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Zwölf Menschen nachts an einer Raststätte … Eine Sommernacht an einer Autobahn-Raststätte in den Ardennen. Im hellen Neonlicht werden ein Dutzend Personen um 23:12 Uhr Zeuge, wie eine alte Frau über die Leitplanke der Fahrbahn klettert. Die Kassiererin der Tankstelle; Chelly, die Pole-Dance-Lehrerin; Alika, das philippinische Kindermädchen; Victoire, 25-jähriges Topmodel; Loic, Autoschlosser und Pick-up-Artist; Joseph, Handelsvertreter für Milben …: Jeder von ihnen ist ein outsider und hat einen an der Klatsche. Ein einzigartiges Panoptikum menschlicher Absonderlichkeiten in Dieudonnés unvergleichlichem Sound: Knallhart, drastisch, wild, tabulos, surreal, rabenschwarz und voll überbordender Fantasie.
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Seitenzahl: 183
Adeline Dieudonné
23 Uhr 12
Menschen in einer Nacht
Ein Roman in zwölf Geschichten
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Cécile,
meine Mutter
23 Uhr 12. Eine Autobahntankstelle in einer Sommernacht. Wenn man das Pferd mitrechnet, die Leiche aber nicht, sind zu diesem Zeitpunkt dreizehn Personen vor Ort.
»Madame!«, ruft jemand. Eine alte Frau steigt über die Leitplanke und flüstert: »Entschuldige, Herzchen.« Die Frau, die gerufen hat, heißt Julianne. Die anderen schauen alarmiert auf. Alika, die neben ihr auf der Bank sitzt. Victoire, eine junge Frau mit Glatze, die gerade auf einen Reifen ihres kleinen SUV gekotzt hat. Kurze Hosen, lange Beine, Combat Boots. Ein Stück weiter, auf dem Parkplatz, Joseph, der mit den gebeugten Schultern und seinem durchgeschwitzten Hemd wie ein netter Typ aussieht. Einen Meter weiter, unter einem Warnplakat zur Verkehrssicherheit, zündet Juliette sich gerade eine Zigarette an. Sie arbeitet an der Tankstellenkasse, zusammen mit Sébastien.
Sébastien raucht nicht mit. Er ist hinter der Kasse stehen geblieben. Was draußen vor sich geht, bekommt er nicht mit, zu sehr ist er damit beschäftigt, seinem Freund Mauricio anzügliche SMS zu schreiben. Am Abend zuvor sind sie bei Juliette eingeladen gewesen. Ein sonderbarer, trauriger Abend … aber schön.
Juliette ist die alte Frau bereits aufgefallen, als diese zwanzig Minuten zuvor hereingekommen war. Sie war allein. Nachdem sie eine Weile die Verkaufsregale abgesucht hatte, war sie an den Tresen gekommen.
»Haben Sie Gin?«
»Ach, nein, wir verkaufen keinen Alkohol.«
»Aber Bier haben Sie doch?«
Juliette hob leicht die Schultern. Mit einem resignierten Lächeln ging die Alte zum Kühlschrank und nahm eine 0,33-Liter-Dose heraus, was Juliette erleichtert wahrnahm. 0,33 Liter sind keine 0,5 Liter. Bei 0,33 Liter ist man auf Erfrischung aus. Bei 0,5 Liter auf etwas anderes. Juliette weiß von sich selbst, dass sie nach 0,5 Liter Bier nicht mehr imstande ist zu fahren. Ihr kommt dann jedes Mal das Lied von Renaud in den Sinn: »Die Kinder starben auf den Straßen, auf der Rückfahrt vom langen Urlaub, sicher trank Papa über alle Maßen, nur zwei, drei Schluck, mit Verlaub.« Dann bleibt ihr der Text für den Rest der Nacht im Ohr hängen wie ein Hirsch im Sumpf. Und das verhagelt ihr die Laune. Aber die Alte hat sich für eine 0,33-Liter-Dose entschieden. Das war in Ordnung. Sie zahlte und ging hinaus.
