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Vorhang auf für das neue Jugendbuch von Bestsellerautorin Marie-Aude Murail! Chloé ist die zurückhaltende Tochter aus gutem Hause, Bastien ist witzig und unbeschwert, und Neville wirkt düster und unnahbar. Verschiedener könnten sie kaum sein. Und doch wird aus ihnen ein unzertrennliches Trio. Denn eine Leidenschaft vereint sie: die Schauspielerei. Und während sie von ihrem charismatischen Lehrer lernen, wie viele Arten es gibt, »Ich liebe dich« zu sagen, werden sie sich ihrer eigenen Gefühle füreinander bewusst. Sie spielen ihre Rollen – und finden dabei heraus, wer sie im echten Leben sein möchten. Eine wunderbare Geschichte über den Ernst und die Leichtigkeit des Lebens – und über die Liebe. Von der Autorin von ›Simpel‹
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Seitenzahl: 266
Marie-Aude Murail
3000 Arten, Ich liebe dich zu sagen
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
FISCHER E-Books
Für Françoise und Yves Gaignard
»Mister Ashley hat mir zwölf verschiedene Arten gezeigt,wie man zu der Porzellanvase in meinem Salon ›Ich liebe Sie‹ sagen kann.
Seien Sie vorsichtig. Er ist ein großer Schauspieler.«
Charity Tiddler
Ihr seid ein Liebender: borgt Amors Flügel euch
Wir waren drei Schüler der siebten Klasse und kamen aus so unterschiedlichen Welten, dass nichts darauf hindeutete, wir könnten uns eines Tages Ich liebe dich sagen.
Chloés Eltern waren Monsieur und Madame Lacouture, er Direktor der Charles-Péguy-Schule, sie Deutschlehrerin.
Bastien war der Sohn der Vions, die einen kleinen Lebensmittelladen führten. Da die Kunden ihn nur »den Sohn vom Laden« nannten, dauerte es eine Weile, bis Bastien verstanden hatte, wozu Eltern da sind. In seinem Falle lautete die Antwort: zu nichts.
Neville hätte Steevy geheißen, wenn die Nachbarin von gegenüber den Namen nicht für ihren eigenen Sohn genommen hätte. Magali Fersenne, alleinerziehende Mutter, griff daher auf Neville zurück, einen Vornamen, den sie während der Schwangerschaft in einer Fernsehserie der BBC gehört hatte. Ihr war nicht aufgefallen, dass der britische Held ein schweigsamer und leidender Typ war. Schon in der Wiege beschloss Neville, es ihm nachzumachen.
Wir hießen also Chloé Lacouture, Bastien Vion und Neville Fersenne. In jenem Jahr hatten wir als Französischlehrerin die berüchtigte Madame Plantié, die von ihren Schülern für verrückt und von den Eltern für höchst kompetent gehalten wurde. Die energische, fröhliche Frau hatte eine seltsame Allergie: Sie konnte keine Romane mit Happy End ertragen, sie war der Ansicht, die seien für Idioten und Amerikaner. Während wir – mit zwölf oder dreizehn Jahren, Pickeln, Regelschmerzen und nervigen Eltern – in die Winterdepression verfielen, begann Madame Plantié aufzublühen, als sie uns Der Tod des Olivier Bécaille von Emile Zola vorlas. Es war die abscheuliche Geschichte eines armen Kerls, der lebendig begraben wurde und versuchte, den Deckel seines Sarges anzuheben.
Und eines schönen Tages (»schön« für Madame Plantié, also mit tiefen, schweren Wolken) verkündete uns unsere Lehrerin, die nächste Lerneinheit habe das Thema »Theater«. Wir befürchteten das Schlimmste, denn mit leuchtenden Augen fügte sie hinzu, Ziel des Theaters sei es, uns die Tragik der menschlichen Existenz zu vermitteln. Sie hatte sich bemüht, Karten zu bekommen, um mit uns im Theater unserer Stadt Der König stirbt anzusehen. Es war die abscheuliche Geschichte eines armen Kerls, dem angekündigt wird: »Du stirbst in anderthalb Stunden«, und der nach einem Todeskampf von anderthalb Stunden auf der Bühne stirbt. Zu unserem Glück war die Aufführung ausverkauft gewesen, und Madame Plantié musste sich mit Don Juan begnügen. Ich glaube, sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Don Juan die einzige Komödie von Molière ist, die schlecht ausgeht.
Keiner von uns dreien war je im Theater gewesen.
Bei den Lacoutures spielte sich alles zu Hause ab. Papa, Mama, Chloé und ihre kleine Schwester Clélia sahen sich DVDs aus der Mediathek an, saßen dabei in einer Reihe auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatten die Fernbedienung in Griffweite, um alle Szenen zu überspringen, die Albträume machen könnten.
Bei den Vions kannte man nur eine Form der Beschäftigung: »Gibt’s was Lustiges im Fernsehen?«
Bis zu einer Offenbarung in seinem fünften Lebensjahr hatte Bastien sogar geglaubt, »Waslustiges« sei ein einziges Wort.
Die Mutter von Neville wiederum ging weder ins Theater noch ins Kino, beides hätte von ihr zwei vollständig unmögliche Dinge verlangt: den Mund zu halten und anderen zuzuhören.
