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Die faszinierende Geschichte einer mutigen Kriegsreporterin, die sich gegen die Teilung der Welt auflehnt – inspiriert von den Erlebnissen realer Kriegsreporterinnen. «Extrem spannend und dicht.» (Hamburger Abendblatt) Korea, 1950: Die junge Zeitungsreporterin Nellie berichtet als einzige Frau vom Krieg zwischen Nord- und Südkorea. Um sie herum sterben Soldaten – aber auch Kollegen. Während sie nicht weiß, ob sie ihren Einsatz als Kriegsreporterin überleben wird, hat sie mit einem persönlichen Trauma zu kämpfen: Sieben Jahre zuvor ist ihre Zwillingsschwester Laura verschwunden, mit der sie auf dem Schiff ihres Vaters aufwuchs. Halt findet sie bei dem Pressefotografen Jake, mit dem sie seit ihrem ersten Aufeinandertreffen eine zarte Liebe verbindet. Doch Jake muss in seine Heimatstadt Berlin zurückkehren, um den Wiederaufbau der Stadt zu dokumentieren. Abgesehen davon gibt es dort jemanden, mit dem er noch eine Rechnung offen hat … Und während die Welt in zwei Hälften zerfällt, kämpft Nellie gleich an mehreren Fronten – nicht zuletzt um ihr Glück.
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Seitenzahl: 581
Veröffentlichungsjahr: 2021
Maiken Nielsen
Roman
Eine Geschichte über Grenzen in der Welt und zwischen Menschen – und davon, wie man sie überwindet
Korea, 1950: Die junge Auslandskorrespondentin Nellie berichtet als einzige Frau vom Krieg zwischen Nord- und Südkorea. Während um sie herum Hunderttausende Menschen sterben und sie selbst nicht weiß, ob sie ihren Einsatz als Kriegsreporterin überleben wird, muss sie sich auch gegen ihre männlichen Kollegen behaupten. Doch Nellie lässt sich nicht beirren – denn sie hat für zwei zu leben: Sieben Jahre zuvor verlor sie ihre Zwillingsschwester Laura, mit der sie auf dem Schiff ihres Vaters aufwuchs und der sie versprach, genug Abenteuer für sie beide zu erleben. Halt findet Nellie bei dem Pressefotografen Jake, mit dem sie seit ihrem ersten Aufeinandertreffen vor einigen Jahren in Chicago eine zarte Liebe verbindet. Doch Jake muss in seine Heimatstadt Berlin zurückkehren, um den Wiederaufbau der Stadt zu dokumentieren. Außerdem gibt es dort jemanden, mit dem er noch eine Rechnung offen hat … Und während die Welt in zwei Hälften zerfällt, kämpft Nellie gleich an mehreren Fronten – nicht zuletzt um ihr Glück.
Maiken Nielsen wurde 1965 in Hamburg geboren. Einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie auf Frachtschiffen und wurde dort von ihren Eltern unterrichtet. Sie absolvierte ihr Abitur in Hamburg und reiste danach ein Jahr lang per Anhalter durch Europa. Im Anschluss an diese Reise studierte sie u. a. Linguistik in Aix-en-Provence. Sie liest und spricht sechs Sprachen.
Seit 1996 arbeitet Maiken Nielsen als Autorin, Reporterin und Rundfunksprecherin für das NDR Fernsehen. Sie dreht TV-Dokumentationen («Als die Sturmflut nach Hamburg kam», «Geraubte Leben – Europa im KZ Neuengamme») und schreibt Romane.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Carl Mydans, Michael Rougier/Getty Images; Daniil Kontorovich/Trevillion Images; Shutterstock
ISBN 978-3-644-00875-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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In dem nachfolgenden Roman werden Bezeichnungen verwendet, die die rassistische Grundhaltung der 1950er Jahre widerspiegeln. Heute werden diese Begriffe allgemein als abwertend verstanden und sind nicht mehr gebräuchlich. Ihre Verwendung dient lediglich dazu, den historischen Kontext aufzuzeigen. Sie soll in keinerlei Hinsicht die politische Einstellung der Autorin oder des Verlags abbilden.
Für meine Eltern, in Liebe und Dankbarkeit
«Kriegszonen sind keine Plätze für Frauen, ohne Frage. Es gibt bloß eine andere Spezies auf der Erde, für die Kriegszonen ebenfalls keine guten Plätze sind, und das sind Männer.»
Dickey Chapelle, Kriegsfotografin, getötet 1965 in Vietnam
Die Zwillinge bestaunten den toten Bootsmann, als der Sturm losbrach. Laura spürte es wie immer als Erste. «Schnell», sagte sie auf Seeisch. «Lass uns Henry festbinden, er kann sich doch nicht mehr selbst halten.» Im nächsten Moment warf es sie von den Füßen. Nellie prallte mit dem Kopf gegen den Tisch, auf dem Takat Henry operiert hatte, und dann kippte der Raum. In der Kombüse klirrte Geschirr. Das Schiff schlingerte, und Henry glitt vom Tisch herunter. In seinen Augen war immer noch dieser erstaunte Ausdruck, als könne er selbst nicht glauben, dass er gestorben war.
Inmitten des Getöses hörte Nellie, wie Manam ihre Namen rief. Sie sahen sich an. «Nicht», bedeutete ihr Laura mit den Augen. Nellie versuchte, sich aufzurichten, während etwas mit einem Knall zerbarst. Niemand hatte ihnen erlaubt, in die Kammer zu gehen, in der sie Henry aufgebahrt hatten, dabei mussten sie sich doch von Henry verabschieden, so wie es sich gehörte, wenn jemand von Bord ging, erst recht, wenn dieser Jemand mehr als nur ein Schiff verließ.
Manams Schreie wurden lauter. Ihre Stimme klang viel höher als sonst, vielleicht, weil sie das Tosen der See übertönen wollte. Das Schiff wurde nach vorn geworfen, und jetzt ging es so steil abwärts, dass Laura und sie zusammen mit dem toten Henry gegen eine Wand geschleudert wurden. Wasser brandete an das Bullauge, und Nellie riss die Augen auf. Fische schwammen vor dem Glas. «Whoa, Laura!», rief sie begeistert.
Laura klatschte in die Hände. «Whoa!»
Aber schon wurden sie wieder zurückgeworfen, und zusammen mit Henry rutschten sie an die andere Seite des Raums.
«Nellie, Laura!» Manams Stimme dröhnte durch die Wand der Kammer an ihr Ohr.
Es war dunkel geworden, aber Nellie konnte trotzdem sehen, was Laura dachte, weil sie auch in der Dunkelheit immer die Gedanken ihres Zwillings sah.
«Wir müssen rausgehen. Manam hat Angst um uns.»
Sie versuchten, sich aufzurichten, aber Nellie stolperte über Henry, und weil sie sich das Knie dabei aufschlug, biss sie sich auf die Lippen. Laura, die spürte, dass Nellie am liebsten geweint hätte, drückte ihr Tigerchen in die Hand. Als Nellie die Tür aufstieß, wurde sie nach hinten geworfen, und die See wogte heran. Sie versuchte, sich an der Reling festzuhalten, aber sie hatte ja nur eine Hand frei, mit der anderen musste sie Tigerchen halten. So laut heulte der Wind, dass sie Laura nicht verstehen konnte, und auf einmal war Nellie nicht mehr sicher, ob das Abenteuer aufregend oder gefährlich war. Eine Bö krachte vor ihr ins Meer, dass es rings um sie aufschäumte. Das Wasser stürzte über die Planken, und fast wäre Nellie über Bord gespült worden, aber Laura hielt sie fest, und sie selbst hielt Tigerchen, also war alles gut.
Jetzt erst sah sie die Matrosen. Sie hatten sich mit einem Tau an die Reling gebunden, und nach jedem Sturz in ein Wellental strömten die Wassermassen über sie. Blitze zuckten über den Himmel. Der Ozean flammte dunkelgrün auf. Wieder rauschte eine Welle heran. Sie hob das Schiff auf ihren Kamm, wo es ein paar Herzschläge lang tanzte und dann in eine ungeheure Tiefe krachte. Nellie dachte, dass sie auch fallen würden, sie und Laura und der Tiger, doch im letzten Moment spürte sie, dass jemand sie packte und nach drinnen zerrte, und dann fiel eine Tür hinter ihr zu.
Die ganze Nacht lang wälzte sich das Schiff in der aufgewühlten See, und während all dieser Stunden wurde Nellie mit Laura, Tiger, Manam und dem toten Henry durch die Kammer geschleudert, und Manam weinte, und dann erzählte sie eine Geschichte in ihrer merkwürdigen Sprache, oder vielleicht war es auch ein Gebet.
Als der Morgen durch die Kammer aufschien, sah sie, dass das Hemd von Henrys Bauch verrutscht war, und sie zeigte Laura die Stelle. Noch nie hatte sie gesehen, dass man einen Menschenbauch so vernähen konnte wie das Fell von Tigerchen oder wie ein Kleid.
«Wir wollen schwören», sagte Laura später, als der Sturm vorbei war und Henry in sein ewiges Grab gesunken. Sie saßen einander im Schneidersitz gegenüber auf den Decksplanken, die noch immer nass waren. Die See rollte fast tonlos. Tigerchen trocknete in der Sonne. Auf Laura tanzte ein Licht.
Nellie fuhr mit der Zunge über Zeige- und Mittelfinger. «Ich schwöre», sagte sie auf Englisch, so wie Takat es tat, wenn er etwas Wichtiges zu seiner Mannschaft sagte.
«Schwör auf Seeisch», sagte Laura.
«Kalimpur.»
