in einen unaufhaltsamen Strom von Tränen aus.
Die ältere Begleiterin, obgleich sie in ihrer ganzen Haltung etwas Kaltes, Gemessenes hatte, schien jetzt doch auch bewegt. Sie suchte indessen die Weinende zu beruhigen, bediente sich aber dabei einer fremden Sprache, die Ludwig nicht verstand und sie auch nicht für undeutlich ausgesprochenes Englisch halten konnte. Die Unbekannte richtete sich wieder auf, schlug den Schleier zurück, um freier Luft zu schöpfen, richtete ihr blaues Auge gen Himmel und faltete die Hände über der Brust zu einem stummen Dankgebet. Ludwig, der sich gleichfalls im Innersten bewegt fühlte, wollte ihre heilige Rührung nicht unterbrechen und sah sie lange und erstaunt an. Sie erwiderte den Blick mit offener, reiner Gesinnung: »Wie soll ich Ihnen je vergelten!« sprach sie. »Vergelten?« entgegnete Ludwig lebhaft, aber mit inniger Betonung. »Das Schicksal bereitet mir auf die wunderbarste Weise ein Glück, das ich niemals zu träumen gewagt hätte, und Sie sprechen von Vergeltung? Etwa weil ich von Ihren Lippen den süßen Namen Bruder hörte? Was habe ich denn für Sie getan? Ich weiß nur, daß Sie einem Fremden, Unbekannten plötzlich, wie eine Göttin aus himmlischer Höhe, das überschwenglichste Glück bereitet haben!« – »Oh, Sie wissen nicht,« entgegnete sie, »was Sie für mich getan durch Ihr schnelles und gewagtes Verstehen!« – Sie wollte fortfahren, doch wurde sie durch den alten Diener unterbrochen, der sich umsah und einige fremdartige Worte zu ihr sprach, die sie ebenfalls in einer Ludwig völlig unbekannten Sprache erwiderte, und über welche er auch, da nur so wenige, noch dazu fast unverständlich leise Worte gewechselt wurden, gar keine Mutmaßung gewinnen konnte. Einigemal glaubte er spanische, dann wieder polnische Wortformen zu hören. Der Wagen rollte jetzt wieder rascher dahin, und das Gespräch war abermals unterbrochen. Indes mußte bald das fortwährende Ansteigen der auf der italienischen Seite ungleich steilern Simplonstraße beginnen; Ludwig setzte daher seine Wünsche um Enträtselung dieser Geheimnisse bis dahin aus.
Man erreichte eine freie Höhe, wo der Weg sich so bog, daß man noch einmal den Blick auf Italien zurückwerfen konnte. Das romantische Land lag in der Purpurglut der Abendröte da; die dunkeln, waldigen Vorgebirge der Alpen streckten sich weit in die blühenden Ebenen hinein; schäumende Bäche zogen silberne und goldene Straßen durch die Täler; das weiße, glänzende Städtchen am Fuße des Gebirges leuchtete hell auf dunkelm Grunde; die Ferne verschwand in purpurner Dämmerung und ließ keine deutlichen Umrisse mehr erkennen. »Leb' wohl!« sprach Ludwig bewegt. Auch seine Gefährtin wandte das schöne Antlitz noch einmal dem Eden zu, das sie verlassen mußte, eine sanfte Rührung verklärte ihre Züge; die Lippen schienen über eine Träne zu lächeln, die den blauen Kristall des Auges plötzlich mit feuchtem Schimmer überglänzte. »Leb' wohl«, wiederholte sie mit süßem Wohllaut und winkte leicht mit der Hand hinüber. Es war ein bewegter, aber kein tiefschmerzender, kein zerreißen- der Abschiedsgruß. – Da die Straße nunmehr ganz steil anstieg, so daß der Wagen sich nur langsam fortbewegte, trat endlich der Augenblick ein, wo sich Ruhe genug zu einem Gespräche fand. Ludwig wollte nun seine Frage über das seltsame Ereignis wiederholen, als seine Gefährtin schon unaufgefordert begann:
»Sie müssen ganz erstaunt sein über das, was Ihnen begegnet ist; doch die jetzt alle Länder und Völker erschütternden Verhältnisse führen auch den einzelnen oft in verhängnisvolle, seltsame Lagen. Eine solche ist die meinige. Schon gab ich mich verloren, ach und ich zitterte für ein teureres Gut als mein Leben, als der Himmel Sie zu meinem Retter sandte. Werden Sie mir aber Ihren Beistand auch ferner leisten wollen?«
»Bis zu meinem letzten Atemzuge!« rief Ludwig fast heftig. – »Versprechen Sie nichts,« entgegnete die Unbekannte unterbrechend, »bis Sie wissen, was ich von Ihrer großmütigen Gesinnung erbitten muß. Sie würden noch länger für meinen Bruder gelten, mich bis nach Deutschland als solcher in unaufhaltsamer Reise begleiten müssen! Und – es ist nicht ohne Gefahr für Sie!«
Ludwig wies mit einem fast unwilligen Stolz, den Gedanken zurück, als könne irgendeine Gefahr ihn zurückschrecken. »Das wußte ich wohl und mußte es Ihnen zutrauen,« entgegnete die Unbekannte; »aber noch ein schwereres Geständnis habe ich Ihnen zu tun. Ich werde undankbar, ich werde niedrig argwöhnend vor Ihnen erscheinen müssen; denn ich muß Ihre Hilfe angehen, ohne Ihnen mein Geheimnis vertrauen zu dürfen, weil es nicht das meinige ist. Andere haben heiligere Rechte daran, und mich binden die strengsten, unerläßlichsten Pflichten. Kaum mehr, als Sie schon erraten haben müssen, darf ich Ihnen enthüllen; denn daß ich nicht die Gräfin Wallersheim, daß ich nicht einmal eine Deutsche bin, kann Ihnen nicht verborgen geblieben sein.«
»Aber mit welchem Namen darf ich Sie nennen? Wird Ihr Geschick Sie mir auf ewig verhüllen?« fragte Ludwig nicht ohne schmerzliche Betonung. – »Nein, ich hoffe es nicht,« entgegnete seine Begleiterin sanft; »und bis dahin nennen Sie mich Schwester, Bianka, wenn Sie wollen. Dieser Name muß Ihnen schon genügen.«
»Schwester! Bianka!« sprach Ludwig nach, und ein bebender Schauer des Entzückens durchdrang sein Herz. »Schwester! Schwester!« – die Stimme versagte ihm. Der heilige Name legte ihm das reizende Wesen so nahe an das Herz, raubte es ihm aber zugleich so unwiederbringlich, daß er bei dem Klange desselben das vollste Maß der Seligkeit und den tiefsten, bittersten Kelch der Schmerzen zugleich leerte. Und so war sein ganzes Finden der Geliebten. Die vertraulichste Nähe war ihm gestattet, doch zugleich hatte das Schicksal, dies ahnte er schon jetzt, eine furchtbare Kluft zwischen beiden aufgerissen, die sie um so weiter trennte, je inniger vereint sie schienen.
