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Wie Pech und Schwefel halten Alexa, Viviane, Inci und Nicoline zusammen. Die Freundinnen sind immer zur Stelle, wenn es Ärger mit den Eltern gibt oder eines der Mädchen gerade Liebeskummer hat. Natürlich möchte Alexa ihren Freundinnen auch sofort ihren neuen Schwarm vorstellen. Doch der schöne Gabriel ist von der Mädelstruppe nicht wirklich angetan. Und auch sonst benimmt er sich seltsam. Ist er denn überhaupt wirklich in Alexa verliebt?
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Seitenzahl: 200
Veröffentlichungsjahr: 2017
Maiken Nielsen
Roman
»Ich glaube, Nicoline weiß überhaupt nicht, wie gut sie es hat!«, rief Inci durch den herabströmenden Regen. »Bestimmt sitzt sie jetzt schon an den Niagarafällen!«
»Mein Neid hält sich in Grenzen«, erklärte Alexa, während sie versuchte, dem Schwall Wasser auszuweichen, den ein vorbeifahrender Lastwagen in Richtung Bordstein spritzte. »Ich meine, was soll ich mit den Niagarafällen, wenn ich den Himmel über Hamburg habe? Ach, sieh mal – da vorne steht eine Telefonzelle. Da stellen wir uns einfach mal eine Weile unter!«
Wenige Sekunden und eine gefühlte Ewigkeit später hatten sie den rettenden Schutz erreicht. »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte!« Alexa breitete die Arme aus, sofern das in dem kleinen Unterstand möglich war. »Nehmen Sie Platz, ich empfehle Ihnen die Telefonbücher, die sind besonders weich, wenn auch aus gegebenem Anlass etwas durchnässt – hallo, Inci, sooo witzig ist das nun aber auch wieder nicht!« Sie betrachtete die Freundin, die sich vor Lachen vornübergebeugt hatte und krebsrot im Gesicht war.
»Ich höre nichts mehr«, bemerkte Alexa stirnrunzelnd. »Ah, da – jetzt! Ein Röcheln. Soll ich dir auf den Rücken klopfen, Inci? Hast du dich vielleicht verschluckt?«
»Deine W… W…«, machte Inci.
»Sprich deutlich, ich kann dich nicht verstehen! Meine w… was? Meine Wünsche? Die kann ich dir nennen. Ich wünsche mir, dass ich mich mit meiner Freundin wieder unterhalten kann. So, als wäre sie ein normaler Mensch.«
Inci hielt sich die Seiten, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Deine Wimperntusche!«, brachte sie schließlich hervor. »Wie die sich verteilt hat! Die ist auf deinen Wangen, auf deinem Hals, überall!«
»Ach verdammt, ich wusste gleich, dass ich die wasserfeste hätte nehmen sollen.« Alexa wischte sich hektisch über das Gesicht. »Und jetzt? Immer noch? Was benutzt du eigentlich für welche? Die verschmiert ja kein Stück!«
Inci richtete sich lächelnd auf. »Tja, wir Türkinnen haben glücklicherweise so dichte schwarze Wimpern, dass wir uns die gar nicht zu tuschen brauchen!«
»Ach, und was ist dann mit Ebru? Wenn eine zwei Tonnen Schminke im Gesicht hat, dann …«
»Schnell, da kommt ein Mann!« Inci spähte an Alexa vorbei nach draußen. »Der will bestimmt auch hier ran! Komm, wir tun so, als ob wir telefonieren würden!«
»Okay!« Alexa reichte der Freundin den Hörer.
»Nicht ich! Du bist die mit dem Schauspieltalent!«, zischte Inci.
