1984 - George Orwell - E-Book

1984 E-Book

George Orwell

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Beschreibung

Der Klassiker über einen allmächtigen Überwachungsstaat ist und bleibt beklemmend aktuell

George Orwells 1984 ist längst zu einer scheinbar nicht mehr erklärungsbedürftigen Metapher für totalitäre Verhältnisse geworden. Mit atemberaubender Unerbittlichkeit zeichnet der Autor das erschreckende Bild einer durch und durch totalitären Gesellschaft, die bis ins letzte Detail durchorganisierte Tyrannei einer absolut autoritären Staatsmacht. Seine düstere Vision hat einen beklemmenden Wirklichkeitsbezug, dem sich auch der Leser von heute nur schwer entziehen kann.

London 1984: Winston Smith ist Geschichtsfälscher im Staatsdienst. Als Mitarbeiter des Ministeriums für Wahrheit verbringt er seine Tage damit, die Fakten zugunsten der regierenden Partei umzuschreiben. Als er sich verbotenerweise in seine schöne und geheimnisvolle Kollegin Julia verliebt, beginnen die beiden gemeinsam und trotz aller Gefahren, die totalitäre Welt, in der sie bislang als Marionetten gelebt haben, infrage zu stellen. Als sie versuchen, sich einen Rest von persönlicher Freiheit zu bewahren, hat das fatale Folgen.

George Orwells dystopischer Roman - die düstere Vision eines totalitären Überwachungsstaates, der jegliche Individualität zerstört - ist längst zum Klassiker geworden und gewinnt täglich an Aktualität.

Sein geniales Meisterwerk und Vermächtnis erscheint in einer neuen und zeitgemäßen Übersetzung von Paul Düring.

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1. Auflage Dezember 2023

Titel der englischen Originalausgabe: 1984

Copyright © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung aus dem Englischen: Paul Düring Covergestaltung: Nicole Lechner Satz und Layout: Opus verum, München

ISBN E-Book 978-3-86445-980-1 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-10 Fax: (07472) 98 06-11

Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

Teil 1

1

Ein strahlend kalter Apriltag, die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gepresst, um dem schneidenden Wind zu entgehen, schlüpfte behende durch die Glastür der Victory Mansions, allerdings nicht schnell genug, um zu verhindern, dass mit ihm ein Wirbel aus sandigem Staub eindrang.

Der Flur roch nach gekochtem Kohl und versifften Teppichböden. An einem Ende des Korridors hing ein farbiges Plakat an der Wand, eigentlich viel zu groß für einen Innenraum. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, mehr als einen Meter breit: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren, mit markanten, eindrucksvollen Gesichtszügen und buschigem schwarzen Schnurrbart. Winston machte sich auf den Weg zur Treppe. Sinnlos, den Aufzug zu probieren: Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er nur selten, und momentan war untertags der Strom abgestellt. Teil der Sparmaßnahmen zur Vorbereitung der Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston war neununddreißig und litt unter einer entzündeten Krampfader oberhalb des rechten Knöchels. Obwohl er langsam ging, musste er unterwegs mehrere Verschnaufpausen einlegen. Auf jedem Stockwerk, gegenüber der Aufzugstür, hing das Plakat vom Erdgeschoss. Überall starrte einen das riesige Gesicht an – mit diesen Augen, die einem zu folgen schienen, wenn man sich bewegt. »DER GROSSE BRUDER SIEHT ALLES«, stand darunter.

Im Inneren der Wohnung war eine sonore Stimme zu hören, die eine Reihe von Zahlen vortrug, irgendetwas, das mit der Produktion von Roheisen zu tun hatte. Die Stimme kam aus einer länglichen Metalltafel, die wie ein matter Spiegel aussah und in die Oberfläche der Wand zur Rechten eingelassen war. Winston drehte an einem Regler, was die Stimme etwas leiser werden ließ, aber nicht zum Verstummen brachte. Das Gerät (Teleschirm genannt) konnte zwar leiser gestellt werden, auszuschalten war es nicht. Er trat ans Fenster: eine hagere, zerbrechliche Erscheinung, die durch den blauen Overall, die Parteiuniform, noch spilleriger wirkte. Sein Haar war hellblond, sein Teint rötlich, seine Haut von grober Seife, schartigen Rasierklingen und der Kälte des gerade vergangenen Winters rau.

Die Welt draußen wirkte, selbst durch die geschlossene Fensterscheibe betrachtet, ungemütlich kalt. Auf der Straße wirbelte der Wind Staub und Papierschnipsel in Spiralen auf, und trotz einer strahlenden Sonne am stahlblauen Himmel wirkte alles farblos-matt, abgesehen von den allgegenwärtigen Plakaten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart starrte einen von jeder Ecke herab an. Auch an der Fassade direkt gegenüber hing eines. »DER GROSSE BRUDER SIEHT ALLES«, hieß es auch hier, und die dunklen Augen blickten tief in die Winstons. Unten an der Straße flappte die losgerissene Ecke eines anderen Plakats im Wind, dabei gab sie das Wort ENGSOZ abwechselnd frei und verdeckte es wieder. In der Ferne senkte sich ein Hubschrauber zwischen den Dächern nieder, verharrte einen Moment lang schwebend wie eine blaue Libelle und flog dann in einer langgezogenen Kurve wieder davon. Die Polizeipatrouille, die den Leuten in die Wohnungsfenster spähte. Aber die Patrouille war nicht weiter schlimm. Die Gedankenpolizei war schlimm.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Teleschirmstimme weiter über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm war beides: Sende- und Empfangsgerät. Jedes Geräusch, das Winston von sich gab, das über ein Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert, und solange er sich innerhalb des Sichtfeldes der Metalltafel aufhielt, war er nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Natürlich konnte man nicht wissen, ob man im Moment beobachtet wurde. Wie oft oder mit welchem System sich die Gedankenpolizei in eine bestimmte Leitung einklinkte, war nur zu vermuten. Es war sogar vorstellbar, dass sie jeden ununterbrochen beobachteten. Fakt war, dass sie jederzeit auf jeden beliebigen Teleschirm Zugriff hatte. Man musste also in der Annahme leben – und passte seine Gewohnheiten dementsprechend an –, dass jedes Geräusch, das man von sich gab, gehört, und, außer bei völliger Dunkelheit, jede Bewegung beobachtet wurde.

Winston stand weiterhin mit dem Rücken zum Teleschirm. Das war sicherer, obwohl er nur zu genau wusste, dass auch ein Rücken Verdacht erregen konnte. Einen Kilometer entfernt überragte das Wahrheitsministerium, sein Arbeitsplatz, riesenhaft weiß die schmutzige Landschaft. Das also, ging ihm mit einer Art vagen Unbehagens durch den Kopf, war London, die Hauptstadt von Landefeld I, der – gemessen an der Einwohnerzahl – drittgrößten Provinz Ozeaniens. Er versuchte, sich irgendeine Kindheitserinnerung ins Gedächtnis zu rufen, ob London schon immer so ausgesehen hatte. Hatte es schon immer diesen Anblick geboten? Diese baufälligen Häuser aus dem 19. Jahrhundert, die seitlichen Wände mit Balken gestützt, die Fenster mit Pappe geflickt, die Dächer mit Wellblech abgedichtet? Diese Gartenmauern, die in alle Richtungen absackten? Und die von den Bomben gezogenen Bebauungsschneisen, wo der Mörtelstaub immer in der Luft hing, und Weidenröschen auf den Ruinen wuchsen? Und die größeren Trümmerfelder, auf denen Siedlungen von Holzbaracken gewuchert waren, die wie Hühnerställe aussahen? Vergebens: Er konnte sich nicht erinnern. Außer einer Reihe greller, zusammenhangloser, unverständlicher Bilder war ihm von seiner Kindheit nichts in Erinnerung geblieben.

