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George Orwells geniales Meisterwerk und Vermächtnis erscheint in einer neuen und zeitgemäßen Übersetzung von Eike Schönfeld.
»Der Große Bruder wacht über dich« – eine lückenlose Überwachung durch Kameras und Monitore rund um die Uhr, Bespitzelung durch Freunde, Nachbarn und Kinder: Die Partei ist im öffentlichen wie im privaten Leben allgegenwärtig, nichts entgeht ihr. Geschichtsschreibung wird verfälscht und den aktuellen politischen Gegebenheiten angepasst; Individualität ist nicht erwünscht. Wer sich widersetzt, wird mit Folter oder mit Tod bestraft. Winston Smith, Mitarbeiter im »Ministerium für Wahrheit«, der das ausgeklügelte System durchschaut, versucht trotz aller Gefahren, sich einen Rest von persönlicher Freiheit zu bewahren. Als er sich dann noch verliebt, hat das fatale Folgen.
George Orwells dystopischer Roman 1984 – das düstere Szenario eines totalitären Überwachungsstaats, der jegliche Individualität zerstört, ist längst zum Klassiker geworden.
Schonungslos zeichnet George Orwell in dem 1948 entstandenen Roman das erschreckende Bild einer Gesellschaft, die alles und jeden rund um die Uhr überwacht und bis ins letzte Detail straff durchorganisiert ist. Mehr denn je können wir uns dem beklemmenden Wirklichkeitsbezug nur schwer entziehen.
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Seitenzahl: 481
George Orwell
1984
Roman
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Insel Verlag
Es war ein heller, kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gedrückt, um dem scheußlichen Wind zu entrinnen, schlüpfte rasch durch die Glastüren der Victory Mansions, wenn auch nicht rasch genug, um zu verhindern, dass ein sandiger Staubwirbel mit ihm hineingelangte.
Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Lumpenmatten. An einem Ende war ein farbiges Plakat, für drinnen eigentlich zu groß, an die Wand geheftet. Es zeigte lediglich ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht: das eines Mannes von ungefähr fünfundvierzig mit dickem, schwarzem Schnauzbart und groben, aber stattlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Sinnlos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst zu normalen Zeiten fuhr er nur selten, und zurzeit war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das war Teil der Sparkampagne zur Vorbereitung auf die Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und überm rechten Knöchel ein offenes Bein hatte, ging langsam und blieb sogar mehrmals stehen. Auf jedem Treppenabsatz, gegenüber dem Aufzugschacht, starrte das riesige Gesicht von dem Plakat an der Wand. Es war eines jener Bilder, die so gestaltet sind, dass einem die Augen überallhin folgten. DER GROSSE BRUDER HAT DICH IM BLICK stand darunter.
In der Wohnung verlas gerade eine sonore Stimme eine Liste mit Zahlen, die etwas mit der Produktion von Roheisen zu tun haben. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte gleich einem trüben Spiegel; sie bildete einen Teil der rechten Wandfläche. Winston drehte einen Schalter, worauf die Stimme sich etwas senkte, die Worte gleichwohl noch erkennbar waren. Das Gerät (der Bildschirm, wie es hieß) ließ sich leiser stellen, vollständig ausschalten jedoch nicht. Er trat ans Fenster: eine eher kleine, schwächliche Gestalt, deren Abgezehrtheit von dem blauen Overall, der Uniform der Partei, bloß noch verstärkt wurde. Er hatte sehr blonde Haare und ein von Natur aus heiteres Gesicht, und die Haut war von grober Seife, stumpfen Rasierklingen und der Kälte des Winters, der eben erst vorbei war, rau geworden.
Selbst durch die geschlossene Fensterscheibe wirkte die Welt draußen kalt. Auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Staub und Papierfetzen zu Spiralen, und obwohl die Sonne schien und der Himmel von einem harschen Blau war, wirkte alles bis auf die Plakate, die überall angeklebt waren, vollkommen farblos. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnauzbart starrte von jeder beherrschenden Ecke herab. Auch an der Fassade direkt gegenüber war eines. DER GROSSE BRUDER HAT DICH IM BLICK stand darunter, und die dunklen Augen blickten tief in Winstons hinein. Auf Straßenebene schlackerte ein weiteres, an einer Ecke eingerissen, unruhig im Wind und gab dabei immer wieder das eine Wort ENGSOZ frei. In der Ferne strich ein Hubschrauber zwischen den Dächern dahin, verharrte einen Moment lang wie eine Schmeißfliege und drehte dann in einer Kurve ab. Das war die Polizeipatrouille, sie spähte die Leute durchs Fenster aus. Doch die Patrouillen zählten nicht. Einzig die Gedankenpolizei zählte.
Hinter Winstons Rücken brabbelte die Stimme aus dem Bildschirm noch immer über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Der Bildschirm empfing und sendete simultan. Jedes Geräusch Winstons, das über einem sehr leisen Flüstern lag, wurde davon erfasst, außerdem konnte er, solange er im Sichtfeld der Metallplatte blieb, ebenso gesehen wie gehört werden. Natürlich konnte man unmöglich wissen, ob man gerade beobachtet wurde. Wie häufig oder mit welchem System die Gedankenpolizei sich in einen individuellen Anschluss einklinkte, war reine Spekulation. Es war sogar denkbar, dass sie jedermann jederzeit beobachteten. Jedenfalls konnten sie sich in einen Anschluss einklinken, wann immer sie wollten. Man musste in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die Instinkt geworden war –, dass jedes Geräusch, das man machte, mitgehört und jede Bewegung, außer im Dunkeln, beobachtet wurde.
Winston hielt dem Bildschirm weiterhin den Rücken zugedreht. Das war sicherer, auch wenn, wie er wohl wusste, selbst ein Rücken aufschlussreich sein kann. Einen Kilometer weiter ragte das Wahrheitsministerium, sein Arbeitsplatz, groß und weiß über die verrußte Landschaft auf. Das also, dachte er mit vager Abscheu – das war London, die Hauptstadt von Rollbahn eins, der Provinz Ozeaniens mit der drittgrößten Bevölkerung. Er versuchte, eine Kindheitserinnerung herauszupressen, die ihm sagen sollte, ob London schon immer so gewesen war. Hatte es schon immer diese Fluchten modernder Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gegeben, an der Seite mit Holzbalken abgestützt, die Fenster mit Pappe, das Dach mit Wellblech geflickt, deren schiefe Gartenmauern in alle Richtungen sackten? Und die zerbombten Grundstücke, über denen Gipsstaub in der Luft wirbelte und wo Weidenröschen auf den Schutthaufen wucherten, und die Stellen, wo die Bomben einen größeren Bereich gerodet hatten und trostlose Kolonien aus Hühnerställen gleichen Holzhütten entstanden waren? Doch es war zwecklos, er konnte sich nicht mehr erinnern: Nichts war von seiner Kindheit geblieben als eine Reihe strahlend heller Tableaus, die ohne jeden Hintergrund auftauchten und zumeist unverständlich blieben.
Das Ministerium der Wahrheit – auf Neusprech[1] Miniwahr – unterschied sich in verblüffender Weise von jedem anderen Objekt in Sichtweite. Es war ein gewaltiger Pyramidenbau aus schimmernd weißem Beton, der sich Terrasse um Terrasse dreihundert Meter in die Luft erhob. Von Winstons Standpunkt aus waren lediglich, in eleganter Schrift von der weißen Fassade abgehoben, die drei Parolen der Partei zu lesen:
KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE
Das Ministerium der Wahrheit enthielt, so hieß es, oberirdisch dreitausend Zimmer und darunter die entsprechenden Verästelungen. Über London verstreut gab es nur drei weitere Gebäude von ähnlicher Erscheinung und Größe. Sie ließen die umliegende Architektur derart schrumpfen, dass man vom Dach der Victory Mansions aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. In ihnen residierten die vier Ministerien, unter denen der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war: das Ministerium der Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und den schönen Künsten befasste; das Ministerium des Friedens, das sich mit Krieg befasste; das Ministerium der Liebe, das für Recht und Ordnung sorgte, und das Ministerium der Fülle, das für die wirtschaftlichen Belange zuständig war. Ihre Namen auf Neusprech: Miniwahr, Minipax, Minilieb und Minifüll.
