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Ein Kopf in einer Plastiktüte vor dem Büro, dazu ein erschossener Geschäftsführer. Mit der NGO »Interni« stimmt deutlich etwas nicht. Und nichts ist lästiger für eine wohltätige Stiftung als schlechte Presse. Fürchtet der Lebensmittel- und Fleisch-Tycoon Wellinghofen, der Hauptmäzen der »Interni«, und schickt seine Mitarbeiterin für besondere Fälle, die sich gerade Eve Klein nennt, nach Zürich zum Stiftungssitz. Nebenbei soll sie auch noch Geld für ihn auf dem Kunstmarkt waschen, mit Hilfe der mehr als undurchsichtigen Mascha Harvensteen, die als Guru der Kunstwelt gilt. Neben dem sichtlich überforderten Stiftungsvorstand Max Karnofsky bekommt es Eve zudem mit dessen eisiger Gattin Helena zu tun, mit den Töchtern der Familie – Zwillinge, die glatt aus Shining stammen könnten ‒, und einem ruppigen Berater aus London mit unguten Verbindungen. Eine Welt der Reichen und Superreichen, in der alles funktional ist. Einschließlich der Kinder. Aber das Einzige, was wirklich zu funktionieren scheint, ist der Rasenmähroboter. In dieser Welt sind Big Business, Gier und Organisiertes Verbrechen eng miteinander verzahnt. Wenn auch anders, als Eve sich das zunächst denkt …
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Seitenzahl: 266
Sybille Ruge
9mm Cut
Roman
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5399.
Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlagfotos: mauritius images/Odyssey-Images/Alamy/Alamy Stock Photos (Fassade Credit Suisse, Zürich); mauritius images/Zoonar GmbH/Alamy/Alamy Stock Photos (Grossmünster, Zürich); Mohamad Itani/plainpicture (Frau)
eISBN 978-3-518-77894-4
www.suhrkamp.de
This won’t work.
Cassandra
Ein abgetrennter Kopf. Offener Mund. Eine gebrochene Nase. Hervorquellende Augen mit Blick zur Tankstelle gegenüber.
»Du hast die Medusa über deinem Eingang.«
»A what?«, hatte Karnofsky gesagt.
Andere würden mit dem skalpierten Schädel in der Plastiktüte beginnen oder dem zerschmetterten iPhone im Seitenflügel.
Ich nicht. Ich habe ein Faible für die Antike.
Die Medusa hatte ich vor der Reise auf der Versace-Unterhose gesehen, als Ricky mir einen klassischen Tripper spendierte. Ein Abend im Juli, eine knallige Medusa mit dem Duft von Tandil Ocean Breeze. Wir vögelten vor dem Spiegel in der Umkleide. Die funzlige Beleuchtung radierte Rickys Gesichtszüge aus und leckte den speckigen Glanz von meiner Polyesterhose. Wir näherten uns dem Höhepunkt, als mein Telefon vibrierte.
Es war K2.
Ich ging ran.
K2 nuschelte eine Entschuldigung der Uhrzeit wegen. Immerhin war es Sonntag und Deutschland würde in fünfzehn Minuten vor dem Tatort sitzen. In seiner Stimme lag Bedrücktheit, schockiert, dass etwas nicht so glattlief wie gewohnt. Ein Anruf, dem die passenden Worte fehlten. K2 war ein Mann mit soliden Vorstellungen, wie das Leben abzulaufen hätte, aber jetzt befand er sich hörbar an einer Stelle, wo es nicht mehr weiterging. Er wollte mich sofort treffen. Ich schlug Döner Royale vor und schickte ihm die Route.
Zuneigung, Zärtlichkeit, Gefühle verschwanden in den Sportklamotten.
Zum Abschied schenkte ich Ricky den Botticelli-Blick. Ein halbiertes Lächeln. Die andere Hälfte würde ich mir für den Morgen zurücklegen. Man sollte sich immer etwas für den nächsten Morgen hinlegen, damit man weiß, warum man aufsteht.
K2 wartete bereits in seinem Porsche Taycan gegenüber von Döner Royale, was bei dem Besitzer der Bude zu ängstlichen Blicken geführt hatte, denn er benahm sich eingeschränkter als sonst.
»Einmal das Menü mit viel Zwiebeln und scharf.«
Ich packte die warme Alufolie, winkte K2 zu, und wir setzten uns auf eine Bank. Die letzten Spritzer Abendsonne verdoppelten sich. Zwei Fetzen am Himmel, rot wie ausgekotzte Tomatenspaghetti. Exakt in der Farbe von K2s Taycan.
K2 nippte an einem mit Vitaminen angereicherten Wasser, betonte, wie witzig die Dönerbude sei, und versuchte, das Logo auf meinem T-Shirt zu dechiffrieren. Dann bastelte er an einem Vortrag über Gewinn, der nur ein Mittel zum Zweck sei. Eigentum bedeutet Pflicht und Verantwortung, sagte er. Ich war froh, dass er quatschte, denn ich hatte Hunger. Diese Art Vorspiel gestaltete sich bei ihm je nach Dringlichkeit seiner Anliegen kürzer oder länger. Seine Floskeln vom nachhaltigen Kapitalismus ließen mir Ruhe für den Döner. Seit fünf Jahren erhielt ich von ihm eine Vergütung in gedrosselter Höhe, dafür regelmäßig, selbst wenn keine Aufträge vorlagen. K2 hatte eine natürliche Abneigung gegen staatliche Organe. Umso wichtiger war ihm die konstruktive Beilegung von Konflikten bei außergerichtlichen Einigungen. Ich war seine Mediatorin. Die Rolle des Vermittlers erfordert hohe Ambiguitätstoleranz und interkulturelle Kompetenzen. Meine Methode folgt im weitesten Sinne der systemischen Therapie, setzt also auf Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten. Die vertraulichen Einzelsitzungen zur Konsensfindung leite ich mit einer Grundsatzfrage ein. Möchtest du Invalidenrente? Eine Win-win-Situation, besonders aufgrund der geringen Bürokratie.