Unsere kleine Stadt hatte das Glück, dass sie über ein Theater mit einem klassischen Zuschauerraum verfügte, mit gemalten Amor-Figuren an der Decke, roten Samtsesseln und vergoldeten Rängen. Madame Plantié hatte gute Plätze in der Mitte des Rangs bekommen, gegenüber der Bühne, und da sie sich das Gedränge der Schulvorstellungen am Vormittag ersparen wollte, gingen wir abends ins Theater und mischten uns unter das Erwachsenenpublikum. Bastien, der immer den Clown spielte, musste sich neben unsere Lehrerin setzen. Vom Parkett stieg ein dumpfer Lärm aus Lachen, Begrüßungen, Schritten und schlagenden Türen empor, der zusammen mit den Lichtern erlosch. Aus den Kulissen drang das Geräusch von neun raschen Stockschlägen, gefolgt von drei langsameren, poch, poch, poch, dann hob sich surrend der purpurrote, mit goldenen Fransen verzierte Vorhang.
Als wir uns sechs Jahre später über den Abend unterhielten, erklärten wir alle drei, er sei entscheidend für unser weiteres Leben gewesen, und als der Vorhang am Ende fiel, hätten wir gewusst, dass wir Schauspieler sein würden.
Um die Wahrheit zu sagen, hatten wir uns während der Vorstellung ab und zu gelangweilt.
Die Magie entfaltete ihre Wirkung mit Verzögerung. Als Chloé ihrer kleinen Schwester den Zuschauerraum, das Bühnenbild und die Kostüme beschrieb, die sie verzaubert hatten. Als Bastien, um seine Alten zum Lachen zu bringen, die Grimassen des Schauspielers nachmachte, der Sganarell gespielt hatte. Als Neville in der nächsten Nacht von sich als großem Herrn und bösem Mann träumte, der den Frauen das Herz bricht.
Dieser blutrot-goldene Theatermoment, der aus dem Nichts aufgetaucht war, schlug in uns ein wie ein Granatsplitter in den Kopf eines Frontsoldaten! Aber damals wussten wir davon nichts, weil wir nicht miteinander redeten.
Neville fand Chloé süß, aber er verwechselte sie manchmal mit ihrer Freundin Clémentine, und vor Bastien nahm er sich in Acht. Bastien wiederum nannte Neville innerlich »den Psychopathen«, und da Chloé ihm auf einen seiner etwas plumpen Scherze »Du bist nicht witzig« geantwortet hatte, näherte er sich ihr nicht mehr. Und Chloé blieb unter Mädchen. In der Rangliste der schönsten Jungen in der Klasse, die sie mit Clémentine aufgestellt hatte, hatte sie Neville allerdings auf Platz eins gesetzt.
Im Jahr darauf trennten sich unsere Wege, Bastien kam in die 8a, Chloé in die 8b, Neville in die 8c, und es hätte sehr gut nie zu der Geschichte kommen können, die ihr hier lest. Aber Madame Plantié, die nicht mehr unsere Französischlehrerin war, beschloss, für die Ganztagsschüler eine Theater-AG zu organisieren. Ihre ehemaligen Schüler, die sie immer noch »die Verrückte« nannten, wenn sie über sie sprachen, drängelten sich am Tag der Anmeldung. Sie nahm uns alle drei mit Worten an, die zeigten, dass sie uns gut kannte: »Durch das Theater wirst du ein bisschen aus dir rausgehen, Chloé. Bastien, wenn du kommst, um hier Chaos zu veranstalten, behalte ich dich nicht. Ach, Neville? Dich interessiert tatsächlich mal etwas …«
Madame Plantié hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was man in einer Theater-AG tun könnte. Sie machte nicht den Eindruck, als könne sie sich vorstellen, dass Schauspielerei etwas ist, was man lernen kann. Beim ersten Treffen waren fünfzehn Teilnehmer anwesend, eine ausreichend große Anzahl, um eine gute Truppe zu bilden. Als Madame Plantié ankündigte, dass wir am Ende des Schuljahres ein Stück aufführen würden, wurden wir wie durch Zauberei alle drei auf die Bühne des Theaters mit dem prunkvollen Zuschauerraum im Moment des Schlussapplauses versetzt. Zuvor aber waren ein paar Formalitäten zu erledigen, zum Beispiel musste ein Stück gefunden werden, das wir spielen würden. Dieses musste für alle Schüler eine Rolle bieten und natürlich ein unglückliches Ende haben. Warum entschied sich Madame Plantié für Romeo und Julia? Vielleicht weil das berühmteste Liebespaar der Theatergeschichte sich in der Schule begegnet wäre, wenn die beiden zu unserer Zeit gelebt hätten; Fünfzehn, o Romeo, das ist das Alter Julias! Aber unsere Lehrerin hatte nicht damit gerechnet, welche Wirkung Shakespeare auf Schüler hatte. Wenn man sich bei den Montagues zum Abendessen einlädt, sagt man nicht: »Wir erwarten Sie gegen zwanzig Uhr«, sondern: Heft’ Federn dir an deine Fersen, und komm, geschwind wie ein Gedanke, zur Stund’, in der Gott Phöbus im See sein silbriges Gesicht betrachtet. Das macht es ein bisschen kompliziert.