Das wirklich beängstigende war das Ministerium der Liebe. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston war noch nie darin gewesen, nicht einmal näher als einen halben Kilometer gekommen. Man konnte es ausschließlich in amtlicher Angelegenheit betreten und dann auch nur, wenn man ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern überwand. Sogar auf den Straßen, die zu seinen äußeren Barrieren führten, patrouillierten bullengesichtige, mit Gliederknüppeln bewaffnete schwarz uniformierte Wachen.
Winston drehte sich abrupt um. Er hatte seine Gesichtszüge zu einer Miene stillen Optimismus geordnet, die aufzusetzen ratsam war, wenn man sich dem Bildschirm zuwandte. Er durchquerte das Zimmer zu der winzigen Küche. Indem er das Ministerium um diese Tageszeit verließ, hatte er sein Mittagessen in der Kantine geopfert, wobei ihm bewusst war, dass es in der Küche außer einem Kanten dunkles Brot, der fürs Frühstück am nächsten Morgen aufgehoben werden musste, nichts Essbares gab. Er nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit und einem schlichten weißen Etikett mit der Aufschrift VICTORY GIN vom Bord. Sie verströmte einen üblen, öligen Geruch, wie chinesischer Reisschnaps. Winston goss sich fast eine ganze Teetasse voll ein, wappnete sich gegen einen Schock und leerte sie wie eine Dosis Medizin.
Sogleich wurde sein Gesicht scharlachrot, und Wasser lief ihm aus den Augen. Das Zeug war wie Salpetersäure, zudem hatte man beim Schlucken das Gefühl, als bekäme man einen Schlag mit dem Gummiknüppel auf den Hinterkopf. Doch gleich darauf legte sich das Brennen in seinem Bauch, und die Welt sah freundlicher aus. Er zog eine Zigarette aus einer zerknüllten Packung mit der Aufschrift VICTORY und war so unvorsichtig, sie senkrecht zu halten, wodurch der Tabak auf den Boden rieselte. Mit der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links vom Bildschirm stand. Aus der Schublade zog er einen Federhalter, ein Tintenfläschchen und ein dickes, leeres Buch im Quartformat mit rotem Rücken und marmoriertem Deckel.
Aus irgendeinem Grund hatte der Bildschirm im Wohnzimmer eine ungewöhnliche Lage. Statt wie normal an der hinteren Wand angebracht zu sein, von wo aus er den ganzen Raum einsehen könnte, hing er an der längeren Wand, gegenüber dem Fenster. An einer Seite war eine flache Ausbuchtung, in der Winston nun saß und die, als die Wohnungen gebaut wurden, wahrscheinlich dem Zweck diente, Bücherregale aufzunehmen. Wenn Winston sich dort hinsetzte und weit vorlehnte, konnte er außerhalb des Bereichs des Bildschirms bleiben, jedenfalls was die Sicht betraf. Gehört werden konnte er natürlich, aber solange er in seiner jetzigen Position verharrte, wurde er nicht gesehen. Teils hatte ihn die ungewöhnliche Anlage des Zimmers zu dem Vorhaben veranlasst, das er nun in Angriff nehmen wollte.
Dazu angeregt hatte ihn aber auch das Buch, das er gerade aus der Schublade genommen hatte. Es war ein besonders schönes. Ein solch glattes, cremefarbenes Papier, vom Alter ein wenig angegilbt, wurde seit wenigstens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt. Dabei konnte er jedoch vermuten, dass das Buch noch viel älter war. Er hatte es im Schaufenster eines muffigen kleinen Trödelladens in einem Slumviertel der Stadt gesehen (welches es war, wusste er nicht mehr) und war sogleich von dem überwältigenden Verlangen, es zu besitzen, gepackt gewesen. Parteimitglieder sollten nicht in gewöhnliche Geschäfte gehen (»auf dem freien Markt handeln« hieß das), doch diese Vorschrift wurde nicht streng befolgt, da verschiedene Dinge wie Schnürsenkel und Rasierklingen anders noch immer unmöglich zu bekommen waren. Er hatte rasch nach links und rechts geblickt, war hineingehuscht und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Damals hatte er noch keine bestimmte Verwendung dafür gehabt. Mit schlechtem Gewissen hatte er es in seiner Aktenmappe nach Hause getragen. Auch wenn nichts darin stand, war es doch ein kompromittierender Besitz.
Er hatte nun also vor, ein Tagebuch zu beginnen. Das war nicht illegal (nichts war mehr illegal, da es keine Gesetze mehr gab), dennoch wurde man dafür bei Entdeckung ziemlich sicher mit dem Tode bestraft oder wenigstens mit fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit. Winston steckte eine Schreibfeder in den Halter und leckte die Schmiere daran ab. Der Federhalter war ein archaisches, selbst für Unterschriften selten benutztes Instrument, und er hatte sich einfach deswegen einen beschafft, heimlich und unter Schwierigkeiten, weil er das Gefühl hatte, dass das schöne cremefarbene Papier es verdient hatte, mit einer echten Feder beschrieben statt mit einem Tintenstift zerkratzt zu werden. Eigentlich war er es nicht gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Von sehr kurzen Notizen abgesehen war es üblich, alles ins Sprechschreib zu diktieren, was bei seinem jetzigen Vorhaben natürlich ausgeschlossen war. Ein Zittern hatte seine Eingeweide erfasst. Das Entscheidende war die Kennzeichnung des Papiers. In kleinen, unbeholfenen Lettern schrieb er:
4. April 1984.
Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl vollkommener Hilflosigkeit hatte ihn überfallen. Zunächst einmal wusste er gar nicht mit Gewissheit, dass es tatsächlich 1984 war. Aber ungefähr musste es dieses Jahr sein, da er ziemlich sicher war, neununddreißig Jahre alt zu sein, und er glaubte, dass er 1944 oder 1945 geboren wurde, doch heutzutage war es gar nicht möglich, ein Datum genauer als ein, zwei Jahre zu bestimmen.
Für wen, die Frage stellte sich ihm plötzlich, schrieb er dieses Tagebuch überhaupt? Für die Zukunft, für die Ungeborenen. Einen Augenblick lang umkreiste er das zweifelhafte Datum auf dem Papier, dann prallte er unsanft gegen das Neusprech-Wort Doppeldenk. Zum ersten Mal kam ihm das Ausmaß dessen, was er da unternommen hatte, zu Bewusstsein. Wie konnte man mit der Zukunft kommunizieren? Das war naturgemäß unmöglich. Entweder glich die Zukunft der Gegenwart, dann hörte sie ihm nicht zu, oder sie war ganz anders, dann war sein Dilemma bedeutungslos.
Eine Weile starrte er dumpf auf die Seite. Aus dem Bildschirm drang nun schrille Marschmusik. Es war eigenartig, dass er offenbar nicht nur die Kraft des Ausdrucks verloren, sondern sogar vergessen hatte, was er eigentlich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und nie war ihm in den Sinn gekommen, dass außer Kraft noch etwas anderes gebraucht würde. Das Schreiben selbst würde einfach sein. Er musste doch nur den unendlichen, ruhelosen Monolog, der buchstäblich seit Jahren in seinem Kopf ablief, aufs Papier übertragen. Nun jedoch war selbst der Monolog versiegt. Überdies juckte sein offenes Bein unerträglich. Er wagte es nicht, sich zu kratzen, denn dann entzündete es sich immer. Die Sekunden verrannen. Er nahm nichts wahr, nur die Leere der Seite vor ihm, das Jucken der Haut oberhalb des Knöchels, das Scheppern der Musik und eine leichte Schwummrigkeit vom Gin.
Mit einem Mal schrieb er in schierer Panik los, dessen, was er da hinschrieb, nur unvollkommen gewahr. Seine kleine, aber kindliche Schrift zockelte auf und ab übers Papier und verzichtete dabei erst auf die Großbuchstaben und dann sogar auf die Punkte.
