Die Frau, die es nicht mehr gibt - Maiken Nielsen - E-Book

Die Frau, die es nicht mehr gibt E-Book

Maiken Nielsen

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Beschreibung

Ein Ort in der Provence. Vier unzertrennliche Freunde. Eine Hochstaplerin. Provence, Mitte der 1980er: Während in der politisch aufgeheizten Bundesrepublik die RAF Terror verbreitet, verschlägt es die junge Hamburger Fotografin Alex auf ihrer Europa-Reise ins Lubéron-Gebirge – ebenso Mikrokosmos aus Künstlern und Intellektuellen, wie Versteck für jene, die nicht gefunden werden wollen. Alex trifft auf Berühmtheiten wie Leonard Cohen und Isabelle Adjani. Aber auch auf die mysteriöse Mado, Mitglied einer Gruppe Straßenkünstler. Immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Gesichtern ist Alex fasziniert von Mado. Mit ihr, Fantomas und Loïc verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit.  Dann verschwindet Mado spurlos. Erst über dreißig Jahre später begegnen sich die beiden Frauen wieder. Doch Mado gibt vor, eine andere zu sein …

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Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Maiken Nielsen

Die Frau, die es nicht mehr gibt

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein Ort in der Provence. Vier unzertrennliche Freunde. Eine Hochstaplerin.

Provence, Mitte der 1980er: Während in der politisch aufgeheizten Bundesrepublik die RAF Terror verbreitet, verschlägt es die junge Hamburger Fotografin Alex auf ihrer Europa-Reise ins Lubéron-Gebirge – ebenso Mikrokosmos aus Künstlern und Intellektuellen wie Versteck für jene, die nicht gefunden werden wollen. Alex trifft auf Berühmtheiten wie Leonard Cohen und Isabelle Adjani. Aber auch auf die mysteriöse Mado, Mitglied einer Gruppe Straßenkünstler. Immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Gesichtern, ist Alex fasziniert von Mado. Mit ihr, Fantomas und Loïc verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit. Dann verschwindet Mado spurlos. Erst über dreißig Jahre später begegnen sich die beiden Frauen wieder. Doch Mado gibt vor, eine andere zu sein …

«Ein ganz großartiger Roman, eine spannend erzählte Geschichte, eingebettet in ein tolles Surrounding.»

Radio Bremen über Space Girls

Vita

Maiken Nielsen wurde 1965 in Hamburg geboren. Einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie auf Frachtschiffen und wurde dort von ihren Eltern unterrichtet. Zwischen dem Abitur und ihrem Studium in Aix-en-Provence reiste sie ein Jahr lang per Anhalter durch Europa. Dabei landete sie auch im Lubéron-Gebirge, wo sie sieben Jahre lang blieb und die Figuren und Geschichten für den vorliegenden Roman sammelte. Die Autorin arbeitet außerdem als Nachrichtenredakteurin und Podcasterin für den NDR.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte auf S. 7 von Kai-Ove Kessler

Zitat auf S. 46 aus «Une allée du Luxembourg» von Gérard de Nerval in «Odelettes», 1853

Zitat auf S. 137 aus «Gemeinsame Gegenwart» von René Char in «Einen Blitz bewohnen», herausgegeben von Horst Wernicke, deutsch von Paul Celan, Lothar Klünner, Jean Voellmy, 1995, S. Fischer Verlag

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung WIN-Initiative/Neleman/Getty Images; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01529-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Nora und Alma

Die Handlung des vorliegenden Romans ist frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist zufällig.

Stuttgart, 27. Oktober 1977

Christiane Gärtringen, wie sie sich jetzt nennen wollte, war zum ersten Mal auf einem Begräbnis. Vorsichtig schob sie sich durch die Menge junger Männer und Frauen. Die meisten hier schienen sich zu kennen. Ein Paar hielt sich weinend umschlungen, ein anderes blickte versteinert vor sich hin. Einige trugen Sonnenbrillen, was an diesem trüben Tag eigentlich nicht nötig gewesen wäre.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, sterben zu müssen, schon gar nicht, wenn man noch so jung wie Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe war.

Am Rand des feierlichen Begräbnisses standen Hunderte Polizisten mit Maschinenpistolen. Christiane erschauderte bei dem Gedanken an das Blutbad, das diese Polizisten anrichten konnten. Wut stieg in ihr auf. Das Gefühl war ihr mittlerweile so vertraut wie der Duft der kleinen Schwester, vertraut wie ihr gemeinsames Stofftier, ein Hund, den ihr eine wohlmeinende Frau bei ihrer Ankunft in Deutschland in die Hand gedrückt hatte. Vertraut wie der Geschmack von Reis und scharf gewürztem Fleisch.

Ihre Wut war in den Wochen nach dem Tag, der ihr Leben verändert hatte, größer geworden. In den Büchern, die sie gelesen hatte, stand, dass Wut mit der Zeit schwindet. Aber das war nicht geschehen.

An diesem Tag fühlte sie die Wut als etwas Heißes in ihrer Brust, etwas, das wucherte und klumpte, bis es sie ganz ausfüllte und ihr die Luft zum Atmen nahm.

Jemand sang ein Lied.

«Auf die Müllkippe sollte man sie werfen!», ertönte eine Stimme vom Rand des Friedhofs. «Auf den Müll mit den Halunken! Die haben nichts Besseres verdient!»

Ein großer Typ in Lederjacke mit dunklen, halblangen Haaren schob sich an ihr vorbei. Er sah aus wie Yan, der Schmuggler, in einem ihrer deutschen Kinderbücher. Und weil er keine Sonnenbrille trug, konnte sie den Ausdruck in seinen Augen lesen. Er war zornig, genau wie sie.

Bevor sie wusste, was sie tat, fasste sie ihn am Arm. «Was kann man tun?», fragte sie.

«Was man tun kann?» Er funkelte sie an. «Man kann eine ganze Menge tun. Wenn man erwachsen ist.»

«Ich bin erwachsen», brach es aus ihr heraus. Sie würde sich älter machen müssen, als sie in Wirklichkeit war, aber das konnte sie schaffen. Sie hatte schon ein paarmal vorgegeben, jemand zu sein, der sie nicht war.

Der Typ musterte sie aufmerksam. «Wie heißt du?»

Sie überlegte nur eine Sekunde lang. «Christiane.»

«Und weiter?»

«He, soll das hier ein Verhör werden?»

Er verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln. «Ich habe dir eine Frage gestellt.»

«Gärtringen», flüsterte sie. «Ich bin Christiane Gärtringen. Ich studiere Politikwissenschaft.»

«Das ist ein guter Name, den du dir da ausgedacht hast. Aber das Lügen musst du noch üben. Was bist du? Verfassungsschutz? Beschäftigen die da jetzt auch Kinder?»

Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Quer durch die Trauernden, die Frauen in langen, bunten Kleidern, die Frauen in Jeans und Lederjacken, die Männer, die wie Schmuggler aussahen. Durch die Menge, zu der sie nicht gehörte, weil sie nie zu jemandem gehörte. Weil niemand sie haben wollte. Abgesehen von ihrer Familie, aber die zählte nicht mehr.

Sie rannte weiter, direkt in ein Transparent hinein. «Pass doch auf!», rief jemand.

Gudrun + Andreas + Jan. In Stammheim gefoltert und ermordet, stand auf dem Transparent. Sie erfasste die Worte in einem Sekundenbruchteil, so rasch, wie sie alles Gedruckte las.

Von der Aussegnungshalle her näherte sich der Zug der Totengräber mit dem ersten Sarg.

«Mörder!», skandierte jemand, der sich ein Palästinensertuch um den Kopf geschlungen hatte. «Mörder! Mörder!»

Durch die Schar der Menschen, die Plakate und bemalte Betttücher und rote Fahnen trugen, durch diese pulsierende, bunte Menge, brachen nun Männer mit Fotoapparaten und Tonbandgeräten. Sie stürzten auf die Totengräber zu. Einer schrie: «Mach den Deckel auf! Zeig uns die Leiche!»

Christiane, wie sie ja jetzt heißen wollte, wurde beiseitegedrängt, stolperte, hielt sich an einem Grabstein fest. Etwas klirrte. Jemand hatte eine Blumenvase umgeworfen, die auf einem der Grabsteine stand.

«Da ist der Ensslin!», rief jemand und deutete auf einen Mann in schwarzer Pastorentracht, der in all dem Gedränge verloren wirkte. «Da ist der Vater der Mörderin! Kamera auf ihn!»

Christiane fühlte Entsetzen in sich aufsteigen. Gejagt wurden sie, gejagt wie Tiere.

Die Totengräber brachten einen zweiten Sarg, dann einen dritten. Christiane schob sich dichter an die Trauergemeinde heran.

Die Stimme des Pastors klang jung und dünn. «Vater unser im Himmel», hörte sie ihn deklamieren.

«Die haben kein Begräbnis verdient!» Eine schrille Stimme, die den Pastor übertönte.

«Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.»

«Mörder! Die gehören hingerichtet! Die ganze Bande!»

«Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.»

Eine Frau neben ihr weinte. Sie hielt ein kleines Kind an der Hand.

Christiane hielt es nicht mehr aus. Sie hatte genug gesehen.

Sie hatte einen der Friedhofsausgänge erreicht, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

Es war der Große, der wie Yan, der Schmuggler, aussah.