Ich kaute und lauschte K2s mit Bedeutung angereicherten Sätzen. Nach und nach begriff ich, dass er über seine Stiftung redete.
Geheiligte Zwecke, die Steuervergünstigungen versprachen. Viele meiner Kunden traten mit bunten Klamotten, Rafting oder Kampfsport der Gravitation entgegen. Er hatte sich für subtilere Formen des Alterns entschieden. K2 trug ein Basecap der JPMorgan Chase, hatte sich ein paar Ehrenämter und ausgediente Rennpferde mit Leistungstrauma und Essstörung zugelegt, sponserte ein paar abgedrehte Klimaaktivisten und hörte frankoflämische Vokalpolyphonie. Musik, die sich vom Geschmack der Masse absetzte und gleichzeitig Todessehnsucht erzeugte.
Bewundernswert, was K2 neben dem Führen seines internationalen Lebensmittelkonzerns noch zuwege bringen konnte. Neben meinem Job schaffte ich gerade mal mein Training und ließ mich danach von Ricky flachlegen. Meine Tage endeten mit einem Fertiggericht und der Sleeping Meditation auf Spotify.
An diesem Sommerabend aß ich den fettigen Döner und konzentrierte mich auf die Zwischentöne in K2s Rede. Er führte Mundbewegungen eher in der Senkrechten aus als in der Waagerechten. Die Verschiebungen seiner Mundwinkel von oben nach unten gaben ihm das gefestigte Aussehen eines Nussknackers, zumal seine oberen Zähne größer erschienen als die unteren. Seine massige Erscheinung und die sedierte Mimik strahlten Dominanz aus. Zwischen den Zeilen hörte ich inneren Tumult.
»Ich bin gewohnt, Dinge anzupacken. Die Stiftung trägt meine Handschrift.«
Von seiner Stiftung hörte ich zum ersten Mal. Es handelte sich um eine transnationale NGO mit Hauptsitz in Frankfurt und Geschäftsleitung in einem Vorort von Zürich. Die Stiftung kümmerte sich um Jugendliche mit hundert Prozent multiplen Vermittlungshemmnissen, wie sich K2 ausdrückte. Sein Vater habe im Krieg ein Notabitur absolviert und sich zur Front gemeldet. Ein Großteil seines Vermögens widmete er daher den Berufschancen von Jugendlichen. Weltweit. Bei den Deutschen muss immer alles weltweit sein.
»Morgen ist der Social Day, an dem unsere Sponsoren ihre Mitarbeiter freistellen für ein soziales Event. Da kriegen Sie gleich einen Einblick. Hier ist die Adresse. Ich erwarte Sie um neun Uhr. Haben Sie ein klassisches Kostüm?«
»Ist das ein Auftrag?«, hatte ich ihn gefragt, obwohl mir durch den Kopf ging, was er unter Klassik versteht.
In seinem Gesicht erschienen spiegelgleiche Falten links und rechts neben der Brille. Er verunsicherte mich monatlich mit neuen Designerbrillen.
»Wir leben Sozialkompetenz, aber die Performance muss stimmen. Zurück zu Ihrer Frage, es ist ein Auftrag.«
Ich vertiefte mich in den Döner. Die sichelförmige Masse reichte bis zu meinen Ohren. Die Joghurtsauce lief in weißen Rinnen an meinem Kinn entlang, und das Kraut kühlte mein Gesicht. K2 redete umfassendes Blablabla, kam aber nicht zum Kern. Ich war mit dem Döner fertig und sah ihn mit einem Blick an, der konkretes Engagement hervorrief. Er räusperte sich nervös, griff zu einer forschen Stimmlage und versuchte sich an einem Kompliment.
»Wissen Sie, was ich an Ihnen mag? Sie sind empathisch. Sie haben Durchsetzungsvermögen. Menschen wie Sie, die nicht auffallen wollen, denen vertraut man mehr.«
K2 waren Basisdaten schnuppe. Ich hatte eine produktivere Einstellung zu Vertrauen; je weniger davon vorhanden ist, desto interessierter beobachtet man seine Umwelt. Was er Empathie nannte, war Kundenanalyse, und was ihm als durchsetzungsfähig erschien, war das Zertifikat von der Deutschen Sportakademie über meinem Schreibtisch. Die Bootcamp Instructor A-Lizenz. Ein wertloses Papier im Vergleich zu meinen Pokalen bei den Europäischen Muai-Thai-Meisterschaften. Die Instructor A-Lizenz war meine Fall-back-Position, falls ich genug haben sollte, die Dreckarbeit für andere zu machen.
K2s straff gezogenes Gesicht wirkte auseinandergefallen. Ich kenne meine Kunden mehr, als ihnen lieb ist. Gläserne Büros bieten Durchsicht, aber nicht Einsicht. Er brauchte mich dringender als je zuvor. Deswegen machte es mich auch nicht stutzig, als er mir plötzlich das Du anbot, kaum dass die Sonne weg war. Ich zuckte mit den Schultern, um meine Zustimmung zu bekunden. Ein Profi benimmt sich schlicht in Gegenwart des Kunden. K2 stand für Kunde 2 und nicht für Kumpel 2. Ich schluckte das untergejubelte Du wie eine miese Klausel im Vertrag.