Alles, was sie wollte, waren Ruhe und was zu trinken. Sie ging an dem geschlossenen Restaurant mit den sechseckigen Fenstern vorbei, in denen Fotos von Bouletten mit Tomatensoße und Pommes hingen. Die Fotos waren ausgebleicht, die Bouletten grau, die Pommes weiß. Am Ende des Gebäudes standen ein paar gelbe Plastiktische, auch sie waren ausgebleicht. Dazu geschlossene Sonnenschirme in blauen Schutzhüllen, wie ausgeblasene Kerzen auf einem trockenen Kuchen. Die Alte grüßte Julianne und Alika, wählte den am wenigsten schmutzigen Tisch und nahm Platz.
Sie war überrascht, wie ruhig es hier war. Wenn man sie aufgefordert hätte, eine nächtliche Tankstelle zu beschreiben, hätte sie sich automatisch einen Höllenlärm vorgestellt. Den Lärm der Lastwagen auf der Autobahn, den Lärm einer dicken Harley, Leute, die von einem Ende des Parkplatzes zum anderen brüllen: »Winston oder Marlboro?« – »Was???« – »Winston oder Marlboro?« – »Nein, Camel.« – »Ah, okay!« – »Light!« – »Was?« – »Light!« So viele verschiedene Bestandteile, die sie nicht einzeln benennen konnte, die zusammengenommen aber einen Krawall erzeugen mussten, dass es einem den Frontallappen durchlöchert. Doch so war es nicht. Die Autobahngeräusche klangen wie gleichmäßiges und sanftes Meeresrauschen. Und die Leute, die hier Halt machten, flüsterten eher, als hätten sie Angst, die sich eingebildeten Anwohner aufzuwecken. Sie bewegten sich fast andächtig. Vielleicht versetzten das lange Fahren bei gleicher Geschwindigkeit und die Wärme sie in einen meditativen Zustand, den sie über die kurze Pause hinweg zu erhalten versuchten.
Die Alte betrachtete die nächtliche Prozession der Reisenden und dachte über deren Kämpfe nach, deren Sorgen, die Aneinanderreihung zufälliger Ereignisse, die ein Leben ausmachen, durch die es einzigartig und unersetzlich wird. Sie hätte gerne jeden von ihnen nach seiner Geschichte gefragt. Die junge Frau im Jogginganzug, die drinnen ihren Kaffee trank. Und der Typ, der so wirkte, als wollte er sie ansprechen. Und der andere Kerl, der sie von Weitem beobachtete, während er Benzinkanister aus seinem Abschleppwagen lud. Wobei, ihn durchschaute sie ohne Schwierigkeiten, ihn hatte sie schon in Aktion erlebt.
Ein Mann stieg aus einem Citroën mit Schweizer Nummernschild. Eine dürre Gestalt mit einem Gesicht, das die Alte faszinierte. Sehr helle blaue Augen, lange Wimpern, die so aussahen, als hätte er einen dünnen Strich Eyeliner über die Lider gezogen, ein voller Mund, leicht gelocktes schwarzes Haar. Etwas Zerrüttetes ging von diesem Mann aus. Und Gefahr. Als er sich hinkniete, um den Reifendruck zu prüfen, bemerkte die Alte, dass er nur seinen linken Arm benutzte, der rechte baumelte an ihm wie ein Gehenkter am Strick.
An sein Auto war ein Anhänger gekuppelt. Von dem Pferd darin konnte die alte Frau nur die Kruppe sehen, doch sie hörte sein kurzes, angstvolles Wiehern und das Scharren der beschlagenen Hufe auf dem Boden des Anhängers. Woher kam dieses Tier? Wo brachte er es hin? All das hatte nun keine Bedeutung mehr.
Die Alte schloss die Augen und holte tief Luft.Es roch nach Benzin, nach geschmolzenem Asphalt, der Wind von den Hochplateaus der Ardennen trug aber auch den Duft des Heidekrauts, der feuchten Felsen und des Moores heran.
Um 23 Uhr 13 steht sie hinter der Leitplanke. Ihr Name ist Monica.
Chelly musste sich beruhigen. Sie atmete tief durch und beschloss, eine Pause zu machen. Sie wusste nicht genau warum, aber sie mochte Nachttankstellen.
Ihr kamen dort immer die Dire Straits in den Sinn.