Da ihre Schauspieler mit den Rollen durcheinanderkamen, hatte Madame Plantié die Idee, dass alle Capulets ein rotes T-Shirt tragen sollten, und ihre Feinde, die Montagues, ein blaues T-Shirt. Weil die Lehrerin bei den Proben ständig rief: »Die Blauen hierher! Jetzt die Roten, los!«, hatte man zunehmend den Eindruck, man sei beim Fußballtraining. Übrigens hatte die aufopferungsvolle Madame Plantié zwei professionelle Nervensägen in ihre AG aufgenommen, das Duo Kamil und Erdogan, was Anlass zu Wortwechseln der folgenden Art gab:
»Madame, der Kamil, der beleidigt mich krass!«
»Ey, Capulette, halt’s Maul!«
»Wo hast du gesehn, dass ich Capulet bin, du Wixer? Bin ich Montague!«
»Bist du krank, oder was? Du bist ’n Roter!«
»Madame, Madame, wer sin’ die Roten?«
Außerdem sah sich Madame Plantié mit dem Ego der Schauspieler konfrontiert, von dem jeder weiß, dass es übermäßig groß ist.
»Für die Rolle der Julia dachte ich an Chloé«, sagte sie unschuldig.
»Warum nicht ich?«, protestierte Ludivine lauthals.
Es war heikel, ihr zu antworten: Weil du hässlich bist.
»Ich bestehe nicht drauf, Julia zu spielen«, sagte Chloé sofort in jenem schnippischen Ton, den man bei den Lacoutures annahm, wenn man eigentlich die Giftspritze oder das Fleischermesser zücken wollte.
Madame Plantié seufzte, als sie so wenig Unterstützung fand. Chloé hatte ein feingeschnittenes, vornehmes Gesicht wie Audrey Tautou oder Marion Cotillard und war für die Rolle der Julia wie geboren. Aber Ludivine hatte eine große Klappe und würde alle anderen Rollen ablehnen und die Stimmung vergiften.
»Magst du die Mutter von Julia spielen, Chloé?«, fragte Madame Plantié, der dieses Durcheinander sehr leid tat.
»Das ist mir egal«, erwiderte Chloé, die sich tapfer ihrem Schicksal ergab.
Als Madame Plantié die Rolle von Romeo vergab, war sie weniger sicher als beim ersten Mal und sagte: »Ich hatte … hm … an Neville gedacht.«
»Sehr gut«, pflichteten Kamil und Erdogan ihr bei, die sich Statistenrollen ohne Text erhofften.
Neville WAR Romeo. Wie konnte man ihn einordnen? Irgendwo zwischen George Clooney und Colin Firth. Im Alter von dreizehn.
Bastien hatte keine Verwendung gefunden. Es blieb nur noch eine Rolle, die keiner wollte, und zwar die der Amme von Julia.
»Ist schon okay, Madame! Ich spiel die Amme«, sagte Bastien. »Mit einer Perücke von meiner Mutter und Pampelmusen in einem BH.«
»Booah! Schande!« Kamil brach in Lachen aus.
»Also wirklich, es reicht jetzt!«, wies ihn Madame Plantié zurecht. »Wenn wir hier Theater spielen, bemühst du dich, normal zu reden.«
»Ey, aber Ihr Shakespeare da, der redet voll normal, oder was!«, bemerkte Erdogan ironisch.
Es wurde ernst, als unsere Lehrerin jedem von uns eine Fotokopie seiner Rolle gab. Der Einzige, der nicht vor Entsetzen aufschrie, war Bastien, der sich auf der Stelle schwor, kein einziges Wort zu lernen. Er wusste, es würde ausreichen, irgendwas zu sagen und dabei seine Pampelmusen hin und her zu schütteln, und alle würden sich vor Lachen biegen.
»Aber Madame«, brüllte Kamil, »das krieg ich NIE in meinen Kopf, der platzt sonst!«
Madame Plantié versprach ihm, dass er nichts auswendig lernen müsse, da seine Aufgabe darin bestehe, die Handlung zwischen zwei gespielten Szenen für die Zuschauer zusammenzufassen.
»Dann liest du deinen Zettel vor.«
»Aber Madame«, erwiderte er genauso empört. »ICH KANN NICHT LESEN!«
Bei Ludivine brodelte es innerlich, seit Kamil und Erdogan sie darauf hingewiesen hatten, Julia sei echt heiß und würde schon mit fünfzehn mit jedem ins Bett gehen.
»Madame, ich werd Julia nicht spielen können. Sie ist ein frühreifes Flittchen!«
Madame Plantié mochte noch so wortreich Julias Unschuld hervorheben, Ludivine setzte ein gekränktes Gesicht auf, das sie bis zum Tag der Aufführung beibehielt. Sehr bald schon konnte Chloé die Rolle von Lady Capulet auswendig und sagte sie ordentlich und deutlich auf. Sie langweilte alle, einschließlich Madame Plantié, die sie mit einem Kompliment unterbrach: »Perfekt, du kannst deine Rolle.«
Chloé verbiss sich ihren Ärger. Sie spürte, dass etwas mit ihr geschehen würde, sobald sie verkleidet und geschminkt auf der Bühne stünde. Eine Verwandlung. Neville wiederum … ach, Neville! Jedes Wort, jeden Satz von Romeo empfand er. Er identifizierte sich mit ihm, genau wie er sich mit Leib und Seele mit Don Juan identifiziert hatte. Das Problem war, dass man ihn überhaupt nicht hörte.