4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Alles Kriegsfilme. Ein sehr guter über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Publikum sehr amüsiert über Aufnahmen eines riesengroßen fetten Mannes, der davonschwimmen wollte, ein Hubschrauber hinter ihm her, erst sah man ihn im wasser dahinplanschen wie eine schildkröte, dann sah man ihn durchs zielfernrohr des hubschraubers, dann war er voller löcher, und das meer um ihn herum wurde rosa, und er versank so plötzlich, als hätten die löcher das wasser reingelassen publikum brüllte vor lachen, als er unterging, dann sah man ein rettungsboot voller kinder, darüber ein hubschrauber, eine frau mittleren alters, sie mochte jüdin sein, saß vorn im bug, einen kleinen jungen ungefähr drei im arm kleiner junge kreischte vor angst und steckte den kopf zwischen ihre brüste, als wollte er sich richtiggehend in sie reinwühlen, und die frau schlang die arme um ihn und tröstete ihn, obwohl sie selber blau vor angst war, die ganze zeit deckte sie ihn ab so gut es ging als glaubte sie ihre arme könnten ihn vor den kugeln schützen, dann setzte der hubschrauber eine 20-kilo-bombe mitten in sie rein ungeheurer blitz und das boot war kleinholz dann kam eine großartige einstellung von einem kinderarm der hoch hoch hoch in die luft fuhr ein hubschrauber mit einer kamera im bug muss ihm gefolgt sein und da gabs eine menge beifall von den parteiplätzen aber plötzlich schlug eine frau im proletenteil des hauses krach und schrie das hätten sie nicht zeigen solln nicht vor den kindern nee is nicht richtig nicht vor den kindern bis die polizei sie rausschmiss ich glaube nicht dass ihr was passiert ist interessiert keinen was die proleten sagen typische proletenreaktion die machen nie –
Winston hielt inne, teils weil ihn ein Krampf plagte. Er wusste nicht, was ihn zu diesem Strom Blödsinn veranlasst hatte. Aber das Merkwürdige war, dass sich in ihm dabei eine vollkommen andere Erinnerung herauskristallisiert hatte, sodass er sich fast schon imstande fühlte, sie hinzuschreiben. Das lag, wie ihm nun bewusst wurde, an jenem anderen Vorfall, der ihn unvermittelt zu dem Entschluss geführt hatte, nach Hause zu gehen und noch heute mit dem Tagebuch zu beginnen.
Der Vorfall hatte sich an jenem Vormittag im Ministerium ereignet, falls man etwas so Nebulöses »ereignen« nennen konnte.
Es ging auf elfhundert zu, und in der Dokumentationsstelle, wo Winston arbeitete, schleifte man schon die Stühle aus den Nischen und stellte sie mitten im Saal, gegenüber dem großen Bildschirm, zur Vorbereitung auf den Zweiminutenhass auf. Winston nahm gerade seinen Platz in einer der mittleren Reihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber nie gesprochen hatte, unerwartet den Raum betraten. Die eine war eine junge Frau, der er häufig auf den Fluren begegnet war. Ihren Namen kannte er nicht, aber er wusste, dass sie in der Literaturabteilung arbeitete. Vermutlich – er hatte sie manchmal mit ölverschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen – war sie Mechanikerin und arbeitete an einer der Romanmaschinen. Sie wirkte recht keck, war ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt, hatte dichte dunkle Haare, Sommersprossen und flinke, athletische Bewegungen. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Kennzeichen der Jungen Antisexliga, schlang sich mehrmals um die Taille ihres Overalls, gerade eng genug, um ihre wohlgeformten Hüften zur Geltung zu bringen. Vom allerersten Augenblick an, als er sie sah, hatte Winston eine Abneigung gegen sie. Er wusste auch, warum. Es war wegen der Aura von Hockeyplätzen, kalten Bädern, gemeinsamen Wanderungen und allgemeiner Reinheit des Geistes, die sie mit sich herumtrug. Ihm missfielen nahezu alle Frauen, besonders die jungen und hübschen. Immer waren die Frauen, vor allem die jungen, die bigottesten Anhänger der Partei, die eifrigsten Parolenschlucker, die Amateurspione und Erschnüffler des Unorthodoxen. Aber bei dieser Frau hatte er den Eindruck, dass sie gefährlicher als die meisten anderen war. Einmal, als sie sich auf dem Flur begegneten, hatte sie ihm einen raschen Seitenblick zugeworfen, der mitten in ihn hineinfuhr und ihn einen Augenblick lang mit blankem Entsetzen erfüllte. Er hatte sogar kurz überlegt, ob sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das allerdings war sehr unwahrscheinlich. Dennoch empfand er jedes Mal, wenn sie ihm auch nur irgend nahe war, eine leichte Beklommenheit, in der sich Furcht mit Feindseligkeit mischte.
Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, Mitglied der Inneren Partei, der einen derart wichtigen und entrückten Posten bekleidete, dass Winston nur eine vage Vorstellung von dessen Beschaffenheit hatte. Vorübergehend senkte sich Stille über die Leute auf den Stühlen, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei nahen sahen. O’Brien war ein großer, stämmiger Mann mit Stiernacken und einem groben, launischen, brutalen Gesicht. Trotz seiner bedrohlichen Erscheinung war sein Auftreten nicht ohne einen gewissen Charme. Er hatte die Eigenart, sich die Brille auf der Nase zurechtzurücken, was seltsam entwaffnend war – auf undefinierbare Weise seltsam zivilisiert. Es war eine Geste, die, hätte jemand noch in solchen Begriffen gedacht, an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert erinnert hätte, wenn er einem seine Schnupftabaksdose anbot. Winston hatte O’Brien ungefähr ein Dutzend Mal in beinahe ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich stark zu ihm hingezogen, und zwar nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens urbaner Art und seiner Preisboxerstatur faszinierte. Der weit wesentlichere Grund war sein heimlicher Glaube – vielleicht nicht einmal ein Glaube, eher eine Hoffnung –, dass O’Briens politische Orthodoxie nicht vollkommen war. Etwas an seinem Gesicht legte es unwiderstehlich nahe. Und vielleicht stand ihm ja nicht einmal das Unorthodoxe ins Gesicht geschrieben, sondern schlicht Intelligenz. In jedem Fall machte er den Eindruck eines Menschen, mit dem man reden konnte, falls man mal irgendwie den Bildschirm überlisten konnte und ihn allein erwischte. Winston hatte nie auch nur den kleinsten Versuch unternommen, diese Vermutung zu verifizieren, wozu es auch keinerlei Möglichkeit gab. Gerade schaute O’Brien auf seine Armbanduhr, sah, dass es schon fast elfhundert war, und beschloss offenbar, in der Dokumentation zu bleiben, bis der Zweiminutenhass um war. Er setzte sich auf einen Stuhl in Winstons Reihe, zwei Plätze weiter. Zwischen ihnen saß eine kleine Frau mit rotblonden Haaren, die in der Nische neben Winston arbeitete. Die Dunkelhaarige saß direkt dahinter.
Im nächsten Moment drang aus dem großen Bildschirm am Ende des Raums ein scheußliches, mahlendes Kreischen wie von einer monströsen Maschine, die ungeschmiert lief. Es war ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein ging und einem die Nackenhaare aufstellte. Der Hass hatte begonnen.
Wie gewöhnlich war das Gesicht Emmanuel Goldsteins, des Volksfeindes, auf dem Schirm erschienen. Im Publikum wurde hier und da gezischt. Die kleine Frau mit den rotblonden Haaren ächzte vor Furcht, vermischt mit Abscheu. Goldstein war der Renegat, der Abtrünnige, der vor langer Zeit einmal (wie lange, wusste kaum jemand mehr) eine der führenden Gestalten der Partei gewesen war, fast auf einer Ebene mit dem Großen Bruder selbst, und sich dann konterrevolutionärer Aktivitäten befleißigt hatte, zum Tode verurteilt worden und unter mysteriösen Umständen geflohen und verschwunden war. Das Programm des Zweiminutenhasses wechselte täglich, in keinem jedoch war Goldstein nicht die dominierende Figur. Er war der Ur-Verräter, der früheste Beschmutzer der Reinheit der Partei. Alle nachfolgenden Verbrechen gegen die Partei, alle verräterischen Taten, Sabotageakte, Häresien, Abweichungen, das alles entsprang unmittelbar seinen Lehren. Irgendwo war er noch am Leben und heckte seine Verschwörungen aus: vielleicht irgendwo in Übersee, im Schutz seiner ausländischen Geldgeber, vielleicht sogar – so ging zuweilen das Gerücht – in einem Versteck in Ozeanien selbst.