«Wenn es dir ernst ist, dann komm dorthin.» Er reichte ihr einen Zettel. «In genau einer Woche, abends. Wir werden dich allerdings befragen. Wenn du uns irgendeinen Scheiß erzählst, kriegst du ein Problem.»

Sie blickte auf den Zettel und zerriss ihn in kleine Stückchen.

«Heißt das nein?» Der Große runzelte die Stirn.

«Das heißt, dass ich mir Ort und Uhrzeit gemerkt habe», erklärte sie.

An den Ausgängen des Dornhaldenfriedhofs standen die Polizisten Spalier. Christiane musste sich ausweisen. Sie war noch keine sechzehn. Das Dokument war ihr Kinderausweis.

«Hast du keine Schule heute, Mädchen?», fragte der Beamte. Um sie herum gellten Schreie. Ein Mann mit langen Haaren und Hippie-Stirnband wurde abgeführt. Der Polizist, der ihren Kinderausweis in der Hand hielt, klang seltsam mitfühlend. «Eigentlich müsste ich deinen Eltern Bescheid geben», sagte er.

Christiane sah ihn an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Bitte tun Sie das nicht.»

Ein paar Herzschläge lang sah der Polizist sie an. «Mach keinen Unsinn, Mädchen», sagte er leise.

Sie schüttelte den Kopf.

 

Es war das letzte Mal, dass sie bei einer Polizeikontrolle ihren echten Ausweis vorwies, mit ihrem echten Namen, ihrem echten Geburtsort, ihrer ganzen ursprünglichen Identität.

Sie besuchte das Treffen, das der Große ihr gewiesen hatte, das erste von vielen, und sie erledigte alles, was man ihr auftrug. Sie war das perfekte Mitglied: intelligent, zornig, diszipliniert. Wie die Schmuggler in ihrem Kinderbuch lernte sie, ihre Spuren zu verwischen. Sie lernte den Umgang mit Waffen. Und sie war nie wieder so verzweifelt wie auf dem Dornhaldenfriedhof.

Endlich gehörte sie dazu.

Und doch: Als sie im Januar 1985 zu dem Haus des Generals in den Pariser Vorort La Celle-Saint-Cloud fahren sollte, meldete sich ihr Gewissen. Als die Schüsse knallten, von denen sie gewusst hatte. Sechs Kugeln des Kalibers 11,43. Zwei davon drangen in seinen Kopf ein.

General René Audran war sofort tot.

Acht Jahre lagen zwischen dem Begräbnis der drei RAF-Gründungsmitglieder und dem Mord an General René Audran. Eine Zeit, in der Christiane Gärtringen erwachsen wurde.

Dies ist ihre Geschichte.

Und die der letzten zehn Monate vor dem Tod des Generals.

Lubéron, März 1984

Zehn Monate vor dem Mord

Der Fahrer war der langsamste, dem Alex je begegnet war. Und mit jedem Joint, den er rauchte, entschleunigte er seinen Lieferwagen weiter. «Ah, diese Kurven», seufzte er, während er nun eine Zigarette am Anzünder aufglühen ließ. Zumindest glaubte Alex, dass er das sagte. Sie konnte nur ein bisschen Schulfranzösisch und füllte ihre Sprachlücken mit Fantasie.

Der Motor stotterte, und der Fahrer schaltete einen Gang herunter. Alex blickte aus dem Fenster. Ein Fußgänger, der im Alter ihres Großvaters sein mochte, humpelte über den Sandstreifen neben der Landstraße. Schließlich überholte er sie.

Nicht, dass sie es eilig gehabt hätte. Aber es war so langweilig mit dem bekifften Kerl.

Ein Ortsschild tauchte vor ihnen auf: Apt, Vaucluse prangte es dort rot umrandet.

«Können Sie mich hier absetzen?», fragte Alex.

Der Fahrer schien eine Weile zu brauchen, bis er begriff, was sie meinte.

«Absetzen. Hier?» Er begann zu kichern. «In Apt?»

«Warum – was ist mit diesem Ort?»

Wie in Zeitlupe schüttelte der Fahrer seinen Kopf. «Eh ben, du wirst schon sehen», sagte er, während er jedes Wort so dehnte, dass Alex ihn tatsächlich verstand.

Draußen sog sie die Winterluft in ihre Lungen. Es roch nach Holzfeuer und Thymian. Die Sonne goss gelbes Licht auf die Häuser, die aus grobem Stein erbaut waren. Ein merkwürdiger Kontrast war das, dieser Schein auf den Steinen unten, und darüber der Himmel, schwer und blau. Alex holte ihre Minolta aus der alten Schultasche, überlegte eine Weile, welche Blende sie wählen sollte, dann richtete sie ihr Objektiv abwechselnd auf die Straße, die hinter ihr lag, und auf den Ortseingang. Zurückblicken oder nach vorne? Sie wählte die Zukunft, entschied, wie viel Licht sie hineinlassen wollte, bewegte noch einmal das Rädchen, um die Blende zu regeln, und bannte ihre Entscheidung auf Film.

Immer weiter ging sie nun auf den Ort zu, vorbei an den Häusern aus uraltem Stein. Die tief stehende Sonne blitzte ihr in die Augen, sodass sie die letzten Schritte bis zum Ortseingang fast blind ging. Stimmen und Töne wehten zu ihr herüber, und dann versank die Sonne hinter einem Hügel, und im Schein einer Straßenlaterne erkannte sie einen kopfsteingepflasterten Platz. Unzählige Lichter schienen in der Abendluft zu tanzen. Zwischen den Straßenlaternen warfen Fackeljongleure ihre Feuerkegel in die Höhe. Trommeln wurden geschlagen, ein paar Menschen bewegten sich zur Musik. Jemand deutete nach oben, zum Dach eines Cafés, auf dem ein Mann mit einem Balancestab stand. Ein Seil war quer über den Platz zur anderen Seite gespannt. Nun setzte der Mann vorsichtig einen Fuß darauf. Schreie gellten durch die Luft.

«Er ist vollkommen krank!», hörte sie die Stimme einer Frau. Complètement malade, die Wörter kannte Alex. Im Schein der Fackeln sah das Gesicht des Seiltänzers jedoch äußerst gesund aus. Seine Wangen waren gerötet, und mit dem Stab in der Hand wippte er auf und ab.

Immer schneller schlugen jetzt die Trommeln. Immer mehr Männer und Frauen traten hinzu. Sie hielten Gläser in ihren Händen, küssten einander zur Begrüßung und lachten. Viele von ihnen zeigten immer wieder zum Dach des Cafés, schlugen sich die Hände vor den Mund und konnten offensichtlich nicht glauben, was sie sahen.

Alex genoss es, Teil der atemlosen Spannung zu sein, die sich über das Fest gelegt hatte, sich mit diesen Menschen verbunden zu fühlen. In den ersten Monaten nach der Schule war sie glücklich gewesen, allein zu sein. Sie hatte sich eine Hütte in einem norwegischen Wald gebaut, war in Marokko mit dem Bus durch Berberland gefahren. Den Sommer hatte sie auf Kreta am Strand geschlafen. In Belgrad war der Hinterraum einer Kneipe ihr Zuhause gewesen, außerhalb von Rom hatte sie sich ein verlassenes Haus mit einem Juwelendieb geteilt. Sie hatte Gefallen daran gefunden, sich treiben zu lassen, sich zu verabschieden, wann sie selbst es für richtig hielt. Aber in den letzten Wochen hatte sich etwas verschoben.

Sie wünschte sich immer mehr, Teil eines Ganzen zu sein.

Der Seiltänzer setzte seinen zweiten Fuß auf das Seil. Unter ihm warfen die Jongleure ihre brennenden Fackeln in die Luft. Erst jetzt bemerkte Alex, dass einer von ihnen eine Wolfsmaske trug. Eine Gruppe kleiner Kinder umspielte ihn.

Immer schneller schlugen die Trommler. Die Feuerkegel malten brennende Bögen in die Luft. Und darüber schwebte nun der Seiltänzer. Er wandte sich weder nach links noch nach rechts, sondern spazierte über den Abgrund, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Doch als er die Mitte des Seils erreichte, begann er zu schwanken. Er ruderte mit den Armen, sein Oberkörper bog sich hierhin und dorthin. Auf dem Platz wurde es still. Alex hielt den Atem an. Und in diesem Augenblick passierte es. Der Akrobat blickte zu ihr herüber. Wie in Trance hob Alex die Kamera vor ihre Augen, korrigierte die Blende und löste aus. Der Akrobat vor ihrer Linse fror ein, und nun ruderte er auch nicht mehr mit den Armen. Stattdessen richtete er sich auf, als wäre nichts geschehen – und spazierte weiter.

Als er auf das gegenüberliegende Dach gesprungen war und die Menge in Beifall ausbrach, schoss ein dicker Mann aus dem Café und schüttelte die Fäuste in seine Richtung. «Wenn ich dich noch einmal dabei erwische!», schimpfte er. Oder vielleicht sagte er auch: «Wenn du noch einmal in der Seilmitte stehen bleibst!»

Alex, die ja ihre Fantasie benutzen musste, um Französisch zu verstehen, wusste es nicht.

Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein Mann, der so alt sein mochte wie ihr Vater. Lachfalten kräuselten sich um seine Augen, und als er jetzt seine Zigarette zum Mund führte, sah sie, dass seine Hand mit Ölfarbe gesprenkelt war. Er sagte etwas, für das ihre Fantasie nicht ausreichte.

«Ich verstehe Sie leider nicht», erklärte sie.