Er blickte sie an; es deuchte ihm, sie sei eine holde Traumgestalt, die ihm entschweben werde, wenn er erwache. Sein Herz schlug heftig; doch er bezwang sich, und stumm verschloß er den ahnungsvollen Schmerz in seiner Brust. Doch Bianka brach das Schweigen. »Sie dürfen mich nicht nur Schwester nennen,« sprach sie ein wenig errötend, »sondern Sie müssen es auch, wenn Sie mich nicht verraten wollen. Sie werden sich gewiß bald daran gewöhnen, sowie an das vertraute Du, das ich öffentlich von Ihnen zu fordern gezwungen bin, wenn Sie deutsch sprechen.«
Die Prüfung für Ludwig wurde immer schwerer. – »Wenn ich mich nur nicht vergesse«, sprach er verlegen.
»Sie werden es gewiß nicht,« entgegnete Bianka; »der Gedanke, daß ein leichtes Versehen für Sie und mich höchst gefährlich werden könnte, wird Sie gewiß immer warnen; und überdies sollen Sie es stets in meinen Zügen lesen, daß ich Sie an Ihre brüderlichen Pflichten erinnere. Doch ich muß Ihnen noch einiges über meine Lage entdecken. Sie sehen mich hier von meiner Jugendpflegerin und einem alten getreuen Diener unseres Hauses begleitet, den einzigen, die mein Geheimnis zum Teil kennen. Wir würden ohne alle Gefahr reisen, wenn nur diese die Mitwisser wären, doch zu unserm Unglück ist es leider schon verraten. Wissen Sie denn, daß bis Mailand ein anderer Ihre Stelle einnahm!« Hier stockte die Erzählerin. »Ein empörender Mißbrauch, den er von meiner Lage machen wollte,« fuhr sie hocherrötend fort, »zwang mich, den günstigen Augenblick zu nutzen, der sich mir zur Flucht auftat. Ich darf nicht zweifeln, daß er jetzt aus Rache zum Verräter geworden ist. Darum meine Eile, meine Todesangst unten im Städtchen; denn jeden Augenblick kann die Botschaft eintreffen, die unsere Verhaftung befiehlt. Zwar habe ich eine andere Straße eingeschlagen, als ich anfangs wollte, was die Unbestimmtheit des Passes, der nur von Rom über Florenz und Mailand nach Deutschland lautet, möglich machte, denn eigentlich hätte ich den Weg nach Verona nehmen sollen. Allein wie schnell ist das ermittelt! Wie leicht kann der Verräter selbst diese Mutmaßung hegen und uns daher auf zweien Straßen verfolgen lassen! Denn welche dritte wäre mir übriggeblieben? – Sie wissen nun, was, Sie wagen! Und ich muß Ihnen auch das sagen: man würde das Vergehen, dessen Sie sich schuldig machen, sehr streng bestrafen.«
»Das größeste aller Vergehen wäre das, hier feig zurückzutreten«, sprach Ludwig fest. »Ich weiß nicht,« setzte er bewegter hinzu, »ob es mich nicht noch glücklicher machen würde, für Sie zu leiden als für Sie zu wagen.«
Bianka schwieg. Die Nacht senkte sich tiefer herab und umhüllte die Gegenstände mit einem grauen dämmernden Schleier. Die Straße wurde steiler; schon stiegen die grotesken, zackigen Felsen von beiden Seiten auf, während in der Tiefe die Veriola schäumend und donnernd dahinschoß. Das großartige Schauspiel würde einen mächtigen Eindruck auf die Reisenden gemacht haben, wenn die Stimmung ihrer Gemüter eine ruhigere, dem Genuß empfänglichere gewesen wäre. Bianka schien überdies durch die Reise und durch die Angst, die sie erduldet hatte, erschöpft. Sie lehnte sich in die Ecke des Wagens zurück und sank in leisen Schlummer. Ludwigs aufgestürmte Seele ließ keinen Schlaf in sein Auge dringen, wiewohl auch er durch die lange Wanderung zu Fuß körperlich ermattet war. Die schauerlichen Wunder der Straße, die er zurücklegte, steigerten zwar das unruhige Wogen in seiner Brust, doch spiegelten sich Felsen, Abgrund und Wassersturz in seinem Auge nur wie in einem bewegten See ab: unbestimmt, verwischt, schwankend. Oft nahm er auch fast so wenig von diesen Bildern in sein Bewußtsein auf wie ein abspiegelndes Gewässer. Meist staunte er sie träumerisch an, und erst, wenn sie längst vorüber waren, tauchten sie ihm als dunkle, unbestimmte Erinnerungen auf, worüber er wieder die Eindrücke der nächsten Gegenwart verlor. Seine Seele sah ja nur Biankas Bild; er stand entzückt vor der hehren, sanften Gestalt einer Madonna; wie mochte er seine Augen fesselnd auf die Landschaft im Hintergrunde des Heiligenbildes heften, so wunderreich sie sich auch ausbreitete!