»Nuschel nicht so, Neville«, schimpfte Madame Plantié. »Wirf deine Stimme ins Publikum, lass dich hören!«
Der erste Auftritt von Bastien als Amme, mit schiefsitzender Perücke und rollenden Brüsten unter seinem Oberteil, war ein Triumph, den er noch verlängerte, indem er sich seine Mutter zum Vorbild für die Dialoge nahm: »Oh, là, là, was hab ich wieder für Rückenschmerzen, Fräulein Julia! Ich hol mir noch den Tod, wenn ich ständig hinter Ihrem Romeo herrenn! Ach wär’s doch schon Abend, und man könnt’ ins Bett!«
Die Aufführung wurde auf einen Samstag im Juni gelegt. Madame Plantié hatte es geschafft, den Talma-Saal in der staatlichen Schauspielschule dafür zu bekommen. Das war zwar nicht der vergoldete Zuschauerraum des Theaters unserer Stadt, aber es gab eine echte Bühne mit Kulissen und Logen!
Chloé ließ sich von ihrer Großmutter ein langes Kleid mit Spitzen und Volants nähen. Sie war dreimal schöner als Ludivine, die in ein geliehenes Kleid eingezwängt war. Neville, der vergessen hatte, seiner Mutter zu sagen, dass er Theater spielte, beschloss in Einvernehmen mit Madame Plantié, Romeo in schwarzem T-Shirt und Jeans auftreten zu lassen. Da er einen matten Teint und so dichte Wimpern hatte, dass man denken konnte, sie seien getuscht, würde er sich nicht einmal schminken müssen.
Am Samstagnachmittag gab es eine letzte Probe. Ein Fechtlehrer kam, um letzte Einzelheiten der Kämpfe mit den Degen (aus Plastik) zu klären. Erdogan, der als Regieassistent diente, überprüfte zehnmal, dass das von seiner kleinen Schwester mit einem Totenkopf dekorierte Giftfläschchen auch wirklich in Bruder Lorenzos Soutane steckte. Einer nach dem anderen bekam Panik: »Madame, ich hab bestimmt einen Hänger!«
Oder: »Werden die auch sicher nicht über mich lachen, Madame?«
Chloé spürte eine unbekannte Hitze in sich aufsteigen, die ihr rote Wangen machte.
»Du hast doch hoffentlich kein Fieber?«, fragte Madame Plantié besorgt.
Während er auf seinen nahen Tod wartete, nahm Neville romantische Posen ein, während Bastien, dem die Pampelmusen auf den Bauch gerutscht waren, eine andere Fassung des Stückes zum Besten gab, in der Julia zur großen Unzufriedenheit ihrer Mutter mit fünfzehn Jahren schwanger war.
Ab 19 Uhr trafen die ersten Zuschauer ein. Es waren die Eltern der jungen Schauspieler, die gute Plätze haben wollten. Madame Lacouture hatte den Fotoapparat dabei und Monsieur Lacouture die Kamera. Die kleine Clélia fragte sich mit Tränen in den Augen, was ihre große Schwester für ein Versteckspiel hinter diesem beängstigenden roten Vorhang spielte. Um 19:30 Uhr war der Saal rappelvoll, die Schüler waren zahlreich mit ihren Familien und ihren Lehrern erschienen.
»Sind die Roten fertig?«, flüsterte Madame Plantié fieberhaft. »Und ihr Blauen, was habt ihr mit euren Degen gemacht? Achtung, es geht gleich los …«
Mit einem schweren Stock schlug Erdogan neunmal auf den Boden, dann langsamer, nacheinander die letzten drei, poch, poch, poch! Und die Blauen betraten die Bühne.
SIMSON: Gregorio, ein Hund aus Montagues Hause bringt mich schon auf.
GREGORIO: Einen aufbringen heißt: ihn von der Stelle schaffen. Um tapfer zu sein, muß man standhalten. Wenn du dich also aufbringen läßt, so läufst du davon.
Die Vorstellung lief nicht ohne Zwischenfälle ab. Ludivine hatte so viele Texthänger, dass Madame Plantié, die ihr aus der Kulisse heraus soufflierte, besser daran getan hätte, die Rolle selbst zu spielen. Neville spürte, wie ihm erst das Feuer der Leidenschaft durch die Adern floss, dann das Eis des Giftes, aber die Zuschauer verstanden nur ein Viertel von dem, was er sagte. Erdogan in der Rolle des Mönchs schwor mehrfach auf den Koran. Als die Amme einmal empört aufschreckte, rollten die Pampelmusen auf die Bühne. Die Blauen und die Roten wechselten ihr jeweiliges Lager, ohne es zu merken, und Kamil bewies, dass er tatsächlich nicht lesen konnte. Alles in allem lachten die Zuschauer sehr viel und applaudierten noch mehr.
Am Ende der Vorstellung liefen die Lacoutures hinter die Bühne und stürzten sich auf ihre Tochter – um sie in ihren Armen in Sicherheit zu bringen, aber auch, um ihr zu gratulieren.