Sie sah sich auf einer staubigen Straße in Montana, am Steuer eines alterslosen Pick-ups, frei und ungebunden, die raue Stimme und die E-Gitarre von Mark Knopfler im Ohr, auf dem Weg an einen Ort, wo es Pferde, eine Ranch und ein Fest mitten in der Prärie gab, mit einem großen Lagerfeuer, an dem Spareribs und Marshmallows gegrillt wurden.
Und da wäre dieser Gitarrenspieler, der ein bisschen was von Mark Knopfler hätte, ein bisschen was von Robert Redford in Der Pferdeflüsterer, ein bisschen was von Clint Eastwood in Die Brücken am Fluss.
Ein zuverlässiger, starker, einsamer Mann.
Ein Mann, dem man nichts vormachen könnte, der Schmerzhaftes erlebt hatte, Frau und Kinder bei einem Verkehrsunfall verloren oder so etwas …
Der mit gebrochenem Herzen auf seinem Appaloosa durch die Steppe reitet und seine Rinderherde zum Schlachthof führt. Sie stellte sich vor, wie er unter dem Sternenhimmel schläft, den Kopf auf seinen Westernsattel gebettet, während der Wind über dem Missoula Lake anhebt und in seinen blonden Haaren spielt.
Die Haut an seinem Hals riecht wie weiches Leder, trockenes Gras und Zedernharz.
Er würde sie bemerken, sie, Chelly.
Ohne sein Gitarrenspiel zu unterbrechen, würde er seinen Blick über ihren Hintern in der engen Low-Waist-Levis in Größe 26 gleiten lassen. Über ihren straffen Bauch unter dem karierten Hemd, das sie kurz über dem Bauchnabel verknotet hätte, über ihre vom jahrelangen Pole Dance geformten Arme.
Und sein wildes, aber einsames Cowboyherz würde wieder ein wenig zu schlagen beginnen.
Für sie, Chelly.
So träumte Chelly vor sich hin, während sie unter der leuchtenden Warntafel parkte (»Alle zwei Stunden mal einen Gang runterschalten!«), von dem ein Mann mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm herunterlächelte. Ein Typ, der mit seiner Göre und seinem fliehenden Haaransatz dümmlich selig wirkte.
Beim Aussteigen spürte Chelly einen Hauch Ärger in sich aufkommen. Der Kerl auf dem Schild erinnerte sie an Nicolas, ihren Mann. Und in letzter Zeit reagierte Chelly schon beim Gedanken an Nicolas mit Abwehr.
Als sie über den Parkplatz ging, bemerkte sie den orangefarbenen Laternenschein auf ihrem Arm. Er brachte ihre durchtrainierten Muskeln zur Geltung. Sie machte ein Foto und postete es auf Instagram. »Come on, girls! That’s what you should look like! #motivation #hardwork #power #muscles #polefitness«.
Chelly war Pole-Dance-Trainerin. Aber vor allem war sie Influencerin. Ihr Account @ChellyPoleFitness hatte sage und schreibe 43,7k Follower.
Noch ein paar Stunden zuvor war sie müde und antriebslos nach Hause gekommen, als ob all ihre Energie von einem Strudel aufgesogen worden wäre, dessen Ursprung sie nur zu gut kannte.
Sie war durch die Tür ihres Vorstadtbungalows wie ins Maul eines schlaffen Monsters mit modrigem Atem getreten. Sie musste an die Dementoren in Harry Potter denken, diese gespenstischen Gestalten, die sich vom Glück der Menschen ernähren, ihnen jeden positiven Gedanken und jeglichen Lebenswillen aussaugen.
Und da war Nicolas. Sie waren seit elf Jahren verheiratet. Nicolas war Set-Assistent beim Film. Ein schwieriger, harter Beruf mit wechselnden Arbeitszeiten, der einem Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft gegen Stress und Erschöpfung abverlangt.
All das hatte Chelly elf Jahre zuvor an Nicolas gereizt.
Mit seinem Leatherman und ein wenig Klebeband konnte Nicolas jedes heruntergekommene Haus in einen bewohnbaren Ort verwandeln.