Als er mit dem Schwarzgeld anfing, habe ich gelacht.
»Na klar, ich bin 38, eine Auszeit wäre fällig. Der Knast ist wie geschaffen dafür. Leider mit eingeschränktem Internetzugang. Aber auch ein Ort der Bemühung.«
»Ich habe alles geregelt. Falls du erwischt wirst, stellst du dich naiv.«
»Naiv? Ich trage Ringelsocken und habe zwei Zöpfe links und rechts?«
Das Schweigen daraufhin muss wohl tiefgründig ausgesehen haben. Business gleicht einem Kreuzworträtsel, bei dem man die Lücken nach endlosen Wiederholungen ganz mechanisch füllt. Ich knüllte die Alufolie vom Döner zur Kugel und beförderte sie mit flüssiger Wurfbewegung in den nächstgelegenen Papierkorb. K2 sah sich um, ob uns jemand zuhörte.
»Ihr tauscht im Duty-free die Tüten.«
»Holy shit. Können Sie mich nicht anders loswerden?«
»Wir waren doch beim Du.«
Er klang kumpelhaft wie ein Versicherungsvertreter, der Rückerstattung bei Weltuntergang vertickt.
»Du kaufst Pralinen, ihr unterhaltet euch, und dann nimmt er deine und du seine Tüte. Das Bargeld ist ein, nennen wir es Nebenjob, okay? Hauptsächlich geht es um die Stiftung.«
Das Saphirglas seiner Hentschel Hamburg Hafenmeister blitzte unter der Laterne, als er nach der Uhrzeit sah. Ich versuchte mich an dem Du.
»Deine Uhren wirken teuer, sag mir, sparst du bei der Steuer? Knittelvers, derb volkstümlich, bieder bis konservativ.«
K2 warf mir einen irritierten Blick zu, pendelte sich aber schnell bei dämlich ein und endete mit einem Fragezeichen. Zwischen uns passt kein Du, dachte ich. Duzen plus Schwarzgeldtransport, manchmal fühlte ich mich doch unterbezahlt. Die Laterne leuchtete sein Gesicht nur unzureichend aus. Seine verholzten Züge wirkten jetzt bockig.
»Um welchen Flughafen handelt es sich?«
K2 knallte mir eine abgegriffene kleine Zeitung auf den Schoß. 20 Minuten CH. Er tippte mit dem Zeigefinger auf einen kurzen Artikel. Überhöhte Reinigungskosten. Interni Stiftung nicht ganz sauber? Ein anonymer Beitrag in fünf Zeilen, der die ominösen Reinigungskosten in der Schweizer Zweigstelle der Interni beschrieb. So viel Dreck könne gar nicht da sein, wie geputzt würde, endete der Artikel. Ich sah ihn fragend an.
»Bitte im Kostüm!«
Mehr sagte K2 nicht. Er nahm das Gratisblatt, stand abrupt auf und verabschiedete sich. Ich, im Rausch der Teilerkenntnisse, er zugedröhnt mit Optimismus. Er umarmte mich freundschaftlich. Seine Gürtelschnalle stempelte meinen Bauch.
Eine ruckartige Umarmung, die sich nach Verzweiflung anfühlte. Intensiv, als wäre es die letzte. Mein Brustwirbel veränderte seine Position, und ich atmete vier Stufen freier.
Dann rollte sein Taycan in die Dunkelheit. Soundgenerator an Bord gegen Aufpreis. Das Klangmodul imitierte ein herkömmliches Verbrennergeräusch mit einem Schuss Futuristik. Eine beruhigende Klanginstallation.
Mir klebten die Duftpartikel vom Rasierschaum am Gesicht.
K2 hinterließ bei mir ein dumpfes Gefühl von fluffigen Wellen, die sich vom Magen zum Kopf vorkämpften.
Ich ging zur Dönerbude zurück.
»Bei dem Menü fehlte das Dosengetränk.«
Der Besitzer reichte mir wortlos eine lauwarme Fanta. Ich fuhr zu Ricky, und wir vögelten zu Ende.
Am Morgen ging ich wie befohlen zu der von K2 angegebenen Adresse. Eine pompöse Villa in der Nähe der Banken, deren scharfe Konturen wie Glassplitter in den Himmel ragten. Kontrastarme Gestalten in Warnwesten, die kokett auf ihren Rollern in den Joballtag flüchteten. Hinter den Fassaden tausende Büros, die Zeit verwalteten und Hoffnung auf die Kaffeepause projizierten. Das Kostüm bremste mich bei größeren Schritten, fügte sich aber ins allgemeine Bild.
»Interni International« stand auf dem Kupferschild an der Gründerzeitvilla. Als ich die frisch renovierte Einrichtung betrat, dachte ich zuerst an Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung. Zwanzig Männer saßen an Schulbänken, angeordnet im Quadrat, und bastelten mit bunten Flicken. Ich konnte mir keinen Reim auf die Situation machen, bis mir K2 die Männer mit den farblich differenzierten Ralph-Lauren-Shirts als Mitarbeiter der Telekom vorstellte, denen man den Social Day verordnet hatte. Auf dem Samsung-Touchdisplay stand in großen Lettern WIR HELFEN. IHRE TELEKOM.