Winston schnürte sich das Zwerchfell zusammen. Nie konnte er Goldsteins Gesicht ohne ein schmerzhaftes Gefühlsgemenge sehen. Es war ein schmales jüdisches Gesicht mit einer großen, unscharfen Aureole weißen Haars und einem kleinen Ziegenbart – ein kluges Gesicht und dennoch gleichsam naturhaft verachtenswert mit seiner senilen Albernheit in der langen schmalen Nase, auf der kurz vor ihrem Ende eine Brille hockte. Es erinnerte an das eines Schafs, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges. Goldstein führte seinen üblichen gehässigen Angriff gegen die Parteidoktrin – einen derart übersteigerten und perversen Angriff, dass ihn selbst ein Kind hätte durchschauen können, und dennoch gerade noch so plausibel, dass sich andere, weniger nüchtern als man selbst, davon täuschen lassen konnten. Er beschimpfte den Großen Bruder, er brandmarkte die Diktatur der Partei, er verlangte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, er plädierte für Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit, er schrie hysterisch, dass die Revolution verraten worden sei – und das alles in einer schnellen, vielsilbigen Rede, einer Art Parodie des gewohnten Stils der Parteiredner, die sogar Neusprech-Wörter enthielt: ja, mehr noch, als ein Parteimitglied normalerweise im wirklichen Leben verwenden würde. Dabei marschierten auf dem Bildschirm hinter seinem Kopf, damit auch wirklich niemand die Realität bezweifelte, die Goldsteins trügerisches Gefasel einschloss, unablässig die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee – Reihe um Reihe strammer Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die an die Bildschirmfläche schwebten, wieder verschwanden und von anderen, genau gleichen, ersetzt wurden. Das dumpfe, rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel bildete den Hintergrund von Goldsteins blökender Stimme.
Noch bevor der Hass eine halbe Minute gelaufen war, brach die Hälfte der Leute im Raum in unkontrollierbares Wutgeschrei aus. Das selbstzufriedene schafartige Gesicht auf dem Schirm und die erschreckende Macht der eurasischen Armee dahinter waren nicht auszuhalten; zudem erzeugte der Anblick Goldsteins, ja schon der Gedanke an ihn automatisch Angst und Zorn. Er war ein beständigeres Hassobjekt als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte im Krieg lag, befand es sich im Allgemeinen mit der anderen im Frieden. Merkwürdig aber war, dass Goldstein zwar von allen gehasst und verachtet wurde und seine Theorien tagtäglich und tausendmal täglich auf Podien, auf dem Bildschirm, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, zerrissen, lächerlich gemacht und dem allgemeinen Blick als der jämmerliche Quatsch hingestellt wurden, der sie ja waren – dass sein Einfluss trotz alldem keineswegs schwächer wurde. Immer gab es frische Gimpel, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Kein Tag verging, an dem nicht nach seinen Anweisungen handelnde Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er befehligte eine riesige Schattenarmee, ein Netzwerk im Untergrund aus Verschwörern, die sich dem Sturz des Staates verschrieben hatten. Angeblich hieß sie die Bruderschaft. Auch wurden Geschichten über ein schreckliches Buch geflüstert, ein Kompendium all der Häresien, deren Urheber Goldstein war und das heimlich hier und dort zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Menschen nannten es, wenn überhaupt, einfach das Buch. Aber von derlei Dingen wusste man lediglich durch nebulöse Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch das Buch waren ein Thema, das ein normales Parteimitglied anschnitt, wenn es sich nur irgend vermeiden ließ.
In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zur Raserei. Die Menschen sprangen immer wieder von ihren Sitzen auf und schrien, so laut sie konnten, um die blökende, aufreizende Stimme zu übertönen. Die kleine Frau mit den rotblonden Haaren war hellrosa geworden, und ihr Mund klappte auf und zu wie der eines Fischs auf dem Trockenen. Sogar O’Briens grobes Gesicht war gerötet. Er saß ganz aufrecht auf seinem Stuhl, die mächtige Brust angeschwollen und bebend, als stellte er sich dem Anprall einer Welle entgegen. Die Dunkelhaarige hinter Winston schrie schon »Schwein! Schwein! Schwein!«, und auf einmal nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch und schleuderte es gegen den Schirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte davon ab; die Stimme fuhr unaufhaltsam fort. In einem lichten Moment merkte Winston, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz heftig gegen die Stuhlstrebe stieß. Das Schreckliche am Zweiminutenhass war nicht, dass man sich gezwungen sah, eine Rolle zu spielen, sondern dass man sich ihm unmöglich entziehen konnte. Binnen einer halben Minute war jede Verstellung unnötig geworden. Eine scheußliche Ekstase aus Furcht und Rachsucht, dem Verlangen zu töten, zu foltern, Gesichter mit dem Vorschlaghammer einzuschlagen, schien die gesamte Menschengruppe wie elektrischer Strom zu durchfließen und einen ganz unwillentlich in einen grimassierenden, kreischenden Verrückten zu verwandeln. Und dennoch war die Wut, die man da empfand, etwas Abstraktes, Richtungsloses, das wie die Flamme einer Lötlampe von einem Gegenstand zum nächsten gelenkt werden konnte. Daher war Winstons Hass in einem Augenblick keineswegs auf Goldstein gerichtet, sondern ganz im Gegenteil auf den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei, und in solchen Augenblicken schlug sein Herz dem einsamen, verlachten Häretiker auf dem Schirm entgegen, dem einzigen Wächter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt der Lügen. Und dennoch war er schon im nächsten Augenblick wieder eins mit den Menschen um ihn herum, und dann erschien ihm alles, was über Goldstein gesagt wurde, als wahr. In solchen Augenblicken verwandelte sich sein heimlicher Hass auf den Großen Bruder in Verehrung, dann ragte der Große Bruder auf als unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der sich den Horden Asiens wie ein Fels entgegenstemmte, und Goldstein wirkte trotz dessen Isoliertheit, dessen Hilflosigkeit und des Zweifels, der allein schon seine Existenz umgab, wie ein böser Zauberer, der vermöge der bloßen Macht seiner Stimme das Gefüge der Zivilisation zerstören konnte.
Gelegentlich vermochte man seinen Hass sogar durch eine Willensanstrengung in diese oder jene Richtung zu lenken. Auf einmal gelang es Winston mit jenem Kraftakt, mit dem man in einem Albtraum den Kopf vom Kissen reißt, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Bildschirm auf die dunkelhaarige Frau hinter ihm zu übertragen. Lebhafte, schöne Halluzinationen blitzten in seinem Kopf auf. Darin schlug er sie mit einem Gummiknüppel tot. Band sie nackt an einen Pfosten und schoss sie voller Pfeile wie beim heiligen Sebastian. Schändete sie und schnitt ihr im Moment des Höhepunkts die Kehle durch. Zudem begriff er, und das besser als zuvor, warum er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett wollte und es nie tun würde, weil um ihre herrliche, geschmeidige Taille, die förmlich darum bettelte, mit dem Arm umschlungen zu werden, nur diese abstoßende scharlachrote Schärpe lag, das aggressive Symbol der Keuschheit.
Der Hass näherte sich dem Höhepunkt. Goldsteins Stimme war zu einem wahren Schafblöken geworden, und einen Augenblick lang hatte sich auch das Gesicht in das eines Schafs verändert. Dann verwandelte sich das Schafsgesicht in die Gestalt eines eurasischen Soldaten, der, riesengroß und schrecklich, mit knatternder Maschinenpistole immer näher kam und fast schon aus dem Bildschirm sprang, sodass einige in der ersten Reihe tatsächlich auf ihren Sitzen zurückzuckten. Im selben Augenblick jedoch, und da stießen alle einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, wurde aus der feindseligen Gestalt das Gesicht des Großen Bruders mit seinen schwarzen Haaren, dem schwarzen Schnurrbart, voller Kraft und rätselhafter Ruhe und so groß, dass es beinahe den ganzen Schirm ausfüllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren lediglich ein paar Worte der Ermunterung, Worte, wie sie im Schlachtgetöse fallen, nicht einzeln unterscheidbar, sondern die einzig dadurch, dass sie gesagt werden, frische Zuversicht einflößen. Dann verblasste das Gesicht des Großen Bruders, und an seine Stelle traten die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben:
KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE
Dennoch schien sich das Gesicht des Großen Bruders noch mehrere Sekunden lang auf dem Bildschirm zu halten, als wäre der Eindruck, den es auf aller Augäpfel gemacht hatte, zu lebhaft, um gleich zu verwehen. Die kleine Frau mit den rotblonden Haaren hatte sich über die Stuhllehne vor ihr geworfen. Unter bebendem Gemurmel, das wie »Mein Erlöser!« klang, reckte sie die Arme zum Bildschirm hin. Dann vergrub sie das Gesicht in Händen. Offenkundig sprach sie ein Gebet.