Es war dunkel, als sie über die erste schaurige, auf turmhohe Pfeiler gestützte Brücke rollten, unter welcher der Strom im tiefen Abgrund wie eine weiße Schlange dahinzischte. Bald danach erreichten sie eines der Posthäuser, wo die Pferde rasch gewechselt wurden. Bianka war in so festen Schlummer gesunken, daß sie auch dort nicht erwachte; es war, als ob ihre Seele dem neuen rettenden Freunde so fest vertraue, daß keine Unruhe, keine Sorge mehr sie quälte. Die Straße wurde immer wilder und schauerlicher, die Veriola schoß tosend im Abgrunde dahin; himmelhohe Felsmauern starrten schroff empor; nur wenige Sterne blinkten durch die schmale Spalte der tiefgeklüfteten Schlucht. Plötzlich bog sich der Weg scharf um, und Ludwigs erstauntes Auge sah ein weißes riesiges Gespenst vor sich, das furchtbar aufgerichtet an der schwarzen Felswand stand. Zugleich schlug ein dumpfer Donner an sein Ohr. Bianka erwachte von dem Getöse und rief erschreckt: »Gott! was ist das? Wo sind wir?«
»Es ist der Wasserfall am Eingange der großen Galerie«, sprach der alte Diener, sich umwendend. Indem hielt der Wagen und ein heller Lichtstrahl aus erleuchteten Fenstern fiel hinein. Der Postillon klatschte mit der Peitsche. »Was bedeutet das,« fragte Bianka ängstlich, »sollten wir hier angehalten werden?« – »Hier ist, soviel ich weiß, die Grenze der Lombardei; jenseits der kleinen Brücke vor uns befinden wir uns schon in der Schweiz«, entgegnete Ludwig. – »Gott sei gedankt!« rief Bianka und schöpfte tief Atem. »Nur noch bis dorthin verlaß mich nicht, gütiger Himmel!« setzte sie leise hinzu und erhob das schöne Auge gegen die Sternennacht über ihr.
Indem traten zwei in graue Mäntel gehüllte Gestalten an den Wagen, deren eine eine Laterne in der Hand trug; die hohen Helme mit Roßschweifen ließen französische Dragoner erkennen. »Votre passeport, Monsieur«, lautete die höfliche, aber kurze und entscheidende Frage.
»Den Paß, lieber Bruder«, sprach Bianka und drückte ihre Hand leise gegen seinen Arm, um ihm ein Zeichen zu geben, daß er sich nicht vergessen möge.
Ludwig zog das Papier aus der Brusttasche und reichte es hin. Sowenig hier eine Entdeckung zu fürchten war, so bewirkte das Bewußtsein seiner Lage doch, daß ihm der Puls rascher ging. Bei Tage würde ein aufmerksamer Beobachter die Unruhe in seinen Zügen bemerkt haben; er war an Abenteuer dieser Art nicht gewöhnt. Der Offizier ging mit dem Paß ins Haus; nach fünf Minuten kehrte er zurück und übergab ihn Ludwig mit den Worten: »Votre serviteur, Monsieur le comte!«
»Vorwärts!« rief der alte Diener, und der Wagen rollte fort über die Brücke auf den Wassersturz zu. Das Donnern desselben betäubte das Ohr, die weißen stäubenden Wolken umhüllten den Wagen wie mit dichtem Nebel. Plötzlich waren sie verschwunden und dichte Finsternis bedeckte die Reisenden; das Getöse des Wasserfalls und des Stroms vernahm man nur noch ganz dumpf. »Wo sind wir?« fragte Bianka.
»Ich glaube, im Gewölbe einer der Galerien, durch welche die Straße führt.«
»Das ist die Galerie von Frissinone«, ließ sich die Stimme des Postillons vernehmen, der sich nicht wenig darauf einbildete, die Schrecken und Wunder dieser Straße genau zu kennen und sie französisch namhaft zu machen.
Weder Bianka noch Ludwig hatten, da ihr Blick an dem Wassersturz hing, bemerkt, daß man in ein Felsentor eingefahren war. Der Wagen rückte langsam in dem Gewölbe vor, das auch nicht durch den leisesten Schimmer des Lichtes erhellt wurde. Plötzlich aber fiel ein dämmernder Schein von oben herab; erstaunt sahen die Reisenden aufwärts und erblickten einige schimmernde Sterne, die aber ebenso rasch wieder verschwanden. Man hatte sich unter einer Öffnung in der Schlucht befunden, die am Tage einiges dämmernde Licht in diese düstere Felsengruft wirft. Nach zehn Minuten erreichte man das Freie wieder.
Bianka atmete aus tiefer Brust. »Gott sei Dank!« sprach sie, »mir wurde doch ein wenig bange in der Schlucht. Aber wozu dient diese finstere Wölbung?«
»Hauptsächlich zum Schutz gegen die Lawinen, denn man hat sie meist an den Stellen angelegt, wo das Hinabstürzen derselben am häufigsten stattfindet; mehrfältig aber hat man auch durch dieses kühne Durchbrechen des Felsens einen bedeutenden Umweg erspart. Die ganze Straße ist ein Riesenwerk wie alle, die der kolossale Mann unternimmt, der mit so scharfem Blick die Wichtigkeit dieses Baues zur Verknüpfung seiner Völker erkannte. Was seit einem Jahrtausend dringender Wunsch gewesen war, und wovor zwanzig Geschlechter zurückbebten, weil die Aufgabe menschliche Kräfte zu übersteigen schien, das richtete dieser kühne, schöpferische Geist durch einen Wink ins Werk, nur weil sein mächtiger Wille es gebot.«
»Ich staune ihn an! Aber ich glaube doch, daß dieser düstere Genius furchtbarer im Verheeren als mächtig im Erschaffen ist«, entgegnete Bianka mit weiblichem Zurückbeben vor den kriegerischen Ereignissen, die sie bei ihren Worten im Sinne zu haben schien.