«Bist du Deutsche?», fragte er mit holländischem Akzent.

Alex machte sich auf einen Vortrag über die Gräueltaten der Nazis gefasst und nickte ergeben. Aber der Mann mit den bunten Händen deutete nur auf ihre Minolta. «Landschaften oder Porträts?»

Überrascht von der Frage, antwortete Alex nicht sofort. Sie dachte an den Juwelendieb und seine strahlenden Augen, an die Kinderbande in Belgrad, an die alte Fischerin an irgendeinem griechischen Strand. Eigentlich war sie ausgezogen, um Landschaften in Europa zu fotografieren, aber sie hatte den Kontinent in Gesichtern gefunden.

«Alles, was mich interessiert», sagte sie. Sie gab nicht gern etwas von sich preis.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Feuerjongleur mit der Wolfsmaske seinen Kopf in den Nacken legte, bevor er ein Geheul ausstieß. Der Mann nickte. «Kann ich mir deine Bilder mal ansehen?»

«Sie sind nicht entwickelt.»

Nun nahm der Jongleur seine Wolfsmaske ab. Lange dunkle Haare flogen über seine Schultern, während er sich zu Alex umwandte und ihr, genau wie der Seiltänzer, direkt in die Augen blickte. Nur, dass es kein Er war. Sie erwiderte den Blick mit einem Lächeln. Der Feuerjongleur war eine schöne Frau.

«Solltest du je eine Dunkelkammer benötigen, dann komm mich besuchen.»

Von der Frau abgelenkt, wollte Alex dankend ablehnen, aber dann siegte ihre Neugier. Zehn Monate trampte sie nun schon durch Europa, und sie hatte noch kein einziges ihrer Bilder gesehen. Die ersten Filme hatte sie noch nach Hause geschickt, aber in ihrer Tasche lagen fünf weitere Rollen. «Wie würde ich dich denn finden?», fragte sie.

«Frag nach Gabriel, dem Holländer.» Er zwinkerte ihr zu. «Ich habe mein Atelier auf der Place Jules Ferry.»

*

Mado beobachtete, wie das fremde Mädchen mit Gabriel sprach. Ihr Gesicht wirkte vertraut, aber sie kam nicht darauf, wo sie ihr schon einmal begegnet sein könnte. Vorsichtig verstaute sie ihre Wolfsmaske in der Tasche und wickelte die Jonglierkegel in Ölpapier ein. Jemand sprang ihr auf den Rücken: eines der Kinder. Ein anderes umklammerte ihr rechtes Bein.

Mado stieß ihr Wolfsgeheul aus, und die Kinder lachten.

«Ich habe keine Angst!», schrie der Junge, der auf ihrem Rücken saß. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die unbekannte Fotografin die Kamera vor ihr Auge hob. Instinktiv drehte sie sich weg.

«Ich auch nicht!», rief sie, und der Junge kicherte.

«Musst du auch nicht! Du bist ja der Wolf!»

Ein drittes Kind lief ihr entgegen. Mado heulte wieder, diesmal noch länger und unheimlicher.

«Die Wolfsmama und ihre Jungen», hörte sie durch den Lärm die Stimme von Loïc, der sich, seinen Balancestab noch in der Hand und Fantomas im Schlepptau, genähert hatte. Er war nicht der Einzige, der sie damit aufzog, dass sie wie ein Magnet auf Kinder wirkte. Aber die Anziehung beruhte auf Gegenseitigkeit. Seit Amira geboren worden war, liebte Mado Kinder. Jetzt beugte sie sich zu ihnen hinunter und sang ihnen ein Lied vor, das sie durch ihre eigene Kindheit begleitet hatte. Eine viel zu kurze Zeit.

Fantomas legte einen Arm um Loïcs Schulter. «Du hättest dir eben das Rückgrat brechen können, wenn du gefallen wärst.»

«Ja.» Loïc zeigte beim Lachen alle Zähne. «Aber dann habe ich ja meinen Schutzengel gesehen.»

«Welchen Engel?»

«Er meint das Mädchen, das ihn fotografiert hat.» Mado deutete mit dem Kopf zum Ortseingang. «Das da hinten mit Gabriel redet.»

Aber das Mädchen war auf einmal verschwunden, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

«Eh ben?», staunte Fantomas. «Wo ist er denn hin, dieser Engel?»

«Ins Himmelreich heimgekehrt.» Mado pflückte sich das Kind von ihrem Rücken. «Und ich fahre jetzt auch heim.»

«Ah non, Mado!» Fantomas fasste sie an den Händen. «Der Abend geht doch jetzt erst los! Wir wollen trinken, als gäbe es kein Morgen! Feiern wollen wir, dass wir immer noch am Leben sind!»

An der Jukebox des Café Grégoire hatte jemand «Sweet Dreams» angewählt.

I travel the world and the seven seas /

Everybody’s looking for something.

In Mados Kehle zog sich etwas zusammen. Das Lied erinnerte sie daran, dass sie selbst nach etwas Ausschau gehalten hatte. Etwas hatte verändern wollen. Und wie das ausgegangen war.

«Außerdem ist Leonard auch da, sieh mal!» Loïc deutete auf den dunkel gekleideten Mann auf der Café-Terrasse.

«Genau!», fiel Fantomas ein. «Wir wollen hören, was Leonard heute Abend zu singen hat!»

«Dieser Cohen spielt immer so traurige Lieder.» Mado schüttelte den Kopf.

«Du würdest auch traurige Lieder spielen, wenn du in einem Wohnwagen vor dem Haus deiner Ex-Frau leben müsstest, das du bezahlt hast. Nur um deine Kinder zu sehen!», verteidigte Fantomas den kanadischen Musiker.

Mado küsste die Jungs auf die Wangen. «Bonne nuit, mes chéris. Wir sehen uns morgen!»

Loïc und Fantomas verneigten sich vor ihr. «Gute Nacht, Wolfsgöttin! Geruhet wohl!»

Der Mond hing groß und schwer am Himmel, als Mado auf ihrem Mofa in die Berge brauste. Nachtwind zerrte an ihrem Haar. Als sie in die schmale Straße abbog, die nach Buoux hinaufführte, sah sie das Mädchen wieder, Loïcs Engel. Sie hatte etwas um ihre Schulter geschlungen, das wie eine Schultasche aussah. Das ließ sie noch verlorener wirken. Einen Moment lang überlegte Mado, ob sie anhalten und das Mädchen mitnehmen sollte. Aber dann fiel ihr ein, dass sie einen Fotoapparat hatte. Und deshalb fuhr sie an ihr vorüber, hoch ins Gebirge, vorbei am Felsen des Briefträgers, auf dem das Mondlicht glänzte, und so dicht am Abgrund, dass ihr schwindelig wurde. Nur ihr Wille und ihre Fähigkeit, auch bei hoher Geschwindigkeit zu lenken, trennte sie wieder vom Tod.

*

Alex erwachte bei Sonnenaufgang, weil die Maultiere auf der Wiese schrien. Sie hatte sich diesen Schlafplatz ausgesucht, weil er kurz hinter Apt abgelegen an einem Bergpfad lag. Es war kalt, aber sie hatte ihren Schlafsack und war daran gewöhnt, auch bei winterlichen Temperaturen draußen zu schlafen. Nichts konnte sie in ihrem Glück stören, frei und unterwegs zu sein.

«Warum willst du das machen?» Das hatten alle zu Hause von ihr wissen wollen, bevor sie zu ihrer Reise aufgebrochen war, selbst Renni und Bine und der Rest der Clique. Zu Fremden ins Auto steigen, irgendwo draußen schlafen, immer unterwegs sein, allein. Dabei war die Antwort doch so einfach, dachte Alex, während sie zusah, wie der Morgennebel über die Gräser wallte. Sie wollte die Angst, die sie alle lähmte, eintauschen gegen Lebendigkeit.

Renni, der in der Oberstufe seinen inneren Revolutionär entdeckt hatte, meinte, man müsste das Schweinesystem mit seinen eigenen Waffen schlagen. Wenn die NATO Mittelstreckenraketen auf bundesdeutschem Boden stationierte, dann käme das einer Kriegserklärung an die Bevölkerung gleich, dann müsste man zurückschießen, die Imperialisten an den Eiern packen, den Typen in den Rüstungskonzernen, die sich die Taschen vollmachten, an die Gurgel gehen. Bine, die ebenfalls Angst vor einem Atomkrieg hatte, sich aber noch mehr vor dem Waldsterben fürchtete, baute lieber noch einen Joint. Am Ende hatten sich die meisten aus der Clique in Drogen geflüchtet oder in bürgerliche Ausbildungsberufe, was irgendwie aufs Gleiche herauskam. Nicht hinsehen. Sich um seinen eigenen Kram scheren, sich ins Unvermeidliche fügen. Ausharren, bis es vorübergeht.

Aber es würde nicht vorübergehen, dessen war Alex sicher. Das Wettrüsten ging immer weiter, und es gab diesen furchtbaren Krieg in der Golfregion. Und weil die Bedrohung zunahm, wollte sie spüren, was trotz Angst noch alles möglich war.

Und das war vieles. Einiges davon hatte sie auf ihrer Reise ausprobiert. Nun war sie hier gelandet, auf einer Wiese in Südfrankreich. Sie lächelte, während sie aufstand. Was auch immer auf der Welt passierte – sie fühlte sich glücklich wie noch nie. Sie mochte den blühenden Mandelbaum, unter den sie sich gelegt hatte, und sie mochte die Maultiere, die auf der Wiese ästen. Leise richtete sie das Kameraobjektiv auf ihre Mäuler im Tau. Der Himmel war zartrosa. Sie verlängerte die Belichtungszeit, sodass auf den Fotos später alles weich aussehen würde. Freude erfüllte sie.