«Schwör auf die Köpfe unserer Eltern!»
«Kalimpur auf Takat und Manam.»
«Sollte eine von uns ins ewige Grab rutschen so wie Henry», sagte Laura, «lebt die andere für zwei.»
«Mit doppelt so vielen Abenteuern», bekräftigte Nellie. Es war ein Moment, den sie sich gut einprägen wollte. Sie hörte, wie der Wind in den Segeln flatterte, spürte den Schiffstanz unter ihrem achtjährigen Körper, sah das tanzende Licht. Lauras Augen waren meerfarben, wie Manam immer sagte, identisch mit Nellies, als ob es darin strömen und gischten würde.
«Ja.» Laura reckte ihre Finger. «Und mit doppelt so viel Sturm.»
Auf dem Weg nach Korea, Juni 1950
Der Transportflieger dröhnte über dem Japanischen Meer, stürzte ein paar Meter in die Tiefe und schoss wieder hinauf. Nellie bemerkte, dass ihr Nachbar sich so fest an seinem Sitz festhielt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er war ein Hüne von Mann.
«Hab schon viel erlebt, aber an die Fliegerei werde ich mich nie gewöhnen.» Der Hüne verzog das Gesicht. «Wie ist es bei dir, Mädchen, macht dir das Geschaukel hier oben in der Luft nichts aus?»
Nellie schüttelte den Kopf. Sie war froh, dass sie überhaupt nach Korea fliegen konnte. 48 Stunden war es jetzt her, dass sie in Tokio vom Überfall der Nordkoreaner auf den Süden gehört hatte. Seitdem hatte sie alles versucht, um ins Nachbarland zu kommen, aber abgesehen von Fischerbooten und Militärmaschinen gelangte nichts mehr über das Meer.
Der Hüne musterte ihre Korrespondentenuniform, helle Bluse mit heller Krawatte, das Hütchen, das sie sich auf die roten Locken gesetzt hatte, die Uniformjacke, den hellen Rock. «Hast ’ne merkwürdige Auffassung von Reisevergnügen, Mädel. Magst die Aufregung, nehme ich an.»
«Es ist meine Arbeit», sagte sie und reckte ihr Kinn.
«Ich sag ja nur. Siehst noch ganz schön jung aus für den Job. Wer ist dein Auftraggeber? Oder schreibst du Tagebuch?» Sein Kichern klang erstaunlich hoch für einen Mann seiner Statur.
«Ich schreibe für die Chicago Post.»
Der Hüne pfiff durch die Zähne. «Und die konnten keinen mit Erfahrung finden? Ich sollte mich wohl mal bewerben bei denen. War in Europa und alles. Hab schon Tausende Tote gesehen.»
Nellie kniff die Augen zusammen. Sie war auch in Europa gewesen. Aber darüber würde sie nicht sprechen. Nicht mit diesem Mann. Sie entsann sich der Worte, die der Chef ihr mitgegeben hatte. «Der Posten als Auslandskorrespondent ist kein Kinderspiel, Nellie. Auch wenn du nur die drei Wochen Vertretung in Tokio machst – die Kollegen von der Konkurrenz werden versuchen, dich kleinzureden. Die werden auf Biegen und Brechen versuchen, deine Schwächen zu finden.»
«Da können sie lange suchen», hatte Nellie entgegnet. «Weil ich keine Schwächen habe!»
Der Chef hatte gelacht, wie so oft, wenn Nellie etwas sagte, was gar nicht witzig gemeint war.
«Das ist der Kampfgeist, den ich an dir schätze, Eleanor Ericsson. Und deshalb schieße ich alle Warnungen in den Wind, die ich bezüglich weiblicher Reporter erhalten habe.»
Er hatte nichts davon gesagt, dass sie in ein Kriegsgebiet fliegen würde. Weil keiner von ihnen mit Kampfhandlungen gerechnet hatte. Nicht jetzt, fünf Jahre, nachdem der verheerendste Krieg der Menschheitsgeschichte zu Ende gegangen war.
Der Hüne musterte sie. «Nur die Härtesten überleben die Zeit an der Front, das ist dir sicher klar, oder?»
Nellie öffnete den Mund, aber der Hüne redete einfach weiter. «Nicht, weil Kriegsreporter mit der Angst leben müssen, erschossen zu werden, obwohl ihnen das sehr wohl passieren könnte, jeden Tag. Sondern, weil sie den Lärm, den Dreck, die Verzweiflung und das Sterben irgendwann nicht mehr ertragen. Kriegsreporter müssen die schnellsten Reporter von allen sein. Sie arbeiten Seite an Seite mit ihren Konkurrenten, man erzählt ihnen ständig Lügen, sie müssen schreiben, selbst, wenn sie krank sind, müde, hungrig, durstig. Sie können niemandem trauen. Bist du wirklich bereit, das auf dich zu nehmen, Mädchen?»
Nellie ballte die Fäuste. «Was glauben Sie, Mister …?»
«Featherston.»
«Mister Featherston. Mit allem Respekt, ja, das bin ich. Wäre ich sonst hier?»
Er zwinkerte ihr zu. «Wie auch immer, ist sicher gut, sich ein bisschen auszutoben, bevor man in den Hafen der Ehe einläuft. Was sagen die Eltern dazu? Nicht beunruhigt?» Der Transportflieger legte sich in eine Linkskurve, und der Hüne verstummte.
«Und der Verlobte?», ließ sich jetzt ein Mann vernehmen, der ihr und dem Hünen gegenübersaß. «Was sagt der zu Ihrem kleinen Abenteuer? Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?»
«Wie alt sind Sie denn?», gab Nellie finster zurück.
Ihr Gegenüber lachte. Er war gutaussehend auf eine Weise, die Unverschämtheiten versprach, und er war sicher nicht viel älter als sie selbst.
«Ist ’n ganz schönes Geschoss, deine Schreibmaschine.» Der Hüne gab den Gesprächsversuch nicht auf. «Kannst du die überhaupt tragen?»
Rufe drangen aus dem Cockpit, und Nellie sah, wie der Pilot winkte, jemand möge zu ihm kommen. Ein Journalist, der während des Flugs ununterbrochen geschrieben hatte, löste seinen Kreuzgurt und stand auf. Der Flieger drehte erneut eine Kurve, und jetzt bemerkte Nellie, dass sie das Meer verlassen hatten. Unter ihnen leuchtete ein unendliches Grün, gefleckt mit Dörfern und Tempeln. Ein Flussband zog sich silbrig durch die Landschaft. Sie hatten den Süden Koreas erreicht.
«Der Pilot sagt, dass er ein paar Manöver fliegen muss.» Der Mann nahm wieder seinen Platz neben dem Unverschämten ein. « Die Nordkoreaner haben sowjetische Jagdflugzeuge im Luftraum über Südkorea eingesetzt, und er bittet um Verzeihung, wenn er den Herren von der Presse damit Unannehmlichkeiten bereitet.»
Der Hüne schnaubte. «Gewährt.»
«Nicht sicher, wie ironiefrei die Entschuldigung war», schmunzelte der Mann und zwinkerte Nellie zu. «Verzeihung, ich habe mich nicht vorgestellt», sagte er in ihre Richtung. «John Cressman, Sonderkorrespondent der Quick und Look.»
Jetzt erkannte Nellie ihn. Er trug das Haar in der Mitte gescheitelt und mit Brillantine zurückgestrichen wie auf den Zeitschriftenfotos, aber sie hatte das Buch über den Tod seines Sohnes gelesen und hätte ihm nicht dieses feine Lächeln zugetraut.
«Eleanor Ericsson, Chicago Post.»
«Freut mich.» Er klickte seinen Gurt wieder zu. «Oh, und der Pilot lässt ausrichten, dass er nicht weiß, ob wir wie geplant auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Gimpo landen. Er wird tief über das Rollfeld fliegen, um zu sehen, ob er Amerikaner finden kann.»
«Flugzeuge oder Menschen?», erkundigte sich der Hüne.
«Ich tippe auf Flugzeuge», lächelte Cressman. «Die haben doch den unbestreitbaren Vorteil, dass sie großflächig mit Flaggen bemalt sind.»
«Und wenn er keine Amerikaner findet?» Der Unverschämte schob seine Brauen so weit zusammen, dass sie sich fast berührten.
«Dann wird der Pilot, ich zitiere ihn, ‹zum Teufel noch mal zusehen, dass er von dort abhaut›. Gimpo ist bereits in nordkoreanischer Hand.»
«Erinnert mich an eine Geschichte, die ich mal in Moskau erlebt habe. Dick Tucker übrigens. Washington Observer.» Er erging sich in einer längeren Geschichte, und die anderen Männer kramten ihre Zigaretten hervor und hörten ihm zu.
Nellie zog ihren Block aus der Brusttasche, um sich Notizen für ihren Artikel zu machen. Die Männer erzählten sich nun weitere aufregende Geschichten aus ihrem Leben. Nur nicht der Hüne. Der war damit beschäftigt, bleich auszusehen.
Erneut legte sich der Flieger in die Kurve. Von ihrem Platz aus konnte Nellie den strahlend blauen Himmel sehen. Dann versenkte sie sich wieder in ihre Karten. Im Norden grenzte Korea an China, der Rest war von Meeren umschlossen: das Japanische Meer im Osten, das Gelbe im Westen, im Süden das Ostchinesische Meer. Dem Maßstab der Karte nach zu urteilen, lag Seoul, das Ziel ihrer Reise, etwa 50 Kilometer von Gimpo entfernt, dem Militärflughafen, auf dem sie landen sollten. Berichten zufolge war auch Seoul von den Nordkoreanern schon eingenommen worden. Was die Suche nach dem Fotografen, der Cressman begleiten sollte und der bereits seit einer Woche in der Stadt weilte, deutlich erschweren würde, bemerkte der Korrespondent.