Das erste Mal sahen sie sich bei einem Grillabend bei Freunden, die auf einem Autoschrottplatz wohnten. Nicolas war dabei, aus ein paar alten Reifen und Sicherheitsgurten, die er aus den Schrottautos gezerrt hatte, Sofas zu bauen. In nicht einmal einer Stunde hatte er das Drecksloch in einen hübschen kleinen Salon unter freiem Himmel verwandelt, mit ein paar alten Scheinwerfern als Lampions.
Bei diesem Anblick hatte Chelly gedacht, dass sie sich im Fall eines Atomkrieges mit genau so einem Mann in das Abenteuer Überleben stürzen würde. Sie stellte sich Nicolas dabei vor, wie er sich von ihrem provisorischen Lager aus mit nacktem Oberkörper, einer khakifarbenen Cargohose und einem selbst gebauten Bogen auf dem Rücken in die Wälder schlägt und ihr zuruft: »Bleib bei den Kindern, ich besorge uns etwas zu essen.«
Und ein paar Stunden später würde er wiederkommen, einen dampfenden toten Hirsch auf den muskelbepackten Schultern, und das Blut des Tieres würde aus der aufgeschlitzten Kehle über seine glatte, von der unerbittlichen Sonne gebräunte Brust rinnen.
Und wenn sie sich ihn, zu Beginn ihrer Beziehung, so vorstellte, stürzte sie sich auf ihn, um mit ihm zu schlafen. Manchmal mehrmals am Tag. Und wenn er voller Energie in ihr war, ersetzte sie Pfeil und Bogen durch einen Gewehrlauf und kam sofort.
Ihre Trauung fand im Standesamt statt, gefolgt von einer Feier im Clubhaus eines Sportvereins, wo es nach kalter Suppe roch.
Sie hatten ein kleines graues Haus in einer grauen Straße in einem grauen Stadtviertel im Norden der Stadt gekauft, weil es dort bezahlbar war.
Das kleine Haus war sauber und funktional, ausgestattet mit Fliesenboden und billigen Materialien. Ein ziemlich reizloses Ambiente, aber das Ambiente war ihnen beiden egal …
In der ersten Zeit waren sie glücklich. Manchmal stritten sie, aber sie liebten sich, und vor allem waren sie stolz aufeinander.
Chelly verlangte nicht viel von Nicolas. Nur Kraft, Disziplin und Härte. Daran glaubte Chelly. Wie andere an Gott oder an die Gewerkschaft glauben. Sie sah sich als Tier in einem Ökosystem, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Gewinner hier, Verlierer da. Ganz einfach. Selbst ein vierjähriges Kind war imstande, das zu begreifen: Wer sich anstrengt, überlebt. Wer sich nicht anstrengt, verreckt. Bei der natürlichen Selektion kommen nur die Stärksten durch, die anderen haben eben Pech gehabt. So lautete das Gesetz der Natur. Klar, deutlich, schonungslos. Und so leicht zu verstehen.
Ein Jahrzehnt lang hatte Chelly hart gearbeitet und sich ihre Nische erobert, sich einen Ruf verschafft und selbst die hartnäckigsten Konkurrentinnen abgehängt.
43,7k Follower auf Instagram.
Scheiße, das war die Leistung einer Kämpferin. Sich ein Publikum aufzubauen war das eine, das andere, es auch zu behalten. Täglich fünfzehn, zwanzig Fotos zu posten, ihre Truppe zu motivieren, immer in Hochform zu sein. Sie war ein Vorbild, eine Ikone, eine Referenz. Sie regierte ihre Community wie eine Wölfin ihre Meute. Sie war eine geborene Anführerin, sie hatte es im Blut, das wusste sie.
Nicolas hingegen sah seine Arbeit als ein notwendiges Übel, um sich Ärger vom Leib zu halten. Ein zufriedenes Umfeld, bezahlte Rechnungen, monatliche Kredittilgung … Das war kein Spaß, aber es musste sein.
Zu Anfang hatte er seinen Beruf gemocht. Alles war neu und gut für sein Selbstbild. Er fühlte sich wie sein Kindheitsidol MacGyver. Dann verlor er die Lust.
Der einstige MacGyver war nun ein Typ mit Bauchansatz, der seinen letzten Rest Energie darauf verwendete, sich über seine Arbeit zu beschweren. Nicolas’ Job war nur noch eine nie versiegende Quelle des Frustes, der Beleidigungen und Tiefschläge.