In ihrer Schultasche war noch alles an Ort und Stelle. Niemand hatte sie in dieser Nacht gestört. Der Reisepass, der nicht der ihre war, lag in ihrem Geheimfach, zusammen mit dem Bündel Lire, die ihr von ihrem Job in Rom geblieben waren.

Als sie über die Wiese schritt, fühlt sich der Boden kalt an unter ihren bloßen Füßen. An ihrer Haut kratzte der holzige Thymian. Vorsichtig streichelte sie das Fell der Maultiere und die Rinde der Krüppeleichen. Der Tau verdunstete langsam. In das Himmelsrosa mischte sich Hellblau.

Sie beschloss, hinunter in den Ort zu gehen. Ob sie den Seiltänzer wieder treffen würde und die Wolfsfrau? In tiefen Zügen atmete sie den Morgenduft ein.

Es war Markttag. Menschen schoben sich durch die Straßen, zwischen voll beladenen Aufstelltischen vorbei. Ein Mann mit großem Schnurrbart trat aus einer Seitenstraße und wurde sofort umringt. Alex versuchte, die Menge, die sich um den Schnurrbärtigen gebildet hatte, zu umgehen, doch das war nicht möglich. Endlich tat sich eine Lücke auf, und Alex schlüpfte hindurch.

Die Stimmen der Marktbesucher mischten sich mit Musik und Lautsprecherdurchsagen. Es roch nach frisch gebackenen Croissants, nach Kaffee, nach warmen Tomaten, gegrilltem Fleisch, und Alex spürte, wie sich ihr vor Hunger der Magen zusammenzog. Sie tastete nach einer Münze in ihrer Hosentasche und kaufte sich ein pain au chocolat. Die Bäckerin erinnerte sie an eine italienische Schauspielerin, deren Filme ihre Mutter gern sah, wenn sie im Fernsehen wiederholt wurden. Sie trug ein enges Kleid über ihren Kurven und wedelte mit den Händen über den mit Früchten und Schokolade verzierten Törtchen, als dirigiere sie ein Konzert.

Während Alex draußen mit geschlossenen Augen kaute, flimmerte die Sonne orange durch ihre Lider. Sophia Loren, das war der Name von Mamas Lieblingsschauspielerin. Sie würde die Bäckerin fragen, ob sie sie fotografieren durfte, und Mama einen Abzug schenken. Vielleicht wäre sie dann besänftigt. Alex biss noch ein Stück von dem warmen Gebäck ab und fühlte sich eins mit der Welt.

Der Markt erstreckte sich von einem Ende der Kleinstadt zum anderen, mit Ständen, an denen weiß bestaubte Wurst hing, neben bunt gebatikten Kleidern, Schmuck, hoch gestapelten Käselaiben, Gemüse und Obst. Alex brauchte fast eine Stunde, um die Hauptstraße hinunterzugehen, so dicht war das Gedränge. Unter einem mittelalterlichen Portal in der Mitte der Hauptstraße blieb sie stehen, um einen muskulösen Mann in weißem Lendenschurz zu betrachten, der vor dem Portal meditierte. Neben ihm bettelte ein Hippiemädchen die Passanten an.

Als die Glocke vom Kirchturm ein Uhr läutete, sammelten die Marktleute ihre Waren wieder ein, klappten die Stände und Schirme zusammen und verschwanden in ihren Lastautos. Zurück blieb eine ausgelaugte Menge, die, wie nach überstandener Sturmflut, an die Cafétische zurückebbte, schäumend vor Freude darüber, einander dort erneut zu begrüßen, diesmal mit einem Glas Wein oder Espressotassen in der Hand.

Alex ergatterte einen freien Platz auf der Terrasse des Café Grégoire, von dem aus sie das Naturschauspiel mit gebührendem Abstand bewundern konnte. Der Schnurrbärtige hatte sich an einem Nebentisch niedergelassen. Minuten später waren die Stühle rings um seinen besetzt. Sie ließ ihren Blick über die anderen Tische wandern.

Deutsche Wortfetzen wehten zu ihr herüber. Die Stimmen klangen erregt: «Sie haben den Generaldirektor der Polizei erschossen! In Lyon – wo wir gestern noch waren! Ja, diese Terroristen von der Action Directe!»

Nun bemerkte sie eine Frau, die am Nebentisch der Deutschen saß. Unablässig pflückte sie sich Kinder von den Schultern, um sie sich ordentlich auf den Schoß zu setzen oder neben sich aufzustellen. Liebevoll löste sie die kleinen Fäustchen, die an ihren langen, schwarzen Haaren hingen, oder streichelte einem der Zwerge über den Schopf. Auch wenn Alex das Gesicht der Frau nicht erkennen konnte, wusste sie, dass sie gut aussah. Nur attraktive Frauen trugen fingerlose Spitzenhandschuhe, riesige Ohrgehänge aus Strass und so kurze Kleider. Nur Schönheiten hatten das Selbstbewusstsein dafür.

Sie mochte es, wie die Frau mit den anderen an ihrem Tisch lachte, während sie gleichzeitig mit den Kleinen spielte. Dann sah sie, dass sie ihr zuwinkte.

Es war die Wolfsfrau, erkannte sie.

Alex schulterte ihre Schultasche, griff nach ihrer Tasse Kaffee und schlenderte zu der Wolfsfrau hinüber. Ihr Herz klopfte ein bisschen schneller, und jetzt sah sie, dass der Seiltänzer neben ihr saß und noch ein weiterer Mann, der sie erstaunt ansah. Der Seiltänzer lächelte, wobei man alle seine Zähne sehen konnte, und in seinen Augen funkelte ein Ausdruck, der ihr gefiel.

Das Wolfsmädchen setzte sich eines der Kleinen auf ihre Schultern und stellte sich vor. «Madeleine. Aber meine Freunde nennen mich Mado.»

Das immerhin verstand Alex, und sie deutete auf sich: «Alexandra. Freunde Alex.»

Mado lachte und nickte, dass sie verstanden hätte. Der Seiltänzer strahlte sie immer noch an. Er hatte eine Gipsbüste neben seiner Kaffeetasse stehen. «Loïc», sagte er.

Seine Stimme berührte etwas in ihr. Sie war überrascht, wie voll und schön sie klang. Seine Augen waren mit Punkten gesprenkelt, auch das gefiel ihr. Er sah sie unverwandt an.

Mado deutete auf den Erstaunten. «Fantomas.»

«Ist das nicht ein großer …?» Alex suchte eine Übersetzung für das Wort Schurke, fand aber keine.

«Une grande canaille, oui.» Der Mann stand auf, verbeugte sich und sah dabei weiterhin verblüfft aus. Es lag an seinen Augenbrauen, beschloss Alex. Sie waren in zwei Bögen geschwungen, die ihm das Staunen auf ewig ins Gesicht schrieben. «Gestatten, Meisterschurke von Frankreich. Zu Euren Diensten, holde Maid», übersetzte sie seine Worte mit ihrer gut geölten Fantasie.

Ein Gespräch entspann sich, dem Alex zu folgen versuchte. Vergeblich. «Oui», sagte sie, wenn das Wort an sie gerichtet wurde, und dann wieder: «Non.» Es war schwer, die beiden Wörter richtig zu platzieren, vor allem, nachdem sie ein Glas mit einer weißlichen Flüssigkeit namens pastis getrunken hatte, das die Wörter in ihrem Kopf verwirbelte. Es kam vor, dass sie ein «Oui» einsetzte, wo ein «Non» vielleicht besser gepasst hätte. Dann runzelten Mado, Loïc und Fantomas die Stirn, und Alex tauschte das Wort aus, bis es zu passen schien.

«Ich werde dir übersetzen», sagte Mado schließlich in einem Deutsch mit starkem französischem Akzent.

Vor Überraschung ließ Alex fast ihr Glas fallen. «Du kannst Deutsch?»

Mado wedelte mit ihrer Hand, dass die Strasssteine funkelten. «Na ja, so lala. Bin Elsässerin.»

«Jawohl!», brüllte Fantomas. «Zu Befehl!»

Mado stieß ihn in die Rippen und deutete auf die Deutschen am Nebentisch. Fantomas sah noch erstaunter aus. In Alex’ Richtung radebrechte Mado: «Das war sehr geschmacklos. Ich hasse es, wenn Fantomas aus seinem Schulbuch zitiert.»

«Jawohl und zu Befehl stand in eurem Deutsch-Lehrbuch?» Alex konnte es nicht fassen.

Mado bewegte Schultern und Handinnenflächen nach oben. «Eh bien, oui.»

Alex bemerkte, dass der Seiltänzer – Loïc – sie ansah. Sie schüttelte den Kopf. «In unserem stand das nicht.»

Mado lachte und übersetzte Alex’ Antwort den beiden anderen, die ebenfalls anfingen zu lachen.

Von da an wurde das Gespräch leichter. Alex erfuhr, dass Loïc dafür trainierte, auf einem Seil zwischen zwei Hochhaustürmen in Marseille zu spazieren.

«Warum willst du das tun?», fragte sie.

Loïc lachte wieder so, dass sie all seine Zähne sah.

«Er will wissen, warum du das nicht tun willst», übersetzte Mado.

Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. «Mein Selbsterhaltungstrieb steht mir im Weg» klang so lahm.

«Loïc will den Kindern, die in diesen Hochhäusern wohnen, zeigen, wie poetisch das Leben sein kann», fuhr Mado fort.

Alex blickte Loïc in die Augen. Er lachte nun nicht mehr, sondern erwiderte ruhig ihren Blick.

«Vielleicht wollen wir aber auch richtiges Theater spielen», brachte Fantomas sich jetzt ins Spiel und deutete auf die Gipsbüste vor sich. «Die Stücke von ihm da. Boris Vian.»

Offenbar bestand das einzige Problem dabei in Mados angeblicher Schüchternheit.

«Man mag das nicht denken, wenn man sie so ansieht», bemerkte Fantomas mit bewunderndem Blick auf Mado. «Aber tatsächlich weigert sie sich, ohne ihre Wolfsmaske aufzutreten, weil sie mit nacktem Gesicht auf der Bühne so ein Lampenfieber bekommt.»

Mado übersetzte seine Worte und bestätigte ihren Wahrheitsgehalt.

Was denn dieser Boris Vian so geschrieben hätte, wollte Alex wissen.

Loïc schwieg und sah sie immer noch an.

«Die Geschichte eines Mädchens, dem eine Seerose in der Brust wächst», erklärte Fantomas. «Außerdem ist Boris Vian auf eine wirklich spektakuläre Art gestorben!» Er gestikulierte in Mados Richtung. «Erzähl ihr das mal!»

Mado übersetzte wieder. «Er ist tot umgefallen, als er die Verfilmung eines seiner Romane gesehen hat», erklärte sie.

Loïcs Augen leuchteten in der Sonne. «Und jetzt erzähl ihr das mit Molière!»

«Also gut, der ist an einem Blutsturz gestorben, nachdem er die Rolle eines Hypochonders in seinem Stück Der eingebildete Kranke gespielt hat.»

Fantomas griff sich dramatisch an die Brust. «Ich liebe es, wie Künstler sterben! So will auch ich einmal von dannen gehen!»

«Es ist aber auch traurig.» Loïc rührte in seinem Kaffee.

Mado imitierte bei ihren Übersetzungen die Stimmen der beiden, was ihr Alex’ Ansicht nach sehr gut gelang. Fantomas küsste seine Fingerspitzen. «Mado liebe ich auch», sagte er in Alex’ Richtung und bat Mado, auch das zu übersetzen, was diese achselzuckend tat.

Am Nebentisch malten sich die Deutschen lauthals Schreckensszenarien aus.

«Sie hätten uns erschießen können anstelle dieses armen Generaldirektors! Linker Terror überall!»

Nun kam ein bunt gesprenkelter Gabriel auf sie zugeschlendert, an seiner Seite ein fleischig aussehender Mann.

«Vorsicht, der Fleischige, das ist der Normanne», zischte Mado ihr zu.

Warum sie sich jetzt fürchten müsse, wollte Alex wissen.

«Alors wenn du nicht zufällig wegen irgendwelcher Komplikationen bei seinen Drogengeschäften ein schlechtes Gewissen hast, musst du natürlich keine Angst haben.»

Alex versicherte, ihr Gewissen sei rein wie Schnee.

Im Licht der frühen Nachmittagssonne wirkte das Gesicht des Malers noch gefurchter als am Tag zuvor. «Alex!», rief er und küsste sie dreimal auf die Wange, so als wären sie alte Freunde.

«Bonjour Gabriel!», gab sie zurück.

Es entspann sich ein langes Gespräch zwischen Mado, Gabriel, dem fleischigen Normannen, Fantomas und Loïc, das Alex selbst mit viel Fantasie nicht entschlüsseln konnte. Dafür studierte sie die Gesichter und Handbewegungen der fünf. Gabriels Hände waren rot und orange gefleckt. Mado pflückte sich erneut ein Kind vom Schoß. Fantomas wirkte erstaunt. Und dann bemerkte sie, dass Loïc sie wieder ansah. Auf einmal klopfte ihr Herz so stark, dass sie es im ganzen Körper fühlte.

«Du wirst natürlich hier in der Region bleiben», sagte Mado, während die Deutschen vom Nebentisch aufstanden. «Und dann musst du Französisch lernen. Wenn du willst, bringe ich es dir bei.»

Alex sah sie an. «Was macht dich so sicher, dass ich hierbleiben werde?»

«Das tun alle.» Mados Ohrringe funkelten im Sonnenlicht. «Frag den Briefträger! Der hat die Geschichte des Lubéron studiert.»

«Sie hat recht.» Gabriel warf ein paar Scheine auf den Tisch und beschwerte sie mit dem Aschenbecher. «Von den Pilgern, die im frühen Mittelalter auf dem Weg nach Rom hier durchzogen bis hin zu den Reisenden von heute. Es ist verblüffend. Sie bleiben alle da.»

Alex spürte auf einmal, wie ihr leicht im Kopf wurde. War das möglich? Hatte sie den Platz gefunden, an dem sie bleiben würde? Konnte sie sich ein Leben vorstellen, in dem es keine Reisen mehr gab?

«Ich habe keine Arbeit», sagte sie. «Gibt es hier Arbeit? Mein Geld geht mir nämlich demnächst aus.»

Mado musterte sie lange. Im Sonnenlicht leuchteten ihre Augen hellblau. Sie hatte sie mit blauem Kajal umrahmt und sich die Wimpern getuscht, was den Effekt noch verstärkte. Alex konnte nicht aufhören, sie anzusehen.

«Wo wohnst du?», fragte sie endlich.

«Auf einer sehr schönen Wiese.»

Mado und Gabriel lachten. «Gut», sagte Mado. «Ich mag Wiesen auch, aber ich schlage vor, du ziehst erst mal zu mir.»

«Und dann suchen wir dir Arbeit», ergänzte Gabriel. «Ich hätte da schon eine Idee.»

Alex blickte von einem zum anderen. «Das ist … ein kühner Plan.»

Mado lachte wieder. «Hier im Lubéron hat Geselligkeit nichts Kühnes, im Gegenteil. Deswegen musst du auch zuallererst Französisch lernen. Eh bien, wir bekommen das schon hin.»

*

Mado musterte das Mädchen, das in ihr Leben getreten war und vielleicht ihre Freundin werden könnte. «Engel», hatte Loïc sie genannt, und sie fand, dass das zutraf. Alex sah hell und unschuldig aus. Was hatte sie nur bewogen, allein durch die Welt zu ziehen? Sie war ganz offensichtlich eine Einzelgängerin, so wie Mado es sonst auch war. Eine, die sich selbst an den Rand zurückgezogen hatte oder vielleicht von anderen dorthin gedrängt worden war. Das musste sie noch herausfinden. Erst einmal beschränkte sie sich jedoch auf das Praktische.

«Was hast du an Gepäck?», fragte sie.

«Nur das hier.» Alex deutete auf ihre Schultasche. «Und auf der Wiese …» Sie deutete in Richtung der Gebirgsstraße. «Da hängt noch mein Schlafsack zum Trocknen am Mandelbaum.»

Wieder bemerkte Mado, dass Alex ein Deutsch ohne jegliche Akzentfärbung sprach. Bundesdeutsches, bildungsbürgerliches Elternhaus, tippte sie.

«Soll ich sie fahren?», fragte Gabriel.

«Nein, passt alles auf mein Mofa.» Sie küsste Gabriel links-rechts-links. «Danke für die Getränke. Wir düsen jetzt los.»

«Sehen wir uns heute Abend zur Probe?» Fantomas trat dicht an sie heran.

«Natürlich», versicherte sie. Sie hatte die Geselligkeit im Lubéron akzeptiert, zunächst wie eine Krankheit, die man aussitzen konnte, aber nun, da sie schon über ein halbes Jahr hier war, fand sie langsam Gefallen daran. Es war schön, dass immer jemand für einen da war. Das erinnerte sie an früher. An ihre Familie. An die Zeit vor jenem alles verändernden Tag.

«Ich will üben, auf dem Seil zu jonglieren», erklärte Loïc. «Meinst du, dass du es schaffst, mir die Fackeln zuzuwerfen? Du musst sehr genau zielen, wenn du nicht willst, dass ich hinunterfalle.»

Mado versicherte, dass es ihr fernliege, den frühen Tod eines Freundes zu verursachen, und er grinste.

Sie bemerkte, dass er dem Engel einen Blick zuwarf. Gerade als er den Mund öffnete, um mit ihr zu sprechen, sagte Fantomas: «Ich bringe was zu trinken mit!»

«Nicht, wenn es bedeutet, dass du wieder die Vorräte deines Vaters plünderst», protestierte Mado. «Fantomas’ Vater führt ein Restaurant in Roussillon», erklärte sie in Alex’ Richtung auf Deutsch.

«Was hättest du gern, Schönheit?», wollte Fantomas von ihr wissen. «Tavel, Languedoc, Côtes du Lubéron …»

«Ein schnelles Begräbnis, wenn du weiterhin so auf schlechte Romantik machst.»

Fantomas schaffte es, noch erstaunter auszusehen.

«Bis später dann.» Mado griff Alex’ Arm und zog sie mit.

«Er ist in dich verliebt, nicht wahr?», fragte Alex, nachdem sie außer Hörweite waren.

«Nein, er flirtet nur gern, der Meisterschurke. Pass auf, morgen bist du an der Reihe.»