»Er zerstörte nur, um zu schaffen,« erwiderte Ludwig mit Feuer; »auf der Lava, die der Vulkan auswirft, blüht die reichste Flur empor!« – »Und gedenken Sie nicht derer, die unter dem Aschenstaub verschüttet liegen?« fragte Bianka. – Ludwig seufzte. Seine Seele war hier im Tiefsten getroffen. Wohl gedachte er der Verschütteten, gedachte er seines Vaterlandes; aber dennoch vermochte er nicht, seiner Bewunderung des Mannes, vor dem Europa bebte, zu entsagen. Dieser Streit in seiner Brust hatte ihn schon oft schmerzlich zerrissen, und jetzt ging er, durch die Rückkehr in seine Heimat, durch die Nähe des ungeheuern Krieges, dessen schwarzes Wettergewölk sich mit jedem Tage düsterer zusammenzog, neuen furchtbaren Kämpfen dieser Art entgegen.
»Wir sind geboren,« sprach er nach einer Pause mit leiser Stimme, »um die Schuld unserer Väter zu sühnen. Das eiserne Rad des Schicksals zermalmt uns; ach, ich weiß es nur zu wohl! Aber nicht auf die wälze ich die Schuld, die den Richterspruch der unvermeidlichen Nemesis vollstrecken. Die Geschichte hält ein strenges, schweres Strafgericht. Sie richtet nur Taten, nicht Täter. Darum büßen wir die Schuld der Vorfahren. Aber auch die eigene; denn dürfen wir uns von feiger Versunkenheit und Entartung freisprechen? Deutschland, – – o lassen Sie mich schweigen, denn mein Herz blutet, wenn ich daran denke!«
Beide schwiegen; da bog sich der Weg ein wenig nach Osten, und plötzlich glänzte ihnen der sanfte Mond, der im reinsten Äther zwischen zwei zackigen Berggipfeln schwebte, entgegen, gleichsam als ein freundliches Pfand der Gottheit, daß nach dem Sturm die Ruhe wiederkehren werde. Zugleich stiegen über der schwarzen, aus dem Schatten der Nacht aufwachsenden Felswand vor ihnen zwei silberweiße Schneehörner empor, die das Mondlicht glänzend zurückwarfen.
»O Gott!« hauchte Bianka aus tiefgerührter Brust, ergriff die Hand ihrer Pflegerin und deutete auf die Schneegipfel. Ludwig fühlte, daß warme, milde Tränen über seine Wangen rollten. Er drückte sich das Tuch vor die Augen und ließ nun dem süßen Strom, der ihm die beklemmte Brust erleichterte, freien Lauf.
»Der Gipfel links, das ist der Sempione«, erklärte der Postillon, indem er sich zu Biankas altem Diener wandte. – »Werden wir bald oben sein?« fragte dieser. – »Im Dorfe sind wir bald, dann haben wir noch zwei Stunden bis zum höchsten Gipfel, wo das Hospizium gebaut wird. Allein der Bau liegt schon seit einem Jahre still, denn es fehlt am Besten, am Gelde. Aber vorwärts!« Damit schwang er die Peitsche, und in kurzer Zeit hatte man das Dorf Sempione, das dicht unter dem Schneegipfel des Berges zu liegen scheint, erreicht.
Es war hier schon empfindlich kalt. Nur wenige Augenblicke verweilten die Reisenden, um sich durch eine flüchtig genossene Mahlzeit und ein Glas warmen Weines zu stärken, denn Bianka trieb fortwährend zur Eile an. Mit dem Frühling war es nun bald vorüber, denn nach kurzer Zeit befand man sich mitten im Schnee, der von beiden Seiten hoch aufgeschüttet war. Da die Straße nicht gar steil anstieg, so ging die Reise rasch vonstatten. Bald erreichte man den höchsten Gipfel, und nun rollte der Wagen mit Blitzesschnelle abwärts. Nach einigen Minuten hielt der Postillon an. »Was gibt's?« fragte Ludwig.
»Hm, Signore,« lautete die Antwort, »die Jahreszeit ist nicht die beste. Man muß vorsichtig sein. Wir haben warme Tage gehabt, und da stürzen die Lawinen herunter wie der Sperber auf die Lerche. Ich muß einen Schuß tun.« Er holte eine alte, rostige Muskete hervor und schoß in die Luft. Der Schall dröhnte weit durch die öden Berge und donnerte ein tausendfaches Echo nach; doch alsdann blieb alles still.
»Es wird gehen«, sprach der Postillon. und trieb seine Pferde an. Man war in ängstlicher Spannung, denn jeder malte sich im stillen die schauerlichen Schrecken eines Begräbnisses unter stürzenden Lawinen aus. In wenigen Augenblicken gingen alle die Erzählungen an der Erinnerung vorüber, welche die jugendliche Phantasie schon in den frühesten Jahren durch Berichte von diesen furchtbaren Naturereignissen in der Schweiz süßschauerlich aufgeregt hatten. Plötzlich donnerte und krachte es dumpf in der Höhe, »Dio santo!« rief der Postillon und sah empor. Zugleich aber setzte er dem Pferde, auf dem er ritt, die Sporen ein, schwang die Peitsche, und in betäubender Schnelligkeit rasselte der Wagen dahin. Bianka ergriff ängstlich die Hand der Pflegerin ihr gegenüber. Ludwig suchte Ruhe zu gewinnen und sprach: »Es wird keine Gefahr haben; diese Leute wissen sehr genau Bescheid und sind ungemein vorsichtig.«
Doch kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein furchtbares Krachen dicht über ihren Häuptern erscholl; es war, als stürze der Berg mit ihnen zusammen. Die Pferde bäumten sich und prallten scheu auf die Seite, so daß der Wagen hart an den Rand des Abgrundes geschleudert wurde. Doch der mutige Reiter verlor die Fassung nicht, sondern trieb sie mit Sporen und Peitsche vorwärts. Die Gefahr hinabzustürzen dauerte nur eine Sekunde; doch der größern war man noch nicht entronnen, denn jetzt krachte es fürchterlich rings um die Reisenden her, und sie sahen sich plötzlich in eine weiße Wolke gehüllt. Der Boden bebte, ein gewaltiger Druck der Luft schleuderte Ludwig von dem Sitz herab, Bianka hing in bewußtloser Angst am Halse ihrer Pflegerin. Die weiße Wolke verdunkelte sich schnell wie zu dichten schwarzen Rauchwirbeln; einen Augenblick danach hielt der Wagen mit einem heftigen Stoß an, als ob ein Schiff auf ein Felsenriff geriete. Die Achsen knarrten, beide Frauen schrien laut auf, selbst Ludwig vermochte einen Ausruf des Schreckens nicht zu unterdrücken. Undurchdringliche Finsternis verhüllte jetzt alles ringsumher. Noch einige Augenblicke vernahm man das Getöse des rollenden Donners, dann verlor es sich dumpf, und plötzlich war alles still und finster wie die Gruft.