»Du warst die Einzige, die ihre Rolle konnte!«, rief Chloés Mutter, ohne sich darum zu scheren, dass sie von den anderen Schauspielern gehört wurde.
»Ich habe alles gefilmt«, fügte ihr Vater hinzu, bevor er sich verbesserte: »Jedes Mal, wenn du aufgetreten bist.«
»Du bist so schön in deinem Kleid«, murmelte die kleine Clélia, immer noch eingeschüchtert. »Das andere Mädchen war hässlich.«
Chloé hatte weiter ihr starres Lächeln im Gesicht. Der Vorhang war gefallen, und nichts war geschehen. Sicher hatte das an Ludivine gelegen, die ihr die Schau gestohlen hatte. Aber eines Tages, das nahm sie sich abends im Bett vor, würde sie die Julia sein und ihre Eltern zum Weinen bringen.
»Existieren Sie oft?« »O nein, ich habe anderes zu tun!«
In der neunten Klasse verloren wir uns so aus den Augen, dass es endgültig hätte sein können.
Chloé besuchte als Einzige weiter dieselbe Schule, aber die Theater-AG wurde nicht fortgeführt, denn die Shakespeare-Erfahrung hatte für Madame Plantiés Glück ausgereicht. Trotzdem hatte Chloé Lust, wieder auf der Bühne zu stehen, ohne so recht zu wissen, warum.
»Theater spielen, wenn du mittwochnachmittags keine Schule hast? Ach ja?«, rief Madame Lacouture so erstaunt, als hätte ihr Chloé davon erzählt, sie wolle eine Geschlechtsumwandlung machen.
Madame Lacouture hatte ihre Töchter niemals zu irgendwelchen außerschulischen Aktivitäten angemeldet. Wozu, wo sie doch alles im Hause hatten? Fieberhaft erkundigte sie sich bei ihren Kollegen, im Rathaus sowie in der Bäckerei und fand schließlich in der hinterletzten Ecke etwas, das sie ihrer Tochter dann als »so einen Kurs da« beschrieb. Die Seele dort, die alte Madame Labanette, die in ihrer Kindheit darunter gelitten hatte, dass sie immer »La baguette!« gerufen wurde, beruhigte Madame Lacouture vollends: »Hier lacht niemand über andere. Bei uns geht es um Entfaltung, nicht um Leistung.«
Chloé, die nicht zum Spott neigte, bemerkte aber doch, dass Madame Labanette einen ziemlich ekelhaften Geruch nach Babypuder, Mottenpulver und nach altem Zeug im Allgemeinen an sich hatte, und hielt den Atem an, sobald sie sich ihr näherte. Bei der Anmeldung zu dem Kurs hatte Chloé gehofft, sie würden an einem berühmten Stück arbeiten, dessen Rollen sie lernen würden. Madame Labanette machte aber ausschließlich Improvisationstheater.
»Also, hört mir alle gut zu«, sagte sie zu Beginn des Jahres. »In diesem Trimester lautet das Thema ›Schiffbruch‹. Ihr werdet auf ein Schiff nach Indien, Amerika oder zum Nordpol steigen. Euer Ziel ist nicht so wichtig, denn ihr werdet vor eurer Ankunft untergehen.«
Dieses Titanic-Remake bestürzte Chloé. Aber die Mädchen in dem Kurs (es gab nur Mädchen) waren große Profis des Improtheaters. Sie stürzten sich auf zwei große Kisten voller Verkleidungen, Schals, falscher Bärte, Holzsäbel, Perücken, Hüte, Zigeunerinnenkleider usw. Sie begannen jeden zweiten Satz mit »Also ich, ich …« und eigneten sich verschiedene Rollen an, wurden Rapperin, Piratin, Sklavin, Vampirin, Diebin, Prinzessin und stiegen auf die Bühne, die das Schiff darstellte. Dann wurden die Rollen in kurzen Szenen zu zweit oder zu dritt entwickelt, und Chloé glaubte, ihre kleine Schwester zu hören, wenn sie »Wir tun so, als wären wir …« spielte. Die jungen Schauspielerinnen mochten vor allem Szenen mit Streit und Zickereien, in denen ihre Stimmen schrill wurden; manche konnten sogar weinen. Wie betäubt warf Chloé Seile über Bord, um die Ertrinkenden zu retten, aber sie war die Verlorenste von allen. Ein gewisser Stolz hinderte sie daran, sich bei ihrer Mutter zu beklagen. Außerdem hatte sie zu große Angst, den schicksalhaften Satz zu hören: »Du wolltest doch Theater spielen, oder?«
Im zweiten Trimester kündigte Madame Labanette den jungen Schauspielerinnen an, das folgende Thema laute »Die einsame Insel«, was überaus logisch war. Während ihre Mitschülerinnen Hütten bauten und einen Tiger jagten, beschränkte Chloé ihre Beteiligung auf die Gruppenszenen, bei denen sie nur Schreie auszustoßen und die Arme gen Himmel zu recken brauchte. Madame Lacouture, die bemerkt hatte, dass ihre Tochter mittwochnachmittags immer lange trödelte, kam am Ende eines Kurses, um sich bei Madame Labanette nach ihr zu erkundigen.