Ohne ein weiteres Wort nahm Alexa den Hörer an ihr Ohr und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Hallo, Vivi«, säuselte sie. »Ja, Inci und ich warten noch den Regen ab, und dann kommen wir. Und – wie geht es dir sonst?« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Typ draußen auf und ab wanderte. Er wirkte ein bisschen ungeduldig, was kein Wunder war bei dem strömenden Regen, und nun fing er auch noch an, Alexa finstere Blicke zuzuwerfen. Hastig redete sie weiter. »Ja, wir haben heute Mathe geschrieben. Ich bin voll stolz auf meinen Spickzettel, perfekt, sag ich dir, zeig ich dir mal …«
»Du darfst nicht so plauderig aussehen«, flüsterte Inci hektisch. »Sonst denkt der Typ, wir vertreiben uns die Zeit bloß mit Mädchengesprächen! Spiel mal ein bisschen panischer!«
Alexa war es aus ihrer Theater-AG gewohnt, Regieanweisungen sofort zu befolgen. Also zog sie ein neues Register. »Und weißt du noch was, Vivi?«, hechelte sie mit tellergroß aufgerissenen Augen. »Inci hat sich den Arm gebrochen! Und alles, was an ihrem Arm dranhängt! … Ja, genau, die Finger und so … Auch die Nase … Die Feuerwehr ist gekommen und die Polizei … Nein, nein, nicht die Mordkommission, Inci ist ja nicht tot …« Eine Bewegung vor der Glasscheibe unterbrach ihren Redefluss. Der Mann hatte begonnen, mit den Armen zu rudern, um auf sich aufmerksam zu machen. Alexa tat, als würde sie ihn nicht sehen. Hastig wandte sie sich um und redete weiter. Als sie gerade beschreiben wollte, wie Incis Bett auf der Intensivstation aussah, konnte sie den Mann nicht länger ignorieren. Es war eben auch schwer, jemanden zu ignorieren, der einem minutenlang auf die Schulter klopfte. Sie wandte sich um.
»Deutsche Telekom, guten Tag«, erklärte der Mann. »Ich muss diesen Apparat reparieren. Wenn die Damen sich jetzt vielleicht wieder davonmachen würden …«
»Das ist euch jetzt nicht wirklich passiert, oder?« Wenn Vivi lachte, strahlten ihre Augen noch heller als sonst. Eigentlich strahlte dann alles an Vivi: ihre weißen Zähne, die hellblonden Locken, das ganze sommersprossige Gesicht. Die reinste Leuchtrakete, das Mädchen. Schlechte Laune bei ihrem Gegenüber schoss sie einfach ab. Alexa konnte nicht anders. Sie musste auf einmal auch grinsen.
»Der Blick von dem Typ, als wir ohne ein weiteres Wort davongestürmt sind, der war schon gut. Was, Inci?«
Inci zitterte immer noch vor Gelächter. Mittlerweile liefen ihr die Tränen über die Wangen.
»Hat meine alte Kindergartenfreundin irgendwas genommen?«, fragte Vivi, während sie in ihrer Handtasche nach einem Kaugummi fischte.
Alexa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie ist schon den ganzen Nachmittag so.«
Sie hatten sich bei Bodos Bootssteg unter einen Schirm gesetzt und beobachteten die Segelboote, die über die Alster rauschten und die Gunst der windigen Stunde nutzten.