Das Ministerium für Wahrheit – Miniwahr auf Neusprech 1  – unterschied sich frappierend von allen anderen Bauten in Sichtweite. Es war ein riesiger, pyramidaler Komplex aus glänzend weißem Beton, der sich, Stockwerk um Stockwerk, dreihundert Meter in die Höhe schraubte. Von dort, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in eleganter Schrift gesetzten Slogans der Partei auf der weißen Fassade lesen:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSEN IST STÄRKE

Das Wahrheitsministerium. Es umfasste, wie es hieß, dreitausend oberirdische Räume, dazu katakombenartige Keller in ähnlichem Umfang. In ganz London gab es nur drei weitere Gebäude von ähnlichem Aussehen und ähnlicher Größe. Sie überragten die umliegende Bausubstanz dergestalt, dass man vom Dach der Victory Mansions alle vier sehen konnte. Sie beherbergten die vier Ministerien, unter denen der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war. Das Ministerium für Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und schönen Künsten befasste. Das Ministerium für Frieden, das sich um den Krieg kümmerte. Das Ministerium für Liebe, das für Recht und Ordnung sorgte. Und das Ministerium für Überfluss, das für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständig war. Ihre Namen, auf Neusprech: Miniwahr, Minifried, Minilieb, und Minifluss.

Das Ministerium der Liebe war das furchterregendste. Ein völlig fensterloser Bau. Winston war noch nie im Liebesministerium gewesen, ihm nicht einmal auf einen halben Kilometer nahegekommen. Man konnte es nur aus dienstlichem Anlass betreten, und dann auch nur, nachdem man ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhau, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern hinter sich gebracht hatte. Schon die Straßen, die auf die äußeren Absperrungen zuliefen, wurden von gorillagesichtigen Wachleuten durchstreift – in schwarzen Uniformen, mit Teleskopschlagstöcken bewaffnet.

Winston drehte sich unvermittelt um. Er sah auf eine ruhig-optimistische Weise drein, wie sie im Blickfeld des Teleschirms angeraten war. Er durchquerte den Raum und ging in die kleine Küche. Indem er das Ministerium heute so früh verlassen hatte, hatte er sein Mittagessen in der Kantine geopfert, und ihm war klar, dass es in seiner Küche nichts zu essen gab, außer einem Kanten Schwarzbrot, der für das morgige Frühstück vorgesehen war. Er nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit aus dem Regal, auf dem weißen Etikett die Aufschrift »Victory Gin«. Der Inhalt roch muffig-ölig, wie chinesischer Reisschnaps. Winston goss eine Teetasse fast randvoll, sammelte sich und schluckte die ganze Portion wie eine Dosis Arznei.

Augenblicklich lief sein Gesicht scharlachrot an und das Wasser schoss ihm in die Augen. Das Zeug schmeckte wie Salpetersäure, die Wirkung war wie ein Schlag mit dem Gummiknüppel auf den Hinterkopf. Im nächsten Moment jedoch ließ der Schmerz im Magen nach, und die Welt begann freundlicher auszusehen. Aus einer zerknitterten Schachtel mit der Aufschrift »Victory Zigaretten« friemelte er eine Zigarette, hielt sie aber unvorsichtigerweise senkrecht, woraufhin der Tabak auf den Boden rieselte. Bei der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an einen kleinen Tisch, links vom Teleschirm. Aus der Schublade holte er Federhalter, Tintenfass und ein dickes Heft – Quartformat – mit rotem Rücken und marmoriertem Einband.

Aus irgendeinem Grund befand sich der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle. Statt wie üblich an der Stirnwand, von der aus der ganze Raum einsehbar war, war er an der Längswand gegenüber dem Fenster montiert. Seitlich des Geräts befand sich eine Nische, in der Winston jetzt saß und die ursprünglich wohl für die Aufnahme eines Bücherregals vorgesehen war. Wenn er in der Nische saß und sich nicht allzuweit vorbeugte, konnte Winston im toten Winkel des Teleschirms bleiben. Natürlich konnte er gehört werden, aber solange er in dieser Position verharrte, konnte er nicht gesehen werden. Es war nicht zuletzt der ungewöhnliche Grundriss des Raumes, der ihn auf die Gedanken gebracht hatte, die er nun in die Tat umsetzen wollte.

Aber auch das Buch, das er gerade aus der Schublade genommen hatte, hatte seinen Anteil an diesem Vorhaben. Es war ein außergewöhnlich schönes Buch. Glattes, cremefarbenes Papier, vom Alter etwas vergilbt, von einer Machart, wie es sie seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr gab. Er konnte jedoch vermuten, dass das Buch noch um einiges älter war. Er hatte es im Schaufenster eines heruntergekommenen kleinen Ramschladens in einem schäbigen Viertel (welches, wusste jetzt nicht mehr) der Stadt liegen sehen und war sofort von einer regelrechten Gier ergriffen worden, es zu besitzen. Parteimitglieder sollten zwar keine gewöhnlichen Läden besuchen (keine »Geschäfte auf dem freien Markt« machen, wie man es nannte), aber die Regel wurde nicht allzu streng eingehalten. Es gab zu viele Dinge, wie Schnürsenkel und Rasierklingen, die anders gar nicht zu beschaffen waren. Er hatte einen kurzen Blick die Straße hinauf und hinunter geworfen, war dann hineingeschlüpft und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft – ohne zu wissen, für welchen Zweck. Schuldbewusst hatte er es in der Aktentasche nach Hause getragen. Auch wenn nichts drinstand: Es war ein kompromittierender Besitz.

Nun stand er im Begriff, ein Tagebuch zu beginnen. Das war zwar nicht illegal (nichts war illegal, es gab ja keine Gesetze mehr), aber wenn man ihm auf die Schliche kam, musste er ziemlich sicher mit der Todesstrafe oder fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager rechnen. Winston steckte eine Feder in den Federhalter und leckte sie ab, um eventuelles Fett zu entfernen. So ein Federhalter war ein antiquiertes Instrument, das selbst zum Unterschreiben kaum noch verwendet wurde. Er hatte ihn heimlich und nicht ohne Mühe besorgt, einfach aus dem Gefühl heraus, dass man das schöne chamoisfarbene Papier mit einer richtigen Feder beschreiben sollte, nicht mit einem profanen Tintenstift. Eigentlich war er es nicht gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen diktierte man alles in den Sprechschreiber, der für sein jetziges Vorhaben natürlich nicht zu gebrauchen war. Er tunkte die Feder in die Tinte und zögerte einen Moment. Ein Schauer war ihm durch die Eingeweide gerieselt. Etwas niederzuschreiben, das war der entscheidende Akt. In kleinen, ungelenken Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit ergriff ihn. Zunächst einmal war er sich gar nicht gewiss, dass man wirklich das Jahr 1984 schrieb. Ungefähr schon, denn er war sich ziemlich sicher, dass er neununddreißig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren zu sein; aber heutzutage war es unmöglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau zu bestimmen.

Und für wen, ging es ihm unvermittelt durch den Sinn, schrieb er dieses Tagebuch überhaupt? Für die Zukunft, für die Nachgeborenen. Seine Gedanken kreisten einen Moment lang um das ungesicherte Datum auf der Seite und blieben dann an dem neusprachlichen Wort Doppeldenk hängen. Zum ersten Mal wurde ihm das ganze Ausmaß seines Vorhabens bewusst. Wie konnte man mit der Zukunft kommunizieren? Das war ihrem Wesen nach unmöglich. Entweder die Zukunft ähnelte der Gegenwart, dann würde man ihm nicht zuhören, oder sie wäre anders beschaffen, dann wären seine Probleme ohne Bedeutung.