»Chloé?«, fragte die und musterte das junge Mädchen. »Man würde denken, sie sei fürs Theater gemacht. Sie ist so hübsch, nicht?«
Madame Lacouture errötete vor Stolz, während sie abwinkte. Man durfte vor Chloé nicht über ihre Schönheit reden.
»Aber es ist schade, dass sie so schüchtern ist«, fuhr Madame Labanette fort. »Vielleicht sollte sie mal zum Psychologen gehen. Sie ist ein bisschen … ein bisschen zu zurückhaltend.«
Auf dem Rückweg erlaubte Chloé sich endlich eine unfreundliche Bemerkung: »Natürlich halte ich mich zurück. Sie stinkt!«
Madame Lacouture, die zweifellos die Bemerkung mit dem Psychologen noch nicht verdaut hatte, gab zu, dass die arme Frau ziemlich schlecht roch.
Am Ende des Jahres führten die Schüler von Madame Labanette ihr Stück »Die Schiffbrüchigen der Karaboudjan« auf. Am Vorabend verstauchte Chloé sich den Fuß, als sie zu Hause im Flur Clélia hinterherrannte, was verhinderte, dass sie in irgendeiner Form mitmachte.
»Wie schade!«, bemerkte Madame Lacouture.
Von dem Kurs von Madame Labanette war nie wieder die Rede. Hätte man den Psychologen zu Rate gezogen, so hätte er vielleicht die Bemerkung gemacht, dass Madame Lacouture so ziemlich alles dafür getan hatte, ihre Tochter vom Theaterspielen abzubringen.
Am Ende der zehnten Klasse teilte Chloé ihren Eltern mit, die Mathematik und sie würden in gegenseitigem Einvernehmen die Scheidung einreichen.
PAPA: Chloé hatte doch alle Möglichkeiten, auf eine Elitehochschule zu gehen! So verbaut sie es sich, zu den Besten zu gehören!
MAMA: Aber das ist doch nicht schlimm, dann wird sie eben Dozentin für Literatur.
Daraufhin hörte Chloé, wie ihre eigene Stimme erklärte:
»Vielleicht mache ich, was ich will!«
Auf der Stelle wurden Monsieur und Madame Lacouture wieder »liebe Eltern«:
MAMA: Aber natürlich entscheidest du selbst!
PAPA: Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist!
Als sie in die Abiturklasse mit Literatur-Schwerpunkt kam, entdeckte Chloé, dass es an ihrem Gymnasium ein Wahlfach »Theater« gab, für das Ludivine und Clémentine sich angemeldet hatten. Sie wollte sich ihnen anschließen, aber traute sich nicht, mit ihrer Mutter darüber zu reden.
»Für’s Abi kann man sich ein Wahlfach aussuchen«, sagte sie eines Nachmittags schließlich. »Das gibt Punkte. Das könnte interessant sein, wenn man einen besseren Schnitt haben will …«
Madame Lacouture gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie Bescheid wusste.
»Ich würde als Wahlfach gern ›Theater‹ nehmen, zusammen mit Clémentine«, fügte Chloé hinzu und ihre Stimme zitterte beinahe.
»Hat dir das Theater mit deiner Madame Labanette nicht gereicht?«, erwiderte Madame Lacouture ironisch.
Völlig unerwartet explodierte Chloé.
»Die Frau hat gestunken, der Kurs war bescheuert, und ich darf dich dran erinnern, dass du ihn ausgesucht hast!«
Erschreckt warf die kleine Clélia ihr Glas Milch um, und Madame Lacouture schimpfte lieber mit ihr als sich mit ihrer ältesten Tochter auseinanderzusetzen. Am Abend aber ging sie zu Chloé, die schon im Bett lag. Wie der steinerne Gast aus Don Juan stellte Madame Lacouture sich feierlich ans Fußende des Bettes und erklärte, dass man nicht in einem solchen Ton mit seiner Mutter rede, dass man bestimmte Worte nicht sage, dass sie ihre Kinder respektiere und hoffe, dass ihre Kinder auch sie respektieren würden, dass sie nichts anderes als die persönliche Entfaltung ihrer Tochter wolle und dass sie sie frei entscheiden lasse. Während ihre Mutter redete, blieb Chloé zusammengerollt in ihrem Bett liegen und zog sich noch tiefer in ihr Schneckenhaus zurück. Sie sagte kein Wort, weder »Entschuldigung« noch »danke«. Am nächsten Tag meldete sie sich für das Wahlfach »Theater« an.
Chloé träumte immer noch davon, in einem Reifrock einen Klassiker zu spielen. Leider schwor Madame Gillain, Lehrerin für Französisch und zuständig für das Wahlfach »Theater«, ausschließlich auf megazeitgenössische Stücke. Sie besuchte mit ihren Schülern Aufführungen der Werke von Ernst Schilmelpefnitzemberg und von Gaston-Marie Chamoisel-Lampied, die Titel trugen wie Etwas irgendwo oder Wenigstens hätte ich gelebt. Chloé ging dorthin wie mit Freundinnen zu einer Party, und der Vorhang hob sich vor einem Bühnenbild, das Madame Gillain »eine Szenographie« nannte und das entweder aus zwei Bänken oder drei schwarzen Würfeln bestand. Je länger das Stück dauerte, ohne dass irgendetwas geschah, desto mehr sank Chloé innerlich zusammen, so wie ein Mädchen auf einer Party, das keiner zum Tanzen auffordert. Die Schauspieler sagten:
MONSIEUR MADAME: Heute ist schönes Wetter … Also für einen schönen Tag ist wirklich schönes Wetter.