»Und – wie ist eure Mathearbeit gelaufen?« Vivi beschloss, sich von Incis Zuckungen nicht weiter aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Hab ich dir doch schon erzählt! Ich hatte einen irren Spickzettel … Was ist los, Inci? Sprich dich aus!«
Inci brachte die Worte zwischen zwei Lachsalven heraus. »Das hast du nicht Vivi erzählt, sondern, ah … ich krieg jetzt echt keine Luft mehr … dem kaputten Telefon!«
»Schon gut.« Alexa hob beschwörend die Hände. »Es gibt keinen Grund, auf dieser Geschichte noch länger herumzureiten!«
In diesem Augenblick gab Vivis Handy einen Taekwondo-Kampfschrei von sich. Das war Vivis neuer SMS-Klingelton. »Von Nicoline«, lächelte sie kauend. »Sie sitzt gerade an den Niagarafällen und denkt an uns.«
»Schreib ihr, wir sitzen darunter.« Alexa schüttelte ihre nassen langen Haare wie ein Hund sein Fell. »Und schreib ihr, dass alles, was die Leute so über Dürre reden, die angeblich den Planeten bedroht, gelogen ist. Nur Menschen, die noch nie in Hamburg waren, können Wasserknappheit im Ernst für ein Problem halten.«
Inci runzelte die Stirn. »Ich mag es nicht, wenn du solchen Unsinn redest, Alexa. Wassermangel wird das Problem Nummer eins unseres Planeten werden …«
»Das Problem Nummer eins ist, dass du nicht mal einen Witz erkennst, wenn er vor dir steht, Inci. Ehrlich, warum sind Leute, die sich für Politik interessieren, eigentlich immer so humorlos?«
»Humorlos?« Inci starrte sie aus ihren noch immer vor Lachen geröteten Augen an. »Du nennst mich humorlos?«
»Immer ruuuhig mit die jungen Pferde.« Vivi schlug einen betont großmütterlichen Tonfall an. »Ich schreib Nicoline einfach, dass wir sie auch vermissen. Und dass wir uns freuen, wenn sie übermorgen wieder da ist und wir dann endlich wieder zusammen was machen können! So, wie es sich für uns vier gehört. Einverstanden, Mädels?«
Alexa und Inci nickten. Und Alexa legte Inci ganz schnell ihren Arm um die Schulter. Weil es ja wirklich blöd von ihr gewesen war, Inci humorlos zu nennen.
Sie erreichten den Bahnhof Altona um zwei Minuten vor sechs. Was ihnen genau zwei Minuten Zeit ließ, um bei Inci zu Hause anzukommen. Außer Atem hechteten sie die letzten Schritte in die Rothestraße. »Wenn das so weitergeht«, überlegte Inci, während sie klingelte, »ist mir die Siegerurkunde im 800-Meter-Lauf sicher. Wir müssen die Bundesjugendspiele bloß auf den Abend verlegen.«
»Wie viel läufst du denn normalerweise auf 800 Meter?« Es summte, und Alexa stemmte sich gegen die Tür.
»Kommt drauf an, wie viele Minuten vor sechs der Lauf beginnt. Wenn er um eine Minute vor anfängt, bin ich in 60 Sekunden im Ziel.«
»Wow«, machte Alexa. »Das nenne ich willensstark.«
Incis Mutter stand lächelnd in der Tür. Sie trug ein kornblumenblaues Kopftuch, das gut zu ihren strahlend blauen Augen passte. Früher hatte Alexa sich darüber gewundert, dass Frau Özdemir so blaue Augen hatte, und Inci hatte ihr erklärt, dass ihre Mutter von vielen türkischen Freundinnen und Verwandten für diese Augen bewundert wurde. Als Kind habe der Großvater der Mutter erzählt, dass sie von einem Waldgeist mit stechendem Blick gebracht worden sei, eine Geschichte, die ihre Mutter viele Jahre lang für die Wahrheit gehalten hatte. Etwas musste an dieser Geschichte in ihr hängen geblieben sein, denn es kam heute noch vor, dass sie den Kopf schüttelte und sagte: »Ich verstehe euch Menschen nicht!«
Doch an diesem Abend schien sie sie sehr gut zu verstehen. Vor allem verstand sie, dass Inci sich mordsmäßig beeilt hatte, um auf die Minute pünktlich wieder da zu sein. »Ihr seid lieb und brav, ihr zwei«, sagte Frau Özdemir. »Es ist gut, dass ihr rechtzeitig da seid. Und wichtig. Damit ihr euch nicht in Gefahr bringt!«
»Hallo, Frau Özdemir!«, rief Alexa. »Ich hol nur schnell meine Sachen, und dann geh ich wieder! Meine Mutter müsste gleich nach Hause kommen.«
»Ach, Kind, bleib zum Essen! Ich hab heute Abend Lammkoteletts gebraten, die magst du doch so gerne!« Incis Mutter wischte sich die Hände an einem Handtuch ab.