»Das war Rettung aus dem Rachen des Löwen!« rief jetzt der Postillon. »Wir haben noch glücklich die Galerie erreicht.« Diese Worte erfüllten die von Entsetzen Erstarrten mit neuem Leben. »Wir sind nicht verschüttet?« rief Ludwig freudig. – »Die Lawine muß dicht hinter uns heruntergeschossen sein,« antwortete der Postillon, »denn die Eissplitter und der Schneestaub haben uns ja fast blind gemacht. Aber eine Achse oder gar alle zwei wird es gekostet haben, denn ich spüre wohl, daß wir etwas hart an die Felswand geraten sind. Es war aber auch kein Spaß, im vollen Galopp in das enge Loch einzufahren, und noch dazu im Finstern!«
Ludwig hörte die letzten Worte des Postillons nicht mehr, weil er fühlte, daß Bianka an ihm niedersank und er die Ohnmächtige in seinen Armen auffing. »Um des Himmels willen, Schwester,« rief er, indem er sie mit beklommener Seligkeit sanft an sich drückte; »Schwester, was ist dir?« – Sie antwortete nicht; überhaupt ließ sich kein Laut vernehmen. Ludwig bebte schaudernd zusammen. Hatte der entsetzenvolle Augenblick allen zugleich das Leben geraubt? Indem erhellten Funken das Dunkel. Es war der Postillon, welcher Feuer anschlug; bei dem zuckenden Lichtschimmer sah er, daß Bianka bleich, mit geschlossenen Augen und Lippen in seinen Armen lag, und auch die Pflegerin, wie es schien, bewußtlos auf den Sitz des Wagens zurückgesunken war. »Licht, Licht!« rief er hastig. – »Gleich, Signore!«
Die Laterne war angezündet und erhellte das düstere Felsgewölbe der Galerie mit einem trüben Schimmer. Der Postillon hob sich in die Höhe und fragte: »Es hat doch niemand Schaden genommen? Aber der Teufel, wo ist denn der Bediente?« Erst jetzt bemerkte Ludwig, daß dieser fehle; er mußte gestürzt sein. »Wir müssen ihn aufsuchen«, rief er, und ließ die teuere Last, die er in seinen Armen hielt, sanft auf den Sitz des Wagens nieder. Dann sprang er hinaus, um mit dem Postillon gemeinschaftlich den Verunglückten aufzusuchen. Dies war schnell geschehen, denn sie fanden ihn dicht am Eingange der Galerie besinnungslos auf dem felsigen Boden liegen. An der Stirn blutete er zwar ein wenig, doch war die Verletzung nicht bedeutend, auch schien er sonst nicht verwundet zu sein. Der Postillon wusch ihm mit einer Handvoll Schnee, den der Wind an den Seitenwänden der Galerie angetrieben hatte, die blutende Stirn, während Ludwig ihn aufzurichten und zu erwecken bemüht war. Der Alte fand die Besinnung schnell wieder. »Wo bin ich?« fragte er mehr erstaunt als erschöpft. Ludwig nahm sich nicht die Zeit, ihm zu antworten, sondern eilte, die Laterne in der Hand, zu Bianka zurück. Sie schien, sanft in den Wagen zurückgelehnt, nur leicht zu schlummern, so still und lieblich waren ihre Züge. Als ihr der Schimmer des Lichts, das Ludwig auf den Rücksitz des Wagens gestellt hatte, ins Auge fiel, öffnete sie es, schloß es aber, geblendet, ebenso rasch wieder und atmete tief auf. Ludwig ergriff ihre Hand und nannte leise, aber mit Innigkeit ihren Namen; sie schlug das Auge groß auf. Dann fragte sie fremd, noch halb in ihre Träume versunken: »Wer ruft mich denn?«
»Dein Bruder, Bianka«, sprach Ludwig tief gerührt.