Als die ersten Beschwerden kamen, hatte Chelly sich gefragt, warum er nicht den Beruf wechselte, doch dann begriff sie, dass es Nicolas gefiel, sich zu beschweren. Sie hatte es daran gemerkt, wie er von seinem Tag erzählte. Er versuchte, den größtmöglichen Effekt zu erzielen und wurde seinen Ärger mit dem gleichen Vergnügen los, mit dem ein Säugling in die Windel macht.
Er servierte Chelly die tägliche Portion selbstgefälligen Gejammers mit einem Frettchenlächeln. Er begann immer mit einem »Ach, das habe ich dir noch nicht erzählt?« (obwohl er genau wusste, dass es nicht so war), gefolgt von einem »Warte, das ist wirklich der Hammer«.
Und er ließ sich genüsslich Zeit. Er sprach ein wenig leiser und senkte unterwürfig den eingezogenen Kopf, während er seinen Blick weiter in Chellys Augen bohrte. Wenn der Begriff »verschlagen« ein Gesicht hätte, wäre es dieses, dachte Chelly bei diesem Anblick. Es kam ihr so vor, als hätte sich sein Wortschatz gewandelt, als kämen darin nur Wörter mit möglichst vielen Zischlauten vor, die alles vor Spott triefen ließen. Sogar sein Gesicht wirkte verändert. Seine Augen lauerten tief in den Höhlen, wie zwei kleine Köter, die bereit waren loszukläffen.
Und dieses Lächeln … Dieses eifernde Selbstmitleid war sicher der Ursprung des Strudels, der Chelly so runterzog.
An dem Abend hatte sie sich auf jeden Fall erschöpft gefühlt. Und Erschöpfung hatte in Chellys emotionalem Repertoire keinen Platz.
Als sie nach Hause kam, war Nicolas bereits da. Er hatte früh Feierabend gemacht. Er wartete auf einem Hocker in der Küche, die Ellenbogen auf den Tresen gestützt, und futterte Chips mit Pickles-Geschmack aus der Tüte.
Er gab ihr einen lieblosen Kuss. Ein sinnlos gewordener Reflex. So sahen nun also ihre Küsse aus. Ein klinisch-kühles Etwas, das nicht wirklich aus Lust geschah, sondern weil es zu einer Ehe eben dazugehörte.
Du bist vergeben, du hast Sex. So ist das eben.
Wenn du es nicht tust, ist das komisch, ein Problem, das es schnell zu lösen gilt.
Und vom physiologischen Standpunkt aus ist Sex in vielerlei Hinsicht ausgezeichnet. Chelly hatte sich im Internet erkundigt. Ein sehr gutes kardiologisches Training, eine effiziente Methode zur Fettverbrennung und zur Produktion von Dopamin, eines leistungssteigernden Hormons.
Sie hatte ihre Sachen abgelegt und war nach oben gegangen, um zu duschen. Das hatte sie bereits im Fitnessstudio getan, aber sie wollte Zeit schinden.
Der Gedanke, zu Nicolas in die Küche zu gehen, war so reizvoll wie die Aussicht auf eine Begegnung mit einem verwesenden Seehundkadaver.
Also hatte sie ein bisschen an Mike gedacht. Das war der Hip-Hop-Trainer, der im Saal neben ihrem Kurse gab. Ein Körper wie eine Raubkatze, lang, sehnig, flexibel. Eine seidige Haut, ein Rücken, bei dem jede schwach geworden wäre. Alles an Mike strahlte eine animalische Sexualität aus. Der Mann sah immer aus, als würde er gleich loslegen. Seine Art, sich zu bewegen, sein Gang, seine linke Hand, wie sie nach der Wasserflasche griff, seine rechte Hand, die den Verschluss abschraubte. Selbst wenn er sie im Gang der Tanzschule mit Wangenküsschen begrüßte, kam es Chelly vor, als könnte er sie gleich an Ort und Stelle packen und vor aller Augen an die Wand pressen.
Aber Mike hatte noch nie das geringste Interesse an Chelly gezeigt.
Bestimmt war er schwul.