Einige Zeit saß er da und starrte trübsinnig auf das Papier. Vom Teleschirm war jetzt zackige Marschmusik zu hören. Seltsam: Wie es schien hatte er nicht nur seine Ausdrucksfähigkeit verloren, sondern sogar vergessen, was er eigentlich sagen wollte. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und es war ihm nie der Gedanke gekommen, dass er jetzt mehr brauchen könnte, als nur Mut. Das Schreiben sollte doch kein Problem sein. Er bräuchte nur den endlosen Monolog zu Papier bringen, der ihm seit Jahren im Kopf herumging. Doch im Augenblick war selbst der Monolog versiegt. Und gerade jetzt hatte seine Krampfader unerträglich zu jucken begonnen. Er traute sich nicht zu kratzen, denn dann entzündete sie sich immer. Die Sekunden tickten dahin. Außer der Leere des Papiers vor ihm, dem Juckreiz der Haut über seinem Knöchel, der dröhnenden Marschmusik und einem leichten Rausch, der vom Gin herrührte, nahm er nichts wahr.

Dann begann er auf einmal in schierer Panik zu schreiben, und ihm wurde nur annähernd klar, was er da eigentlich zu Papier brachte. Seine kleine, aber kindliche Handschrift flutete die Seite, verlor zuerst die Großbuchstaben und schließlich sogar die Satzzeichen:

4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Dabei ein sehr guter, über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Publikum sehr erheitert über die Aufnahmen von einem großen, fetten Mann, der versuchte, vor einem Hubschrauber davonzuschwimmen. Zuerst sah man ihn wie einen Tümmler im Wasser treiben, dann sah man ihn durch die Zieloptik des Hubschraubers, dann war er voller Löcher, und das Meer um ihn herum färbte sich rosa, und er sank so plötzlich, als hätten die Löcher das Wasser hereingelassen. Das publikum brüllte vor lachen als er unterging. eine frau mittleren alters vielleicht eine jüdin saß am bug mit einem kleinen jungen etwa drei jahre im arm, der junge schrie vor angst und verbarg seinen kopf zwischen ihren brüsten als ob er sich in ihr verkriechen wollte und die frau legte die arme um ihn und tröstete ihn obwohl sie selber vor angst verging, deckte ihn so gut wie möglich mit ihrem körper als ob sie glaubte ihre arme könnten die geschosse von ihm fernhalten. dann warf der hubschrauber eine zwanzigkilobombe zwischen ihnen ab gewaltiger blitz und das boot war kleinholz. dann kam eine wunderbare aufnahme eines kinderarms der in die luft flog immer höher und höher ein hubschrauber mit kamera muss ihn verfolgt haben und es gab viel beifall von den parteirängen aber eine frau unten bei den prolesplätzen fing plötzlich an aufstand zu machen und zeterte herum das hätten sie nicht zeigen sollen nicht vor den Kindern das wär nicht richtig nicht vor den ganzen Kindern bis die polizei sie rausgeschmissen hat ich denke nicht dass ihr was passiert ist niemand schert sich drum was die proles sagen typische prolesnummer die machen doch nie …

Winston hielt inne, auch weil er einen Krampf in der Hand bekommen hatte. Er wusste nicht, wie er dazu gekommen war, diesen ganzen Schwachsinn von sich zu geben. Aber das Merkwürdige war, dass ihm währenddessen eine ganz andere Erinnerung gekommen war, und zwar so deutlich, dass er die Empfindung hatte, eigentlich diese aufschreiben zu müssen. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich wegen dieser anderen Geschichte so plötzlich entschlossen hatte, nach Hause zu kommen und mit seinem Tagebuch zu beginnen.

Es war an jenem Morgen im Ministerium passiert, wenn man von so etwas Nebulösem überhaupt sagen kann, dass es stattgefunden hat.

Es war kurz vor elf gewesen, und in der Registratur, in der Winston arbeitete, holten sie die Stühle aus ihren Arbeitsnischen und stellten sie in der Mitte des Saals gegenüber dem großen Bildschirm auf: Zeit für den Zwei-Minuten-Hass. Winston ließ sich gerade in einer der mittleren Reihen nieder, als völlig unerwartet zwei Leute in den Raum kamen, die er zwar vom Sehen her kannte, mit denen er aber noch nie gesprochen hatte. Eine der beiden war ein Mädchen, dem er oft auf den Korridoren begegnete. Er kannte ihren Namen nicht, wusste aber, dass sie in der Abteilung für Belletristik arbeitete. Vermutlich wartete sie eine der Romanschreibmaschinen – er hatte sie manchmal mit ölverschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen. Sie war ein selbstbewusst dreinschauendes Mädchen, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, mit dunklem Haar, sommersprossigem Gesicht und flinken, athletischen Bewegungen. Eine schmale scharlachrote Schärpe, Kennzeichen der Anti-Sex-Jugend, war mehrmals um die Taille ihrer Latzhose gewickelt, gerade eng genug, um die Rundungen ihrer Hüften zur Geltung zu bringen. Winston hatte sie noch nie leiden können, und er wusste, warum. Es lag an dieser Atmosphäre von Hockeyfeldern, kalten Bädern, gemeinsamen Wanderungen und sauberer Gesinnung, die von ihr ausging. Die meisten Frauen konnte er nicht ausstehen, am wenigsten die jungen und hübschen. Es waren die Frauen, und vor allem die jungen, die die bigottesten Anhänger der Partei waren, die ihre Parolen wiederkäuten, die sich als Hilfsspitzel und Gesinnungspolizei andienten. Aber dieses Mädchen schien ihm noch gefährlicher zu sein als die anderen. Als sich ihre Wege einmal auf dem Korridor kreuzten, hatte sie ihn mit einem Seitenblick fixiert, der ihn schier durchbohrte und ihn einen Moment lang mit blankem Entsetzen erfüllte. Ihm war sogar der Verdacht gekommen, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war freilich sehr unwahrscheinlich – und dennoch beschlich ihn in ihrer Nähe immer ein dumpfes Unbehagen, in dem sich Angst und Feindseligkeit die Waage hielten.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber einer so wichtigen und abgehobenen Stellung, dass Winston nur eine diffuse Vorstellung davon hatte. Die Gruppe im Saal verstummte kurz, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei auftauchen sah. O’Brien war ein großer, stämmiger Mann mit Stiernacken und einem groben, schelmischen, brutalen Gesicht. Trotz seiner einschüchternden Erscheinung verströmte er eine Art Charme. Wie er sich die Brille auf der Nase zurechtrückte, war irgendwie entwaffnend, wirkte auf schwer bestimmbare Art höflich-gesittet. Es war eine Geste, die an einen Edelmann aus dem 18. Jahrhundert erinnerte, der seine Schnupftabakdose herumgehen lässt – wenn denn jemand noch in solchen Bildern zu denken fähig gewesen wäre. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich zutiefst zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens weltmännischem Auftreten und seiner Preisboxerstatur faszinierte. Vielmehr war es die heimliche Überzeugung – oder vielleicht nicht einmal eine Überzeugung, sondern nur eine Hoffnung –, dass O’Brien politisch nicht komplett linientreu war. Irgendetwas in seinem Gesicht legte dies unwiderstehlich nahe. Aber vielleicht war es nicht so sehr Unorthodoxie, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sondern einfach Intelligenz. Auf jeden Fall wirkte er wie einer, mit dem man reden konnte, wenn man irgendwie den Teleschirm überlisten und ihn allein erwischen konnte. Winston hatte nie den geringsten Versuch unternommen, auf diese Vermutung die Probe zu machen – es war schlicht undurchführbar. In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, dass es fast elf Uhr war, und beschloss offensichtlich, in der Registratur zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorbei war. Er nahm einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston, ein paar Plätze weiter. Eine kleine rotblonde Frau, die in der Nische neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen, das Mädchen mit den dunklen Haaren direkt dahinter.

Im nächsten Moment brach aus dem großen Teleschirm am Ende des Raumes ein grässlich knirschendes Geräusch hervor, wie von einer monströsen Maschine, die ohne Öl läuft. Ein Kreischen, das einem die Kiefer verkrampfte und die Nackenhaare sträubte. Der Hass hatte begonnen.