In dem Moment brach die gesamte Menschengruppe in einen tiefen, langsamen, rhythmischen Gesang aus: »G-B! … G-B! … G-B!«, immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem »G« und dem »B«, ein schwerer, murmelnder, seltsam wilder Laut, in dessen Hintergrund man das Stampfen nackter Füße und das Gedröhn von Trommeln zu hören meinte. Vielleicht eine halbe Minute lang sangen sie so. Ein solcher Refrain war in Augenblicken überwältigender Gefühle häufig zu vernehmen. Teils war es eine Art Loblied auf die Weisheit und Erhabenheit des Großen Bruders, noch mehr aber war es ein Akt der Selbsthypnose, ein bewusstes Überfluten des Bewusstseins mit diesem rhythmischen Geräusch. Winstons Eingeweide wurden kalt. Beim Zweiminutenhass beteiligte er sich zwangsläufig an dem allgemeinen Delirium, dieses nicht menschliche »G-B! … G-B!« aber erfüllte ihn immer mit Entsetzen. Natürlich skandierte er mit den Übrigen: Etwas anderes war unmöglich. Die eigenen Gefühle zu verbergen, das Gesicht zu beherrschen, zu tun, was alle anderen taten, das war eine instinktive Reaktion. Dennoch gab es eine Lücke von zwei Sekunden, in der der Ausdruck seiner Augen ihn durchaus hätte verraten können. Und genau in diesem Zeitraum geschah das Bedeutungsvolle – wenn es denn geschah.
Ganz kurz traf sein Blick den O’Briens. O’Brien war aufgestanden. Er hatte die Brille abgenommen und setzte sie sich gerade mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase. Doch im Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, und in dieser Spanne wusste Winston – ja, er wusste es! –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er selbst. Eine unmissverständliche Nachricht war übermittelt worden. Es war, als hätten sich beide geöffnet und die Gedanken wären durch die Augen vom einen zum anderen geflogen. »Ich verstehe dich«, schien O’Brien zu ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was du fühlst. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deine Abscheu. Aber keine Sorge, ich bin auf deiner Seite!« Und dann war die blitzartige Mitteilung vorbei und O’Briens Gesicht wieder genauso unergründlich wie alle anderen.
Das war alles, und schon war er sich unsicher, ob es überhaupt stattgefunden hatte. Solche Vorfälle blieben immer folgenlos. Sie hielten in ihm nur den Glauben oder die Hoffnung am Leben, dass außer ihm auch noch andere Feinde der Partei waren. Vielleicht stimmten die Gerüchte über ausgedehnte Verschwörungen im Untergrund ja doch – vielleicht gab es die Bruderschaft tatsächlich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen konnte man unmöglich sicher sein, dass die Bruderschaft nicht lediglich ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er daran, an manchen wieder nicht. Beweise gab es keine, nur flüchtige Eindrücke, die alles oder nichts bedeuten konnten: mitgehörte Gesprächsfetzen, dünnes Geschreibsel an Toilettenwänden – einmal gar, wenn zwei Fremde sich begegneten, eine kleine Handbewegung, die durchaus ein Erkennungssignal gewesen sein mochte. Das alles waren nur Mutmaßungen: Sehr wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Ohne O’Brien noch einmal anzusehen, war er in seine Nische zurückgekehrt. Der Gedanke, ihren kurzen Kontakt weiterzuverfolgen, kam ihm kaum in den Sinn. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es hätte anstellen können. Eine Sekunde lang, zwei, hatten sie einen vieldeutigen Blick gewechselt, und das war das Ende vom Lied. Doch allein das war in der abgeschotteten Einsamkeit, in der man leben musste, ein denkwürdiges Ereignis.
Winston setzte sich aufrechter hin. Er rülpste. Der Gin stieg von seinem Magen auf.
Sein Blick richtete sich wieder aufs Papier. Er merkte, dass er, während er hilflos sinnierend dagesessen, auch geschrieben hatte, wie automatisch. Und es war nicht mehr die verkrampfte, ungeschickte Handschrift wie zuvor. Seine Feder war lustvoll über das glatte Papier geglitten und hatte in ordentlichen Großbuchstaben
NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER
NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER
NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER
NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER
NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER
hingeschrieben, immer wieder, eine halbe Seite voll.
Er konnte sich einer leichten Panik nicht erwehren. Was absurd war, da die Niederschrift dieser Worte nicht gefährlicher war, als das Tagebuch überhaupt erst aufzuschlagen, doch im ersten Moment war er versucht, die besudelten Seiten herauszureißen und das Unterfangen ganz aufzugeben.
Aber das tat er nicht, denn er wusste, dass es zwecklos war. Ob er nun NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER hinschrieb oder es unterließ, blieb sich gleich. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder nicht, blieb sich gleich. Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so erwischen. Er hatte das grundlegende Verbrechen begangen, das alle anderen enthielt – und hätte es auch begangen, selbst wenn er nie zur Feder gegriffen hätte. Denkverbrechen nannten sie es. Ein Denkverbrechen ließ sich nicht auf immer verbergen. Eine Weile, vielleicht gar Jahre, mochte man noch Glück haben, aber früher oder später kriegten sie einen doch.
Es geschah immer nachts – die Verhaftungen geschahen durchweg nachts. Man schreckte jäh aus dem Schlaf, derbe Hände rüttelten die Schulter, grelles Licht stach in die Augen, ein Ring harter Gesichter ums Bett herum. Bei der übergroßen Mehrheit der Fälle gab es keinen Prozess, keinen Bericht von der Verhaftung. Die Leute verschwanden einfach, immer während der Nacht. Der Name wurde aus den Registern entfernt, jede Aufzeichnung von allem, was man je getan hatte, wurde getilgt, die einstige Existenz geleugnet und schließlich vergessen. Man wurde abgeschafft, ausradiert: verdampft war das gängige Wort dafür.
Nun packte ihn eine gewisse Hysterie. Mit gehetzter, unsauberer Schrift schrieb er:
die erschießen mich ist mir gleich die schießen mir ins genick ist mir gleich nieder mit dem großen bruder die schießen einem immer ins genick ist mir gleich nieder mit dem großen bruder –
Er lehnte sich ein wenig beschämt auf seinem Stuhl zurück und legte den Stift hin. Gleich darauf schrak er heftig zusammen. Es klopfte an der Tür.
Schon! Er saß reglos da wie eine Maus in der vergeblichen Hoffnung, wer immer es war, werde nach einem einmaligen Versuch vielleicht wieder gehen. Doch nein, das Klopfen wiederholte sich. Das Allerschlimmste wäre Zögern gewesen. Sein Herz pochte wie eine Trommel, doch sein Gesicht war dank langer Gewohnheit wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und ging schweren Schritts zur Tür.
Als er die Hand auf den Türknauf legte, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand auf der ganzen Seite in Buchstaben, die fast so groß waren, dass man sie von der Tür aus lesen konnte. Es war unfassbar dumm von ihm. Doch selbst in seiner Panik hatte er, wie er nun sah, das cremefarbene Papier nicht beschmutzen wollen, indem er das Buch zuklappte, solange die Tinte noch nass war.
Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Sogleich durchströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung. Draußen stand eine farblose, geknautscht wirkende Frau mit dünnen Haaren und zerfurchtem Gesicht.