«Immerhin haben Sie einen Fotografen», murrte der Hüne. «Unsereins muss das Elend ganz allein durchstehen.»
«Ich könnte Ihnen den Mann einmal ausleihen», entgegnete Cressman. «Falls Sie sich gar zu einsam vorkommen im Kriegsgetümmel.»
«Sind Sie immer so spaßig?» Der Hüne wirkte nicht die Spur amüsiert.
«Ihr Fotograf muss einen ganz besonderen Blick auf Ereignisse haben, wenn er schon eine Woche im Voraus sieht, wo sich die Aktion abspielt», bemerkte Nellies Gegenüber.
Cressman neigte den Kopf. «Ich bin dem Mann noch nicht begegnet, aber er muss sehr gut sein, wenn er für mich arbeiten will. Scherz beiseite, er war für die Nachrichtenagentur Reuters unterwegs, um die Scharmützel zu dokumentieren, die nun schon seit geraumer Zeit im Grenzgebiet stattfinden.»
Das Flugzeuginnere verfinsterte sich. Nellie blickte zum Fenster hinaus, konnte aber nichts mehr erkennen, so dicht war der schwarze Rauch, der vor den Fenstern trieb.
«Da scheint was zu brennen», bemerkte Cressman.
Ein Druck legte sich auf ihre Ohren, so heftig, dass es weh tat. Nellie schluckte ein paar Mal. Der Druckschmerz blieb. Und dann spürte sie, wie das Flugzeug mit der Nase nach unten kippte. Die Maschine setzte zur Landung an.
Erst kurz bevor sie aufsetzten, konnte sie wieder etwas erkennen. Der Anblick ließ ihren Puls rasen: Am Ende der Landebahn standen zwei Flugzeuge in Flammen. Und ihr Transportflugzeug donnerte direkt auf sie zu.
Neben ihr hielt der Hüne die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Seine Lippen beteten ein stummes Gebet. Unter ihnen vibrierte die Maschine. Ihr Blick fiel auf Tucker. Er hatte sich einen Kaugummi in den Mund geschoben, und sein riesiger, mahlender Kiefer sah aus wie ein Wesen, das unabhängig vom Rest des Mannes lebte. Als er ihren Blick bemerkte, grinste er und zwinkerte ihr zu. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, während er sie weiter ansah. Eine Ewigkeit lang starrten sie sich so in die Augen.
Dann kam das Flugzeug zum Stehen.
Sie stürmten aus dem Nichts über das Rollfeld: Etwa dreißig Männer mit ölverschmierten Gesichtern, die ihre Arme in die Luft reckten und ihnen zuwinkten. Sie sahen aus wie Schiffbrüchige, die fürchteten, das rettende Schiff würde vorüberziehen.
«Amerikaner», bemerkte der Hüne, der neben ihr aufstand. Und mit einem Blick auf Cressman: «Kann ich sehen, ohne dass ihnen jemand Sterne und Streifen aufgemalt hätte.»
Tatsächlich stellten sich die Männer als Mitarbeiter des US-Luftwaffenstützpunkts heraus. Ihre letzten Maschinen waren von den Nordkoreanern vernichtet worden.
«Wir haben nicht damit gerechnet, lebend von hier wegzukommen», erklärte einer und bat sogleich, nach Tokio ausgeflogen zu werden.
«Was ist mit den Herren von der Presse?», wollte der Pilot wissen. «Sind Sie sicher, dass Sie hierbleiben wollen?» Er musste schreien, denn in diesem Moment donnerte ein weiteres Flugzeug über sie hinweg. Flammen wehten zu ihnen herüber. Durch die Schwaden konnte Nellie sein Gesicht nicht mehr sehen.
«Absolut sicher», rief sie zurück.
«Wir bleiben», bestätigte John Cressman.
«Bleiben», wiederholten der Hüne und Tucker, der Nellie noch immer ansah.
Der Pilot blickte ungläubig von einem zum anderen. Dann bedeutete er den Amerikanern einzusteigen. Und die Maschine rollte davon.
Einen Moment herrschte Schweigen. Cressman packte seine Schreibmaschine fester. Tucker wandte endlich seinen Blick ab und zog sich einen Trenchcoat über. Der Hüne schob sich seinen Hut ins Gesicht.
«Aber nicht so sicher ist, wie wir jetzt nach Seoul kommen», bemerkte Cressman.
Nellie deutete auf einen Uniformierten, der vor dem weißen Flughafengebäude stand und ein Feuer entfachte. «Fragen wir doch den Herostratos da drüben.»
«Den wen?», fragte der Hüne.
Cressman lächelte, aber sein Lächeln galt Nellie. «Berühmter Brandstifter aus der Antike. Miss Ericsson, ich folge Ihnen.»
Der Mann wirkte so höflich, als bediente er sie an einem Schalter. «Colonel Scott», stellte er sich vor, während er Dokumente, die den Stempel der US Air Force trugen, in ein Tischfeuer warf. «Was kann ich für Sie tun?»
«Wir sind die Herren von der Presse», erklärte der Hüne, während er auf Cressman, Tucker und Nellie zeigte. «Und wir möchten gern nach Seoul.»
Der Colonel deutete mit einem rußverschmierten Finger auf die Autos, die neben dem Flughafengebäude parkten. «Nur zu. Mangelt ja nicht an Transportmitteln.»
«Woran denn?», fragte Cressman.
«An Besitzern. Sind Hals über Kopf geflüchtet. Einige haben sogar noch den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen. Ich empfehle Ihnen den roten Buick. Baujahr 1949, erst tausend Kilometer gefahren, ausgezeichnetes Getriebe.»
Nellie fand ihre Sprache als Erste. «Ich nehme an, Sie kannten denjenigen, der ihn gefahren hat?»
«Ein ziviler Flughafen-Angestellter, Gott schütze seinen Auto-Geschmack.»
«Sie wirken nicht böse, dass er davon ist.»
«Sie sind alle davon, seit es heißt, Seoul sei von den Nordkoreanern besetzt worden.» Er zerriss ein Logbuch. «Schade für die Feiglinge, dass das eine Falschmeldung war.»
«Das heißt, Seoul ist gar nicht besetzt worden?», fragte Tucker.
«Ausgezeichnet geschlussfolgert.» Der Colonel warf einen Blick auf seinen Trenchcoat. «Sie sind im Detektivgeschäft?»
«Uns wurde berichtet, dass sechzig Journalisten und Pressefotografen heute Morgen aus Seoul geflüchtet wären.» Cressman zückte sein Notizbuch. «Können Sie uns das bestätigen?»
«Ich kann bestätigen, dass Feiglinge immer flüchten. Wie viele es genau waren, kann ich nicht sagen. Aber Hunderte von Zivilisten und Dutzende Presseleute? Kommt hin.»
Ein Knall ließ sie zusammenzucken, und im nächsten Moment spürte Nellie brennende Hitze. Eines der lodernden Flugzeuge war explodiert.
«Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Wenn Sie nach Seoul wollen, dann bringe ich Sie mit meinem Jeep ins Hauptquartier, und Sie können sich von unserem Presse-Attaché über die neusten Entwicklungen unterrichten lassen.» Er sah auf Nellie. «Alle, aber nicht Sie.»
«Und warum nicht?» Nellie funkelte den Colonel an.
«Mit Verlaub, Miss, aber Korea ist derzeit kein Ort, an dem sich Mädchen aufhalten sollten.»
«Ich bin erwachsen. Und hier zu sein, ist mein Job.»
Der Colonel schüttelte den Kopf, so als hätte Nellie eine große Dummheit von sich gegeben. «Vertrauen Sie mir, Miss, wenn ich noch einmal diese Warnung ausspreche. Korea ist kein Ort für Sie.»
«Danke für die Warnung.» Nellie drückte ihr Kreuz durch. «Und danke auch für das Angebot mit den Autos. Der rote Buick klingt phantastisch. Ich fahre Ihnen hinterher.»
Sie ignorierte die Blicke der anderen. Ein paar Herzschläge spürte sie nur die Hitze. Die Flammen hatten jetzt fast das Flughafengebäude erreicht. Wieder ertönte ein Knall.
Es war Cressman, der sich als Erster regte. «Ich setze mich zu Ihnen, Miss Ericsson. Hatte immer eine Schwäche für Buicks. Meine Herren.» Er tippte sich an seine Hutkrempe. «Wir sehen uns in Seoul.»
Die Sonne stand tief, als sie sich auf den Weg machten. Durch das geöffnete Autofenster konnte Nellie Gewehrschüsse hören. Ein leichter Regen hatte eingesetzt. John Cressman steuerte den Wagen. Eine Weile lang sprach niemand ein Wort.
«Danke», sagte Nellie schließlich.
«Keine Ursache. Es war mir ein Vergnügen, die Gesichter unserer Kollegen zu sehen.»
Cressman folgte dem Jeep um eine Ecke. Die Schüsse wurden lauter. Und jetzt sah sie die Menschen. Sie wanderten in einem langen Treck und trugen Körbe auf dem Kopf, in die sie ihre Habseligkeiten gestapelt hatten. Nellie beobachtete eine Frau, die sich an den Straßenrand gesetzt hatte, um ihr Baby zu stillen. Ein zweites Baby hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Die Kehle wurde ihr eng, während sie die Frau ansah. Zwillinge, dachte sie.
«Bin aufrichtig gespannt, wie ich meinen Fotografen in all dem Chaos wiederfinden soll», bemerkte Cressman. «Ich kann mitunter recht schusselig sein, aber meine Mitarbeiter verlege ich nur ungern.»