Wie üblich war auf dem Teleschirm das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Volksfeind, zu sehen. Hier und da hörte man es im Publikum zischen. Die kleine Frau mit den rotblonden Haaren gab ein Quieken von sich, eine Mischung aus Angst und Abscheu. Goldstein war der Abtrünnige, der Apostat, der vor langer Zeit (wie lange das her war, wusste niemand mehr) einer der führenden Kader der Partei gewesen war, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst, der sich dann der Konterrevolution verschrieben hatte, zum Tode verurteilt worden und auf mysteriöse Weise entkommen und verschwunden war. Das Programm des Zwei-Minuten-Hasses wechselte von Tag zu Tag, aber es gab keines, in dem Goldstein nicht die Hauptfigur war. Er war der Urverräter, der erste, der die Reinheit der Partei zu besudeln gewagt hatte. Alle späteren Verbrechen gegen die Partei, alle Lästerungen, Sabotageakte, Häresien, Abweichungen von der reinen Lehre gingen auf seine Wühlarbeit zurück. Irgendwo war er noch am Leben und brütete Verschwörungen aus: vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Geldgeber, vielleicht sogar – wie gelegentlich gemunkelt wurde – in einem Versteck in Ozeanien selbst.

Winstons Brust wurde eng. Er konnte das Gesicht von Goldstein nie ohne eine schmerzhafte Mischung von Gefühlen sehen. Es war ein hageres jüdisches Gesicht mit einem wuscheligen Kranz aus weißem Haar und einem kleinen Ziegenbart – ein kluges Gesicht, und doch wirkte es irgendwie verächtlich. Von der langen dünnen Nase, auf deren vorderem Ende eine Brille saß, ging eine Art seniler Albernheit aus. Der ganze Kopf hatte etwas Schafartiges, auch die Stimme. Goldstein ritt seine übliche gehässige Attacke gegen die Parteidoktrinen – so übertrieben und widersinnig, dass jedes Kind sie für unglaubwürdig gehalten hätte. Und doch war sie gerade plausibel genug, um das beunruhigende Gefühl hervorzurufen, dass andere, weniger besonnene Menschen als man selbst, darauf hereinfallen könnten. Er schmähte den Großen Bruder, er prangerte die Diktatur der Partei an, er forderte einen sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, er plädierte für Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit, er beklagte sich hysterisch, dass die Revolution verraten worden sei … Das alles in einem Redeschwall mehrsilbiger Wörter, der eine Art Parodie auf den üblichen Duktus der Parteisprecher war und auch Neusprechwörter enthielt: sogar mehr Neusprechwörter, als ein Parteimitglied normalerweise tatsächlich gebrauchen würde. Und damit kein Zweifel an der Wirklichkeit aufkam, die Goldsteins Phrasengewitter bemänteln sollte, sah man auf dem Teleschirm endlose Kolonnen der eurasischen Armee marschieren – Reihe um Reihe kräftig gebauter Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtszügen, die hinter seinem Kopf sichtbar wurden, im Vordergrund verschwanden, um durch andere, genau gleich aussehende, ersetzt zu werden. Das dumpfe, rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel bildete das Hintergrundgeräusch für Goldsteins blökende Stimme.

Der Hass hatte noch keine dreißig Sekunden gedauert, da brach die Hälfte der Anwesenden schon in unkontrollierbares Wutgeschrei aus. Das selbstgefällige, schafsähnliche Gesicht auf dem Teleschirm und die furchterregenden Bilder der eurasischen Armee waren nicht mehr zu ertragen; außerdem weckte Goldsteins Anblick oder auch nur der Gedanke an ihn unwillkürlich Angst und Wut. Als Hassobjekt war er beständiger als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte im Krieg lag, lebte es im Allgemeinen mit der anderen in Frieden. Merkwürdig nur: Obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde, obwohl seine Ansichten tagtäglich auf Rednerbühnen, auf dem Teleschirm, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, zerpflückt, lächerlich gemacht und der Öffentlichkeit als der erbärmliche Unsinn vorgeführt wurden, der sie nun einmal waren – Goldsteins Einfluss schien nie zu schwinden. Immer wieder gab es neue Schwachköpfe, die darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Es verging kein Tag, an dem die Gedankenpolizei nicht Spione und Saboteure enttarnte, die in seinem Auftrag handelten. Er war Befehlshaber einer gewaltigen Schattenarmee, eines Netzes von Verschwörern, die sich dem Sturz der Regierung verschrieben hatten. Die Bruderschaft nannten sie sich dem Vernehmen nach. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich auch von einem schrecklichen Buch Goldsteins, einem Kompendium all seiner Irrlehren, das hier und da im Untergrund zirkulierte. Einem Buch ohne Titel. Man nannte es, wenn man es überhaupt erwähnte, einfach nur Das Buch. Aber davon wusste man nur durch vage Gerüchte. Die Bruderschaft und Das Buch waren Themen, die ein normales Parteimitglied tunlichst unerwähnt ließ.

In der zweiten Minute wuchs sich der Hass zur Raserei aus. Die Leute sprangen von ihren Plätzen auf und schrien aus voller Kehle, um den blökenden Falsett vom Teleschirm zu übertönen, der sie um den Verstand brachte. Die kleine rotblonde Frau war rot angelaufen und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Selbst O’Briens breites Gesicht war gerötet. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl, seine mächtige Brust hob und senkte sich, als würde er sich einer anprallenden Woge entgegenstemmen. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston schrie jetzt: »Schwein! Schwein! Schwein!«, und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprechwörterbuch und schleuderte es nach dem Schirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte ab; die Stimme fuhr ungerührt fort. In einem klaren Moment ertappte sich Winston dabei, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz gegen die Querstrebe seines Stuhls trat. Das Erschreckende an dem Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass man zur Teilnahme verpflichtet war, sondern dass es unmöglich war, sich ihm zu entziehen. Schon nach dreißig Sekunden brauchte man keinen Hass mehr vorzuspielen. Ein abscheulicher Rausch aus Angst und Rachsucht, ein Verlangen zu töten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, ergriff von der ganzen Gruppe Besitz und verwandelte einen auch gegen seinen Willen in einen fratzenschneidenden, gröhlenden Irrsinnigen. Dabei war die Wut, die man empfand, ein abstraktes, zielloses Gefühl, das sich wie die Flamme einer Lötlampe von einem Objekt zum anderen bewegen ließ. So galt Winstons Hass in einem Moment gar nicht Goldstein, sondern im Gegenteil dem Großen Bruder, der Partei und der Gedankenpolizei; und in solchen Momenten flog sein Herz dem einsamen, verhöhnten Ketzer auf dem Bildschirm zu, dem einzigen Hüter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt der Lüge. Und doch war er im nächsten Augenblick eins mit den Menschen um ihn herum, und alles, was über Goldstein gesagt wurde, schien ihm wahr. In diesen Momenten verwandelte sich sein heimlicher Abscheu vor dem Großen Bruder in Bewunderung; der Große Bruder schien alles zu überragen, ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der wie ein Fels gegen die Horden Asiens stand, und Goldstein erschien ihm dann – trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit, sogar trotz des Zweifels an seiner Existenz – wie ein unheilbringender Hexenmeister, der allein durch die Kraft seiner Rede in der Lage war, die Grundlagen der Zivilisation zu zerstören.

In manchen Momenten war es sogar möglich, seinen Hass bewusst in diese oder jene Richtung zu lenken. Und so schaffte es Winston, mit jener Art von heftigem Ruck, mit der man in einem Alptraum den Kopf vom Kissen hochreißt, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Teleschirm auf das dunkelhaarige Mädchen hinter ihm zu richten. Lebhafte, wunderbare Vorstellungen schossen ihm durch den Kopf. Er würde sie mit einem Gummiknüppel totprügeln. Er würde sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen spicken wie den Heiligen Sebastian. Er würde sie vergewaltigen und ihr im Moment des Höhepunkts die Kehle durchschneiden. Deutlicher als bisher wurde ihm auch klar, warum er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte, es aber nie dazu kommen würde, weil um ihre süße, geschmeidige Taille, die einen aufzufordern schien, den Arm um sie zu legen, nur die abstoßende scharlachrote Schärpe lag, das aggressive Emblem der Keuschheit.