Männer, die offensichtlich die Abläufe nicht beherrschten, absolvierten den Social Day. Ein Dreihundertfünfundsechzigstel für Soziales.
Ich sah auf die schlecht genähten Gebilde aus Filz und Fransen.
»Das sind Puppen für Flüchtlingskinder«, sagte K2.
»Sozialtarif für Highspeed-Internet wäre besser«, raunte ich K2 zu. Er verzog keine Miene.
Fotos im Flur präsentierten lachende Jugendliche mit viel blauem Himmel dahinter. Die Headlines unterschieden sich in nichts von denen in einem Bible Camp. Wir für Alle. Gemeinsame Werte. One world. Wir gingen den Gang entlang der Schlagworte, wie ich sie nur von Wirtschaftspsychologen und Waldorfschülern kannte. Es war Punkt neun Uhr. Ich notierte mir das als Arbeitsbeginn. K2 war ziemlich enthusiastisch, wenn es um korrekte Abrechnungen ging.
Er wurde von dem Standortleiter begrüßt, so eine Art Leitbildschmock, Beweis für gelungene Integration, einer, der mit angereicherter Muskelmasse und Tattoos seinen Führungsstil untermauerte, ein Typ mit abgezählten Augenbrauen, regelmäßig gepflegtem Vollbart und einem modern gemeinten Pferdeschwanz. Der Kerl hatte zwei Gesichter parat, ein unbewegliches Befehlsgesicht, mit dem er die Jugendlichen herumkommandierte, und ein gekünsteltes Intelligenzgesicht, mit dem er K2 beeindrucken wollte. K2 stellte mich als Mitarbeiterin im Family Office vor.
Die Erwähnung seiner privaten Vermögensverwaltung hatte schlagartig Stille ausgelöst. Eine mystische Erhabenheit, wie sie nur ein Privatvermögen erzeugt, das bei 300 Millionen beginnt und bei unaussprechlichen Zahlen endet. Jetzt verstand ich das Kostüm.
Das Pferdeschwanzgesicht gab K2 die Cashflow-Analyse der letzten Monate und steigerte sich in akkurate Phrasen, die vor Optimismus nur so trieften.
Wir werden, wir werden, wir werden.
Der übermäßige Gebrauch des Futur 1 im Hauptsatzformat ging mir allmählich auf den Nerv, ebenso K2s Sätze, die sich programmatisch anhörten, weil sie mit WIR MÜSSEN anfingen, beruhigte mich aber mit dem Gedanken, dass man ein monetäres Überangebot auf schlimmere Weise vernichten könne als in einem Hilfswerk.
Vor der Eingangstür studierte eine Gruppe Jugendlicher eingehend die Felgen und den Heckspoiler des Taycans. Der Taycan war K2s aktiver Beitrag zum Klimaschutz. Der E-Motor galt als Ablasszettel für seine 13 stinkenden Oldtimer.
»Dieser Blödmann da oben hätte die internationalen Jahresberichte durchgehen sollen, aber offensichtlich geht er mit dem Kamm gerade mal seine Haare durch. Kaufmännisch eine Niete. Ich frage mich, ob seine Leute in der Buchhaltung nichts tun, als die Ablage zu organisieren. Ich hatte explizit gebeten, die Berichte der Standorte durchzusehen.«
»Dachte immer, Bürokratie bedeutet, Stellen schaffen, an denen Unfähige nicht so viel Schaden anrichten können.«
K2 schien darüber nachzudenken.
»Ich müsste diesen Idioten rauswerfen, aber er hat alles, wofür die Stiftung steht. Migrationshintergrund, zweiter Bildungsweg, schwul, nur eine Frau wäre noch besser. Aber man kann nicht die Kuh, das Fleisch und die Milch haben.«
Wir setzten uns in den Porsche. Die Jugendlichen blieben stehen und machten dreckige Witze. K2 betätigte die Zentralverriegelung und fiel über die Ordner her. Sein Gesicht ähnelte einer Vogelart auf Beutezug. Das war seine Welt. Eine Gleichung so lange umformen, bis die Variable isoliert ist. Offensichtlich hatte er vergessen, dass ich noch im Auto saß. Eine Rechnung, die K2 der Stiftung für ein Referat ausgestellt hatte, segelte auf den Econyl®-Boden. Sein Referat hatte den vielversprechenden Titel »Das Geschlecht der Führung«. Ich spürte, wie ich nach plumpen Passivsätzen suchte, um das Duzen zu vermeiden.
»20000 Euro für ein Referat? Wird das eine Selbstanzeige?«
»Bildung ist das Wichtigste für eine blühende Volkswirtschaft«, zischte er durch seine Zähne, die mich an Maiskörner erinnerten.
K2 nahm mir unsanft das Papier aus der Hand und hing sein Gesicht wieder in die Ordner. Es vergingen Minuten, in denen nichts passierte. Die Zeit tickte weg, gefüllt mit warmer Luft, die nach neuem Auto roch.
Zeit, die unverbraucht durch die Lappen ging. Ein scharfer Stich in Richtung Möse entnervte mich. Ich rückte meinen Slip zurecht, aber es half nichts.
»Fahren wir?«
K2 schüttelte den Kopf und las weiter. Ich dachte über Erhöhung meines Honorars nach. Als hätte er meine Gedanken gelesen, richtete er seine Augen wie Geschütze auf mich.