«Wo haben Sie sich denn verabredet?»
«Am dekadentesten Ort der Hauptstadt, dem Chosun Hotel. Sagt Ihnen das etwas?»
Nellie schüttelte den Kopf. Sie waren in ihrer Kindheit mit dem Schiff koreanische Häfen angelaufen, aber das Landesinnere war ihr unbekannt.
«Mir auch nur durch Berichte. Angeblich fließt aus den Wasserhähnen Champagner – obwohl ich diese Information mit Vorsicht genießen würde, sie stammt von einem ehemaligen Kollegen, der ins Schriftstellerfach gewechselt ist.»
«Sie dachten, Luxus wäre nicht angreifbar?»
Cressman lachte. «Zumindest Luxushotels halte ich für gute Festungen. Nützt doch niemandem etwas, wenn man guten Service zerstört. Und jetzt nur unter uns beiden, Miss Ericsson. Warum tun Sie sich das hier an?»
Nellie holte tief Luft. «Und Sie, Mister Cressman? Wenn ich die Frage zurückgeben dürfte?»
«Ich habe eine Familie zu versorgen», entgegnete er. «Hatte, vielmehr.»
Die Sonne goss ein orangefarbenes Licht in die Bäume. Nellie kniff die Augen zusammen. Die Flüchtlinge waren nur noch als Schemen zu sehen. Hunderte, vielleicht Tausende Menschen wanderten in die Dunkelheit.
Ein Jeep ratterte so dicht an ihnen vorbei, dass Geröllsteine an ihre Karosserie schlugen. Koreanische Soldaten standen auf der Ladefläche und sangen, die Fäuste in die Luft gereckt. Einige von ihnen hatten sich japanische Schwerter auf den Rücken gebunden, andere trugen Anzug, Krawatte und Hut.
«Haben Sie das gesehen?», fragte Nellie verblüfft.
Cressman nickte. «Habe gehört, dass ein Drittel aller südkoreanischen Soldaten derzeit im Heimaturlaub ist. Die Mobilisierung kommt für sie überraschend. Holen sich ihre Uniformen vermutlich noch ab.»
«Aber wie kann das sein? Die Lage an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea ist doch schon seit Wochen angespannt, oder nicht?»
«Schätze, der Süden war hoffnungsfroh. Hey, wussten Sie, dass man die Südkoreaner auch die Italiener von Asien nennt? Temperamentvoll und fröhlich? Immer Zeit für einen guten Schluck?»
Wieder ratterte ein Jeep an ihnen vorüber. Im Scheinwerferlicht des Buicks konnte Nellie die Gesichter der Männer erkennen. Sie lachten und sangen, und als sie Nellies und Cressmans weiße Gesichter sahen, winkten sie ihnen munter zu.
«Wenn Sie die Wahl hätten», sagte sie ein paar Kilometer später. «Würden Sie dann einen anderen Beruf ausüben?»
Cressman schüttelte den Kopf.
«Da haben Sie Ihre Antwort. Ich auch nicht.»
Es war so dunkel geworden, dass sie seine Augen nicht mehr erkennen konnte. Eine Maschinengewehrsalve zerschoss ihr Schweigen. Nellie kurbelte das Fenster hoch.
«Haben Sie denn gar keine Angst?», fragte Cressman.
«Auch diese Frage könnte ich zurückgeben.»
«Gut, dann will ich sie gerne beantworten. Natürlich habe ich Angst. Ich habe gesehen, wozu Menschen fähig sind. Ich war in Deutschland, dem Land meiner Vorfahren.» Er machte eine Pause, während er die Scheinwerfer einschaltete, und es sah aus, als suchte er nach Worten. «Und ich weiß nicht, wie sich das hier entwickelt», sagte er schließlich. «Aber ich will dabei sein, wenn es passiert. Ich will es beschreiben, weil ich daran glaube, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat zu wissen, was in der Welt los ist.»
Nellie schwieg, bis er sie ansah.
«Verstehe.» Er zündete sich eine Zigarette an. «Das wollen Sie auch.»
Die Glut leuchtete als roter Punkt im Wagen. Cressman rauchte schweigend. Nellie blickte zum Fenster hinaus. Sie dachte daran, wie der Chef sie nach Japan geschickt hatte, nicht, weil er ein Anhänger von verrückten, gesellschaftlichen Experimenten war, sondern weil sie ihn mit ihren Prozess-Berichten aus Nürnberg überzeugt hatte. Weil er ihrer Art vertraute, eine Geschichte zu erzählen.
Die Scheinwerferkegel beleuchteten jetzt so viele Menschen, dass Cressman langsamer fuhr, um ihnen auszuweichen. Einige von ihnen marschierten auf der Straße, viele zogen Tiere. Ganze Dörfer, dachte Nellie, bewegen sich von der Front fort Richtung Süden. Cressman sog an seiner Zigarette, und im Schein der Glut sah Nellie sein Alter. «Sie dürfen nicht denken, dass ich auf Sie herabblicke, weil Sie eine Frau sind», sagte er schließlich. «Ich habe während meiner Zeit in Europa Martha Gellhorn kennengelernt. Und ich weiß durchaus, dass es Frauen gibt, die auch außerhalb ihres Heims Großartiges leisten.»
Nellie lockerte ihren Krawattenknoten. «Ich habe kein Heim, in dem ich Großartiges leisten könnte», sagte sie. «Aber selbst, wenn ich eines hätte …»
«Verstehe. Sie wären trotzdem lieber Reporterin.»
«So sieht es aus.»
Sie hatten ihre Kollegen auf halbem Weg aus den Augen verloren, aber nun dehnte sich ihnen die Stadt Seoul entgegen. Auf einmal leuchteten auch die roten Rücklichter des amerikanischen Militärjeeps vor ihnen. Sie folgten dem Wagen zu einer Kaserne. Dort angekommen, stiegen sie aus.
Draußen fühlte sich die Luft noch schwüler an. Nellie folgte den Männern über den Hof ins Innere der Kaserne. Ein Ventilator sirrte unter der Decke. Offiziere standen über einen Tisch gebeugt und studierten eine Karte. Die Luft war blau vor Qualm.
«Die Situation ist unübersichtlich, aber wir haben Hoffnung», begrüßte sie ein Mann, der sich als Colonel Sterling Wright vorstellte. Er stand dem US-Beraterstab des südkoreanischen Militärs vor. «Ein paar Tage, und wir haben die Bastarde rausgebombt, schätze ich.»
«Womit?», fragte Nellie und zückte ihren Stift.
Der Hüne wandte sich ihr zu. «Mit Verlaub, Miss, aber ich glaube nicht, dass Ihnen eine Aufzählung von Waffengattungen weiterhilft …»
«Wir setzen Panzer des Typs M-24 Chaffee ein», antwortete der Colonel. «Stift weg, das sage ich Ihnen im Vertrauen.» Er trat so dicht an sie heran, dass sie das Nikotin in seinem Atem roch. «Sollten Sie jemals über etwas schreiben, das ich Ihnen im Vertrauen erzähle, sind Sie weg vom Fenster, Miss.»
Nellie ließ ihren Stift über dem Block schweben. «Sind Panzer dieses Typs den sowjetischen T-34 nicht stark unterlegen? Das ist doch der Panzertyp, den die Nordkoreaner einsetzen, oder nicht?»
Einen Moment lang hörte man nur das Sirren des Ventilators.
«Wer hat Ihnen das erzählt, Miss?», fragte der Colonel endlich.
Nellie erwiderte seinen Blick. «Das wurde mir im Vertrauen gesagt, und ich missbrauche das Vertrauen anderer Menschen nicht.»
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Tucker sie wieder ansah.
«Unsere Panzer mögen denen der Roten unterlegen sein, nicht aber unsere Flugzeuge. Die südkoreanische Armee hat zehn Jagdflugzeuge von uns erhalten. Aktenordner da drüben hin!», rief er einem Soldaten zu. Und mit einem Nicken zu den Journalisten: «Müssen alles wieder einräumen. Reinstes Chaos nach der Falschmeldung von heute Morgen. Seoul eingenommen, so ein Schwachsinn. Hoffe, meine Herren, Sie machen einen besseren Job.»
«Wen meinen Sie, wenn Sie von ‹unseren› Jagdflugzeugen sprechen?», hakte Nellie nach. «Die Vereinten Nationen oder die Vereinigten Staaten von Amerika?»
Der Colonel ließ seine Zigarette fallen und trat sie mit dem Fuß aus. «Sie wollen es wohl heute ganz genau wissen, Miss. Uns Amerikaner natürlich. Oder glauben Sie, die Europäer wären in der Lage, so einen Auftrag von heute auf morgen zu stemmen?»
Während Cressman, Tucker und der Hüne nun ihre Fragen stellten, warf Nellie einen Blick in den Papierkorb, der neben dem Schreibtisch des Colonels stand. Zerknüllte Telegramme, Notizen und maschinengeschriebene Briefe lagen darin, und ganz oben meinte sie auf einem Blatt Papier die leicht schräg gestellte Unterschrift von General Douglas MacArthur zu erkennen, mit den charakteristischen, nach oben und unten ausreißenden Konsonanten. Sie kniff die Augen zusammen, um das Geschriebene besser zu entziffern, konnte aber nur die Worte «air» und «38» erkennen.
Auf einmal musste sie an Laura denken. Ein Hafen in Jamaika, Kingston vielleicht oder Montego Bay, genau konnte sie das nicht mehr sagen. Laura und sie waren 14 Jahre alt gewesen, der Koch hatte sie in eine Hafenkneipe mitgenommen und sie Poker gelehrt.