Der Hass erreichte seinen Höhepunkt. Die Stimme Goldsteins war nun zu einem wirklichen Blöken geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der, riesig und furchterregend, mit ratternder Maschinenpistole näherkam und aus der Oberfläche des Teleschirms herauszuspringen schien, sodass einige der Leute in der ersten Reihe tatsächlich auf ihren Sitzen zurückzuckten. Doch im selben Moment wandelte sich die Gestalt des Feindes, begleitet von einem allgemeinen Stoßseufzer der Erleichterung, zu dem Gesicht des Großen Bruders, schwarzhaarig, mit schwarzem Schnurrbart, voller Kraft und geheimnisvoller Ruhe, und so groß, dass es fast den ganzen Schirm füllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar aufmunternde Worte, wie man sie im Schlachtenlärm von sich gibt, nicht im Einzelnen verständlich, die aber durch den bloßen Umstand, dass sie ausgesprochen werden, Zuversicht schaffen. Dann verblasste das Gesicht des Großen Bruders wieder, und stattdessen standen die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben da:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSEN IST STÄRKE

Das Gesicht des Großen Bruders schien noch einige Sekunden auf dem Bildschirm eingebrannt zu sein, als sei der Eindruck, den es auf der Netzhaut der Zuschauer hinterlassen hatte, zu lebendig, um sofort wieder zu verschwinden. Die rotblonde Frau hatte sich über die Lehne des Stuhls vor ihr nach vorne geworfen. Mit einem zitternden Gemurmel, das wie »Mein Erlöser!« klang, streckte sie die Arme nach dem Schirm. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Ganz offensichtlich betete sie.

In diesem Moment stimmte die ganze Gruppe einen tiefen, langsamen, rhythmischen Sprechgesang an: »G – B! … G – B!« – immer und immer wieder, ganz langsam, mit langen Pausen zwischen dem G und dem B. Ein schwerer, raunender Bordun, seltsam animalisch, durch den man das Stampfen nackter Füße und das Dröhnen von Trommeln zu hören vermeinte. Etwa dreißig Sekunden lang hielt dieser Chor an, ein Refrain, wie man ihn oft in solchen Momenten überwältigender Emotionen hörte. Einerseits war es ein Hymnus an die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, andererseits ein Akt der Selbsthypnose, eine meditative Betäubung durch rhythmischen Lärm. Winstons spürte eine Kälte in seinen Eingeweiden. Während eines solchen Zwei-Minuten-Hasses konnte er sich dem allgemeinen Delirium nicht entziehen, aber dieser kaum noch menschliche Gesang von »G – B! … G – B!« ließ ihn stets erschauern. Aber natürlich stimmte er mit ein: undenkbar, etwas anderes zu tun. Seine Gefühle zu verbergen, seine Mimik zu beherrschen, das zu tun, was alle anderen taten, war eine Instinkthandlung. Aber es gab einen Zeitraum von ein paar Sekunden, in dem sein Mienenspiel ihn hätte verraten können. Und genau in diesem Augenblick geschah das Entscheidende – wenn es denn überhaupt geschah.

Einen Moment lang fiel sein Blick auf O’Brien. O’Brien war aufgestanden, hatte die Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder aufzusetzen. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, und in diesem winzigen Augenblick wusste Winston – ja, er wusste es! –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er. Sie hatten eine unmissverständliche Mitteilung ausgetauscht. So, als hätte jeder sein Bewusstsein geöffnet, als flössen ihre Gedanken durch den Blickkontakt von einem zum anderen. »Ich verstehe dich«, schien O’Brien ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was du empfindest. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deinen Ekel. Aber keine Angst, ich bin auf deiner Seite!« Und damit war dieses sekundenkurze Einverständnis verschwunden. O’Briens Miene war wieder so unergründlich wie die aller anderen.

Das war alles, und er war sich bereits nicht mehr sicher, ob es sich wirklich zugetragen hatte. Solche Vorkommnisse führten nie zu etwas. Sie hielten in ihm nur den Glauben oder die Zuversicht aufrecht, dass es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht waren die Gerüchte über eine große Verschwörung im Untergrund doch wahr – vielleicht gab es Die Bruderschaft wirklich! Trotz der ständigen Verhaftungen, Geständnisse und Exekutionen konnte man nicht sicher sein, dass Die Bruderschaft nicht doch nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er an sie, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Hinweise, die alles bedeuten konnten oder nichts: zufällig aufgeschnappte Gesprächsfetzen, undeutliche Kritzeleien an Toilettenwänden – einmal sogar, als sich zwei Fremde begegneten, eine kleine Handbewegung, die wie ein Erkennungszeichen gewirkt hatte. Alles nur Spekulation: Höchstwahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in seine Kabine zurückgekehrt, ohne O’Brien noch einmal anzusehen. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, den flüchtigen Kontakt zu vertiefen. Selbst wenn er gewusst hätte, wie er das hätte anstellen sollen – es wäre unfassbar gefährlich gewesen. Eine Sekunde, zwei Sekunden hatten sie einen vieldeutigen Blick ausgetauscht. Das war’s. Aber selbst das war ein unerhörter Vorgang in der totalen Isolation, in der man leben musste.

Winston riss sich zusammen und setzte sich aufrecht hin. Er rülps-

te: Der Gin meldete sich.

Sein Augenmerk richtete sich wieder auf sein Buch. Er bemerkte, dass er während seines Grübelns geschrieben hatte, ganz unbewusst. Und es war nicht mehr die verkrampfte, unbeholfene Handschrift von vorhin. Die Feder war genüsslich über das glatte Papier geglitten und hatte große, deutliche Buchstaben hinterlassen:

WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER

WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER

WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER

WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER

WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER

Immer und immer wieder, eine halbe Seite füllend.

Ein Anflug von Panik erfasste ihn. Das war unsinnig, denn das Notieren speziell dieser Worte war auch nicht gefährlicher als sein erster Schritt: das Tagebuch überhaupt anzulegen. Trotzdem war er einen Moment lang versucht, die beschriebenen Seiten herauszureißen und die Sache ganz aufzugeben.

Er tat es jedoch nicht, weil er wusste, dass es sinnlos war. Ob er nun WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb oder nicht, war komplett egal. Ob er mit dem Tagebuch weitermachte oder nicht, war genauso egal. Die Gedankenpolizei würde ihn sowieso erwischen. Er hatte das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen Verbrechen in sich barg – und würde es auch begangen haben, wenn er die Feder nie aufs Papier gesetzt hätte. Gedankendelikt, so nannten sie es. Gedankendelikte konnte man nicht ewig vertuschen. Man konnte sich eine Weile, vielleicht ein paar Jahre lang, erfolgreich tarnen, aber früher oder später erwischten sie einen doch.

Es geschah immer bei Nacht – die Verhaftungen erfolgten ausnahmslos nachts. Jähes Erwachen, eine grobe Hand, die an der Schulter rüttelt, grelles Licht in den Augen, ein Kreis strenger Gesichter rund ums Bett. In den wenigsten Fällen gab es einen Prozess oder auch nur ein Protokoll der Verhaftung. Die Leute verschwanden einfach, immer bei Nacht. Ihr Name wurde aus den Matrikeln gestrichen, alle Aufzeichnungen über ihr Tun wurden gelöscht, ihre einstige Existenz wurde erst geleugnet, dann vergessen. Man wurde abgeschafft, ausgelöscht: Vaporisiert war der offizielle Begriff.

Einen Moment lang packte ihn eine Art Hysterie. Er begann hastig, undeutlich zu schreiben:

sie werden mich erschießen ist mir egal sie werden mir einen genickschuss verpassen ist mir egal weg mit dem großen bruder sie schießen immer ins genick es ist mir egal weg mit dem großen Bruder

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schämte sich ein wenig und legte die Feder zur Seite. Im nächsten Moment schrak er heftig auf. Es klopfte an der Tür.