Nach dem Duschen zog Chelly einen Jogginganzug an und ging zu Nicolas nach unten.
In der Küche begann sie, auf der Arbeitsplatte aus blauem Steinimitat ihren Vitality-Juice zuzubereiten, den sie vor jeder Mahlzeit trank. Sie schnitt Karotten, Rote Bete und Ingwer klein und füllte alles in den Entsafter.
Sie hatte von den Zutaten ein Foto gemacht, das sie auf Instagram postete. »One Chellyjuice a day, keeps the doctor away! Kein Training ohne Stoff, girls … #beetroot #carrot #ginger #discipline #organic«.
Nicolas wartete ab. Mit seiner großen Tüte Chips mit Pickles-Geschmack saß er auf dem Hocker wie ein Geier, der seine Beute beobachtet. Chelly hatte ihm schon achthundertmal gesagt, dass er die Chips in eine Schüssel geben und nicht direkt aus der Packung essen solle, dass nur der letzte Trottel das so mache. Worauf Nicolas jedes Mal entgegnete: »Oh, ist ja gut, wir sind doch unter uns.«
Also knabberte Nicolas gewissenhaft direkt aus der Tüte. Das Geräusch machte Chelly wahnsinnig. Nach jedem Satz ein leises »Schraff, schraff«.
Er hatte mit seiner täglichen Litanei begonnen.
Dieses Mal ging es um den Regisseur, seinen unfähigen und perversen Chef, der ihn, Nicolas zufolge, vom ersten Tag an nicht riechen konnte und versuchte, seine Arbeit zu sabotieren, weil er in ihm einen gefährlichen Rivalen sah, der ihn noch vor Ende der Dreharbeiten von seinem Posten vertreiben konnte.
»Ich erkläre ihm also, dass ich nach dem Drehtag noch zwei Stunden lang den Laster aufgeräumt und den Kram zusammengesucht habe, den diese Technikerdeppen uns geklaut und überall liegen gelassen haben, und weißt du, was er da zu mir gesagt hat?« (schraff, schraff)
»Nee, warte, das haut dich um, der Typ ist wirklich der Hammer … er sagt zu mir, einfach so, ich schwöre, er sagt: Keiner hat dich darum gebeten!« (schraff, schraff)
»Also will er mir die zwei Überstunden nicht bezahlen, ist das zu glauben?«
»Aber mir ist das egal, denn den Typen kann eh keiner ausstehen, ich muss nur mit …«
Und da verstummte Nicolas mitten im Satz.
Nun, der Grund war die Messerklinge, die sich in seine Schulter gebohrt hatte, direkt unter dem linken Schlüsselbein.
Chelly hatte auf den Hals gezielt. Aber bei drei Metern Entfernung, so aus dem Stegreif, konnte sie mit dem Ergebnis zufrieden sein. Das gleiche Glücksgefühl, wie wenn man mit einem Papierknäuel in den Mülleimer trifft.
Auf der Suche nach einer Erklärung wanderte Nicolas’ Blick zuerst zu dem Messer, dann zu seiner Frau. Chelly starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Messer war tatsächlich ihres.
Nicolas schaute erneut auf das Messer, wie um die neue Wirklichkeit zu begreifen, und wieder zu Chelly, auf der Suche nach dem zweiten Teil der Erklärung: Warum?
Während Nicolas’ Blick zwischen dem Messer und Chelly hin und her ging, kam ihr der Gedanke, dass er nun die Wahl zwischen zwei möglichen Reaktionen hatte: Entweder würde der Kerl mit der Cargohose und dem Gewehr zum Vorschein kommen und sie würde die größte Tracht Prügel ihres Lebens beziehen, oder der Dickbäuchige mit dem fliehenden Kinn würde darin Anlass für so viel Selbstmitleid sehen, dass er sich für den Rest seines Lebens darin suhlen konnte.
Sie hatte den Kampf zwischen MacGyver und Mister Pickles-Chips eingeläutet. Blieb abzuwarten, wer gewinnen würde.
»Bist du noch ganz dicht, warum hast du das gemacht?«
Die erste Runde ging an die Chips.
Nicolas versuchte mehr schlecht als recht, sich die Klinge aus der Schulter zu ziehen.