»Bruder! Bruder!« rief sie noch bewußtlos ängstlich aus, neigte sich bebend vorwärts und lehnte sich sanft gegen Ludwigs Brust, der sie in seliger Überwältigung an sein Herz und einen leisen Kuß auf ihre Stirn drückte. Da fuhr sie, plötzlich erwachend, auf, sah ihn mit scheu staunenden Blicken an, und indem sie sich jungfräulich beschämt seinen Armen entwand, sprach sie: »Mein Gott! Die Betäubung – ich weiß nicht, was ich getan habe!« Indem fiel ihr Blick auf die Pflegerin, die noch besinnungslos mit zurückgesunkenem Haupt in der Ecke des Wagens saß. Ein Ausdruck des Schreckens überflog bei diesem Anblick ihre Züge; sie öffnete die Lippen zu einem Ausruf, aber er erstarb in einem gepreßten Seufzer. Da bewegte sich die Ohnmächtige und sprach einige fremdartige Worte aus. »Sie lebt! Sie lebt!« rief Bianka freudig und umschlang den Nacken der Zurückgesunkenen, indem sie sie liebend emporrichtete. »O meine Margarete, erkennst du mich?«
Ihre Umarmung war so innig, daß Ludwig ahnen mußte, es finde hier ein näheres Verhältnis als das zwischen Herrin und Dienerin statt. Doch bevor er sich einer bestimmten Mutmaßung bewußt wurde, richtete Bianka die ängstliche Frage an ihn: »Aber wo ist – um des Himmels willen –« Ludwig erriet, was sie wollte, und unterbrach sie durch die Nachricht, daß der Diener keinen Schaden genommen habe. Indem kam dieser mit dem Postillon heran. Bianka machte eine rasche Bewegung ihm entgegen; der Diener verbeugte sich mit Ehrfurcht und sprach ernst: »Ich freue mich, daß die gnädigste Herrschaft keinen Schaden genommen hat; auch ich bin der Gefahr noch glücklich genug entgangen.«
Man sah in Biankas Zügen, daß eine seltsame Bewegung in ihrem Innern vorging; sie schien auf das heftigste mit einem Wunsche zu kämpfen, den sie schwer bezwang. Der alte Diener war jedoch nicht sonderlich aufmerksam auf sie und meinte kurz abbrechend: »Jetzt müssen wir vor allen Dingen sehen, was der Wagen für Schaden genommen hat.« Dabei ergriff er die Laterne und leuchtete damit gegen die Achsen. Bianka sprach matt: »Ich kann mich noch gar nicht fassen, – ich weiß ja auch noch nicht, was uns begegnet ist, und wo wir jetzt sind.« Dabei neigte sie sich zärtlicher gegen die Brust ihrer Begleiterin, die jedoch ungleich kälter und gemessener gegen sie war, als ob sie sehr auf ihrer Hut sei, die Schranken des Standesverhältnisses vorwitzig zu überschreiten.
Ludwig erklärte in wenigen Worten, was vorgegangen war und wo man sich befinde. »Der Wagen ist nicht viel besser als in tausend Stücke zerschellt«, berichtete jetzt der Postillon, der gemeinschaftlich mit Paul, dem Diener, die Räder und Achsen untersuchte. »Die Herrschaft wird wohl ein wenig aussteigen müssen.«
Ludwig half den Frauen aus dem Wagen. »Wird uns der Unfall lange aufhalten?« fragte Bianka besorgt, indem sie zu den beiden Männern trat, die eben die Hinterachsen und Räder besahen.
»Je nun, Signora,« antwortete der Postillon, indem er die rote Mütze ehrerbietig abzog, »bis zum nächsten Posthause, vielleicht auch bis Brieg schleppen wir uns allenfalls hinunter; aber dort wird der Stellmacher wohl einen oder anderthalb Tage zu tun haben. Die rechte Vorderachse ist mitten voneinander geborsten und das Rad hält mit Not und Mühe noch die Speichen in der Nabe. Die Deichsel hat der Henker auch geholt; daß der Kasten schmählich zerfahren ist, will ich nicht einmal rechnen. Hinten geht's noch so leidlich, aber das rechte Rad hat auch gelitten.«
Bianka warf während dieses Berichts unruhige Blicke auf ihre Begleiterin und auf Paul. Der letztere fing endlich an: »Es wird sich noch machen lassen, gnädigste Gräfin; ich denke, wenn man Schmied und Rademacher gut bezahlt, so kommen wir mit einigen Stunden Aufenthalt davon. Freilich aber wäre jetzt keine Zeit zu verlieren.«
»Ja, mein Freund,« fing der Postillon an, »so können wir nicht vorwärts; ein paar junge Bäume müssen wir erst abschlagen: einen, um ihn unter die Achse, den andern, um ihn gegen die Deichsel zu binden. Es ist nur verwünscht, daß wir hier schwerlich passendes Holz finden, denn wenn ich mich jemals gut hier oben umgesehen habe, so wächst auf dieser Höhe noch kein Stamm, wie wir ihn brauchen; es ist nichts als krummes, verkrüppeltes Knieholz. Eine halbe Stunde weiter unten möchte es eher angehen.«
»So laß uns dahin,« erwiderte Paul; »denn vorwärts müssen wir, die Herrschaft hat große Eile.« Der Postillon stand unschlüssig. Ludwig glaubte, er wolle nach Art der Italiener erst sehen, wie hoch man ihm den außerordentlichen Dienst bezahlen werde, und versprach ihm daher eine ansehnliche Belohnung, wenn er den Wagen bald wieder instand setze. Doch der kleine Schwarzkopf mit dem Zigeunergesicht zog eine bedenkliche Miene und sprach: »Das ist freilich leicht gesagt, Monsignore, aber nicht leicht ausgeführt. Wenn um die jetzige Zeit erst die Lawinen zu stürzen anfangen, so ist man keine Viertelstunde sicher. Eine nach der andern setzt sich in Bewegung. Ja, wenn wir harten Frost hätten! Aber ich spüre Tauwetter, und da mag der Teufel trauen. Es könnte leicht sein, daß ihr hier lange vergeblich auf unsere Rückkehr wartetet. Bei Tage kann man sich eher vorsehen, auch hört gegen Morgen die Gefahr auf, denn was die Sonne am Tage locker geschmolzen hat, ist bis dahin heruntergestürzt, und sie muß dann erst neue Massen lostauen. Aber jetzt, bei Nacht, da ist das Ding nicht zu wagen!«
Ludwig ahnte, wie peinlich die Verzögerung der Reise für Bianka sein müsse, obwohl sie der dringendsten Gefahr bereits entronnen war. Er sprach daher entschlossen: »Ich begleite euch, wir wollen die Gefahr teilen.«
»Das wäre ganz gut, Monsignore,« antwortete der Postillon, ohne seine bedenkliche Miene zu ändern, »wenn wir's mit ein paar Galgenvögeln zu tun hätten, die am Wege hinterm Busch lauern. Aber die Lawine fragt nicht danach, ob wir zwei, oder drei, oder zwanzig sind. Sie macht reinen Tisch mit allen, die ihr in den Weg kommen!«
»So laßt's uns doch wenigstens versuchen, Freund«, sprach Ludwig, indem er die Laterne ergriff. »Ich will voran.« Bianka sah ihn mit einem dankbaren Blicke an, der ihn noch mehr in seinem Entschluß bestärkte. »Habt ihr ein Beil? « fragte er. – »Beil und Stricke liegen im Kasten unterm Bock«, erwiderte Paul, öffnete denselben und nahm das Beil heraus. »So komm, mein Freund, « sprach Ludwig fest zu dem Postillon; »der Bediente mag bei den Damen bleiben.« – »Nun so möge Sankt Borromäus uns beistehen«, rief der Postillon halb seufzend, halb verdrießlich.