Alexa blickte Inci an. Was sollte sie tun? Sie wusste, dass Incis Mutter gekränkt sein würde, wenn sie das Essen ausschlug. Und sie wollte Incis Mutter nicht verstimmen. Sie freute sich, dass Özdemirs sie aufnahmen, wenn ihre Mutter auf Langstreckenflügen war. Für ihre Mutter war es beruhigend zu wissen, dass Alexa an den Tagen ihrer Abwesenheit gut untergebracht war, und Alexa freute sich, wenn sie mit Inci zusammen sein konnte. Schließlich war Inci ihre beste Freundin. Und das schon seit der ersten Klasse. Vivi und Nicoline, die in Eppendorf in dieselbe Klasse gingen, waren ihre zweitliebsten Freundinnen. Und auch für Inci war Alexa die Nummer eins, das wusste Alexa. Obwohl Inci Vivi schon viel länger kannte, nämlich aus der Zeit, in der sie noch im Kindergarten waren.
Inci nickte ihr unmerklich zu. Das hieß: Bitte bleib zum Essen, das gibt sonst Riesenärger! Und Alexa verzog den Mund, was übersetzt bedeutete: Ja, aber meine Mutter kocht doch heute Abend auch! Inci zog eine Augenbraue hoch. Dann isst du eben mit uns und mit ihr, meinte sie damit. Alexa deutet auf ihren Bauch. Und meine Figur?, lautete die unausgesprochene Frage.
»Ich verstehe euch zwei Menschen nicht«, lächelte Incis Mutter. »Aber egal. Wenn ihr mit der Taubstummensprache fertig seid, könntet ihr dann den Tisch decken?«
Womit die Entscheidung endgültig gefallen war.
Es war acht, als Alexa endlich zu Hause ankam. »Hallo, Schatz!«, rief ihre Mutter aus der Küche. Es duftete verlockend oder vielmehr: Es hätte verlockend geduftet, wäre Alexa nicht schon satt wie ein Stein gewesen. Nun galt es mal wieder, das Schauspieltalent unter Beweis zu stellen. »Hallo, Mami!«, brüllte Alexa zurück. »Hier riecht es aber gut! Was gibt es denn heute?«
»Ich habe Tortellini in Champignoncreme-Sauce gemacht«, erklärte ihre Mutter stolz. Sie trug immer noch ihre Flugbegleiterinnenuniform, nur die Schuhe hatte sie ausgezogen. »Die magst du doch besonders gern, oder? Hast du denn schon Hunger?«
»Und was für einen!« Alexa verdrehte die Augen und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Arme Mami! Sie hasste es, sie anzulügen. Aber was blieb ihr anderes übrig?! »Toll siehst du aus«, fügte sie hinzu, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Ihre Mutter verzog nur fragend das Gesicht. »Brauchst du Geld?«
Alexa biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. »Ich wollte dir einfach nur ein Kompliment machen«, erklärte sie. »Schön, dass du wieder da bist, Mami. Wie war es?«
»Pfff. Wie soll es gewesen sein? Zehneinhalb Stunden Flug nach Bangkok, eine Übernachtung, zehneinhalb Stunden zurück, von Frankfurt hierher. Und wieder um einen Monat gealtert. Du weißt gar nicht, was sauerstoffarme Luft mit einer Haut in meinem Alter alles anstellen kann. Und bei dir? Fleißig für Mathe und Physik geübt?«
»Wir haben nur Mathe geschrieben.« Alexa unterdrückte den Wunsch, türenschlagend in ihrem Zimmer zu verschwinden. Seitdem ihre Mutter als Flugbegleiterin arbeitete, hatte sie sich in den Wunsch verbissen, Alexa möge später mal Pilotin werden. Ständig hackte sie darauf herum, dass Alexa sich in ihren naturwissenschaftlichen Fächern verbessern müsse, weil das DIE Chance für ein Mädchen sei. Als Alexa kleiner war, hatte sie ihr Modellflugzeuge, Werkzeugkästen, Audio-CDs von Bob dem Baumeister und Bücher wie Was ist was: Elektronik geschenkt. Außerdem hatte ihre Mutter schon seit Jahren keinen Mann mehr ins Haus gelassen, von Onkel Fabian und dem Schornsteinfeger einmal abgesehen. Alexa wusste nicht, was in dieser so genannten Ära der Frauenbewegung vorgefallen war, von dem ihre Mutter ihr ständig erzählte, aber es musste die Frauen irgendwie echt traumatisiert haben.