«General MacArthur hat Luftangriffe auf nordkoreanische Streitkräfte südlich des 38. Breitengrads angeordnet, stimmt das?», fragte sie mit unbewegtem Gesicht.
Ein paar Sekunden lang wirkte der Colonel regelrecht schockiert. Tucker musterte sie mit neu erwachtem Interesse. Der Hüne betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.
«Zum Teufel, Miss, ja», sagte der Colonel endlich. «Und jetzt nennen Sie mir verdammt noch mal Ihre Quelle! Es handelt sich hier um militärische Geheimnisse, Scheiße noch mal, der Kerl verdient keine Schonung!»
Nellie deutete mit dem Fuß auf den Papierkorb, und der Colonel wurde noch dunkler im Gesicht.
Die Stimmung war eisig, als sie wenig später nach Seoul hineinfuhren. Nellie und Cressman hatten Tucker und den Hünen mit in den Buick nehmen müssen, weil die beiden Colonels Scott und Wright den Jeep übernahmen.
«Danke, dass Sie die Beziehung zu unserem Presse-Attaché zerstört haben», murrte der Hüne, während Cressman den Buick auf ein Haus im Art-déco-Stil zulenkte, das von tausend Lichtern erleuchtet zu sein schien. «Na, der wird uns noch mal was stecken! Ich muss schon sagen, das war sehr unprofessionell von Ihnen!»
«Ein bisschen mehr Respekt gegenüber Miss Ericsson», sagte Cressman, der jetzt die Auffahrt hinaufsteuerte. «Sie hat nur ihren Job gemacht, und das hätten Sie auch, wenn Sie auf die Idee mit dem Papierkorb gekommen wären!»
Ein Hotelpage mit Hütchen auf dem schwarzen, glatten Haar streckte die Hand aus, um die Autoschlüssel entgegenzunehmen. Cressman bedankte sich und setzte erneut an, seinen Satz zu beenden, als ein großgewachsener Mann mit einem Fotoapparat um den Hals in den Lichtkegel der Autoscheinwerfer trat. «Oh, wenn das nicht mein Fotograf ist!», rief Cressman.
Und da erst erkannte Nellie das Gesicht des Fotografen, und sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Nein. Das konnte ja nicht sein.
Aber er war es, und jetzt rauschte es in ihren Ohren, so schnell schlug ihr Herz mit einem Mal. Hier war er also, der Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Hier war er, wo sie ihn nicht brauchen konnte, nicht, wo sie sich doch beweisen musste, wo sie sich keinen Fehler erlauben durfte, wo es wirklich überhaupt nicht passte, dass ihr Herz so heftig schlug. Sie hatte gewusst, dass sie ihn wiederfinden würde. Jake.
Es gab Menschen, die an ihre Vergangenheit dachten, wenn sie ein Lied hörten oder einen Duft rochen, doch Jake erinnerte sich in Bildern allein. Er musste nur die Augen schließen. Da waren Greta und er als Kinder im Boot, die Hände des Vaters, die die Ruder umfassten, der große glitzernde See. Da war ein Meer, glatt wie ein Spiegel. Feuer, das am Himmel explodierte. Das Wasser, das ihn umschloss. Kein Ton drang in die Erinnerung an seinen Sprung. Dann eine große Dunkelheit, wie eine Blende, die sich schloss. Das glatte, blaue Meer. Seine Arme, die das Wasser zerteilten. Die toten Körper, die neben seinem schwammen. Er sah es bis ins kleinste Detail.
Und dann war da ein anderes Wasser. Lake Michigan, so grün. Eine Meerjungfrau, die lachte und strahlte, während er sie küsste. Das nasse Kleid an ihrem Körper. Und ein Schmerz, den man an ihr nur bemerkte, wenn man sie eine ganze Seenacht lang ansah.
Ein Glück durchströmte ihn, das er nicht mehr für möglich gehalten hätte. Und in diesem Augenblick passierte etwas Merkwürdiges. Er blendete alles um Nellie herum aus, sodass er nur noch sie sah, die meerfarbenen Augen, die roten Locken, die blasse Haut. Alles an ihr schien zu schimmern, und es war ein Wunder, dass sich niemand zu ihr umdrehte, dass ihr niemand auf die Schulter tippte und fragte, woher sie all dieses Leuchten nähme.
Er streckte die Hand aus, und sein Herz klopfte. «Nellie», sagte er.
Ein Strom floss von ihrer Hand in seinen Körper. Viele Herzschläge lang dauerte ihre Berührung.
«Jake», flüsterte sie.
Ein hagerer Mann stand plötzlich vor ihm. «Habe ich sie also wiedergefunden, Mister Schmidt, phantastisch!»
Jake schüttelte seine Hand. «Mister Cressman. Wie schön!»
Cressman deutete mit dem Kopf auf Nellie, die jetzt mit ihrer Schreibmaschine unter dem Arm ins Chosun Hotel ging. «Sie beide kennen sich schon?»
«Wir sind uns vor vier Jahren in Chicago begegnet.» Jake versuchte, beiläufig zu klingen.
Cressman nickte. «In unserer Welt sieht man sich immer zweimal. Na, kommen Sie, Mister Schmidt. Lassen Sie uns gehen.»
Das Hotelfoyer glänzte im Schein eines riesigen Kronleuchters. Elegant gekleidete Koreaner standen in Gruppen herum.
«Drink?», fragte Cressman.
«Gern.»
Sie folgten dem Gelächter und Gläserklirren. Im Schein der Lichter versuchte er, Nellie wiederzufinden, aber er hatte Mühe, etwas zu erkennen, so dicht zogen sich die Rauchschwaden durch den Raum. Cressman bot ihm eine Zigarette an, die er dankbar annahm.
«Auch einen Soju?»
Jake neigte dem Kollegen sein gutes Ohr zu. «Ich bitte um Verzeihung?»
«Mögen Sie einen Soju trinken? Das ist das Nationalgetränk Koreas.» Cressman ließ sein Feuerzeug klicken. «Und eines Tages auch sein Untergang.»
Während Cressman bestellte, sah sich Jake im Raum um. Die Tapetenseide schimmerte im Schein der kleinen Lampen, ebenso das vergoldete Holz, das ein paar Impressionisten umrahmte. Nichts deutete darauf hin, dass das Hotel jahrzehntelang ranghöchste japanische Offiziere, Diplomaten und Geschäftsleute mitsamt weiblichem Anhang beherbergt hatte. Überhaupt sah hier nichts mehr nach japanischer Kolonialzeit aus. Keine Ukiyo-e, japanische Kunstdrucke, hingen an den Wänden, nicht einmal das Porzellan war japanisch, was bedeuten musste, dass es nach der Befreiung von den Japanern vor fünf Jahren komplett ausgetauscht worden war.
Dann sah er sie wieder. Sie hatte sich an einen der Tische im Hintergrund zurückgezogen und hämmerte mit zwei Zeigefingern auf die Tasten ihrer Schreibmaschine ein. Überrascht stellte er fest, dass sie keine Reiseschreibmaschine bediente wie die anderen Korrespondenten, sondern ein altertümlich wirkendes Modell mit riesigem Typenhebel und einer imposanten Schreibwalze.
Und jetzt bemerkte er, dass die Umstehenden sie ebenfalls beobachteten. Eine Gruppe westlich aussehender Frauen mit tief ausgeschnittenen Kleidern starrte sie geradezu unverschämt an. Nellie tippte und leuchtete vor sich hin. Er sah zu, wie sie die Stirn runzelte, sich ihren Stift hinter das Ohr klemmte und ihr Notizbuch aufschlug.
«Wenn Sie mögen, würde ich Ihnen gern etwas über den Auftrag erzählen, den mir unser Bildredakteur aufgegeben hat.» Cressman reichte ihm ein Glas mit einer farblosen Flüssigkeit. «Aber zunächst einmal Prosit! Auf dass der Untergang noch fern sei!»
Jake stieß mit seinem Glas an Cressmans. «Prost.»
«Sie haben ja schon für die Quick gearbeitet, wurde mir gesagt.»
Jake nickte.
«Nun, wir liefern mehrere Stücke. Einmal geht es natürlich um den Kriegsausbruch selbst, und dann …»
Ein hünenhafter Mann trat auf sie zu. Ihm folgte auf den Fersen ein Kellner, der auf einem Tablett eine Champagnerflasche sowie mehrere Gläser trug.
«Darauf, dass wir diesen Tag überlebt haben!», übertönte der Hüne das Gläserklirren und Stimmengewirr.
«Auf unser Überleben am ersten Tag!», rief ein Mann, der trotz der Hitze im Salon einen Trenchcoat trug. Er streckte Jake eine Hand entgegen. «Wir kennen uns noch nicht. Dick Tucker.»
«Hier, Junge.» Der Hünenhafte nahm dem Kellner ein weiteres Glas ab und reichte es Jake. «Siehst aus, als könntest du noch ’n Schluck gebrauchen.»
Jake schüttelte den Kopf. «Danke, aber ich trinke im Krieg nicht so viel.»
Der Große stieß ein bellendes Lachen aus, dann legte er ihm den Arm um die Schultern. «Darauf wäre ich jetzt fast hereingefallen! Nicht schlecht, Junge, den Spruch werde ich mir merken. So, und wie kommt’s, dass du schon vor uns da warst? Konntest es nicht abwarten, mal ein bisschen Action zu erleben, was?»
Jake schüttelte seinen Arm wieder ab und beobachtete, wie der Hüne nach einem weiteren Glas griff.
«Ich wusste gar nicht, dass Sie Cocktails trinken, Mister Featherston», bemerkte der Trenchcoatmann.