MADAME MONSIEUR: Das sagte ich heute Morgen meinem Mann, als ich aufstand, ich sagte ihm: Marcel, heute ist den ganzen Tag schönes Wetter.
MONSIEUR MADAME: Ich bin nicht verheiratet.
MADAME MONSIEUR: Das ändert nichts daran, heut ist den ganzen Tag schönes Wetter.
All das ermöglichte es Madame Gillain, als sie wieder in der Schule waren, über die Unmöglichkeit der menschlichen Kommunikation – selbst unter Leuten, die sich mögen – zu faseln. Eines Tages zitierte sie sogar den rätselhaften Psychoanalytiker Jacques Lacan: »Liebe bedeutet, etwas, was man nicht hat, jemandem zu geben, der das nicht will.«
Na, das ist ja lustig, sagte sich Chloé.
In der Abiprüfung musste jeder Schüler vor einer Kommission aus einem Professor und einem Theaterprofi eine Szene von zehn Minuten spielen. Madame Gillain hatte in aller Bescheidenheit eine echte Schauspielerin um Unterstützung gebeten, um ihre Schüler vorzubereiten. Die junge Frau, die beim Vornamen genannt wurde, Fabienne, war ein Fan von Roland Dubillard, dem Verfasser von Les Diablogues.
EINS: Ich fühle mich … ich fühle mich … Es packt mich von den Füßen bis zum Kopf. Von außen ist das nicht zu sehen. Das … das ist undefinierbar.
ZWEI: Das ist die Existenz.
EINS: Die Existenz?
ZWEI: Ja. Das weiß ich, weil die Existenz bei mir dasselbe verursacht. Jedes Mal wenn ich existiere, ist es das Gleiche.
EINS: Existieren Sie oft?
ZWEI: O nein, ich habe anderes zu tun!
Fabienne versicherte, Dubillard sei witzig. Aber als Chloé ihre Rolle sprach, war es egal, ob sie Eins oder Zwei spielte – niemand lachte. Ihre sorgfältige Sprechweise verbreitete Langeweile. Fabienne war verzweifelt und suchte mehrere Proben lang nach einer Lösung, bis sie endlich eine Erleuchtung hatte.
»Chloé, Chloé, das ist sehr gut!«, unterbrach sie sie mitten im Satz. »Aber könntest du nicht … ein bisschen affektierter reden?«
»Affektierter?«, fragte Chloé erstaunt.
»Ja, weißt du, so wie Marie-Chantal, mit gespitzten Lippen.«
Fabienne formte die Lippen zu einem O, um sich besser verständlich zu machen.
»So. Jetzt fang noch mal an bei: Ich fühle mich … Mit gespitzten Lippen. Los!«
Chloé war es gewohnt, Anweisungen zu folgen. Sie tat, was die Schauspielerin ihr vormachte, und das Ergebnis stellte sich sofort ein. Ihre Mitschüler begannen zu lachen. Chloé, die davon geträumt hatte, ihre Eltern zum Weinen zu bringen, indem sie auf der Bühne starb, bekam von der Abitur-Kommission Komplimente für ihr komisches Talent. Madame Gillain hatte recht, das Leben ist ein Missverständnis.
Während Chloé ihren Weg suchte, setzte Bastien Vion die Schulzeit in einem Internat fort, wo man die »Zügel bei ihm anziehen würde«, wie sein Vater sich ausdrückte. Zur selben Zeit musste der »Lebensmittelladen Vion, geöffnet Montag bis Samstag von 8 bis 21 Uhr, Sonntag von 8 bis 13 Uhr«, für immer den eisernen Rollladen herunterlassen, weil die neue Filiale der Supermarktkette Carrefour an der nächsten Ecke ihn in den Bankrott getrieben hatte. Bastien, der erlebt hatte, wie seine Eltern zwischen Vanillejoghurt und Windeln ihre Seele verloren hatten, fällte daraufhin eine mutige Entscheidung: niemals zu arbeiten. In Erinnerung an Madame Plantié informierte er sich allerdings über einen angebotenen Theaterworkshop. Der wurde von der Bibliothekarin Mademoiselle Larchette geleitet, die vorhatte, Scapins Streiche von Molière aufzuführen.
»Muss man den Text auswendig lernen?«, erkundigte sich Bastien besorgt.
Vor Verblüffung war Mademoiselle Larchette sprachlos.
»Und wenn wir selbst einen Sketch schreiben würden?«, fuhr Bastien fort.