Alex verzog ihren Mund zu einem breiten Lächeln. «Wohl kaum.»

«Dir liegt wohl nicht viel am Flirten», stellte Mado mit Blick auf Alex’ ungeschminktes Gesicht, ihre kurzen, blonden Haare und die weiten Klamotten fest.

Alex schwieg.

«Dir liegt nicht viel am Flirten mit Fantomas», korrigierte sie sich.

Wieder lächelte Alex.

«Verstehe. Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten? Loïc mag dich auch.»

Alex’ Gesicht leuchtete auf.

«Und jetzt lass uns nach Buoux fahren. Warst du da schon mal?»

Alex schüttelte den Kopf.

«Dann wirst du gleich eine Überraschung erleben.» Sie musste den Blick heben, um sie anzusehen. Alex war größer als sie und so schlank, dass ihre Wangen hohl wirkten. Vor allem aber schien sie nicht zu wissen, wie schön sie war. «Buoux ist ein magischer Ort. Und du bist ein merkwürdiges Mädchen. Sag doch mal was!»

Alex lachte. «Du findest mich merkwürdig? Du bist doch diejenige, die mit einer Wolfsmaske durch die Gegend läuft!»

«Auch wieder richtig. Na, komm, steig auf!»

Sie spürte, wie Alex sich auf ihrem Platz auf dem Gepäckträger an sie schmiegte, während sie ihr Mofa den Bergweg hinauf zwang. An einer Wiese hinter dem Polizeikommissariat hielten sie an, um Alex’ Schlafsack einzusammeln, dann knatterten sie über Haarnadelkurven weiter, vorbei an dem Felsen, unter dem der arme Briefträger lag.

Als sie das Bergdorf erreichten, das Alex’ neue Heimat werden sollte, stellte Mado ihr Mofa ab und drehte sich zu Alex um. «Voilà, on est à Buoux. Und, was sagst du?»

Alex stieg ab, streckte ihre Arme und drehte sich langsam im Kreis. Mado folgte ihrem Blick nach oben. «Das ist der Indianerkopf», erklärte sie in Richtung eines Felsens, der auf einem bewaldeten Berg stand. «Man nennt ihn wegen seiner Ausformung so.»

«Die Berge sind bunt.» Alex wandte sich ihr überrascht zu. «Und sie haben Streifen! Aber nicht wie normale Berge. Etwas ist anders.»

«Es sind die Felsen.» Mado lächelte. «Es heißt, dies sei der einzige Ort der Welt, an dem sich die Sedimente vertikal abgelagert haben. Niemand weiß, wie das geschehen konnte. Vielleicht hat ein Riese die Steine gedreht?»

Sie folgte Alex’ Blick zur hoch aufragenden Felswand mit ihren Einbuchtungen, Rissen und Höhlen. Es sah aus, als hätte es Farben über dem Gestein geregnet. Als hätten sich die Streifen im Lauf der Jahrmillionen in den Fels geprägt.

Zikaden zirpten, der Fluss rauschte.

«Hörst du das Wasser?», fragte Mado. «Das ist der Aigue Brun.»

Alex’ Augen weiteten sich. «Es ist wunderschön», flüsterte sie.

«Das habe ich auch gedacht, als ich zum ersten Mal hier heraufkam. Warte nur, bis wir nach Roussillon fahren, wo Fantomas’ Eltern ihr Restaurant haben. Da sind die Farben noch stärker. So etwas wie dort gibt es höchstens noch im amerikanischen Colorado. Ich weiß nicht, ob du Bilder von dort kennst.»

«Ich war mal da.»

«Viel herumgekommen, hm?»

«Als wir klein waren, haben wir mit unseren Eltern die USA bereist. Mein Bruder und ich.»

Tausend Fragen schwirrten Mado durch den Kopf, aber sie beschloss, sie vorerst für sich zu behalten. Am Ende erwiderte Alex ihre Neugier noch.

In einiger Entfernung konnte sie ein Pferd und eine Reiterin sehen: Jeanne aus Sivergues, die sich darin übte, in den Bergen zu galoppieren. Einen Moment lang glaubte sie, dass Jeanne auf sie zugeritten käme, doch sie folgte dem Weg hinauf in die Auberge des Falaises.

«Komm», sagte sie. «Ich zeige dir jetzt, wo du schlafen wirst.»

*

Es war ein etwas verfallen wirkender Hof außerhalb des Dorfes Buoux, in dem Mados Vermieter wohnten. Daneben lag eine Scheune aus unbehauenen, hellen Steinen. Mado hatte eine breite Matratze auf den Boden der Scheune gelegt, darauf waren bunte Wolldecken und Kissen verteilt. In einer Obstkiste stapelten sich Bücher in verschiedenen Größen und Farben. Alex drehte sich um und entdeckte eine winzige Spüle, über der eine Wasserpumpe installiert war. Einen Herd konnte sie nicht ausmachen, dafür aber einen Gaskocher, ähnlich dem Modell, das Mama früher bei ihren Camping-Urlauben benutzt hatte. Zwei saubere Becher und eine Vase mit einem Strauß Rosmarinzweige standen auf dem Tisch, neben einer bronzenen Lampe, deren Glasschirm wie eine Blüte geformt war.

«Toiletten und Dusche à la Charles Dickens sind da draußen.» Mado deutete durch das Fenster auf einen Holzverschlag.

«Schön sieht das aus hier», sagte Alex. «Hat man zu Dickens’ Zeiten schon geduscht?»

«Kübel mit kaltem Wasser haben die sich über den Kopf gegossen. Und das wird jetzt auch deine ganz spezielle Spa-Erfahrung sein.»

Alex lachte und fühlte, wie sie sich entspannte. «So lange es seinen Zweck erfüllt. Aber es ist dein Reich. Bist du sicher, dass du mich hier wohnen lassen willst?»

Mado hob die Schultern. «Es ist ja nicht für die Ewigkeit, oder?»

Sekundenlang sahen sie sich an. Alex fragte sich, wie alt Mado wohl war. Sie gab sich so erwachsen, aber nun, da sie ihr so dicht gegenüberstand, fiel Alex auf, dass ihr Gesicht unter der Schminke kindlich wirkte. Sicherlich war sie kaum älter als sie selbst.

«Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.»

«Indem du Französisch lernst. Ich spreche nicht gern Deutsch. Und ich bin auch nicht immer dabei, um für dich zu übersetzen.»

«Hey, ich könnte dich fotografieren, du kannst doch sicher Porträtaufnahmen gut gebrauchen, wenn du Schauspielerin werden willst!»

«Danke, aber nein.» Mado schüttelte den Kopf, dass ihre Ohrgehänge klimperten. «Ich werde nicht gern fotografiert.»

Alex lachte. «In dem Beruf, den du anstrebst? Das finde ich aber mal originell!»

«Ah, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob die Schauspielerei überhaupt etwas für mich wäre. Das ist eher so das Ding von Fantomas.» Mado band ihre Haare zu einem Zopf. «Weißt du schon, was du mal machen willst später?»

Wieder sah Alex ihre blauen Augen hell aufstrahlen. Sie bemerkte nun aber auch, dass sie Kontaktlinsen trug. «Klar, Fotografin. In der Zwischenzeit muss ich aber irgendwas machen, was Geld bringt. Was war das für ein Job, von dem Gabriel vorhin sprach?»

«Gib nichts auf das, was Gabriel so redet. Er ist kriminell.»

«Ich dachte, er sei Maler.»

«Der jede Menge Geld macht, obwohl er schon seit Ewigkeiten keine Bilder mehr verkauft? Nein, glaub mir, es ist besser, wenn du auf der richtigen Seite des Gesetzes stehst. Könntest du dir vorstellen …? Ah, ich weiß nicht das Wort.» Sie fischte ein Wörterbuch aus der Obstkiste und blätterte darin herum.

«Voilà, Forellen. Kannst du dir vorstellen, Forellen zu töten und auszunehmen?»

Alex seufzte. «Für meinen letzten Job musste ich leichtbekleidet eine Schachtel mit Dragees in eine Kamera halten. Schlimmer als das kann es ja wohl nicht sein.» Sie bemerkte Mados überraschten Blick und lachte. «Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr einen Schminke verändert. Forellen töten also. Bin dabei. Wo?»

«Hier, um die Ecke, in der Auberge, wo ich als Kellnerin arbeite. Der jetzige Forellentöter hat den Gästen neulich einen Vortrag gehalten. Das fand der Chef dann doch nicht so gut.»

«Die Gäste wollten sich lieber untereinander unterhalten?», riet Alex.

«Ja, und ihnen gefiel das Thema des Vortrags nicht. Dem Chef übrigens auch nicht, wenn man bedenkt, dass wir hauptsächlich Forellen, Kaninchen und Lamm zubereiten.»

«Was war das Thema des Vortrags? Ein bisschen Gemüse hat noch keinem geschadet?»

«Tiere essen ist Mord.»

Alex prustete heraus. «Nicht wirklich!»

«Doch, ich schwör’s dir! Du hättest ihre Gesichter sehen sollen! Wäre es nicht so unprofessionell gewesen, ich hätte mich am Boden gewälzt vor Lachen!»

«Ich muss dem Forellentöter im Prinzip recht geben …», meinte Alex.

Mado grinste. «Ja, im Prinzip, aber in einem Restaurant? Wir werden bald einen Radikalenerlass auf den Weg bringen. Die Beschäftigung von Extremisten in gastronomischen Etablissements muss verhindert werden!» Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, zog ihre Schuhe aus und rieb sich die Füße. «Was war das für ein Job, für den du Dragees halten musstest?»