»Du musst für mich nach Zürich.«
»In Zürcher Zünften zweifelt Zwingli schwitzend am Zölibat. Zwingli zwickt Zürcher Zicken bis Zürcher Zicken zwicken. Zärtlich zählen Zürcher Zicken ...«
»Hast du getrunken?«
»Leider nicht. Ist Gesichtsgymnastik. Das lockert auf.«
Ich hatte null Bock auf die Schweiz. Mein Peyote würde in den nächsten zwei Wochen blühen, und ich wollte die Kaktusblüten sehen, bevor ich ihn zerschneide. Meskalin lässt einen mit einem angenehmen angstfreien Optimismus zurück. Ich hatte drei Jahre auf diesen Moment gewartet.
»Du musst zu Karnofsky.«
»Ich bin ausgebucht.«
»Doppeltes Honorar. Professionelles Sponsoring für deinen Club.«
Er grinste wie ein von Kindern bemalter Hydrant und sprühte in der nächsten Sekunde wieder Spucke über das Papier.
»Hier sind mehrere Hunderttausend Franken Spendengelder für externe Berater und Dienstleistungen ausgegeben, die ich absolut nicht nachvollziehen kann, drei Wochen Managementseminar unter der Rubrik ›Transformation in die Digitalisierung‹.«
»Man bildet sich.«
K2 sah aus, als hätte man ihm Hieroglyphen auf die Armatur geschmiert.
»Im Riffelalp-Ressort in der Skisaison, Frühbucherpreise ab 600 Franken pro Nacht? Warum nicht gleich das Emirates Palace in Abu Dhabi«, sagte K2 und schleifte seine World Elite Mastercard über das weiße Papier.
Seltsam, dass er an der Riffelalp hängenblieb. Ich besaß Ehrfurcht vor großen Zahlen, daher löste die Zehn-Millionen-Spende, die ich bei einem kurzen Schulterblick in den Ordner entdeckt hatte, tiefes Misstrauen aus.
»Hier werden 15000 Franken ausgegeben für eine juristische Beratung in Sachen Compliance bei einem Stundensatz von 1500 Franken. Wir sind doch nicht die Deutsche Bank. Das ist ein Hilfswerk, verdammt nochmal. Der Schweizer Geschäftsführer Branko Tadić erhält eine Bonuszahlung. Bonus wofür? Dass er noch mehr Opfer entdeckt? Eine Baufirma namens Compieto gewährt der Stiftung ein hochverzinstes Darlehen mit acht Prozent. Acht Prozent. Unterschrieben von Tadić. Das Beste kommt noch. Tadić geht nicht ans Telefon.«
K2 redete wie ein Schiffbrüchiger nach zehn Wochen in der prallen Sonne. In ihm vibrierte eine tiefliegende Wut, die ihm die Haut fleckte. Seine Augen flirrten panisch umher. Ich beruhigte ihn, was die Riffelalp betraf.
»Angestellte fühlen sich besser, wenn sie Toilettenpapier klauen.«
K2 rastete aus.
»Für kleinere Diebstähle haben wir bei uns in der Firma Kameras aufgestellt. Was die Interni Schweiz betrifft, handelt es sich um Toilettenpapier mit einer Goldkante. Mit der Bilanz stimmt was nicht.«
»Menschen tendieren zu Fehlerfreundlichkeit.«
K2 flippte jetzt völlig aus, klappte pathetisch den Ordner zu, hievte seine Stimme nach oben, war vielleicht irritiert von meinen bizarren Satzkonstruktionen.
»Dieser Rapport sieht für mich gespenstisch glatt aus. Der Verschleiß an Geschäftsführern ist alarmierend. Herrgott, die wechseln mit der Umstellung auf Sommer und Winterzeit. Ich habe keine Lust, dass mir die Schweizer Staatsanwaltschaft auf den Sack geht in Kombination mit dem deutschen Finanzamt. Ich bin nicht auf der Suche nach Präsenz. Ich habe hart gearbeitet. Das Ergebnis sind Profit und Neider. In meinem Geschäft sehe ich mich tagtäglich konfrontiert mit Anschuldigungen, da brauche ich nicht noch Fokus auf meine Social Responsibility, verstanden? Ich weiß, wohin so was führt. Ein Streit beginnt, Anwälte verhelfen dazu, die Sache richtig groß zu machen. Statt dass die Leute danke sagen, dass man sein Geld für wohltätige Zwecke verschwendet, zieht einen die Presse in den Dreck.«
K2 kippte in die andere Richtung, starrte resigniert auf den Ordner. Der Schweiß auf seiner Stirn formatierte sein Gesicht neu. Im Wagen war es brüllend heiß.
Ich betätigte den Knopf für das Schiebedach. Der Wagen gab portionsweise den Himmel frei. Durchdringendes Blau und Straßenlärm. Ein Tropfen löste sich von K2s Stirn und fiel mit einem Blub auf das Papier.
K2 drehte sich zu mir. Seine Augen blickten mich an wie festgefroren.