»Und, wie ist es gelaufen?«
»Super.« Alexa begann, den Tisch zu decken. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Und plötzlich fühlte sie, wie in ihr eine Wut hochkochte. »Weißt du, was ich nicht verstehe, Mami?«, zischte sie. »Wie jemand, der als Flugbegleiterin arbeitet und eine Stunde pro Tag mit Schminken verbringt und sich um Dinge wie Gesichtsfalten Sorgen macht, von seiner Tochter im Ernst verlangen kann, sie soll wie ein Junge leben und ein Herz für Elementarteilchen und Luftströmungen entwickeln! Verdammt nochmal, ich will nicht Pilot werden, wenn ich groß bin! Ich will Schauspielerin werden! Oder vielleicht auch was ganz anderes! Auf jeden Fall aber etwas, das ich mir selbst aussuche! Hunger hab ich jetzt übrigens nicht mehr!« Und damit schlug sie die Tür hinter sich zu. Während sie in ihr Zimmer hinüberlief, hörte sie, wie ihre Mutter etwas fallen ließ. Sie hörte Scherben klirren und dann ein Geräusch, das wie ein erstickter Schrei klang. Sie hielt inne. Sollte sie zurückgehen und der Mutter helfen? Wenn sie sich nun verletzt hatte? Alexa entschied sich dagegen. Es gefiel ihr, dass etwas kaputtgegangen war. Es bereitete ihr eine Freude, die seltsam war und neu. Ein bisschen erschrak sie davor, dass sie diese Freude empfand. Aber dann beschloss sie, nicht weiter darüber nachzudenken.
Alexa wollte ihren Augen nicht trauen, als Nicoline die Tür öffnete. »Du kommst mit dieser heftigen Sonnenbräune und der Entschuldigung zurück, dass du deine Mutter für vier Tage ins Krankenhaus begleiten musstest? Wirklich, Nicoline, euer Klassenlehrer muss entweder blind sein oder geradezu sträflich naiv.«
»Ich habe ihm ja gesagt, dass es eine Spezialklinik in der Nähe von New York war.« Nicoline lächelte die Freundinnen an, die immer noch auf der Fußmatte standen. »Wie ist es nun? Wollt ihr einen Regenschirm, oder kommt ihr doch lieber rein?«
»Doch lieber rein«, murmelte Alexa.
Inci schnürte sich die Turnschuhe auf und stellte sie neben der Haustür ab. »Geht es denn deiner Mutter nun besser?«
»Was hatte sie überhaupt?« Viviane machte einen Satz in den Flur.
»Schlupflider«, erklärte Nicoline. »Soll ich Zulema sagen, dass ihr Kakao trinkt? Oder wollt ihr lieber Cola?«
»Hä?«, machte Alexa. »Ich wusste gar nicht, dass Schlupflider ’ne Krankheit sind!«
»Sind sie ja auch nicht. Meine Mutter fand sie nur nicht mehr schön. Und ihre Lippen waren ihr auch zu dünn.«
»Moment mal! Heißt das, ihr seid wegen einer Schönheits-OP in die Staaten gejettet? Und dafür durftest du vier Tage in der Schule fehlen?« Vivi kickte ihre Schuhe in die Ecke, dass der Matsch von den Sohlen flog.