«Ich auch nicht.» Der Hünenhafte warf die Blüten, die den Drink zierten, mit Schwung auf den Boden. «Aber was soll man in diesem barbarischen Land auch anderes tun?»
Jake wollte antworten, als ihm auffiel, dass auch Trenchcoatmann immer wieder zu Nellie hinsah.
«Wo waren wir stehengeblieben?», sagte Cressman. «Ach ja, bei meinem phantasiebegabten Bildredakteur. Also, er wünscht sich Bilder, die im Vordergrund verängstigte Menschen zeigen, und im Hintergrund sowjetische Panzer, wenn möglich mit einem deutlichen roten Stern …»
Doch Jake hörte nur mit halbem Ohr zu. Denn Trenchcoatmann starrte noch immer zu Nellie hinüber. Nun zog er einen Schreibblock aus seiner Brusttasche. Und während er Nellie weiter fixierte, schrieb er darauf.
Nellie wusste, dass es schon vor ihr weibliche Kriegsreporter gegeben hatte. Sie kannte die Geschichte von Susan E. Dickinson, die vom Amerikanischen Bürgerkrieg berichtet hatte. Sie hatte von der britischen Journalistin Dorothy Lawrence gehört, die sich während des Ersten Weltkriegs als Mann verkleidet hatte, um über die Grabenkämpfe zu schreiben, und die aufgrund ihrer falschen Identität als Spionin verhaftet worden war. Die Geschichten waren ihnen zugeweht wie der Wind in ein Segel. Sie hatten das, was vor ihren Augen geschah, nur aufschreiben müssen – und dann überleben. So wie es aussah, würde Nellie an diesem Abend nur Letzteres tun.
Sie ließ ihren Blick durch die Hotelbar schweifen. Hier hatten sich Menschen mit dem festen Willen zu feiern versammelt. Die Amerikanerinnen trugen schulterfreie, bodenlange Kleider und Champagnergläser in den Händen, und ihr Lachen perlte bis zu den Kristalllüstern hinauf. Die Asiatinnen wirkten diskreter, aber nicht minder elegant. Durch die Rauchschwaden konnte sie das koreanische Salonorchester sehen. Dear hearts and gentle people, spielten sie.
Wieder sah sie die Frau mit den Zwillingsbabys vor sich. Das Bild legte sich über den Anblick der Musiker, der Lichter, der Gäste. Nellie vergrub den Kopf in den Händen und stöhnte. Wie sollte sie diese Welten in einem Kriegsreport zusammenbringen? Sie hatte nicht einmal Kampfhandlungen gesehen.
Ein Kellner trat an sie heran. Sein Gesicht verriet nicht die geringste Regung, als er Nellie nach ihren Wünschen fragte.
«Einen Gin Tonic und eine anständige Geschichte.» Das wäre Lauras Antwort gewesen. So wie damals auf Jeju.
Vielleicht sollte sie einfach rausgehen. «Vielen Dank, aber ich möchte nichts», sagte sie, riss das Blatt aus ihrer Schreibmaschine und stand auf. Sie musste ihre Gedanken ordnen – und ihre Gefühle Jake gegenüber, der zu ihr herübersah. Vor allem aber musste sie eine Geschichte finden, nicht in dieser Hotelwelt, sondern draußen in den Straßen von Seoul.
Es war noch immer warm, als sie hinaustrat. Sie lockerte den Krawattenknoten an ihrer Uniformbluse und überquerte die Straße, die jetzt leer war. Kaum jemand war noch unterwegs. Sie überquerte den Platz und bog in eine Gasse ein. Und dann war sie in einer anderen Welt.
Rote Lampions hingen vor den Türen von niedrigen Häusern. In ihrem Schein wölbte sich ein Schild von einer Gassenseite zur anderen. Ihre Schritte hallten auf dem Stein.
Eine weitere Gasse zweigte hinter dem Schild ab, und jetzt war sie in ein Labyrinth aus Durchgängen geraten. Menschen hockten vor ihren Hütten und fächerten sich Luft zu. Es roch nach scharf gebratenem Fleisch und Gewürzen. Irgendwo spielte ein Radio.
Sie folgte den Tönen und blickte durch eine halbgeöffnete Tür in einen hell erleuchteten Raum.
Männer saßen an einem niedrigen Tisch auf dem Boden und löffelten etwas aus einer Schale. Das Radio spielte Marschlieder. Niemand sagte ein Wort.
Nellie wollte sich schon wieder zurückziehen, als ihr ein Mann entgegentrat. Er verbeugte sich vor ihr, und sie erwiderte die Geste mit einem Lächeln. «Kann ich hier vielleicht etwas essen?», fragte sie.
Der Mann verstand sie nicht, aber er winkte einen Jungen zu sich, der mit den anderen am Tisch saß. Auch der Junge verbeugte sich vor ihr.
In gebrochenem Englisch fragte er sie nach ihren Wünschen. «Ich würde gern etwas essen», erklärte Nellie. «Dies ist doch ein Lokal?»
Der Junge verneinte.
«Oh», machte Nellie. «Ich bedaure die Verwechslung.» Sie wandte sich zum Gehen.
Der Mann und der Junge tauschten ein paar Worte, dann übersetzte der Junge: «Bleiben Sie, Miss. Mein Onkel wird Ihnen etwas zubereiten. Sie mögen doch koreanisches Essen?»
Nellie lachte. Sie hatte noch nie Koreanisch gegessen, aber sie mochte alles. «Sehr gern!», sagte sie.
Der Mann führte sie an den Tisch zu den anderen, und nachdem sie sich ausgiebig voreinander verbeugt hatten, übersetzte der Junge weiter. Ob es ihr in Korea gefiele, fragte er.
Nellie entgegnete, dass sie das Land sehr schön fände. Der Junge übersetzte ihre Antwort. Alle nickten ihr lächelnd zu.
Nun brachte ihr der Mann kleine Schalen mit Reis und Gemüse. Nellie stand wieder auf, um sich zu verbeugen, woraufhin alle im Raum lachten. Das Gemüse schmeckte bitter und scharf.
Plötzlich wurde die Musik, die aus dem Radiolautsprecher plärrte, unterbrochen, und eine Männerstimme ertönte. Die Stimme klang ganz anders als die der amerikanischen und deutschen Radiosprecher, die Nellie kannte, und sie wurde lauter, je länger sie sprach.
«Army Colonel», wisperte der Junge. «Macht eine Durchsage. Die nordkoreanische Marionette …» Er lauschte.
«Marionette?», fragte Nellie.
«Ja, Marionette. Von China und Sowjetunion.»
«Die Truppen der Marionette haben den gesamten 38. Breitengrad überschritten. Es ist …»
Er lauschte weiter. Die anderen hatten ihre Stäbchen beiseitegelegt. Es herrschte vollkommene Stille im Raum, während der koreanische Colonel weitersprach. Und vielleicht war es wegen dieses Schweigens, dass Nellie so zusammenschreckte, als durch den Radiolautsprecher ein Schuss knallte.
Gleich darauf krachte es wieder. Nellies Sitznachbar hatte seine Schale fallen gelassen.
Der Colonel im Radio war still.
Berlin, Juni 1950
Hanna öffnete die Haustür und blieb wie angewurzelt stehen. Da war wieder eins. Ein Päckchen, in Zeitungspapier eingeschlagen, genau wie in der vergangenen Woche. Hanna Stochow hatte jemand in großen Bleistiftbuchstaben darauf geschrieben, genau über die Schlagzeile: «Hungerkünstler Willy Schmitz beendet 53-tägige Fastenzeit.»
Sie schlug das Papier auf. Es enthielt etwa ein Pfund Kartoffeln, einen Schinken, ein Päckchen mit Butter und mehrere Riegel Schokolade. Hanna blickte die Straße hinunter. Wenn es stimmte, was Else sagte, dann hatte es jemand hinterlegt, der wusste, wann sie das Haus verließ. Es musste ferner jemand mit einem eigenartigen Sinn für Humor sein, wenn er seine Lebensmittel in eine Zeitungsseite über einen Hungerkünstler einschlug. Hanna überflog den Artikel. Was brachte einen Menschen dazu, nach all den Hungerwintern weiterhin zu fasten? Dieser Willy Schmitz hatte sich 53 Tage lang tatsächlich nur von Zigaretten und Mineralwasser ernährt, ein Schicksal, das Else, Lilo und sie selbst sicherlich nicht mit ihm teilen würden. Jedenfalls nicht, wenn der unbekannte Wohltäter weiter so wohltätig war.
«Oh! War det der Verehrer schon wieder?» Lilo blickte von der Spiegelscherbe auf, die sie an die Wand hinter der Spüle gelehnt hatte, den Lippenstift in der erhobenen Hand.
«Weiß ich nicht, ob das ein Verehrer ist.» Hanna öffnete die Holztür zur Vorratskammer und legte das Paket vorsichtig hinein.
«Hast du et jut.» Lilo seufzte. «Meen Georg will, dat ick jar nüscht uff de Rippen krich. Ick sach imma, watt willste mitn Klapperjestell?»
«Klappergestelle sind überbewertet.» Hanna schüttelte mitfühlend den Kopf.
«Und haste ’ne Ahnung, wat dit fürn Verehrer is? Meinste, det is so een Junger, der sich nich traut? Oder …» Lilo riss die Augen auf. «Vielleicht is det een Russe! So een janz hohet Tier!»
Hanna musste lachen. «Wie auch immer, bedien dich, Lilo, aber lass Else und mir was übrig. Ich muss jetzt los.»