»Zwei Geschäftsführer haben noch in der Probezeit gekündigt, einer hat sich nicht mal abgemeldet, ist spurlos verschwunden. Das ist doch kein Schweizer Stil. Nur nebenbei, die Bezahlung ist höher als bei der Stiftung Naturschutz, es gibt einen Dienstwagen, Visitenkarten, kein Haftungsrisiko, keinen Innovationsdruck, keinen Wettbewerbsdruck, keinen Fachkräftemangel, keine Liquiditätsprobleme, kein Supply-Chain-Management. So ein Job ist weiß Gott nicht prädestiniert für ein Burnout. Tadić hätte mich sofort informieren müssen, stattdessen hat mir eine Exfreundin das Gratisblatt geschickt mit einer Persil-Kapsel. Tiefenrein für eine saubere Welt. Sollte witzig sein. Eine Journalistencanaille verwirklicht sich in einem Gratisblatt, lächerlich.«
Sein Blick versteifte sich auf die Armatur. Er hielt das Lenkrad wie ein Dummie beim Crashtest. Mein nächster Kunde war ein Zwangsneurotiker mit Hang zur Pünktlichkeit, für den das Leben eine konstante Einsatzübung darstellte. Leute von der Sorte, die ihre Rechte kennen. Ich wedelte mit meiner linken Hand wie ein Scheibenwischer vor seinem Gesicht herum.
»Mein nächster Klient wartet.«
K2 schreckte auf und fasste meine beiden Handgelenke wie bei der Shihō-Nage-Wurftechnik.
Die scharfen Kanten seiner Fingernägel gruben sich in meine Haut. Die Welt hatte ihm neue Tatsachen vor die Füße geschmissen, und nun suchte er Antworten auf Fragen, die er sich nie gestellt hätte.
»Die reißen mich mit runter. Verstehst du das? Die Medien warten nur auf den Unfall, die Panne, den Supergau. Ich habe keine Lust, mir von moralischer Überheblichkeit meine Erfolgsquote ruinieren zu lassen. Die Leute lieben Enthüllungen, aber während ein Krimineller in das Resozialisierungsprogramm kommt, sprich eine Chance bekommt, bist du bei einer Enthüllung draußen für immer. Man wird heute für geringere Dinge kaltgemacht. Du musst herauskriegen, was da läuft, bevor es andere tun. Kapiert? Wenn da was schiefläuft, dann will ich derjenige sein, der den Helden spielt. Ich bin kein Sündenbock für Amateure.«
Besitz bedeutet Ammenschlaf. Aufwachen, wenn das eigene Baby schreit.
Ich schnallte immer noch nicht, worauf er hinauswollte. Herauskriegen, was da läuft, war ein Auftrag von unbestimmter Natur. Aber er war ein Kunde, dem es galt, Aufmerksamkeit zu schenken. Kunden bestätigt man besser die rosige Zukunft im Hier und Jetzt. Für Kunden konstruiert man das Problem und die Lösung. Ich hatte schon immer ein Faible für Produktentwicklung. Also blieb ich in der albernen Position sitzen. K2 hielt meine Armgelenke, als wollte er mir zeigen, wo er es am liebsten hat. Ein Schamgefühl ist ein Luxus, den es zu bewahren gilt, dachte ich und schlug meinen dienstlichen Ton an.
»Könnte das von einem Mitarbeiter lanciert sein?«
K2 ließ meine Handgelenke los. Seine Selbstachtung hatte sich verpisst. Raum, um mit ihm zu reden.
»Ich knöpf mir die Bilanzen vor.«
»Neeenene, du knöpfst dir Tadić vor. Und wir hängen es nicht an die große Glocke. Offiziell bist du meine neue Mitarbeiterin im Family Office und ehrenamtlich für die Stiftung tätig. Du vergibst ein Stipendium für einen Teilnehmer aus dem Programm, Deutsch als Fremdsprache und so. Inoffiziell guckst du dich gleichzeitig bei Karnofsky um. Ich vertrau auf deinen Instinkt. Karnofsky ist mit mir im Vorstand der Stiftung. Ansonsten regelt er meine Finanzgeschäfte in der Schweiz.«
K2 machte ein Gesicht, als würde er gerade mit einem Holzbesteck eine Leiche zersägen, unfähig, Struktur in das Geschehen zu bekommen.
»Ich will es vorsichtig angehen, es ist viel zu auffällig, wenn ich Karnofsky besuche«, sagte er, als ich ihn fragte, warum er nicht selbst fliegt. Bevor er die Wirtschaftsprüfer alarmieren und die Sache ungewollte Dimensionen annehmen würde, bräuchte er mehr Informationen. Dafür sei ich genau die Richtige. Schon allein wegen des Bargelds. Er sah mich mit einem Hundeblick an und schob noch ein paar schmierige Komplimente hinterher.
»Wir haben wichtige Strategiewechsel in der Branche, der ganze vegane Wahnsinn, da muss ich proaktiv den Sale fördern«, sagte er.
Annehmen oder ablehnen. Mehr gibt es für uns nicht.
Ich sagte zu.
K2 aktivierte umgehend den Voice Pilot mit dem trockenen Befehl HEY PORSCHE. Wir mögen Neues. Daher unsere Eile. Seine Sekretärin meldete sich, und er ordnete einen Hin- und Rückflug nach Zürich für mich an und bat sie, mich bei Karnofsky anzukündigen.