So schnell! Er blieb mucksmäuschenstill sitzen, in der illusorischen Hoffnung, wer es auch sein mochte, würde nach einem einzigen Versuch wieder verschwinden. Aber nein, es klopfte wieder. Abzuwarten wäre jetzt das Schlimmste. Sein Herz schlug wie eine Trommel, aber sein Gesicht war, mutmaßlich dank jahrelanger Übung, ausdruckslos. Er stand auf und ging schweren Schritts zur Tür.

2

Als er die Hand auf den Türgriff legte, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. WEG MIT DEM GROSSEN BRUDER stand dort geschrieben, so groß, dass man es fast von der Tür aus lesen konnte. Eine unfassbare Dummheit. Aber selbst in seiner Panik, so wurde ihm klar, hatte er das chamoisfarbene Papier nicht verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, während die Tinte noch feucht war.

Er holte tief Luft und öffnete. Augenblicklich durchströmte ihn eine warme Woge der Erleichterung. Draußen stand eine blasse, zerknittert wirkende Frau mit strähnigem Haar und zerfurchtem Gesicht.

»Ach, Genosse«, begann sie mit weinerlicher Stimme, »ich dachte doch, ich hätte Sie reinkommen hören. Könnten Sie rüberkommen und sich unser Spülbecken ansehen? Es ist verstopft und …«

Es war Mrs. Parsons, die Frau eines Nachbarn vom selben Stock (die Anrede »Mrs.« war eigentlich verpönt – man sollte grundsätzlich jeden mit »Genosse« oder »Genossin« anreden –, aber bei manchen Frauen benutzte man es instinktiv). Sie war um die dreißig, sah aber deutlich älter aus. Es wirkte ein bisschen so, als ob sich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagert hätte. Winston folgte ihr über den Flur. Amateurreparaturen wie diese waren eine fast alltägliche Plage. Die Wohnungen der Victory Mansions waren alt, um 1930 gebaut, und heruntergekommen. Dauernd blätterte der Putz von Decken und Wänden, bei jedem strengeren Frost platzten die Wasserleitungen, bei Schneefall leckte das Dach, die Heizung lief gewöhnlich nur mit halber Kraft, wenn sie nicht aus Kostengründen ganz abgestellt wurde. Reparaturen führte man am besten selbst aus, ansonsten mussten sie von irgendeinem entlegenen Ausschuss genehmigt werden, was selbst den Austausch einer Fensterscheibe zu einer mehrjährigen Angelegenheit machte.

»Es ist ja nur, weil Tom nicht daheim ist«, entschuldigte Frau Parsons unbestimmt.

Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf eine andere Art schmuddelig. Alles wirkte ramponiert und zertrampelt, als wäre es von einem großen, wilden Tier heimgesucht worden. Sportutensilien – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein undichter Fußball, eine schmutzige, auf links gedrehte Turnhose – lagen überall auf dem Boden, und auf dem Tisch türmten sich schmutziges Geschirr und eselsohrige Schulhefte. An den Wänden hingen die scharlachroten Banner der Jugendliga und der Spitzel sowie ein lebensgroßes Poster des Großen Bruders. Auch hier herrschte der Geruch nach gekochtem Kohl, wie er für den ganzen Wohnblock typisch war, aber er war von einem schärferen Schweißgeruch durchsetzt, und zwar dem einer Person, die – man wusste es beim ersten Schnuppern, obwohl es kaum zu erklären war – gerade nicht anwesend war. In einem anderen Raum begleitete jemand auf einem Kamm und einem Stück Klopapier die Militärmusik, die noch immer aus dem Teleschirm kam.

»Die Kinder«, versuchte Mrs. Parsons zu erklären und warf einen etwas besorgten Blick zur Tür. »Sie war’n heute noch nicht draußen. Und natürlich …«

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Küchenspüle war fast bis zum Rand voll mit grünlich trübem Wasser, in dem sich der Kohlgeruch konzentrierte. Winston kniete sich hin und inspizierte den Siphon des Abflussrohrs. Er arbeitete nicht gern mit den Händen, und schon gar nicht in gebückter Stellung. Das führte meist zu einem Hustenanfall. Mrs. Parsons schaute hilflos zu.

»Wenn Tom da wär’, würd’ er das zack zack reparieren«, sagte sie. »So was kann er. Er ist so geschickt mit den Händen, der Tom.«

Parsons war Winstons Kollege im Ministerium für Wahrheit. Ein feister, aber aktiver Mann von lähmender Einfalt, ein Koloss debiler Begeisterung – einer jener komplett lakaienhaften Hilfswilligen, die für das Funktionieren der Partei noch unerlässlicher waren als die Gedankenpolizei. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er gerade gegen seinen Willen aus der Jugendliga ausgeschlossen worden, und bevor er in die Jugendliga aufrückte, hatte er es geschafft, ein Jahr lang über das gesetzliche Alter hinaus bei den Spitzeln zu bleiben. Im Ministerium war er auf irgendeinem untergeordneten Posten geparkt, für den es keinerlei Intelligenz brauchte; andererseits gehörte er zu den führenden Leuten im Sportausschuss und in allen anderen Gremien, die sich mit der Organisation von Gemeinschaftswanderungen, spontanen Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwilligen Aktivitäten aller Art befassten. Zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife erzählte er gern mit leisem Stolz, dass er seit vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum präsent war. Ein erdrückender Schweißgeruch, eine Art unvermeidbarer Beleg für sein anstrengendes Leben, verfolgte ihn, wohin er auch ging – blieb sogar hinter ihm zurück, wenn er schon wieder weg war.

»Haben Sie eine Rohrzange?«, fragte Winston und versuchte die Überwurfmutter des Siphons zu lösen.

»Eine Rohrzange«, sagte Mrs. Parsons und wurde sofort unsicher. »Ich weiß nicht. Vielleicht die Kinder …«

Stiefelgetrampel und ein weiterer Akkord auf den Kamm wurden laut, als die Kinder ins Wohnzimmer stürmten. Frau Parsons brachte die Rohrzange. Winston ließ das Wasser ab und entfernte angewidert einen Klumpen Haare, der das Rohr verstopft hatte. Er wusch die Hände unter dem kalten Wasser aus dem Wasserhahn, so gut es ging, und kehrte ins andere Zimmer zurück.

»Hände hoch!«, schrie eine wütende Stimme.

Ein hübscher, kräftiger Neunjähriger war hinter dem Tisch aufgetaucht und bedrohte ihn mit einer Spielzeugpistole, während seine etwa zwei Jahre jüngere Schwester seine Geste mit einem Stück Holz nachmachte. Beide trugen die Tracht der Spitzel: blaue Shorts, graue Hemden, rote Halstücher. Winston hob die Hände über den Kopf, allerdings mit einem mulmigen Gefühl, denn das Gebaren des Jungen war so aggressiv, dass es nicht mehr nach Spiel aussah.

»Du bist ’n Verräter!«, schrie der Junge. »Du bist ’n Gedankenverbrecher! Ein eurasischer Spion! Ich erschieß’ dich, ich verporisier’ dich, ich schick’ dich ins Salzbergwerk!«

Beide sprangen um ihn herum und schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nachahmte. Es war schon etwas beängstigend, wie das Herumtollen von Tigerjungen etwa, die bald zu Menschenfressern heranwachsen würden. Im Blick des Jungen lag eine Art berechnender Grausamkeit, das unverkennbare Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewusstsein, fast groß genug dafür zu sein. Gut, dass es bloß eine Spielzeugpistole ist, dachte Winston.

Mrs. Parsons’ Blick huschte nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. In der besseren Beleuchtung des Wohnzimmers stellte er mit Interesse fest, dass sich tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagt hatte.

»Die sind immer so laut«, sagte sie. »Die sind sauer, weil sie bei der Hinrichtung nicht zusehen konnten, das isses. Ich hab’ keine Zeit, mitzukommen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«

»Warum können wir nicht beim Hängen zugucken?«, brüllte der Junge.