»Das hätte ich jetzt nicht besser formulieren können. Genau so war es. Also: Kakao oder Cola?« Nicoline wirkte wie die Eisprinzessin persönlich, aber Alexa wusste, dass sie jetzt gerne das Thema wechseln wollte, weil es ihr in diesem Augenblick ein bisschen peinlich war, wofür ihre Mutter den Familienreichtum ausgab. Nicoline war ein Phänomen. Sie hatte schreckliche Eltern, eine schreckliche, große, entsetzlich eingebildete Schwester, einen Haufen Hauspersonal, der den ganzen Tag um sie herumscharwenzelte, und selbst war sie einfach nur nett. Als sie Nicoline damals bei H&M zum ersten Mal gesehen hatte, war Alexa sofort von ihr begeistert gewesen. Nicoline war lieb und großzügig und, wie sie kurze Zeit später feststellen konnte, immer bereit, einem zuzuhören und zu helfen – und wenn man sie mitten in der Nacht anrief. Außerdem sah Nicoline ihren Eltern und ihrer Zicke von Schwester kein bisschen ähnlich. Vielleicht war sie ein Kuckucksei, überlegte Alexa jetzt wieder, das Ergebnis einer Verwechslung in der Abteilung für Neugeborene. Oder sie war – im Gegensatz zu ihren Blutsverwandten – ins tiefe Ende des familiären Genpools gesprungen. Die Natur steckte voller Wunder.
»Kakao«, antwortete sie.
Eine halbe Stunde später saßen sie im Wintergarten und tranken aus ihren dampfenden Tassen, während der Regen von draußen gegen die Scheiben trommelte. Es war Vivi, die Nicoline die Nachricht als Erste überbrachte: »Alexa ist verliebt.«
Nicoline lächelte. »Das ist aber schön!«
Alexa winkte ab. »Vivi übertreibt. Wie immer. Ich hab ihn ja erst einmal gesehen.«
»Und – wie ist er?« Nicoline blickte fragend zwischen Inci und Vivi hin und her.
Vivi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch kein Mal gesehen.«
»Alexa war allein, als es passierte.« Inci wollte wichtige Informationen nicht künstlich zurückhalten.
»Hallooooo!« Alexa knallte ihre Tasse auf den Tisch. »Ihr könnt wieder aufhören, in der dritten Person von mir zu reden. Ich bin noch da.«
Nicoline drehte sich lächelnd zu ihr um. »Wo hast du ihn denn kennengelernt?«
»Im Perückenverleih.«
»Wie bitte?!« Nicoline, Vivi und Inci taten eines dieser Dinge, die Alexa immer nur in Filmen gesehen hatte: Sie sprachen im Chor. Dann redete Vivi alleine weiter. »Du hast gesagt, du hättest ihn in irgend so einem Laden getroffen!«
»Ein Perückenverleih ist ein Laden.« Alexa blieb ungerührt.
»Mein Gott, Alexa!« Vivi wühlte aufgeregt in ihrer Tasche. »Bist du sicher, dass der Typ … wie soll ich sagen … Mädchen mag? Verdammt, meine Kaugummis sind alle! Nicoline, hast du Kaugummis im Haus?«
»Hier, nimm eins von mir.« Inci blickte immer noch Alexa an. »Ich find deine Frisur ganz in Ordnung, Alexa. Deine Haare sind vielleicht ein bisschen dünn, aber dieses Braun ist hübsch!«
Alexa rollte mit den Augen. »Ich war wegen unseres Theaterstücks im Perückenverleih, nicht privat.«
»Die Frage ist nicht so sehr, was Alexa bei jemandem macht, der ihr eine blonde Wallemähne zaubert. Sondern was ein Junge bei so jemandem macht. Gucken, wie ihm Locken stehen?«
»Er hat da gearbeitet.«
Inci und Nicoline wechselten besorgte Blicke. »Ehrlich, Alexa, ich weiß nicht. Ein Typ, der bei einem Perückenmacher jobbt …«
»Seiner Mutter gehört der Laden. Er muss ihr nachmittags helfen.«
Vivi sprang auf. »Bevor wir hier noch lange sitzen und reden, schlage ich vor, wir fahren hin und sehen ihn uns an!«
Alexa hob beide Hände. »Nein, nein, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist!«
»Warum – ist er am Ende doch nicht so toll?« Vivi kniff misstrauisch die Augen zusammen.