Er hatte nicht die Absicht, damit anzufangen, aber die begeisterte Bibliothekarin versammelte alle zwölf Teilnehmer, teilte sie in drei Gruppen, verteilte leere Blätter und wartete auf das Wunder der Schöpfung … Nach zehn Minuten lachten in Bastiens Gruppe alle Tränen, denn er entwickelte gerade die Grundlage eines Sketchs, den er später Der Sohn des Lebensmittelhändlers nannte. Er ahmte seinen Vater nach, seine Mutter, sich selbst im Alter von acht Jahren, Madame Machemol, die Nachbarin, dann die Kunden des Lebensmittelladens Vion, die alte kleptomanische Dame und ihren Mantel mit doppeltem Futter, den rassistischen Araber, der Le Pen wählte, den Rentner, der die Eier einzeln kaufte, damit er öfter Gelegenheit zum Reden hatte, kurz, das ganze Elend eines Viertels. Als das Stück am Ende des Jahres aufgeführt wurde, konnten seine Eltern, die inzwischen Auslieferer und Kassiererin in der Carrefour-Filiale geworden waren, nicht kommen. Bastien war traurig, weil er nicht einen Augenblick lang daran zweifelte, dass er seine Alten zum Lachen gebracht hätte.
Getreu seinen Prinzipien absolvierte Bastien die Französischprüfungen in der elften Klasse, ohne ein einziges der Bücher von der Leseliste gelesen zu haben. Dank mehrerer sehr gut gemachter Internetseiten, die er sich eine Woche vor der Prüfung angesehen hatte, bekam er 8 von 20 Punkten im Schriftlichen und 16 im Mündlichen. In der Abschlussklasse hatte er ein Berufsberatungsgespräch mit einem Psychologen, dem er gestand, dass er nur zwei für ihn erreichbare Lösungen sehe, im Lotto zu gewinnen oder Jacques-Chirac-Imitator im Fernsehen zu werden. Als letzten Ausweg schlug der Ausbildungsberater, nachdem er herzlich gelacht hatte, Bastien vor, er solle an der Aufnahmeprüfung für die staatliche Schauspielschule teilnehmen. Der junge Mann verzog zweifelnd das Gesicht.
»Ist das … um Schauspieler zu werden?«
Die Aufnahmebedingungen waren die folgenden: zwischen 16 und 25 Jahre alt sein, das Abitur haben, mindestens ein Jahr Theatererfahrung nachweisen. Bastien bestand sein Abitur ohne Mühe und ohne Auszeichnung. Als er seinem Vater sagte, er habe sich für die Aufnahme an der Schauspielschule beworben, konterte Monsieur Vion mit dem folgenden Satz: »Und was willst du damit werden?«
»Alles, nur nicht Lebensmittelhändler«, antwortete Bastien.
Dann fügte er mit maschinengewehrartiger Geschwindigkeit hinzu, er habe sich als Kind nicht vorstellen können, dass seine Mutter und die Registrierkasse ein getrenntes Leben führen könnten, dass eine Gefriertruhe, selbst mit den besten Absichten der Welt, nicht vollständig einen Vater ersetzen würde, und er lange gehofft hätte, dass Madame Machemol, die Nachbarin, zu der er sich oft flüchtete, einen Adoptionsantrag stellen würde. Wenn Bastien sich lustig fand, war er so naiv zu glauben, die anderen würden genauso denken. Hier aber schaffte er es, den Ruin von Monsieur Vion zu besiegeln, der sein Leben jetzt als von A bis V gescheitert ansah. Er rächte sich, indem er seinem Sohn prophezeite, auch er werde scheitern, und ihn sich anmelden ließ, wo er zum Teufel nochmal wolle. An einem Morgen im September fand Vion junior sich daher in der Eingangshalle der Schauspielschule wieder.
Dort warteten etwa fünfzig Schüler, aber Bastien rechnete nicht damit, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Plötzlich stoppte sein herumirrender Blick. Das Mädchen da? Die war doch eine frühere Schülerin von Madame Plantié! Hatte die sich etwa an der Schauspielschule beworben? Die war eine gute Schülerin gewesen, hatte sich aber auf der Bühne völlig lächerlich gemacht, als sie die Julia gespielt hatte. Innerlich lachte Bastien höhnisch und suchte nach dem Namen des Mädchens. Ludivine? Nein. Ludivine war diejenige, die die Julia gespielt hatte. Die gute Schülerin hatte eine Nebenrolle gespielt. Jetzt erinnerte er sich wieder an alles, außer an den Vornamen seiner Klassenkameradin aus der Achten. Ein unauffälliger Name, so was wie Léa, Lola … In der Sekunde, als ihre Blicke sich begegneten, erinnerte er sich.
»Chloé« rief er und hob die Hand, um sie zu grüßen.
Neville war genauso wenig auf der Schule von Madame Plantié geblieben wie Bastien. Da seine Mutter die sechshundert Euro Miete für ihre kleine Wohnung in der Innenstadt nicht mehr bezahlen konnte, hatten sie in einen Vorort ziehen müssen. Magali Fersenne war Putzfrau. Außerdem Asthmatikerin, und ihre Anfälle zwangen sie häufig dazu, sich krankschreiben zu lassen, wodurch sie ihre Arbeitsstellen verlor. Das Leben war hart für die junge Frau, aber es war unmöglich herauszufinden, was sie darüber dachte oder ob sie überhaupt etwas dachte, weil sie jede Stunde des Tages in einem Strom uninteressanter Worte ertränkte.
»Heute Morgen ist es kühl die hatten gesagt es würde regnen aber wegen meinem Asthma ist es mir ja lieber wenn es regnet das wäscht den Staub weg nimm doch trotzdem einen Schirm mit Neville ich weiß dass du Schirme nicht magst aber wenn du krank wirst muss ich mich wieder um dich kümmern.«