»Beim Hängen zugucken! Beim Hängen zugucken!«, sang das kleine Mädchen, das immer noch herumtanzte.

Winston fiel ein, dass an diesem Abend einige eurasische Gefangene, denen man Kriegsverbrechen vorwarf, im Park gehängt werden sollten. Dergleichen fand etwa einmal im Monat statt und war ein beliebtes Spektakel. Die Kinder machten immer Theater, damit man mit ihnen hinging. Er verabschiedete sich von Mrs. Parsons und wandte sich zur Tür. Aber er hatte noch keine sechs Schritte auf dem Gang zurückgelegt, als er einen schmerzhaften Schlag im Nacken verspürte. Es war, als hätte man ihm einen glühenden Nagel in die Haut getrieben. Er fuhr herum und nahm gerade noch wahr, wie Mrs. Parsons ihren Sohn zurück in die Tür zerrte, während der Junge eine Schleuder einsteckte.

»Goldstein!«, brüllte der Junge, als sich die Tür hinter ihm schloss. Doch was Winston am meisten erschütterte, war der Ausdruck hilfloser Angst auf dem grauen Gesicht der Frau.

In seiner Wohnung drückte er sich schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch. Sein Nacken schmerzte immer noch. Die Musik vom Teleschirm war verstummt. Stattdessen las eine abgehackte Soldatenstimme mit einer Art brutalem Vergnügen eine Beschreibung der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung vor, die gerade zwischen Island und den Färöer-Inseln festgemacht worden war.

Mit diesen Kindern, dachte er, muss die unglückliche Frau ein Leben in Angst und Schrecken führen. Noch ein Jahr, zwei Jahre, und sie würden ihre Mutter Tag und Nacht auf Anzeichen nachlassender Parteitreue beobachten. Heutzutage waren praktisch alle Kinder grässlich. Das Schlimmste war, dass Organisationen wie die Spitzel sie systematisch in unkontrollierbare kleine Wilde verwandelten, was jedoch keinerlei Hang in ihnen wachrief, sich gegen die Parteidisziplin aufzulehnen. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhing. Die Lieder, die Umzüge, die Fahnen, die Wanderungen, das Exerzieren mit Gewehrattrappen, das Skandieren von Kampfparolen, die Huldigung des Großen Bruders – das alles war für sie faszinierendes Spiel. Ihr ganzes Ungestüm richtete sich gegen die anderen, gegen die Feinde des Staates, Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Menschen über dreißig war es fast schon normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das aus gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der die Times nicht einen Artikel über so einen kleinen Schnüffler brachte – »Kinderheld« war die gängige Bezeichnung –, der eine kompromittierende Bemerkung aufgeschnappt und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

Der Schmerz im Nacken war verflogen. Halbherzig nahm er den Federhalter und fragte sich, ob er noch etwas in sein Tagebuch notieren könnte. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.

Vor Jahren – wie lange war das her? Sieben Jahre? – hatte er geträumt, durch einen stockdunklen Raum zu gehen. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte gesagt, als er vorbeiging: »Wir treffen uns an dem Ort, wo es keine Dunkelheit gibt.« Es war ganz leise, fast beiläufig dahingesagt – eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne innezuhalten. Merkwürdig war, dass damals, im Traum, die Worte keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später, nach und nach, schienen sie an Bedeutung zu gewinnen. Er konnte sich nicht entsinnen, ob er O’Brien vor oder nach diesem Traum zum ersten Mal gesehen hatte; genauso wenig, wann er die Stimme zum ersten Mal als die von O’Brien identifiziert hatte. Aber auf jeden Fall war diese Zuordnung vorhanden. Es war O’Brien, der aus dem Dunkel zu ihm gesprochen hatte.

Winston hatte sich nie sicher sein können – selbst nach dem kurzen Blickkontakt an diesem Morgen war das nicht möglich –, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war. Es schien auch keine große Rolle zu spielen. Zwischen ihnen gab es ein Einvernehmen, das wichtiger war als Zuneigung oder Parteinahme. »Wir treffen uns an dem Ort, wo es keine Dunkelheit gibt«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das heißen sollte, nur dass es auf die eine oder andere Art wahr werden würde.

Die Stimme vom Teleschirm hielt inne. Ein Trompetenstoß, klar und strahlend, durchschnitt die abgestandene Luft. Die Stimme setzte rasselnd wieder ein: »Achtung! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben erreicht uns eine Sondermeldung von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen! Ich darf Ihnen mitteilen, dass uns die Operation, von der wir jetzt berichten, dem Ende des Krieges näherbringen könnte. Und jetzt die Sondermeldung …«

Jetzt kommen schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich, nach einer blutrünstigen Beschreibung der Vernichtung einer eurasischen Armee mit gewaltigen Zahlen von Gefallenen und Gefangenen kam die Ankündigung, dass ab nächster Woche die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm gekürzt würde.

Winston rülpste wieder. Die Wirkung des Gins ließ nach, alles, was blieb, war ein flaues Gefühl. Sei es zur Feier des Sieges, sei es, um die Trauer über die gekürzte Schokoladenration zu bewältigen: Vom Teleschirm ertönte Ozeanien, du allein!. Man war gehalten, dabei Haltung anzunehmen. Doch an seinem jetzigen Platz war Winston unsichtbar.

Auf Ozeanien, du allein! folgte Unterhaltungsmusik. Winston trat ans Fenster, den Rücken immer zum Teleschirm. Der Tag war noch immer frostig und klar. Irgendwo in der Ferne detonierte eine Raketenbombe mit dumpf dröhnendem Nachhall. Zurzeit schlugen pro Woche etwa zwanzig oder dreißig davon in London ein.

Unten auf der Straße wehte der Wind das zerrissene Plakat hin und her, und das Wort ENGSOZ erschien und verschwand abwechselnd. Engsoz. Die heiligen Prinzipien von Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderbarkeit der Vergangenheit. Er fühlte sich, als irrte er durch Wälder am Meeresboden, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit? Tot. Die Zukunft? Nicht vorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein einziges lebendes menschliches Wesen auf seiner Seite stand? Und wie konnte er wissen, dass die Herrschaft der Partei nicht ewig währen würde? Wie als Antwort kamen ihm die drei Slogans auf der weißen Fassade des Wahrheitsministeriums wieder in den Sinn:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSEN IST STÄRKE

Er fischte ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus der Hosentasche. Auch hier waren diese Parolen eingeprägt, in winziger, klarer Schrift, und auf der Rückseite war der Kopf des Großen Bruders zu sehen. Selbst von dem Geldstück aus verfolgten einen diese Augen. Von Münzen, Briefmarken, Buchumschlägen, Fahnen, Plakaten und Zigarettenschachteln – von überall. Immer diese Augen, die einen anstarrten, und diese Stimme, die einen umfing. Schlafend oder wach, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett – man entkam nicht. Nichts gehörte einem, außer den paar Kubikzentimeter Hirn in seinem Schädel.

Die Sonne war weitergewandert, und die Myriaden Fenster des Wahrheitsministeriums, auf die kein Licht mehr schien, wirkten finster wie die Schießscharten einer Festung. Angesichts des gewaltigen pyramidenartigen Bauwerks sank ihm der Mut. Es war zu massiv, man konnte es nicht erstürmen. Tausend Raketenbomben würden es nicht zu Fall bringen. Abermals fragte er sich, für wen er das Tagebuch überhaupt schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – oder vielleicht nur für eine imaginäre Epoche. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern die Auslöschung. Sein Tagebuch würde zu Asche, er selbst zum Dampf der Vaporisierung. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie das Buch aus der Welt schaffte und den Inhalt aus der Erinnerung löschte. Welchen Appell konnte man an die Zukunft richten, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein anonymes Wort auf einem Stück Papier, materiell überdauern würde?