«Warte, ick komm mit dir mit!» Lilo wirbelte zu ihr herum. Sie wirkte wie ein Mädchen aus den Modeblättern, seitdem sie die Stelle als Friseuse in der Bernauer Straße ergattert hatte. Lippen und Nägel schimmerten in einem hellen Rot. Dazu trug sie ein eng tailliertes, geblümtes Kleid, das gut zu dem Käppchen auf ihrem Kopf passte.
«Triffst du deinen Georg?»
«Nee.» Lilo trippelte neben ihr die Treppe hinab. «Ick wollt nur ma wieder ’n Schaufensterbummel machen. Du jloobst ja nich, wat et nu wieda allet Schönet jibt!»
Hanna wollte einwenden, dass sie ein paar Jahrzehnte älter sein mochte, aber noch nicht erblindet war. Doch ein Blick auf Lilos strahlendes Gesicht brachte sie zum Schweigen. Lilo war im gleichen Alter wie ihre Tochter, und sie weckte in ihr mütterliche Gefühle. Zumal sie als Vollwaise zu Else und ihr gekommen war. Und sie mochte es, wie Lilo sie unterhakte. Das half ihr, alles andere zu vergessen. Es half ihr, auf festem Boden zu gehen.
Sie hörte mit halbem Ohr zu, wie Lilo drauflosplapperte. Alles vermischte sich in ihrem Redestrom: wie unfähig die neue Kollegin sei, und dass sie Georg bitten werde, ihr einen Nerz zu kaufen, wenn sie nur endlich verlobt wären, und dass er sie neulich beim Tanztee so angesehen habe, als ob er endlich … Hier musste sie innehalten, denn eine Frau im geblümten Hauskleid, das Kopftuch über der Stirn geknotet, ratterte mit einem Bollerwagen über den Bürgersteig an ihnen vorbei.
«Haste dit jesehn, Hanna, wat die fürn Tempo druff hat?» Lilo klatschte in die Hände. «Dabei is die bestimmt schon so alt wie du!»
Hanna lächelte nur. Werd du erst mal 51, dachte sie. Und dann reden wir noch mal übers Alter. Sie hatten die Spreeinsel erreicht, die an diesem Nachmittag wie ausgestorben wirkte. Auf einem frisch gemauerten Gebäude prangte eine riesige Persil-Werbung, darunter hatte jemand ein Spruchband geklebt: «Es lebe das mächtige Friedenslager, das unerschütterlich unter der Führung der großen Sowjetunion für die Erhaltung und Sicherung des Friedens kämpft!»
Lilo blieb stehen, um das Spruchband zu entziffern. «Na, dit is hier aba Zuckerschlecken för Else», kommentierte sie, während sie weitergingen. «Die findet dit sicher jut!»
Hanna drückte ihren Arm. Lilo war wie ein freundliches, kleines Radiogerät, das munter Neuigkeiten und Ansichten preisgab und manchmal sogar sang, und auch, wenn Hanna zuweilen gern den Sender gewechselt hätte, war sie doch froh über diesen stetigen Strom. Nun tauchte das Berliner Stadtschloss mit seiner ausgebrannten Kuppel vor ihnen auf, und Hanna musste tief Luft holen, wie immer, wenn sie dieses Wrack von Prachtgebäude sah. Würde die Stadt eines Tages wieder so aussehen, wie sie sie aus ihrer Kindheit kannte? Konnte man etwas wiedergutmachen, das in seinen Grundfesten zerstört worden war?
Als sie die Linden betraten, taten ihre Füße so weh, dass sie erwog, die Pumps auszuziehen.
«Nicht dein Ernst?» Lilos Augen weiteten sich, als Hanna sich auf sie stützte, aus ihrem rechten Schuh schlüpfte und mit den Zehen in der Luft wackelte.
«Die unteren Schichten rebellieren, würde Else sagen.»
«Hanna! Wir sind doch nicht bei den Hottentotten!»
«Ich fürchte, all die Jahre in Tennisschuhen und barfuß haben mich für die Zivilisation untauglich gemacht.» Hanna rieb sich die Zehen mit schmerzhaft verzogenem Gesicht.
«Zieh sofort wieder den Schuh an!», zischte Lilo. «Was sollen denn die Leute sagen, wenn sie dich so sehen?»
«Welche Leute?», fragte Hanna. Der einstige Prachtboulevard war so leer, dass sie bis zum Brandenburger Tor blicken konnte. Allein zwei halbwüchsige Jungen standen am Straßenrand. Hanna beobachtete, wie der größere der beiden sich fachmännisch eine Zigarette anzündete, den geflickten Jackenkragen hochgeschlagen, die Hände schützend vor das kostbare Gut gelegt.
Sie schlüpfte seufzend wieder in den Schuh und humpelte weiter. Lilo antwortete nicht.
«Diese Straße sollten sie auch umbenennen.»
«Wat? Die Linden?» Lilo vergaß ihre hochdeutsche Eiferei wieder. «Wieso sollten sie dit tun?»
«Na, weil es hier gar keine Linden mehr gibt!»
«Ach, die hamse ja schon anno 36 abjeholzt wejen der Olympischen. Hab ick mir schon dran jewöhnt!» Lilo blinzelte kurz. «Aber wir können sie ja Unter den Laternen nennen. Weil ja noch die Laternen stehen!» Sie kicherte ein bisschen über ihren eigenen Witz.
Sie durchwanderten die Sperre in den Westsektor, und jetzt wurde es lauter. Menschen hatten sich um einen Mann geschart, der Fahrradreifen feilbot. «Dit is nich zu überbieten! Unkaputtbar! Feinste Qualität!»
Eine blitzblank geputzte Schaufensterscheibe schimmerte eine Straßenecke weiter in der Sonne. Hanna erhaschte einen Blick auf sich, als sie daran vorübergingen. Niemand, der sie in ihrem hellen Sommermantel, den Nylonstrümpfen, die sie sich kürzlich gekauft hatte, den Pumps und dem kleinen Hut auf den frisch ondulierten Haaren sah, würde vermuten, wie sie die vergangenen Jahrzehnte verbracht hatte. Für ihre Chefin, für Else und Lilo, für die Nachbarn und den Milchmann war sie nur Hanna Stochow, die im Herbst 1946 zurück nach Berlin gekommen war, geschiedene Mutter einer Tochter. Und niemand wusste, dass sie trotz ihrer ersten grauen Haare und Falten innen noch genauso jung war wie ein Backfisch. Dass man nur äußerlich alterte. Dass das Leben noch genauso über einen hinwegrollte, dass man schwanken, stürzen und wieder aufstehen konnte. Dass man immer noch voller Staunen war.
«Lass uns so einen kaufen», lächelte sie und deutete auf die Auslage hinter dem schimmernden Glas.
«Een Volksempfänger?» Lilo erschrak sichtlich. «Nee, nee, Hanna, det jeht nich, daför haben wir doch jar keen Jeld!»
Aber trotz der Schmerzen, die die Damenschuhe ihr bereiteten, fühlte Hanna sich beschwingt. Dies war ein guter Tag, fand sie, nicht nur, weil sie wieder ein Paket erhalten hatte. Die Sonne schien, sie hatte ganz ohne Albträume geschlafen, und Berlin mit seinen freien Flächen sah heute so großzügig aus.
Die Ladenglocke bimmelte, als sie die Tür zum Geschäft öffnete, und dann hörte sie eine sehr ernste Männerstimme, die sich in die Klänge eines Tanzorchesters mischte. Gleich mehrere Radioapparate waren angestellt.
«Aber wat willste damit machen?», zischte Lilo in die neuesten Nachrichten aus Bonn.
«Ich will hören, was in der Welt passiert.»
«In der Welt?» Lilo wirkte so verblüfft, als hätte Hanna «auf dem Mond» gesagt.
«Guten Tag, meine Damen, darf ich Ihnen behilflich sein?» Ein Verkäufer verbeugte sich vor ihnen.
«Meine Freundin», Lilo löste ihren Arm aus Hannas, «interessiert sich für einen Volksempfänger.»
«Man sagt jetzt Radio, Frollein.» Der Verkäufer kniff ein Auge zu. «Aber bei mir im Jeschäft dürfense imma noch Volksempfänga sarjen.»
Hanna deutete auf einen kleinen Kasten. Es war ein rot lackiertes Radio mit einem großen Knopf für die Sender, das an einem Lederband hing. «Kann ich mir bitte mal anhören, wie dieses Gerät klingt?»
«Das Kofferradio, sehr wohl, die Dame. Können Se übrijens wie ’ne Handtasche tragen, dit Radio.»
«Und damit durch die Stadt spazieren?»
Lilo stieß sie in die Seite. «Nicht doch, Hanna. Was sollen denn die Leute denken, wenn du so einen Krach draußen machst?»
Dass es Tage gibt, an denen ich mein Leben mag, dachte Hanna und presste die Lippen zusammen.
«Sie können das Kofferradio mit an den Wannsee nehmen. Und wenn Se anständije deutsche Schlager hören …» Der Verkäufer blickte zwischen den Frauen hin und her. «Dann wird sich ooch keener beschweren. So, und nu lauschense ma.»
Er drehte an dem Knopf, und aus dem Rauschen stieg die Stimme eines amerikanischen Sängers. Dear hearts and gentle people. Es war ein Lied, das Hanna schon einmal gehört hatte und das einem mit seinem Swing-Rhythmus flott in die Füße fuhr. Hanna schnippte sogleich mit den Fingern, und Lilo starrte sie entgeistert an.
«Also, dit is nu keen deutscher Schlager, aber klingen tut det Radio doch jut, wa?»
«Sehr gut sogar!» Hanna nickte begeistert. «Könnte ich das auch in Raten zahlen?»