Paul trat vor: »Wenn jemand gehen soll, Herr Graf, so bin ich es. Sie selbst bleiben dann zum Schutz der Damen zurück.« Bianka war unschlüssig, ob sie Ludwig bitten sollte, das Wagestück zu unterlassen. Doppelte, gleich mächtige, aber einander widerstreitende Pflichten und Gefühle kämpften in ihrer Seele. Seine Entschiedenheit ließ ihr keine Wahl. »Ich gehe selbst,« rief er mit freudigem Tone, »es bleibt, wie ich gesagt habe.« Mit diesen Worten ergriff er die Laterne und schritt vorwärts. Der Postillon folgte ihm. »Gott möge dich beschützen, mein Bruder«, rief ihm Bianka nach. Der Postillon nahm ihm jetzt, als des Weges kundiger, die Laterne aus der Hand. Kaum waren sie fünfzig Schritte gegangen, als er rief: »Santo Borromeo! Ich glaube, die Galerie ist gesperrt! Seht nur, Signore, der Ausgang ist ja ganz mit Schnee verrammelt. Die Lawine muß sich geteilt haben und von beiden Seiten der Galerie herabgestürzt sein. So sitzen wir wie die Maus in der Falle. Denn daß die Tür hinter uns zuschlug, haben wir, Gott sei's geklagt, nur zu deutlich gemerkt!«
Es war, wie der Postillon es sagte. Wenige Schritte vorwärts reichten hin, um Ludwig zu überzeugen, daß der Ausgang völlig verschüttet war. »Was fangen wir jetzt an?« fragte er, erschrocken, sich in der Höhle als Gefangener zu wissen. – »Was wir anfangen? Wir gehen zurück zu den Damen, denn hier können wir nicht heraus, bis wir herausgeholt werden«, erwiderte der Postillon. »Aber wird man uns befreien?« – »Pah! davor ist mir nicht bange. Sie müßten taub sein in Sempione und im nächsten Posthaus, wenn sie diese Lawine nicht gehört hätten. Und wenn ich morgen früh nicht mit meinen Pferden zurück bin, so suchen sie schon nach, wo ich stecke.«
Etwas beruhigt durch diese Antwort trat Ludwig den Rückweg zu den Damen an und berichtete ihnen, in welcher Lage man sich befinde. Bianka hörte ihn mit banger Seele an, doch mit ergebenem Gemüt richtete sie das Auge empor und sprach: »Wir müssen dulden, was Gott uns sendet; er selbst will jetzt unser Geschick entscheiden. Es sei denn – ich bin auf alles gefaßt!«
Der Postillon, der nichts Außerordentliches in dem Falle sah, wollte sie beruhigen. »Es hat keine Not, Signora, man wird uns schon herausholen, morgen mittag sind Sie frisch und gesund in Brieg, darauf verlassen Sie sich. Indessen wollen wir doch suchen, ein Zeichen zu geben. So viel Luft werden wir uns wohl durch den Schnee machen können, daß der Knall einer Muskete ins Freie fahren kann. Wenn sie uns im Posthause hören, das keine halbe Stunde mehr von hier entfernt ist, so läuten sie die Notglocken, und mit Tagesanbruch werden Leute genug hier sein, um uns herauszugraben. Denn höher als fünfzehn bis zwanzig Fuß bleibt der Schnee auf der schmalen Straße nicht liegen.«
Nach diesen Worten machte der muntere, gewandte Italiener sich gleich daran, um die Deichsel auszuheben, mit der er sich ein Luftloch durch den Schnee bohren wollte. Indem er aber damit beschäftigt war, hörte man einen fernen dumpfen Knall. Bianka fuhr zusammen. »Was bedeutet das?« fragte sie.
»Ihr werdet's gleich hören«, rief der Postillon und nahm die Stellung eines Aufhorchenden an. »Da habt ihr's! Sagt' ich's nicht? Es ist eine zweite Lawine.« Der Knall ließ sich verstärkt zwei-, dreimal rasch hintereinander hören, dann folgte ein lang anhaltendes schollerndes Getöse, wie wenn eine große Last von Steinen in den Abgrund rollte. Es kam immer näher; jetzt rasselte es dicht über den Häuptern der Lauschenden, als sollte die Decke der Galerie eingeschmettert werden. Bianka schmiegte sich ängstlich an Margareten an; auch die Männer verrieten Schrecken durch ihre erblassenden Wangen. Der Postillon aber lachte und rief: »Hier regnet's nicht durch!« – Das Getöse nahm nach und nach ab und verlor sich dann in ein dumpfes Sausen in der Tiefe, als ob ein ferner Strom wild über Felsentrümmer dahinbrause.
»Hab' ich nicht recht gehabt?« fragte der Postillon. »Wenn uns nicht zum Glück der Ausweg versperrt gewesen wäre, so möchten wir jetzt schwerlich den Eingang wiederfinden.« Bianka dankte Gott durch ein stummes Gebet, daß Ludwigs großmütiges Wagestück vereitelt worden war.