»Ich lasse dich noch heute auf der Website der Interni als Verantwortliche für Begabtenförderung eintragen.«
»Was mache ich mit meiner Website?«
»Wir ändern deinen Namen. Für die Interni bist du Evelina Klein. Wenn du nicht gerade deinen Pass oder dein Ticket herumliegen lässt, wer sollte dann an Evelina Klein zweifeln? Es ist doch gerade angesagt, sich jeden Tag neu zu erfinden.«
»Ich existiere gar nicht, ich habe mich nur erfunden, genial.«
K2 war völlig von seinen eigenen Gedanken überwältigt. Mein Zynismus klang für ihn wie ein Kompliment. Er lächelte mich an, als hätte er gerade den Titel für einen Bestseller gebastelt. Ich muss gestehen, Fantasie hatte ich ihm nicht zugetraut. Woher hatte er diesen Namen? Ich nahm mir vor, einen nichtssagenden Instagram-Account für Evelina Klein anzulegen, nur für alle Fälle, auf dem ich ein paar Sportbilder posten wollte, um meine neue Identität zu bekräftigen. Vorsichtshalber würde ich für Evelina Klein nur Bilder ohne Gesicht verwenden. Bilder mit mehr Arsch und ein paar Proteinshakes, Acai-Bowls und Trimm-dich-Pfaden. Heute stellt man sich vor, und sofort fummeln die Leute an ihrem Handy rum, um festzustellen, ob man wirklich lebt.
»Was muss ich über Karnofsky wissen?«
»Karnofsky? Er ist Amerikaner, und was soll ich dir sagen? Er hat Cola Zero unter den Bankern salonfähig gemacht. Scherz. Wir sind enge Partner, seit er die Crédit Suisse noch rechtzeitig verlassen hat. Danach hat er seine eigene Finanzberatung gegründet. Die Quasar Capital Focus. Karnofsky ist ein Finanzgenie. Die Aktienrendite sagt mehr, als sein Gesicht jemals sagen könnte. Mein Vater hatte ihn beim Golfen in Florida getroffen und für den Vorstand der Interni vorgeschlagen.«
»Klingt nach Vertrauen.«
»Ich sage nicht, dass ich ihm vertraue. Ich sage, Kontrolle ist besser. Kennst du dich mit Vermögensaufteilung und Börse aus?«
Ich nickte.
»Okay. Hier sind ein paar Unterlagen zum Einlesen, herzlichen Glückwunsch und willkommen bei den Interni und im Wellinghofen Family Office.«
Die Aussicht auf eine Lösung seines Problems weckte in ihm Lebenskräfte. K2 sah mich an, als hätte er mir gerade das Bundesverdienstkreuz überreicht.
»Eve Klein klingt doch gut, oder?«
»Klingt nach einer Striptease-Tänzerin, die Jesus in ihr Leben gelassen hat, und ihre Knorpelschäden an den Kniegelenken sind verschwunden.«
K2 lachte mit dem Gesicht eines wiehernden Pferdes.
»Arm und Reich. Vor Gott sind alle gleich«, sagte er.
K2 klang wie der Verkünder der Zehn Gebote, der bereits beim Vorlesen merkt, dass die Leute zu dumm sind oder irgendwas fehlt.
»Stiftungen sind doch verpflichtet, einen Bericht über die Erfüllung der Stiftungszwecke bei der Aufsichtsbehörde einzureichen?«
K2 lachte auf.
»In der Schweiz sind 14000 Stiftungen registriert. Bei der Eidgenössischen Stiftungsaufsicht teilen sich 22 Mitarbeiter 18 Vollzeitstellen. Da könnte ich meine Pferde als Personalkosten einreichen und meinen 300 SLR Uhlenhaut als Dienstwagen angeben.«
Er sah mich an mit einer Mischung aus Schirmherrn und Vergewaltiger, gewürzt mit einer Portion Welterklärung.
»Hör mal«, fuhr er fort, »ich mag deine Antimode.«
»Das Kostüm war nicht meine Idee.«
»Ich meine diese Olympia-Outfits, die du sonst so trägst. Für die Schweiz brauchst du einen schlichten Hosenanzug und etwas Festliches für das Event. Immerhin bist du für Karnofsky eine Bankerin.«
Das Wort Event hörte sich für mich funzlig beleuchtet an. Die Schweiz war ein Land lebendiger Bräuche und kryptischer Kommunikation in schwer zugänglichen Gebirgsregionen. Beides addiert bedeutete voraussichtlich Jodeln und Alphorn. Ich sah dem Herumschnüffeln in frischer Luft pessimistisch entgegen.
K2 tippte auf den 10,9 Zoll großen Touchscreen für das Infotainmentsystem, das eine vollständige Integration von Apple Music bot. Er sah aus, als wolle er zum gemütlichen Teil übergehen. Die Renaissancemusik hatte die Wehmut verstimmter Instrumente, dazwischen fröhliche Pfeifen, die mich unweigerlich an die Pest denken ließen. K2 fuhr sich mit dem Zeigefinger wie ein Metronom vor der Nase herum, als müsste er um jeden Preis das Tempo halten.
»Mit dem Bargeld kaufst du ein Kunstwerk in Zürich.«
Ich habe laut gelacht.
K2 sah mich an, als hätte er zum ersten Mal menschliches Gelächter gehört. In seinen Augen zappelten die Pupillen, was eindeutig für den Verlust von Selbstregie sprach. Ein typisches Syndrom bei Stress, wenn die Alles-oder-nichts-Phase beginnt. Eine Gemütslage, die keine Facetten mehr kennt.
»Irgendwas, was gut zu mir passt, etwas Repräsentatives, das im Hintergrund zu sehen ist, wenn ich für die neue Imagekampagne fotografiert werde. Karnofsky kennt eine Galeristin, die nur Zeug hat, was noch steigt. Die altbackenen Chagalls von meinem Vater taugen doch nur noch für Auktionen.«
Mir kam es plötzlich so vor, als wären wir alle Dilettanten, die sich gegenseitig Erfolg vorspielen. Eine Art Staffellauf von einem Kompromiss zum nächsten.