»Ach, Genosse«, begann sie mit tonloser, greinender Stimme, »mir war doch, als hätt ich Sie kommen hören. Meinen Sie, Sie könnten mal kurz rüberkommen und sich die Spüle ansehen? Die ist verstopft und –«
Es war Mrs Parsons, die Frau eines Nachbarn auf demselben Stock. (»Mrs« war ein Wort, das von der Partei eher missbilligt wurde – man sollte Frauen mit »Genossin« anreden –, aber bei manchen benutzte man es instinktiv.) Sie war ungefähr dreißig, sah aber viel älter aus. Man hatte den Eindruck, dass in den Falten ihres Gesichts Staub lag. Winston folgte ihr durch den Gang. Diese amateurhaften Reparaturen waren ein fast tägliches Ärgernis. Die Victory Mansions waren alte Wohnungen, erbaut irgendwann um 1930, und schon im Zerfall begriffen. Ständig rieselte Putz von Decken und Wänden, die Rohre platzten bei jedem starken Frost, das Dach leckte, wenn es schneite, die Heizung lief zumeist nur auf halbem Dampf, wenn sie nicht ohnehin schon aus Gründen der Sparsamkeit ganz abgestellt war. Reparaturen mussten, außer man konnte sie selbst durchführen, von fernen Komitees genehmigt werden, was selbst die Ersetzung einer Fensterscheibe gern um zwei Jahre verzögerte.
»Natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, sagte Mrs Parsons unbestimmt.
Die Wohnung der Parsons war größer als Winstons und auf andere Weise schäbig. Alles wirkte abgewetzt und zertrampelt, als hätte eben erst ein großes Tier darin gewütet. Auf dem Boden lag alles mögliche Sportzeug herum – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, verschwitzte Shorts auf links –, und auf dem Tisch ein Wust aus schmutzigem Geschirr und eselsohrigen Schulbüchern. An den Wänden hingen scharlachrote Banner der Jugendliga und der Spione, dazu ein lebensgroßes Plakat des Großen Bruders. Es roch wie üblich nach gekochtem Kohl, so wie im ganzen Gebäude, aber dazu waberte ein schärferer Schweißgestank, dem eines Menschen, der gerade nicht da war – das wusste man gleich beim ersten Riechen, auch wenn es schwer zu sagen war, woher. In einem anderen Zimmer versuchte jemand mit einem Kamm und einem Blatt Toilettenpapier mit der Marschmusik mitzuhalten, die noch vom Bildschirm schallte.
»Das sind die Kinder«, sagte Mrs Parsons mit einem etwas bangen Blick zur Tür. »Die waren heute noch gar nicht draußen. Und natürlich –«
Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Spüle war nahezu randvoll mit schmutzig grünlichem Wasser, das schlimmer denn je nach Kohl roch. Winston kniete sich hin und prüfte das Abflussrohr. Er arbeitete sehr ungern mit den Händen und bückte sich auch nur ungern, weil er davon häufig husten musste. Mrs Parsons schaute ihm hilflos zu.
»Klar, wenn Tom da wär, der hätt’s im Handumdrehen hingekriegt«, sagte sie. »Der mag solche Sachen. Tom, der ist richtig gut mit den Händen.«
Parsons war Winstons Kollege im Wahrheitsministerium. Er war ein dicklicher, aber aktiver Mensch von lähmender Dummheit, eine Masse schwachsinniger Begeisterung – eines jener bedingungslos ergebenen Arbeitstiere, auf denen, noch mehr als auf der Gedankenpolizei, die Stabilität der Partei gründete. Mit seinen fünfunddreißig war er gerade erst widerwillig aus der Jugendliga geworfen worden, und bevor er in sie aufgerückt war, hatte er es geschafft, ein Jahr über das gesetzliche Höchstalter hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium saß er auf einer untergeordneten Stelle, für die keine Intelligenz erforderlich war, andererseits war er ein führender Kopf im Sportkomitee und all den anderen Komitees, die Gemeinschaftswanderungen, spontane Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwillige Aktivitäten ganz allgemein organisierten. An seiner Pfeife paffend teilte er einem mit stillem Stolz mit, er sei während der letzten vier Jahre jeden Abend im Gemeindezentrum gewesen. Ein überwältigender Schweißgeruch folgte ihm als eine Art unbewusstes Zeugnis seines strapaziösen Lebens überallhin und hielt sich noch, wenn er längst fort war.
»Haben Sie einen Schraubenschlüssel?«, sagte Winston, während er an der Rohrmutter fummelte.
»Einen Schraubenschlüssel«, sagte Mrs Parsons und sackte sogleich nieder. »Das weiß ich gar nicht. Vielleicht könnten die Kinder …«
Stiefelgetrampel und noch ein Stoß in den Kamm, dann kamen die Kinder ins Wohnzimmer gestürmt. Mrs Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ab und entfernte angewidert den Pfropfen Menschenhaare, der das Rohr verstopft hatte. Er wusch sich die Finger so gut er konnte in dem kalten Wasser aus dem Hahn und ging wieder ins andere Zimmer.
»Hände hoch!«, brüllte eine wilde Stimme.
Ein hübscher, auf hart machender Neunjähriger war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeugpistole; seine kleine, ungefähr zwei Jahre jüngere Schwester tat das Gleiche mit einem Stück Holz. Beide trugen ein blaues Hemd und ein rotes Halstuch, die Uniform der Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, aber mit dem beklemmenden Gefühl, so bösartig gab sich der Junge, dass es letztlich doch kein Spiel war.
»Du bist ein Verräter!«, schrie der. »Ein Denkverbrecher! Du bist ein eurasischer Spion! Ich verdampf dich, ich schick dich in die Salzminen!«
Plötzlich hüpften beide um ihn herum und kreischten »Verräter!« und »Denkverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen jede Bewegung seines Bruders nachahmte. Irgendwie machte das doch ein wenig Angst, so wie herumtollende Tigerjunge, die bald zu Menschenfressern heranwachsen. In den Augen des Jungen lag eine Art berechnende Brutalität, der ganz offensichtliche Wunsch, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Wissen, fast schon groß genug dafür zu sein. Nur gut, dass es keine echte Pistole ist, dachte Winston.
Mrs Parsons Blicke flackerten nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im besseren Licht des Wohnzimmers nahm er mit Interesse wahr, dass in den Falten ihres Gesichts tatsächlich Staub lag.
»Sie sind ja doch recht laut«, sagte sie. »Sie sind enttäuscht, weil sie nicht zum Hängen konnten, deshalb nämlich. Ich hab zu viel zu tun, um mit ihnen hinzugehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«
»Warum können wir nicht zu dem Hängen?«, brüllte der Junge mit seiner mächtigen Stimme.
»Will zum Hängen! Will zum Hängen!«, skandierte das kleine Mädchen, noch immer umherhüpfend.
Einige eurasische Gefangene, die Kriegsverbrechen begangen hatten, sollten am Abend im Park gehängt werden, wie Winston sich erinnerte. Das geschah ungefähr einmal pro Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder verlangten immer lautstark, dass man mit ihnen hinging. Er verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Tür. Doch er war noch keine sechs Schritte durch den Flur gelangt, als ihn etwas äußerst schmerzhaft im Nacken traf. Es war, als hätte man ihn mit einem rot glühenden Draht gestochen. Er wirbelte herum und sah gerade noch, wie Mrs Parsons ihren Sohn, der eine Schleuder einsteckte, durch die Tür zurückzerrte.
»Goldstein!«, bellte der Junge noch, als die Tür sich vor ihm schloss. Vor allem aber fiel Winston die hilflose Furcht im grauen Gesicht der Frau auf.
Wieder in seiner Wohnung, schritt er rasch am Bildschirm vorbei und setzte sich an den Tisch, wobei er sich noch immer den Nacken rieb. Die Musik vom Bildschirm hatte aufgehört. Stattdessen verlas nun eine schneidige Stimme mit einem gewissen brutalen Behagen eine Beschreibung der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die gerade zwischen Island und den Färöer-Inseln verankert worden war.
Mit diesen Kindern, dachte er, musste das Leben dieser unglücklichen Frau ein einziges Grauen sein. Noch ein, zwei Jahre, dann würden sie sie Tag und Nacht auf Anzeichen von Unorthodoxie hin beobachten. Heutzutage waren praktisch alle Kinder grässlich. Das Schlimmste war, dass sie mittels solcher Organisationen wie der Spione systematisch zu zügellosen kleinen Wilden gemacht wurden, was bei ihnen dennoch nicht die geringste Neigung weckte, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles, was damit zusammenhing. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Gewehrattrappen, das Parolengebrüll, die Anbetung des Großen Bruders – für sie war das alles ein einziges prächtiges Spiel. Ihre ganze Wildheit wurde nach außen gelenkt, gegen die Feinde des Staates, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Denkverbrecher. Für Leute über dreißig war es fast schon normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das nicht ohne Grund, denn kaum eine Woche verging, ohne dass die Times einen Artikel brachte, in dem beschrieben wurde, wie ein lauschender kleiner Petzer – »Kinderheld« lautete das gängige Wort – eine kompromittierende Bemerkung mitgehört und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.