»Er ist der coolste Junge, der auf diesem Planeten herumläuft, aber ich weiß nicht, wie er es fände, wenn ich ihn mit drei Freundinnen besuchen käme, die ihn anstarren wie ein vom Aussterben bedrohtes Tier.«
»Ich bin so was von diskret!«, brüllte Vivi entrüstet. Sie brüllte noch etwas, aber das ging in einem Kampfschrei unter. Vivi blickte kurz auf ihr Display. Siddharta hatte ihr geschrieben, ein Junge aus Alexas Theater-AG. Nett, aber nicht weiter wichtig. Siddharta gehörte zu den Jungen, in die Vivi nicht verliebt war. »Nun komm schon, Alexa!«, nahm sie den Faden rasch wieder auf. »Deinen Romeo zu besuchen ist eine tolle Idee von mir!«
»Leonce, wenn schon«, korrigierte Inci.
»Wie bitte?«
»Leonce. Alexa probt doch gerade Leonce und Lena mit ihrer Theater-AG. Und da sie die Lena ist, muss ihr Angebeteter Leonce und nicht Romeo heißen!«
»Lustig, euer Namenspiel.« Alexa kniff die Lippen zusammen. »Aber für mich heißt er immer noch Gabriel.«
In diesem Moment blickte Zulema um die Ecke. »Fertig mit Kakao? War gut?«
Nicoline, die seit einem Jahr Spanisch-Privatunterricht hatte, antwortete etwas, das die anderen nicht verstanden. Zulema lächelte, sagte ebenfalls etwas Unverständliches und zog sich zurück. Vivi schüttelte den Kopf. »Diese Nicoline. Erst vierzehn Jahre alt und kann schon so komische Wörter. Ehrlich, ist mir ein totales Rätsel, wie man diese Sprache verstehen kann! Aber genug gesülzt.« Vivi klatschte in die Hände. »Jetzt wartet ein Abenteuer. Ein haariges, hihi.«
Das Haar zwei Oh befand sich in bester Gesellschaft. Links vom Perückenladen stand ein türkisches Brautmodengeschäft, dessen ausladende Kleider noch die farbloseste Braut in eine Heldin aus 1001 Nacht zu verwandeln versprachen. Und rechts davon lockte ein Süßigkeitenladen.
»Willkommen im Mädchenwunderland«, grinste Vivi, als sie die Fahrräder vor dem Haar zwei Oh anschlossen. »Kleider, Lollis, Zöpfe und schöne Jungs – wie lange noch hattest du vor, uns diesen phantastischen Ort vorzuenthalten?«
Alexa strich sich hektisch die Haare zurecht. »Dies ist Ottensen, hier sind die Geschäfte nun mal so bunt, das ist Lokalkolorit sozusagen. Wie sehe ich jetzt aus?«
»Wie mein kleiner Bruder, als er seine erste Playstation bekommen hat. Ehrlich, Alexa, er ist nur ein Junge, kein Gott.«
Alexa musterte sich in der Schaufensterscheibe, knöpfte ihre Jacke zu, knöpfte sie wieder auf und versuchte am Ende, sich von hinten zu betrachten. »Und das sagt ausgerechnet eine, die zehn Jungs an jeder Hand hat«, murmelte sie mit anklagendem Blick auf Vivi. Ein Kampfschrei ertönte aus Vivis geschlossener Tasche. »Siehst du, schon wieder ein Haremsmitglied, das was von dir will!«
Vivi nahm ihr Handy aus der Tasche und drückte ein paar Tasten. »Ach, das ist bloß Tobias. Der geht mir aber langsam wirklich auf die Eier.«
»Wir haben keine Eier, Vivi.«
»Doch, an Stöcken. Hey, wo sind die anderen hin? Inci! Nicoline!«
Inci steckte den Kopf aus dem Süßigkeitenladen. »Einen Moment noch, wir haben Kätzchen mit Vanillegeschmack gefunden! Und Nicoline kauft den Bestand an Salmilollis leer!«
Vivi verdrehte die Augen und begann, auf ihrem Handy herumzutippen.