«Nicht so wichtig. Italienische Werbung. Wirklich blöd.»

Plötzlich weiteten sich Mados Augen, und sie klatschte in die Hände. «Ich fasse es nicht – du bist das Flavoral-Mädchen, oder? Oh mein Gott, ich habe mir doch gleich gedacht, dass du mir bekannt vorkommst!»

Alex vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. «Verdammt, und ich dachte, außerhalb Italiens würde niemand diesen Werbeclip sehen …»

«Keine Sorge, sie spielen die Flavoral-Werbung nicht hier in Frankreich. Ich kenne sie aus dem italienischen Fernsehen, als ich dort war.»

Alex verzog das Gesicht. «Es war das oder Betteln.»

Mado lachte. «Nun mach es nicht schlimmer, als es ist. Ich wette, viele Mädchen wollten den Job machen. Und du hast ihn bekommen, Glückwunsch! Modeln wird doch super bezahlt, oder?»

«Hätten sie mir gesagt, dass ich in einer Fernsehwerbung mit Minz-Dragees und Adolf Hitler auftauche, hätte ich das Doppelte verlangt!»

«Wie ging der Spruch im Werbeclip noch mal?»

Alex versuchte, die tiefe Stimme des italienischen Sprechers zu imitieren: «Flavoral! Cambia il mondo da così … a così!»

Mado warf den Kopf in den Nacken und lachte, und Alex lachte mit.

«Ich glaube, es wird lustig, wenn wir zusammenwohnen, Flavoral-Mädchen.»

 

Am Abend fuhren sie wieder nach Apt hinunter, und Alex rief ihre Eltern in Hamburg an, um ihnen zu signalisieren, dass sie noch lebte – eine Pflichtübung, die sie etwa einmal im Monat absolvierte und die sie mit wenig Freude erfüllte, zumal, wenn ihre Mutter abhob. Die Telefonzelle roch nach warmem Kunststoff und altem Tabak. Jemand hatte Löcher in die Halterungen der Telefonbücher gebrannt.

«Alexandra!» Ihre Mutter kam gleich auf den Punkt. «Ich muss schon sagen! Da schalten wir in Rimini einen Abend den Fernseher ein, und ich dachte, mich trifft der Schlag! Du und dieser … dieser …»

«Ich konnte nicht ahnen, dass Adolf Hitler in derselben Reklame auftritt wie ich!»

«Wenn du wieder einmal deinen Sinn für schrägen Humor unter Beweis stellen wolltest, Alexandra …»

«Mama, bitte! Ich brauchte das Geld.»

«Du bräuchtest kein Geld, wenn du uns wie jeder andere vernünftige Teenager erlauben würdest, dass wir dich bei deiner Ausbildung unterstützen!»

Alex schloss die Augen und atmete tief durch.

«Und du musst überhaupt nicht so schnaufen! Wo bist du jetzt überhaupt?»

«Im Lubéron, das ist ein Gebirge nördlich der Côte d’Azur in Südfrankreich. Hier werde ich die nächste Zeit bleiben.» Es fühlte sich gut an, das zu sagen.

«Ich weiß, dass die Côte d’Azur in Südfrankreich liegt, ich bin nicht völlig verblödet, Alexandra!»

Alex schwieg und schob eine Münze nach. Die Luft in der Telefonzelle roch übel. Sie öffnete die Tür mit einem Fuß und holte tief Luft.

«Bist du noch dran, Alexandra? Wann kommst du nach Hause? Das Jahr ist doch nun schon bald herum!»

«Es ist erst März.»

«Ich weiß, dass wir März haben, ich bin nicht …»

«Und wie geht es euch so?», schob Alex dazwischen.

«Wie soll es mir schon gehen, es ist immer dasselbe.»

Alex ließ eine weitere Münze in den Schlitz fallen.

«Aber dein Bruder hat sein erstes Staatsexamen bestanden, mit Auszeichnung, stell dir vor! Nun steht seiner Laufbahn als Staatsanwalt nichts mehr im Weg.»

«Du bist bestimmt sehr stolz auf ihn», sagte Alex.

«Natürlich bin ich das, was glaubst du denn, Alexandra? Na, du legst ja nicht so viel Wert darauf, Leistung zu erbringen, aber …»

«Sag Justus, dass ich mich für ihn freue. Wie geht es Papa?»

Sie fragte nicht: Kann ich Papa bitte sprechen? Das hätte Mama ihr übel genommen.

«Dein Vater sitzt wieder mal an einer seiner RAF-Geschichten, die ihm jegliche Zeit mit uns Normalsterblichen raubt.»

«Worum geht es?»

«Das ist wieder typisch von dir. Zu Justus und mir kein Wort, dafür aber Papa hier und Papa da!»

Alex schwieg. Sie hörte ihre Mutter seufzen. «Christiane Gärtringen, sagt dir der Name etwas?»

«Die RAF-Terroristin?»

«Genau. Sie ist offenbar die Einzige aus dieser schlimmen Bande, über die man nichts herausfinden kann. Nach diesem Banküberfall in Bochum vor zwei Jahren ist sie verschwunden, so plötzlich, wie sie damals aufgetaucht ist. Sie treibt deinen Vater in den Wahnsinn.»

Alex versuchte, sich ihren Vater vorzustellen, wie er in seinem Redaktionsbüro saß und sich die Haare ausriss. Vor gut fünfzehn Jahren hatte er ein Interview mit Gudrun Ensslin geführt. Später war es ihm gelungen, Kontakte zu RAF-Sympathisanten aufzubauen. Und spätestens seit der Flugzeugentführung von Mogadischu hatte er sich zu einem der führenden bundesdeutschen RAF-Experten entwickelt. Wenn ein Journalist etwas über eine sich in Luft auflösende Terroristin herausfinden konnte, dann er.

«Sag ihm, dass ich ihm Glück wünsche. Und bestell Justus meine Gratulation. Dir auch alles Liebe, Mama.»

«Willst du etwa schon wieder auflegen?»

«Es tut mir leid, mein Geld ist alle. Aber ich rufe bald wieder an.»

Als sie hinaustrat, leuchteten die ersten Sterne am Himmel. Mado, Loïc und Fantomas, die ein Stück entfernt auf der anderen Straßenseite standen, redeten miteinander. Mado gestikulierte wild. Plötzlich drehten sie sich zu ihr und liefen ihr entgegen. Mado schloss sie in die Arme. «Du hast geweint», bemerkte sie erstaunt.

Alex wischte sich die Tränen vom Gesicht. «Geht schon wieder.»

Sie nahmen sie in die Mitte. Mado hakte sich bei ihr ein, Fantomas legte einen Arm um sie. Als sie die Place de la Bouquerie erreichten, wehte Musik vom Café Grégoire zu ihnen herüber. Der Märzmond ging auf.

Plötzlich bemerkte sie, dass Loïc sie wieder ansah. Im Schein der Straßenlaterne glitzerten seine Zähne. Er sagte etwas, das sie nicht verstand. Und dann, während Mado sie noch immer untergehakt hielt, strich er ihr über die Wange. Ein Schauer kribbelte von der Stelle über ihren Hals und ihren Arm hinunter. Mehrere Herzschläge lang standen sie ganz still, während Alex noch immer seine Berührung spürte. Dann wandte er sich ab und redete mit Fantomas, als wäre nichts geschehen.

 

Die folgenden Tage verbrachte Alex mit dem Studium der Bücher in Mados Obstkiste. Das hatte Mado zur Bedingung für ihren Aufenthalt in der Scheune gemacht. Jedes Wort, das Alex nicht kannte, sollte sie herausschreiben, übersetzen und lernen. Dreißig Vokabeln pro Tag, so sah es Mados Lehrplan vor. Alex kam zumeist nicht über die erste Seite hinaus, und im Fall von Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» nicht über den ersten Satz.

«Wie der Titel schon sagt», versuchte sie Mado zu überzeugen. «Es ist einfach verlorene Zeit.»

Mado sah sie so lang und streng an, dass sie lachen musste.

«Das ist überhaupt nicht witzig, Alex. Du hast doch auch ein bisschen Italienisch gelernt, oder? Da kann es dir nicht so schwerfallen!»

«Ich kann bloß sagen, dass Flavoral die Welt verändert», protestierte Alex. «Und ich musste es nicht mal selbst sagen. Dafür hatten sie einen Werbesprecher eingekauft!»

«Gut, hier gibt es keinen Werbesprecher. Also, dann fangen wir eben mit Kinderlektüre an. Du wirst von nun an jedes ‹Tintin›-Album lesen, das Hergé je herausgebracht hat!»

«‹Tintin?›»

«‹Tim-und-Struppi›, das wirst du ja wohl kennen.»

Widerstand war zwecklos.

Was warst du in einem früheren Leben? Gefängnisaufseherin?», beschwerte sich Alex abends, wenn Mado sie wieder mal abfragte.

Mado tippte unbeeindruckt auf das Vokabelheft, das sie im Schreibwarengeschäft von Apt erstanden hatte. «Fusée lunaire – kannst du mir das übersetzen?»

«Ich habe nicht den geringsten Schimmer.»

«Mondrakete.»

«Na, toll. Kannst du mir verraten, mit wem ich hier über Raumfahrt reden soll?»