Der Schmerz des Schleudergeschosses war verflogen. Halbherzig nahm er seinen Federhalter und überlegte, ob ihm für das Tagebuch noch etwas einfiel. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.
Jahre zuvor – wie viele waren es? Bestimmt sieben – hatte er geträumt, durch einen pechschwarzen Raum zu gehen. Und jemand, der an seinem Weg saß, hatte, als er vorbeiging, gesagt: »Wir werden uns dort begegnen, wo es kein Dunkel gibt.« Das wurde sehr ruhig gesagt, fast beiläufig – als Aussage, nicht als Befehl. Er war weitergegangen, ohne stehen zu bleiben. Das Seltsame daran war, dass die Worte ihn damals, in dem Traum, nicht weiter beeindruckt hatten. Erst später und nur allmählich hatten sie eine Bedeutung erlangt. Er erinnerte sich nicht mehr, ob er O’Brien vor oder nach diesem Traum zum ersten Mal gesehen hatte, ebenso wenig, wann er die Stimme erstmals als die O’Briens identifiziert hatte. In jedem Fall aber existierte diese Identifikation. O’Brien war es, der ihn aus dem Dunkel heraus angesprochen hatte.
Winston war sich nie sicher gewesen – auch nach dem flüchtigen Blickkontakt am Morgen war das unmöglich –, ob O’Brien Freund oder Feind war. Eigentlich blieb es sich auch gleich. Zwischen ihnen bestand ein Band des Einverständnisses, das wichtiger als Zuneigung oder Parteigängertum war. »Wir werden uns dort begegnen, wo es kein Dunkel gibt«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur dass es auf die eine oder andere Weise wahr werden würde.
Die Stimme vom Bildschirm verstummte. Ein Trompetenstoß strömte klar und schön in die stehende Luft. Die Stimme fuhr krächzend fort:
»Achtung! Bitte um Aufmerksamkeit! Gerade erreicht uns eine Kurzmeldung von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin zu der Mitteilung befugt, dass die Kampfhandlungen, über die wir nun berichten, den Krieg gut und gern in absehbarer Zeit an sein Ende bringen könnten. Hier nun die Eilmeldung –«
Das wird übel, dachte Winston. Und tatsächlich, nach einer blutigen Schilderung der Vernichtung einer eurasischen Armee mit stupenden Zahlen Getöteter und Gefangener kam die Ankündigung, dass von der kommenden Woche die Schokoladenration von dreißig Gramm auf zwanzig reduziert werde.
Wieder rülpste Winston. Der Gin verlor sich und hinterließ ein ernüchtertes Gefühl. Vom Bildschirm erscholl – vielleicht, um den Sieg zu feiern, vielleicht, um die Erinnerung an die verlorene Schokolade zu ersticken – »Ozeanien, dies ist für dich«. Es wurde erwartet, dass man dabei stillstand. Allerdings war er in seiner momentanen Position unsichtbar.
»Ozeanien, dies ist für dich« wich leichterer Musik. Winston ging zum Fenster, wobei er dem Bildschirm den Rücken zugewandt hielt. Der Tag war noch immer kalt und klar. Irgendwo in der Ferne detonierte mit einem dumpfen, hallenden Dröhnen eine Raketenbombe. Gegenwärtig fielen wöchentlich zwanzig bis dreißig davon auf London.
Unten auf der Straße ließ der Wind das eingerissene Plakat schlackern, und das Wort ENGSOZ erschien und verschwand unregelmäßig. Engsoz. Die heiligen Prinzipien des Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderbarkeit der Vergangenheit. Ihm war, als wanderte er in den Wäldern des Meeresbodens, verloren in einer ungeheuerlichen Welt, in der er selbst das Ungeheuer war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein einziges lebendes Menschenwesen auf seiner Seite war? Und welche Möglichkeit zu wissen, dass die Herrschaft der Partei nicht auf immer währte? Wie zur Antwort fielen ihm wieder die drei Parolen auf der weißen Fassade des Wahrheitsministeriums ein:
KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE
Er zog ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus der Tasche. Auch darauf waren in winziger, klarer Schrift dieselben Parolen eingraviert, auf der anderen Seite der Kopf des Großen Bruders. Sogar auf der Münze folgten einem die Augen. Auf Münzen, auf Plakaten und auf der Hülle einer Zigarettenschachtel – überall. Stets sahen einen die Augen an, hüllte einen die Stimme ein. Ob man schlief oder wachte, arbeitete oder aß, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett – kein Entkommen. Nichts gehörte einem selbst, nur die wenigen Kubikzentimeter im Schädel.
Die Sonne war weitergezogen, und die Myriaden von Fenstern des Wahrheitsministeriums, auf die sie nicht mehr schien, wirkten so düster wie die Schießscharten einer Festung. Angesichts des gewaltigen pyramidenförmigen Baus bebte ihm das Herz. Er war zu stark, ihn konnte man nicht erstürmen. Keine tausend Raketenbomben würden ihn zerstören. Wieder fragte er sich, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, die Vergangenheit – für eine Zeit, die nur gedacht sein mochte. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern die Vernichtung. Das Tagebuch würde zu Asche werden und er zu Dampf. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie es aus der Existenz und aus der Erinnerung tilgten. Wie konnte man an die Zukunft appellieren, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein anonymes, auf ein Stück Papier gekritzeltes Wort physisch bestehen bleiben konnte?
Der Bildschirm schlug vierzehn. In zehn Minuten musste er los. Um vierzehn-dreißig musste er wieder an der Arbeit sein.
Seltsamerweise schien ihm der Stundenschlag neuen Mut eingeflößt zu haben. Er war ein einsames Gespenst, das eine Wahrheit aussprach, die niemand je hören würde. Doch solange er sie aussprach, war die Kontinuität auf obskure Weise nicht durchbrochen. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, trug man das menschliche Erbe weiter, sondern indem man bei Verstand blieb. Er kehrte zum Tisch zurück, tauchte die Feder ein und schrieb:
An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der das Denken frei ist, in der die Menschen unterschiedlich sind und nicht allein leben – an eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann:
Aus der Zeit der Gleichförmigkeit, aus der Zeit der Einsamkeit, aus der Zeit des Großen Bruders, aus der Zeit des Doppeldenk – Grüße!
Aber er war ja schon tot, sinnierte er. Ihm schien, als hätte er erst jetzt, da er seine Gedanken formulieren konnte, den entscheidenden Schritt getan. Die Folgen einer jeden Handlung sind in der Handlung selbst enthalten. Er schrieb:
Das Denkverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: Das Denkverbrechen IST der Tod.
Da er sich nun als tot erkannt hatte, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. An zwei Fingern seiner rechten Hand waren Tintenflecken. Genau so ein Detail konnte ihn verraten. Irgendein schnüffelnder Eiferer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau, eine wie die Kleine mit den rotblonden Haaren oder die Dunkelhaarige aus der Literaturabteilung) konnte sich fragen, warum er wohl in der Mittagspause geschrieben hatte, warum er einen altmodischen Federhalter benutzt, was er geschrieben hatte – und dann der entsprechenden Stelle einen Hinweis geben. Er ging ins Bad und schrubbte mit der körnigen dunkelbraunen Seife, die einem die Haut wie Sandpapier schliff und sich daher für diesen Zweck gut eignete, sorgfältig die Tinte weg.
Er legte das Tagebuch in die Schublade. Vollkommen sinnlos der Gedanke, es zu verstecken, aber wenigstens konnte er sich vergewissern, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein über die Seitenenden gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze tupfte er ein identifizierbares weißliches Staubkörnchen auf und legte es auf einer Ecke des Deckels ab, von wo es sicher wegrollen würde, sollte das Buch bewegt werden.
Winston träumte von seiner Mutter.