Lilo weigerte sich, ihr den Arm zu reichen, als sie wieder draußen auf der Straße standen. «Also, Hanna, nee, det find ick stulle, dass de dir det kaufen willst!»
«Wieso?»
«Na, weil de dit Jeld nich hast!»
«Geld kommt, Geld geht, aber was bleibt, sind die Schulden, richtig?»
Lilo sah sie entgeistert an. «Haste heute ’n Suppenkasper jefrühstückt?»
Hanna lachte. «So was in der Art.»
Sie umrundeten einen Schutthaufen und bogen in eine Seitenstraße. Vor dem Riviera hatten sich bereits die ersten Besucher angestellt, zumeist junge Paare. Die Frauen trugen eng taillierte Kleider wie Lilo, mit gebauschten Röcken, Ballerinas und Pumps, und auch die Männer sahen schick aus. Deutschland erholt sich, dachte Hanna.
«Frau ohne Gewissen», las Lilo die Buchstaben von der Kino-Leuchtreklame ab. «Oh, ist das der Film mit Fred MacMurray?» Sie hob ihre Hände in Kinnhöhe, ließ die manikürten Fingerspitzen nach unten fallen, streckte ihre Zunge heraus und hechelte wie ein Hund.
Hanna musste lachen. «Nein, nicht schon wieder, Lilo! Wenn ich dabei erwischt werde, fliege ich raus!»
«Nur noch een eenzjes Mal, Hannachen!»
«Das hast du doch von Anfang so geplant, du Frau ohne Gewissen!»
Lilo kicherte.
«Ich meine es ernst, Lilo! Wenn die Chefin merkt, dass ich hier blinde Passagiere reinschmuggle, ist es vorbei mit der Fröhlichkeit! Du sagst, dass du deine Karte verloren hättest, und verrätst nicht, dass du mich kennst!»
Lilo hob die rechte Hand. «Ich schwöre auf den Kopf von Rudi Schuricke!»
«Schätze, das will bei dir was heißen», murmelte Hanna und schloss die Tür auf zum Kassenhäuschen.
Zehn Minuten später spielten sie ihr altes Spiel wieder: Lilo schob Hanna einen Blusenknopf hin und Hanna drückte ihr eine Eintrittskarte in die Hand.
«Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …», trällerte Lilo und tänzelte ins Foyer.
Nachdem Hanna alle Besucher hereingelassen hatte, stieg sie die kleine Treppe in den Vorführraum hinauf. «Guten Abend, Otto.»
«Na, ob der so gut wird.» Otto klaubte eine Filmrolle aus der Schachtel. «Mit dem Versicherungsbetrug kommen die doch auch heute nicht davon! Und mit dem Mord erst recht nicht!»
«Ja, wenn man ihnen doch nur einen Fingerzeig geben dürfte, dass das keinen Sinn hat!»
«Ja, wenn nur!» Otto seufzte. «Aber Fred MacMurray und Barbara Stanwyck hören ja nicht auf uns!»
Hanna beobachtete, wie Otto die Filmrolle mit der Neuen Deutschen Wochenschau in die Spule legte. Das war immer ihr Lieblingsmoment. Dafür allein liebte sie das Kino. Ein paar Minuten lang hatte sie das Gefühl, wieder hinausblicken zu können in die Welt. Die Fanfare ertönte. Während die Bilder über die Leinwand blitzten, drehte Otto sich zu ihr um und lächelte sie an. Mit seiner kantigen schwarzen Brille und den streng zurückgekämmten Haaren sah er eher wie einer dieser westdeutschen Wirtschaftsbosse als wie ein Filmvorführer aus.
«Die berühmte englische Tageszeitung The Times stellt fest:», ertönte nun die Stimme des Sprechers, der immer ein bisschen so klang, als ob er einen Sieg verkünden würde, «Deutschland ist wieder ein Faktor in Europa geworden!»
Otto, der genau wie sie die Nazi-Zeit im Ausland verbracht hatte, schlug ironisch die Hacken zusammen, und Hanna lachte lauter, als sie beabsichtigt hatte. Sofort lauschte sie auf die Schritte von Frau Gabler. Aber draußen blieb alles ruhig. Nicht, dass sie sich vor der Chefin hätten fürchten müssen. Aber man wusste ja nie.
Nach dem Bericht über die Schuman-Konferenz in Berlin, die mit leiser Geigenmusik unterlegt war, wurde es wieder dramatisch. Trompetenstöße schmetterten in den Saal.
«Im Morgengrauen des 25. Juni überschritten kommunistische Truppen Nordkoreas die Grenze zum südlichen Teil der Halbinsel.» In der dramatischen Pause des Sprechers steigerte sich die Musik zu einem Crescendo. «Es ist Krieg in Ostasien!»
Wieder bemerkte Hanna, dass Otto sie ansah. Sie sprach, ohne darüber nachzudenken. «Heute ist wieder so ein Paket gekommen», sagte sie leise.
Otto wandte den Blick ab. «Ist ja schön.»
«Otto, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wenn du derjenige …»
«Zum allerletzten Mal, Hanna!» Er wirkte auf einmal böse. «Ich bin nicht der Kerl, der dich versorgt!» Er drehte sein Gesicht in den Schatten.
«Nein», sagte Hanna leise. «Aber falls doch, Otto, dann danke ich dir vieltausend Mal.»
Orangefarbene Streifen leuchteten am Himmel, als sie das Kino wieder verließen. Im Ostsektor erwachten die Straßenlaternen. Zwei kreisrunde Scheinwerfer strahlten über die Linden zu ihnen herüber.
«Diese betrügerische Ehefrau, diese Phyllis.» Lilo sprach klarstes Hochdeutsch, wie immer, wenn sie gerade einen Film gesehen hatte. «Ehrlich gesagt, kann ich überhaupt nicht verstehen, wie Fred MacMurray auf die hereinfallen konnte! Ich fand sie dicklich und überhaupt nicht schön!» Sie hakte sich wieder bei Hanna unter. «Und wie gemein sie alle zueinander waren! So wollen wir nicht sein!»
«Nein», stimmte Hanna zu.
«Man muss eine ziemlich kranke Phantasie haben, um sich so einen Mord auszudenken, oder?» Lilo zog die Nase kraus. «Der Mann, der das Drehbuch geschrieben hat, dieser Billy Wilder … Das war doch ein polnischer Jude, oder nicht?»
Hanna wollte antworten, aber Lilo plapperte weiter. «Weißt du, ich hab mir überlegt, wenn Georg nicht endlich rumkommt mit seinem Antrag, dann suche ich mir einen anderen! An einen Fotografen dachte ich!»
«Wieso denn ausgerechnet einen Fotografen?» Hanna musste lächeln. Was war Lilo doch für ein Kind!
«Na, weil die schon so viel jesehn haben!» Lilo riss die Augen auf. «Det sind Männer von Welt!»
Wieder wollte Hanna antworten, und wieder schwoll der Redestrom weiter. «Und dann hab ick mir ooch überlegt, dass wir den Volksempfänger doch kaufen könnten! Wenn wir alle zusammenlegen. Ich mit meinem Lohn als Friseuse, Else mit ihrem …» Lilo hielt sich die Nase zu. Sie mochte nicht, was Else tat. «Ja, und du! Dann können wir abends in der Stube Tanzmusik hören. Und deine Nachrichten meinetwegen auch.»
Der Brief war in Chicago abgestempelt, hauchdünnes, hellblaues Air-Mail-Papier mit blauen und roten Streifen am Rand. Else, die mit einem Buch in der Hand in der Kohlenkiste eingeschlafen war, öffnete ein Auge. «Hat die olle Pallaske vorbeigebracht. Briefträger hat sich mal wieder geirrt.»
«Den hamse mit ’ner Banane ausm Urwald jelockt, so doof ist der. Stochow, kann doch nich so schwer sein, det zu entziffern! So, und nu beweg mal deine Walzerlatten, Else. Dit is ’ne Kohlenkiste un keen Thron!»
«Kannste einen einmal in Ruhe lassen!», fauchte Else zurück. Ihr SED-Parteiabzeichen schimmerte im Halblicht, zwei Hände, die sich vor einer roten Fahne drückten. «Ick hab ’n janzen Tach malocht!»
«Mensch, lass dir in Watte wickeln! Hanna, sach doch auch ma wat dazu!»
Aber Hanna bekam von dem Streit nichts mit. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie mehrere Minuten brauchte, bis sie das Papier aufreißen konnte.
«Liebste Manam», las sie, und bei der Anrede stiegen ihr die Tränen in die Augen. Seit jenem Tag vor sieben Jahren hatte Nellie sie nicht mehr so genannt. «Ich schreibe dir auf meinem gepackten Koffer sitzend, verzeih bitte meine Handschrift. Morgen früh fliege ich nach Tokio. Ich habe meinen ersten Einsatz als Auslandskorrespondentin, wenn auch nur vertretungsweise. Ich berichte aus Japan und Korea, stell dir vor!»
Auf einmal hockten sie neben ihr, Lilo auf der einen Seite, Else auf der anderen.
«Neuigkeiten?», fragte Else leise.
Hanna starrte immer noch den Brief an.
Lilo legte ihr einen Arm um die Schulter. «Willste det nich mit uns teilen?»
Sie hatte ihnen erzählt, dass sie mit einem amerikanischen Kapitän verheiratet gewesen war und eine erwachsene Tochter hatte, die in Chicago lebte. Mehr wollten die beiden aus ihrer Vergangenheit auch nicht wissen. Es war erstaunlich, womit man durchkam, wenn man nur respektabel genug aussah.
«Bitte, Hanna», hörte sie Lilos Stimme. «Sag doch mal etwas!»