«Mit Loïc. Der hat ‹Tim und Struppis Schritte auf dem Mond› ungefähr tausend Mal gelesen und freut sich, wenn er endlich jemanden findet, mit dem er sich darüber unterhalten kann. Mit Loïc redest du doch bestimmt gern.» Mado blinzelte ihr verschwörerisch zu.

Loïc, der seine Comic-Sammlung normalerweise mit Argusaugen überwachte, wie Mado Alex versicherte, hatte sich mehr als bereitwillig gezeigt, sie Alex zu leihen. Fast eine Woche war es nun her, dass er seine Hand auf ihre Wange gelegt hatte. Fast eine Woche, in der sie an ihn gedacht hatte, an seine weiche Berührung, die Punkte in seinen Augen, die Sommersprossen auf seiner Haut. Sie seufzte.

«Oh nein, ist das wieder so ein Sehnsuchtsseufzer? Ihr zwei seid wirklich süß! Man möchte meinen, ihr seid noch adolescents … Teenager.»

«Ich bin noch Teenager», verteidigte sich Alex. «Werde im Juni aber zwanzig. Nur, dass du das schon mal weißt. Wie alt bist du eigentlich?»

Mado lächelte und schüttelte den Kopf. «Frag eine Schauspielerin nie nach ihrem Alter!»

«Auch nicht, wenn sie noch nie aufgetreten ist und schätzungsweise erst Anfang zwanzig ist?»

«Unbarmherzige Journalisten werden diese Information in spätestens zwanzig Jahren gegen mich verwenden.»

«Du weißt doch noch gar nicht, ob du wirklich Schauspielerin werden willst, hast du gesagt.»

«Tonnerre de Brest.» Mado tippte wieder auf das Vokabelheft. Aber sie grinste dabei.

«Ein häufig wiederkehrender Fluch aus ‹Tim und Struppi›. Oder aber der Versuch, von deiner Person abzulenken. Du bist reichlich geheimnisvoll, Mado.»

«Über mich gibt es nicht viel zu sagen: aus der Nähe von Strasbourg, hab ich dir schon erzählt. Und ich bin schrecklich alte 23. Voilà, jetzt weißt du Bescheid! Kannst du dich den Rest selbst abfragen? Ich zaubere uns in der Zwischenzeit ein kleines dîner.»

Auch in der folgenden Woche gab Mado nicht viel mehr von sich preis, aber Alex begann, sich ein Bild von ihrer neuen Freundin zu machen. Mado war mehr als Kellnerin und Feuerjongleurin. An der Art, wie sie Alex’ Studien vorantrieb, erkannte sie, dass sie diszipliniert und gebildet war. Als sie sie wieder einmal darauf ansprach, winkte Mado nur ab. «Ja, ich wäre gern an die Uni gegangen, wenn du das wissen willst. Aber diese Chance wurde mir leider versagt.»

Auf Alex’ Frage, ob ihre Eltern noch im Elsass lebten, gab sie keine Antwort.

Mado war nicht sehr auskunftsfreudig, was ihre Familie anging. Und damit ähnelte sie Alex.

 

Alex war nicht traurig darüber, den Tag mit Tim und Struppi zu verbringen, zumal die Lektüre ihr einen Grund lieferte, Loïc regelmäßig zu sehen. Da Mado lektürefreie Tage für Lebenszeitverschwendung hielt, genügte es, wenn Alex darauf hinwies, dass sie auf den letzten Seiten eines Albums angelangt war. Zack, fuhr Mado sie mit dem Mofa nach Apt hinunter, wo Loïc schon bereitstand, mit einem neuen Comic-Album im Arm.

Warum er Alex nicht alle Alben auf einmal ausleihen könnte, wollte Mado irgendwann wissen, und da hatte Loïc Alex wieder lange angesehen. «Ich trenne mich nur ungern von all meinen Schätzen auf einmal», hatte er erklärt.

Alex war bereits bei ihrem dritten Album angelangt, «Les cigares du Pharaon», als sie am Rand einer Seite eine Bleistiftnotiz fand.

«J’aime ton rire. L.», stand da. Ich liebe dein Lachen.

Ob das an sie gerichtet war?

Sie überlegte, darauf zu antworten, befürchtete aber, sich lächerlich zu machen, sollte er diese Nachricht vielleicht früher einmal an eine Schulfreundin geschrieben haben.

Herzklopfend gab sie ihm das Album zurück.

Im nächsten Album, «Le lotus bleu», fand sie wieder ein paar Worte in Bleistiftschrift. Zum Glück verstand sie mittlerweile so viel Französisch, dass sie sich die Peinlichkeit ersparen konnte, Mado um eine Übersetzung zu bitten.

«Je suis heureux que tu sois là», stand da. Ich bin glücklich, dass du da bist.

Wieder wagte sie nicht, etwas darunterzuschreiben. Zwei Tage später gab sie Loïc das Album zurück.

Bei ihrem nächsten Treffen – sie gab ihm jetzt «L’île noire» zurück – sah er etwas enttäuscht aus. Auch Alex fühlte sich leicht ernüchtert. Diesmal hatte er nichts geschrieben. Sie musste es sich eingebildet haben, dass die Bemerkungen für sie bestimmt waren. Für die Alben, die sich mit der Reise zum Mond beschäftigten, ließ sie sich jetzt etwas mehr Zeit.

 

Wenn Alex gedanklich nicht gerade mit einer Rakete zum Mond flog und über die trotteligen Polizisten Dupond und Dupont lachte, verbrachte sie ihre Zeit damit, ihre neue Umgebung kennenzulernen. Sie tauschte ihre verbliebenen Lire in Francs und bezahlte davon Kaffee und pains au chocolat. Vor allem aber ließ sie sich auf die Menschen um sie herum ein.

Da war zunächst einmal ihre Nachbarin und Vermieterin, Madame Mercier. Diese besuchte sie eines Morgens, nachdem Mado auf ihrem Mofa zur Arbeit gefahren war, und brachte ihr Butter, Lavendelhonig und frisches Brot mit. Es schien sie zu bedrücken, wie dünn Alex war. Sie selbst war eine dralle Frau in den Sechzigern, die das Anklopfen an fremden Türen für eine sinnlose Großstadt-Sitte hielt. Streng genommen, war ihr die Tür zur Scheune auch nicht fremd, die Merciers hatten darin über Jahre ihre Esel gehalten, bevor sie feststellten, dass Mieter zwar ähnlich bocken konnten, aber mehr Geld abwarfen. All dies erfuhr Alex von ihr und noch viel mehr: dass sie und ihr Mann manchmal recht einsam hier oben in den Bergen waren, und dass ihren Mann Zipperlein plagten, insbesondere eine Oleander-Allergie. Alex, die den Begriff laurier rose nicht kannte, aber begriff, dass Monsieur gesundheitliche Probleme hatte, äußerte aufrichtiges Bedauern. Madame holte zur besseren Verständigung ein Buch über die provenzalische Flora aus dem Haupthaus und klopfte mit dem Finger auf die Seite, auf der die Blumen des Bösen abgebildet waren. Wegen dieser Allergie hatte Monsieur seinen Beruf als Gärtner in Avignon aufgeben müssen. Und so waren sie auf den Hof ihrer verstorbenen Eltern hier oben nach Buoux gezogen, beobachteten die Fremden, die in der Auberge abstiegen und bisweilen durch den Ort streiften oder sich die verfallene Burg ansahen. Sie zogen Gemüse in einem kleinen potager und freuten sich auf ihre Tochter, die aus Gründen, die kein Provenzale verstehen konnte, ausgerechnet ins deutsche Stuttgart gezogen war und sie ein- bis zweimal im Jahr besuchen kam. Das nächste Mal schon im April. Sie und Mado müssten dann unbedingt zum Essen vorbeikommen, um Valérie kennenzulernen.

Alex mochte auch Monsieur Mercier. Er verbrachte den Großteil des Tages auf einer Bank vor seiner Steinmauer, streichelte sein Hausschwein und schwieg sich beständig aus. Sie mochte es, ihn zu fotografieren. Einmal setzte sie ihn so, dass sich die Linien seines Gesichts in der Steinmauer hinter ihm und dann in den gestreiften Felsen fortsetzten. Ohne ihre Bilder entwickelt zu sehen, wusste sie, dass sie gut waren. Je länger sie unterwegs war, desto näher kam sie ihrem Ziel.

 

An jenem Abend fuhr Mado sie nach Apt hinunter, damit sie von Loïc «L’affaire Tournesol» entgegennehmen konnte. Und als sie es später auf ihrem Lieblingsplatz am Fluss durchblätterte, war da wieder eine Notiz in Bleistift, diesmal ganz am Ende des Albums. Es war ein Gedicht.

Elle a passé, la jeune fille

Vive et preste comme un oiseau

A la main une fleur qui brille

A la bouche un refrain nouveau

C’est peut-être la seule au monde

Dont le cœur au mien répondrait

Qi venant dans ma nuit profonde

D’un seul regard l›éclaircirait!

Darunter hatte Loïc einen Namen geschrieben, Gérard de Nerval. Und wieder eine Zeile darunter, in Klammern: L.

Alex wurde warm, und obwohl sie das Gedicht nicht vollständig verstand, fühlte sie, wie ihr das Herz im Hals klopfte. Sie nahm das Wörterbuch zur Hand und schlug die Begriffe nach, die sie nicht kannte. Es ging um ein Mädchen, das lebendig wie ein Vogel war und die einzige Person auf der Welt, auf die das Herz des Gedichteschreibers reagierte. Die seine Nacht mit einem einzigen Blick heller gemacht hatte.