»Hilf mir!«
Chelly ging zu ihm, packte den Griff so, dass die Klinge in der Wunde eine Viertelumdrehung vollführte. Nicolas schrie vor Schmerzen auf und sank auf den weißen Fliesenboden aus Carrara-Marmor-Imitat.
»Aaaaaaah, Scheiße, Chelly!«
Sie setzte sich rittlings auf ihn.
Ängstlich und ungläubig starrte er sie an.
Sie wartete ein paar Sekunden, gab MacGyver Gelegenheit, sich zu manifestieren. Eine Backpfeife, eine Erektion, ein hasserfüllter Blick, irgendetwas, egal was …
Aber nichts dergleichen, nur ein Typ mit Kartoffelchipsatem, der sich wimmernd zwischen ihren Beinen wand.
»Chelly, was machst du da?«
Chelly fühlte, wie dunkle Traurigkeit über sie schwappte. Die Wirkung war die einer Injektion von flüssiger Jauche direkt in die Adern. Der Mann, den sie liebte, hatte in diesem wimmernden Körper nie existiert. Sie musste sich bei ihrer ersten Begegnung getäuscht haben. Sie war jung, sicher ein wenig zu romantisch. In dem Augenblick zog sich das Herz der jungen Frau, die sie einmal gewesen war, zusammen. Ihre große Liebe, ihren MacGyver, gab es nicht. Sie war von ihrem zu sanftmütigen Wesen in die Irre geführt worden.
Also zog Chelly die Klinge heraus. Wenn man von der gewaltigen Menge Blut ausging, die sich in warmen Bächen auf die weißen Fliesen ergoss, hatte sie wohl die Hauptschlagader getroffen.
Nicolas, der von Natur aus bereits blass war, wurde fast durchscheinend. Er wehrte sich immer noch, aber nach Chellys Geschmack zu wenig. Es fiel ihr leicht, ihn am Boden, zwischen ihren muskulösen Beinen zu halten. Er gab hin und wieder ein flehendes Röcheln von sich, seine Augen waren vor Todesangst weit aufgerissen.
Das Spiel begann sie zu langweilen, wie ein sich in die Länge ziehender Liebesakt.
Mit einem schnellen und präzisen Schnitt durchtrennte sie die Halsschlagader.
Heißes Blut schoss aus dem Hals ihres Mannes. Dunkelrote Flüsse. Chelly tauchte ihre Hände hinein. Der sich unter ihr aufbäumende Körper erregte sie auf eine gewisse Weise. Sie hatte Lust, mit ihm zu schlafen, hier und jetzt.
Doch das Aufbäumen war bereits in ein leichtes, reflexartiges Zucken übergegangen.
Also stand Chelly auf. Ihr Blick fiel auf ihren mit Blut befleckten Jogginganzug und sie dachte, dass sie ihn gleich einweichen sollte, so würde sie ihn bestimmt noch retten können.
Dann überlegte sie eine Weile, wie sie alles sauber bekommen würde. Das viele Blut war ja einen Moment lang amüsant gewesen, aber die Reinigung stand auf einem anderen Blatt.
Sie verschloss die Wunde an Nicolas’ Hals mit silbergrauem Tape, um zu verhindern, dass beim Transport des Leichnams noch mehr Blut austrat. Sie zog ihn vollständig aus und warf die fleckigen Klamotten in einen großen Müllsack, zusammen mit der Chipstüte. Dann wischte sie das Blut von den Fliesen, vom Hocker, vom Körper ihres Nicolas, den sie anschließend in eine große Polyesterdecke aus Kaschmirimitat rollte.
Am schwierigsten war es gewesen, ihn zum Kofferraum ihres Hummers zu ziehen.
Aber Chelly war praktisch veranlagt. Mit ein bisschen gesundem Menschenverstand und Planung war die Sache in weniger als einer Stunde geritzt gewesen.
Sie war nach oben gegangen, hatte ihren Jogginganzug ausgezogen, ihn in eine Schüssel mit Wasser und Fleckenreiniger mit Aktiv-Oxygen gelegt und hatte dann noch einmal geduscht, zum vierten Mal an diesem Tag. Wieder hatte sie an Mikes Haut gedacht.