Der Teleschirm schlug vierzehn. In zehn Minuten musste er los. Um vierzehn Uhr dreißig hatte er wieder an der Arbeit zu sein.

Sonderbar: Der Stundenschlag schien ihm neuen Mut gemacht zu haben. Er war ein einsames Gespenst, das eine Wahrheit verkündete, die niemand je hören würde. Aber solange er sie kundtat, war auf unerklärliche Weise Kontinuität gewahrt. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei Verstand blieb, trug man das menschliche Erbe weiter. Er ging zurück zum Tisch, tunkte die Feder in die Tinte und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der sich die Menschen voneinander unterscheiden und nicht allein leben, an eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann:

Aus dem Zeitalter der Uniformität, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des Großen Bruders, aus dem Zeitalter von Doppeldenk: Grüße!

Er war bereits tot, überlegte er. Es war ihm, als habe er erst jetzt, wo er es geschafft hatte, seine Gedanken zu formulieren, den entscheidenden Schritt getan. Die Konsequenzen einer Handlung liegen immer schon in der Handlung selbst. Er schrieb:

Das Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: Das Gedankenverbrechen IST der Tod.

Jetzt, da er sich als toten Mann ansah, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte verschmiert. Das war genau die Sorte Kleinigkeit, die einen verraten konnte. Irgendein neugieriger Wichtigtuer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau: jemand wie die kleine Rotblonde oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Abteilung für Belletristik) würde sich fragen, warum er in der Mittagspause geschrieben hatte, weshalb er einen altmodischen Federhalter benutzt hatte, was er geschrieben hatte – um dann an zuständiger Stelle eine Meldung zu hinterlassen. Er ging ins Bad und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der körnigen dunkelbraunen Seife ab, die auf der Haut wie Sandpapier rieb und daher bestens zu diesem Zweck taugte.

Er legte das Tagebuch in die Schublade. Es war völlig sinnlos, es zu verstecken, aber er wollte wenigstens mitbekommen, wenn man seine Existenz entdeckte. Ein über den Schnitt gelegtes Haar wäre zu auffällig. Mit der Fingerspitze tupfte er ein identifizierbares weißliches Staubkrümelchen auf und deponierte es an der Ecke des Einbands, wo es herunterrutschen musste, wenn jemand das Buch bewegte.

3

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, so dachte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine hochgewachsene, statuenhafte, eher schweigsame Frau mit langsamen Bewegungen und üppigem blonden Haar. An seinen Vater erinnerte er sich undeutlich: dunkelhaarig und dünn, stets elegant-dunkel gekleidet (Winston hatte vor allem die hauchdünnen Sohlen seiner Schuhe vor Augen), mit Brille. Offensichtlich waren die beiden einer der ersten großen Säuberungswellen in den Fünfzigerjahren zum Opfer gefallen.

Im Traum saß seine Mutter irgendwo tief unter ihm, mit seiner kleinen Schwester im Arm. Er erinnerte sich überhaupt nicht an seine Schwester, allenfalls, dass sie ein winziges, schwächliches Baby war, immer still, mit großen, wachsamen Augen. Beide sahen zu ihm auf. Sie befanden sich an einem unterirdischen Ort, am Grund eines Brunnens vielleicht oder in einem sehr tiefen Grab – ein Ort, der sich weit unter ihm befand und sich immer weiter nach unten bewegte. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffes und sahen durch das dunkler werdende Wasser zu ihm auf. Noch gab es Luft im Salon, noch konnten sie ihn sehen und er sie, aber sie sanken unaufhörlich tiefer, hinab in das grüne Wasser, das sie jeden Moment für immer seinem Blick entziehen musste. Er war draußen im Licht und an der Luft, während sie in den Tod gesogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Weder auf ihren Gesichtern noch in ihren Herzen war ein Vorwurf zu erkennen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben blieb, und dass dies ein Teil der unumstößlichen Ordnung der Dinge war.

Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, aber er wusste in seinem Traum, dass das Leben seiner Mutter und seiner Schwester auf irgendeine Weise seinem eigenen Leben geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die zwar die charakteristische Traumszenerie beibehalten, aber die Fortsetzung eines bewussten Denkakts darstellen und in denen einem Tatsachen und Ideen klar werden, die auch nach dem Erwachen neu und bedeutsam erscheinen. Winston erkannte mit einem Mal, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine heute nicht mehr vorstellbare Weise tragisch und bedrückend gewesen war. Tragödien, so erkannte er, gehörten einer alten Zeit an, einer Zeit, in der es noch ein Privatleben, Liebe und Freundschaft gab, in der Familienmitglieder einander beistanden, ohne einen Grund dafür haben zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter ging ihm zu Herzen, weil sie aus Liebe zu ihm gestorben war, als er zu jung und zu selbstsüchtig war, um ihre Liebe zu erwidern, und weil sie sich irgendwie – er wusste nicht mehr, wie – im Namen einer Treue geopfert hatte, die intim und unerschütterlich war. So etwas konnte heute nicht mehr geschehen. Heute gab es Angst, Hass und Schmerz, aber keine tiefen Gefühle, keine echte Trauer. All das glaubte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester lesen zu können, die durch das grüne Wasser zu ihm aufsahen, Hunderte Faden tief und unaufhörlich sinkend.

Plötzlich stand er auf einem kurzen, federnden Rasen, an einem Sommerabend, mit schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die den Boden vergoldeten. Die Landschaft, auf die er blickte, tauchte so oft in seinen Träumen auf, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie aus der realen Welt kannte oder nicht. Im Wachzustand nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchenbauten vernarbte Weide, über die ein Trampelpfad verlief und auf der sich hier und da ein Maulwurfshügel erhob. In der verwilderten Hecke jenseits des Feldes wiegten sich die Zweige von Ulmen in einer sanften Brise, die Blätter wogten in dichten Wellen wie Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, wenn auch außer Sicht, floss träge ein klarer Bach, in dessen Gumpen unter den Weiden Weißfische schwammen.

Das dunkelhaarige Mädchen kam über die Weide auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich zur Seite. Ihr Körper war weiß und glatt, aber er weckte keinerlei Begierde in ihm, ja er sah kaum richtig hin. Was ihn allerdings überwältigte, war die bewundernswerte Geste, mit der sie sich ihrer Kleider entledigt hatte. Mit ihrer Anmut und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur, ein ganzes Denksystem zu vernichten, als könnten der Große Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen, großartigen Armbewegung ins Nichts gefegt werden. Auch dies war eine Geste aus der alten Zeit. Winston erwachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen.

Vom Teleschirm ertönte ein ohrenbetäubendes, monotones Pfeifen, das dreißig Sekunden lang anhielt. Es war sieben Uhr fünfzehn, Weckzeit für Büroangestellte. Winston quälte sich aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei bekam jährlich nur dreitausend Bekleidungspunkte zugeteilt, und ein Schlafanzug kostete schon sechshundert – und griff sein schäbiges Unterhemd und die Shorts, die auf einem Stuhl lagen. In drei Minuten begann die Morgengymnastik. Im nächsten Moment packte ihn ein heftiger Hustenanfall, wie fast immer kurz nach dem Aufwachen. Diese Anfälle nahmen ihm den Atem, so heftig, dass er erst wieder Luft bekam, wenn er sich auf den Rücken legte und eine Reihe von tiefen Atemzügen machte. Durch den Hustenkrampf waren seine Adern geschwollen, seine entzündete Krampfader hatte zu jucken begonnen.

»Gruppe dreißig bis vierzig!«, keifte eine Frauenstimme. »Gruppe dreißig bis vierzig! Auf die Plätze bitte! Dreißig bis vierzig!«

Winston nahm vor dem Teleschirm Haltung an, auf dem bereits eine junge, dürre, aber muskulöse Frau in Sportkleidung und Turnschuhen zu sehen war.

»Arme beugen – strecken!«, schmetterte sie. »Im Takt mit mir. Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Los, Genossen, ein bisschen mehr Schwung! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! …«