»Und wieso antwortest du Tobias, wenn du ihn nicht abkannst?« Alexa beschloss, die Jacke ganz auszuziehen. Aus irgendeinem Grund war ihr plötzlich heiß.
»Ich antworte nicht Tobias, ich schreibe Si…«
»So«, rief Nicoline, die in diesem Moment aus dem Laden trat, »wer von euch will alles einen Salmilolli?«
»Na, alle natürlich«, erklärte Vivi und steckte das Handy wieder ein.
Zu viert, jede mit einem Lolli in der Hand, betraten sie Sekunden später das Perückengeschäft. Eine ältere Frau trat ihnen entgegen. »Kann ich helfen?«, lächelte sie.
»Ja, ich suche …« Alexa stockte. Was sollte sie nur sagen? »Ich suche den Jungen, der hier arbeitet, weil ich mich nach einmaligem Besuch in ihn verliebt habe und ihn nun meinen drei Lolli lutschenden Freundinnen vorstellen möchte?« Nein, das klang ganz und gar nicht gut. Mist, warum hatte sie sich ihren Text nicht vorher zurechtgelegt?
»An welche Farbe haben Sie denn gedacht?«, versuchte die Frau ihr entgegenzukommen. Dass sie gesiezt wurde, brachte Alexa vollends aus dem Konzept.
»Blond«, hörte sie Vivi hinter sich. »Meine Freundin wünscht sich eine blonde Wallemähne.«
»Das habe ich nie behauptet«, zischte Alexa.
»Es geht um ein Theaterstück«, erklärte Nicoline, wie immer um Frieden bemüht. »Welche Rolle spielst du da nochmal, Alexa?«
Die Tür ging auf, und ein rothaariger Junge kam herein. Er trug einen Stapel Pakete auf dem Arm und starrte Alexa an. Und Alexa starrte ihn an. »L… Lena«, stotterte sie.
Der Junge lächelte, setzte die Pakete ab und streckte die Hand aus. »Aber nein, ich heiße doch Gabriel«, erklärte er.
»Das meinte ich nicht.« Alexa sah immer noch verwirrt aus. »Ich wollte nur sagen, ich … ich bin die Lena.«
»Freut mich, Lena.« Gabriel hielt ihr immer noch die Hand hin. Alexa ergriff sie langsam. »Freut mich auch. Ich heiße Alexa. ›Lena‹ habe ich zu meiner Freundin Nicoline gesagt.«
Jetzt war es an Gabriel, verwirrt auszusehen. »Ich fürchte, ich verstehe jetzt gar nichts mehr.«
»Ich auch nicht«, fiel die Frau jetzt ein. Auf der Freundlichkeitsskala von eins bis zehn war ihr Lächeln auf traurige eins abgerutscht. »Suchen Sie die Perücke nun für ein Theaterstück oder für sich selbst? Und soll die Frisur vom Stil her zu Ihrer Jacke passen?«
»Welche Jacke?«, fragte Alexa, während sie zwischen der Perückenfrau und Gabriel hin- und herblickte. Wie bei einem Tennismatch. Links, rechts, links, rechts.
Lächelstufe zwei. »Na, die Jacke, die Sie vor unserer Schaufensterscheibe auf- und zugemacht und schließlich ganz ausgezogen haben. Die Jacke, von der Sie nicht zu wissen scheinen, ob sie Ihnen steht.«
Alexa fühlte, wie sie knallrot wurde.
»Brr«, machte Vivi. »Jetzt mal wieder Schritt. Ich schlage vor, wir gehen raus und fangen nochmal von vorne an. Tun wir doch einfach alle so, als wären die letzten fünf Minuten überhaupt nicht passiert.« Und damit rauschte sie hinaus.