Er musste wohl, dachte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine hochgewachsene, statuenhafte, recht stille Frau mit langsamen Bewegungen und wunderbaren blonden Haaren. Seinen Vater hatte er undeutlicher als dunkel und schmal in Erinnerung; er trug immer saubere, dunkle Kleidung (besonders erinnerte sich Winston an die sehr dünnen Sohlen seiner Schuhe) und eine Brille. Sie waren beide offenbar im Zuge einer der ersten großen Säuberungen in den fünfziger Jahren verschwunden.
Jetzt gerade saß seine Mutter irgendwo weit unter ihm, seine kleine Schwester in den Armen. An seine Schwester hatte er keinerlei Erinnerung, lediglich als winziges, schwächliches Baby mit großen, aufmerksamen Augen, das immer stumm war. Beide blickten zu ihm herauf. Sie waren irgendwo tief in der Erde – beispielsweise am Grund eines Brunnens oder in einem sehr tiefen Grab –, aber dieser ohnehin schon weit unter ihm gelegene Ort bewegte sich noch weiter abwärts. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffs und schauten durch das immer dunkler werdende Wasser zu ihm herauf. In dem Salon war noch Luft, sie konnten ihn weiterhin sehen und er sie, aber dennoch sanken sie unablässig in das grüne Wasser hinab, das sie jeden Moment auf immer dem Blick entziehen würde. Er war oben in Licht und Luft, während sie in den Tod hinabgesogen wurden, und sie waren da unten, eben weil er dort oben war. Er wusste es und sie wussten es auch, und dies Wissen sah er auf ihren Gesichtern. In beider Gesicht wie Herz lag kein Vorwurf, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben blieb, und dass dies ein Teil der unausweichlichen Ordnung der Dinge war.
Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, aber in seinem Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und seiner Schwester dem seinen geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die sich zwar die charakteristische Traumszenerie bewahrten, aber dennoch eine Fortsetzung des eigenen Geisteslebens sind und in denen einem Fakten und Ideen bewusst werden, die einem, wenn man wieder erwacht ist, noch neu und wertvoll erscheinen. Nun aber kam Winston jäh in den Sinn, dass der Tod seiner Mutter vor nahezu dreißig Jahren in einer Weise tragisch und leidvoll war, wie es heute nicht mehr möglich war. Das Tragische, erkannte er, gehörte der alten Zeit an, einer Zeit, als es noch ein Privatleben, Liebe und Freundschaft gab, als die Mitglieder einer Familie noch zueinander standen, ohne den Grund dafür kennen zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter zerrte an seinem Herzen, weil sie ihn geliebt hatte, als sie starb, und er zu jung und selbstsüchtig gewesen war, um sie seinerseits zu lieben, und weil sie sich irgendwie, wie, wusste er nicht mehr, einem Verständnis von Loyalität geopfert hatte, das privat und unabänderlich war. Derlei Dinge, das sah er jetzt, gab es heute nicht mehr. Heute gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, kein tiefes oder komplexes Leid. Das alles sah er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester, die durch das grüne Wasser zu ihm heraufschauten, Hunderte Faden tief und weiter sinkend.
Auf einmal stand er auf einem kurzen, federnden Rasen, es war ein Sommerabend, und die schrägen Sonnenstrahlen vergoldeten den Boden. Die Landschaft, auf die er blickte, kehrte so oft in seinen Träumen wieder, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie nicht in der wirklichen Welt gesehen hatte. In seinen Wachgedanken nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen zerfressene Weide, durch die ein Fußpfad führte, dazu hier und da ein Maulwurfshügel. In der struppigen Hecke am anderen Ende des Feldes wiegten sich die Zweige der Ulmen ganz leise in der Brise; das Laub regte sich in dichter Masse so wie Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, wenngleich nicht zu sehen, floss träge ein klarer Bach dahin, in dessen Gumpen unter den Weiden Häslinge schwammen.
Die Frau mit den dunklen Haaren kam übers Feld auf ihn zu. Mit, wie es schien, einer einzigen Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und schleuderte sie abschätzig von sich. Ihr Körper war weiß und glatt, doch erwachte davon kein Begehren in ihm, ja, er schaute ihn kaum an. Vielmehr überwältigte ihn in dem Moment die Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider weggeworfen hatte. Mit ihrer Anmut und Achtlosigkeit schien sie eine ganze Kultur auszulöschen, ein ganzes Gedankensystem, als könnten der Große Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei, sie alle mittels einer einzigen herrlichen Armbewegung hinweggefegt werden. Auch das war eine Geste, die der alten Zeit angehörte. Winston erwachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen.
Von dem Bildschirm ging ein ohrenbetäubendes Pfeifen aus, das eine halbe Minute lang auf einer Höhe blieb. Es war null-sieben-fünfzehn, die Aufstehzeit für Büroarbeiter. Winston hievte seinen Körper aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt nur dreitausend Kleidercoupons pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete schon sechshundert – und griff nach einem schmuddeligen Unterhemd und einer Unterhose, die auf einem Stuhl lagen. Die Gymnastik begann in drei Minuten. Gleich darauf krümmte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, wie er ihn fast jedes Mal nach dem Aufwachen überfiel. Er leerte ihm die Lungen so gründlich, dass er erst wieder atmen konnte, indem er sich auf den Rücken legte und mehrmals keuchend Luft holte. Von der Anstrengung des Hustens waren seine Adern angeschwollen, und das offene Bein juckte wieder.
»Gruppe dreißig bis vierzig!«, blaffte eine durchdringende Frauenstimme. »Gruppe dreißig bis vierzig! Bitte Position einnehmen. Dreißiger bis Vierziger!«
Winston sprang auf und nahm vor dem Bildschirm, der schon das Bild einer eher jungen Frau, dürr, aber muskulös, in Kasack und Turnschuhen zeigte, Grundstellung ein.
»Arme beugt und streckt!«, bellte sie. »Im Gleichtakt mit mir. Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Na los, Genossen, ein bisschen zackig! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! …«
Der Schmerz des Hustenanfalls hatte Winston den Eindruck, den sein Traum hinterlassen hatte, nicht ganz aus den Gedanken getrieben, und die rhythmischen Bewegungen der Übungen stellten ihn wieder halbwegs her. Während er die Arme mechanisch vor und zurück schnellte, auf dem Gesicht jenen Ausdruck grimmiger Freude, der bei der Gymnastik als passend erachtet wurde, lenkte er seine Gedanken mühsam zurück in die trübe Zeit seiner frühen Kindheit. Das war außerordentlich schwierig. Jenseits der späten fünfziger Jahre verblasste alles. Gab es keine externen Aufzeichnungen, auf die man sich beziehen konnte, verloren selbst die Konturen des eigenen Lebens an Schärfe. Man erinnerte sich an ungeheure Ereignisse, die es sehr wahrscheinlich gar nicht gegeben hatte, man erinnerte sich an Einzelheiten von Geschehnissen, ohne ihre Atmosphäre erfassen zu können, und es gab lange leere Perioden, denen man gar nichts zuordnen konnte. Damals war alles anders gewesen. Sogar die Namen von Ländern und ihre Form auf der Landkarte. Rollbahn eins beispielsweise hatte damals nicht so geheißen: Man hatte es England oder Großbritannien genannt – London dagegen, da war er sich ziemlich sicher, hatte schon immer London geheißen.
Winston konnte sich nicht eindeutig an eine Zeit erinnern, in der sein Land nicht im Krieg war, allerdings war offenkundig, dass es in seiner Kindheit eine recht lange Friedenszeit gegeben hatte, denn eine seiner frühesten Erinnerungen war ein Luftangriff, der anscheinend alle überrascht hatte. Vielleicht war das die Zeit, als die Atombombe auf Colchester gefallen war. An den Angriff selbst erinnerte er sich nicht, aber immerhin daran, wie sein Vater ihn an der Hand packte und sie immer weiter hinab an einen Ort tief in der Erde rannten, immer im Kreis eine Wendeltreppe hinab, die unter seinen Füßen schepperte und seine Füße schließlich so sehr ermüdete, dass er wimmerte und sie anhalten und sich ausruhen mussten. Seine Mutter folgte in ihrer langsamen, verträumten Art ein ganzes Stück hinter ihnen. Sie trug seine kleine Schwester – vielleicht war es aber auch nur ein Bündel Decken: Er war sich nicht ganz sicher, ob seine Schwester da schon geboren war. Schließlich hatten sie einen lauten Ort voller Leute erreicht, den er als einen U-Bahnhof erkannte.