Indessen hatte der Postillon die Deichsel ausgehoben und band mit Pauls Hilfe ein Ortscheit gegen den Bruch derselben. Als sie auf diese Art hinlänglich instand gesetzt war, um damit den lockern Schnee zu durchbohren, machten sich beide auf, um an dem talwärts gerichteten Ende der Galerie eine Öffnung, ungefähr wie einen Schornstein, durchzuarbeiten. Ludwig und die Damen folgten ihnen, denn der Erfolg war zu wichtig für sie, als daß sie nicht die Arbeit fortwährend hätten beobachten sollen. Das Öffnen eines Luftloches geschah mittels einer trichterförmigen Bohrung, indem Paul und der Postillon die Deichsel fortwährend in kurzen Bogen umdrehten. Nach wenigen Minuten stürzte aus der erweiterten Öffnung eine große Last Schnee herab. »Aha!« rief der Postillon, »wir haben genug miniert, die Decke ist eingestürzt.« Zugleich beugte er sich unter das Loch und rief: »Wahrlich, der Mond scheint gerade zu dem Fenster herein. Wenn ich jetzt schießen will, muß ich ihn ordentlich aufs Korn nehmen.« Ludwig hatte die Büchse gleich mitgenommen und einstweilen geladen.
»Wir wollen noch ein paar starke Pfropfen aufsetzen,« meinte der Postillon, »damit es besser knallt«, und holte einige Stücke altes Papier aus der Tasche, die er fest zusammenkaute und mit dem Ladestock einstampfte. »So; jetzt aber,« sprach er, »muß ich ein wenig emporgehoben werden, damit ich mit der Mündung möglichst ins Freie lange, sonst hört man den Schuß nicht weit genug.« Ohne Umstände ließ er sich auf Pauls und Ludwigs Schultern heben und schoß nun sein Feuergewehr ab. Es gab einen im Gewölbe stark widerhallenden Knall, und deutlich hörte man, wie die Berge ihn fortpflanzten. »Bravo, Bravissimo!« rief der Postillon, sich selbst lobend. »Aber jetzt heißt's da capo, sonst versteht man's nicht.« Er lud und schoß aufs neue, und zum drittenmal. »So,« rief er, »nun hat's gute Wege, jetzt werden wir nicht vergessen werden. Damit aber die Luft hier etwas besser werde, wollen wir an der andern Seite auch ein wenig nachhelfen.« Er ging mit seiner Deichselstange nach dem andern Ende der Galerie und bohrte ein ähnliches Loch in den Schnee. Indessen nahmen die Frauen und Ludwig wieder im Wagen Platz, um in Geduld den Anbruch des Tages zu erwarten. Schon nach wenigen Minuten hörten sie den fernen Schall eines Glöckleins. Es war die Glocke, mit der von Posthaus zu Posthaus das Zeichen gegeben wird, daß jemand auf der Straße in Not ist. So war denn ihre Rettung gesichert, und sie hätten ruhig die Stunde derselben erwarten dürfen, wenn nicht durch die Verzögerung die Gefahren welche den Reisenden drohten, gleich der steigenden Flut des Meeres immer mächtiger angewachsen wären. Noch zweimal ließ sich der Donner stürzender Lawinen, doch in größerer Ferne, vernehmen und mischte so die Schauer zerstörender Naturereignisse in die bangen Empfindungen, welche Biankas Brust erfüllten. Für Ludwig war jede Minute des längern Verweilens an der Seite der Geliebten in diesem vertraulich dunkeln Zufluchtsort ein köstlicher Gewinn. So ungleich wägt das Schicksal seine Gaben in derselben Schale zu!
Gegen Morgen hatte die überwältigende Müdigkeit jedes Auge geschlossen, wie wach auch die Sorgen es lange erhalten haben mochten. Ein Schuß, dessen donnernder Hall die öde Stille unterbrach, erweckte die Reisenden plötzlich. »Das ist das Zeichen der Hilfe«, rief der Postillon, der seinen Platz neben Paul auf dem breiten Bock eingenommen hatte, und verwandelte durch dieses Wort Biankas Erschrecken in lebhafte Freude. »Wir müssen nun gleich Antwort geben«, setzte er hinzu und ergriff die Muskete, um sie zu laden, Er begab sich hierauf, von allen begleitet, an den nach Brieg zu gelegenen Ausgang der Galerie und schoß durch die Öffnung.
Gleich darauf ertönte ein lautes Geschrei vieler Männerstimmen ganz nahe an der Höhle. »Die Schneelage kann nicht breit sein«, rief der Postillon munter aus. »In kurzer Zeit sind wir vielleicht schon losgearbeitet.«
Es dauerte nicht zehn Minuten, so erschienen bereits einige Männer auf der Höhe des Schnees vor dem Ausgang der Galerie, so daß man mit ihnen sprechen konnte. Sie schaufelten bald eine Öffnung aus, durch die man zu Fuß auf die Straße gelangen konnte, wenngleich der Wagen noch nicht hätte hindurchkommen können. So war denn die Pforte des düstern Gefängnisses geöffnet.
Ludwig führte die Geliebte über den Schneehügel hinaus ins Freie. Mit stillem Entzücken begrüßten beide das holde Licht des Tages wieder. Aus der finstern Gruft traten sie in eine romantische Gegend, die man hätte reizend nennen können, wenn der Winter nicht noch hier oben Herr gewesen wäre. Vor ihnen öffnete sich zwar ein tiefes, stilles Tal; aber die Umgegend war mit schlanken Fichten grün bewachsen, und unten ganz in der Ferne und Tiefe sah man das freundliche Städtchen Brieg, von dem silbernen Bande der Rhone umschlungen, und dort grünte die Flur schon im reizenden Schmuck des Frühlings. Die Luft war nicht warm, aber doch milde, und die Sonne glänzte hell an einigen Schneegipfeln. Freilich das laue duftige Wehen der italienischen Frühlingslüfte, von denen man gestern geschieden war, traf man nicht mehr an, sondern nur ein tauender Februartag herrschte auf dieser Höhe. Daher sprach Bianka lächelnd: »Wir sind seit gestern um einige Monate jünger geworden; unten atmeten wir Mailuft, hier begrüßen uns höchstens die ersten Tage des März.«