»Ich habe null Plan, was Kunst betrifft.«
»Du machst das. Übrigens, Karnofsky ist mit einer Russin verheiratet, aber sprich sie nicht darauf an, verstanden? Als sie mit 20 in die Schweiz kam, war sie gerade zur Miss Intercontinental gewählt worden. Ich habe ein Foto von ihr gesehen. Hui. Sie ist verantwortlich für die Pressearbeit bei den Interni. Mein Vater war begeistert von ihr, hat ihr heimlich für ihre Artikel Ohrringe von Bulgari geschickt. Wer weiß, was noch. Na ja, es waren die letzten Geschenke, die er einer Frau gemacht hat. Als wir beide merkten, dass er es nicht mehr schafft, hat er mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich um die Stiftung kümmere. Also, ich will Fakten. Fakten!«
K2 lief zu Fröhlichkeit auf. Auf eine Seite sehen, hinterlässt die andere dunkel.
»Noch was.«
Er drehte sich zu mir, sah mir tief in die Augen und nahm meine Hände. Die Situation war zunehmend mit Bedeutung unterlegt. Sie kippte förmlich ins Pathetische.
»Ich vertraue dir.«
Das hätte mich stutzig machen sollen, aber wenn ich anfangen würde, Kunden zu interpretieren, wäre ich pleite.
»Wenn du eingecheckt bist, kaufst du im Duty-free eine Schachtel Ferrero Rocher, die Travel-Edition. Dann stellst du die Tüte auf den Boden und guckst dir das Alkoholregal an. Jemand wird dir sagen, dass es Licor 43 im Angebot gibt. Du fragst ihn daraufhin, ob das der mit dem undefinierbaren Geschmack ist. Und er sagt, der mit den 43 geheimen Zutaten für goldene Momente. Du nimmst seine Duty-free-Tüte. Er deine. Das wars.«
»Clever«, sagte ich, und er fühlte sich geschmeichelt. Der älteste Trick – lass die anderen glauben, dass sie gewitzt sind.
»Und die Zollkontrolle?«
»Du bist doch Schengen-Passagier.«
»Das erspart nicht die Zollkontrolle. Wie viel ist es?«
»100000 Schweizer Franken.«
Ich schluckte. Wenigstens hatte diese Summe kein räumliches Volumen. 100 Scheine. Die neue 1000er-Banknote ist violett, klein und zeigt einen Händedruck, möglicherweise als Symbol für Begrüßung und Verabschiedung.
»Scheitern ist für mich keine Option«, sagte K2.
Unser Defekt – die Perspektive des Siegers.
»Das Bargeld ist ein persönlicher Gefallen«, fügte er hinzu.
»Das kostet extra«, sagte ich.
K2 sah mich an, als hätte ich ihn hypnotisiert.
»Absolut verständlich. Das nenne ich Partnerschaft auf Augenhöhe. Verbindlichkeiten muss man immer von beiden Seiten betrachten. Dienstreisen bei vollem Tagessatz, also nimm dir von dem Bargeld 500 Franken, da kannst du noch die Berge genießen, ach, was sag ich, 650 für die Spesen. Frauen mögen doch Kosmetik und Klamotten.«
Er sah mir verschwörerisch in die Augen, als hätte er das endgültige Geheimnis der Geschlechter geknackt, ließ die Aircondition zur Hochform auflaufen und erklärte mir die Zahlen auf der Spendenliste. Ein kurzer Blick genügte.
Saisonale Newsletter vor den Feiertagen, und die Leute stürzen sich ins Online-Banking als Ausflug in die Menschlichkeit.
»Wer bucht das Hotel?«
»Hotel? Nein. Du übernachtest bei Karnofsky.«
K2 wiegelte meinen Protest gegen die private Übernachtung ab. Ich hasste es, privat zu übernachten, wie ich es nicht sonderlich schätzte, Gäste zu haben. Leute, die vor dem Bücherregal stehen und dumme Fragen stellen. Offen für Neues. Damit hatte K2 seinen Auftrag untermauert. Er selbst pflegte den wärmenden Hang zum Bewährten.
Es war 14 Uhr, als er heimfuhr zu seinen Visionen. Ich ließ mir die Bilanzen senden, benutzte für dubiose Stellen den Highlighter, verschlüsselte die Datei mit Passwort und sendete ihm eine Rechnung für die Orientierungsphase.
Es war Freitag, als ich nach Zürich flog.
Die Medusa über dem Eingang war aus grobporigem Stein mit Taubenkacke im Schlangenhaar. Die Zeit hatte ihr im Gesicht herumgefuhrwerkt. Sie schien erschöpft wie der Rest des Hauses am See.
Karnofskys Haus.
Unter der Medusa eine hohe Eichentür mit einem abgegriffenen Eisenring.
Sechs Northrop F-5E Tiger II der Patrouille Suisse flogen ein Kreuz in den Himmel, der sich scheinbar senkte. Eine miese Hitze. Im Osten stapelten sich die Berge. Je länger ich hinsah, desto näher kamen sie. Es herrschte Föhn. Ich nahm die Ceftriaxon gegen den Tripper. Fünf Tage, morgens und abends.
Zwei Stunden zuvor war ich in Kloten gelandet. Die Schachtel mit dem Bargeld befand sich in einer verplombten Plastiktüte vom Duty-free, die ich übersichtlich neben meiner Reisetasche trug. Vor dem Einreiseschalter kündigte sich Kopfschmerz an. Schuld war der Nachbar, der mich mit einer schmierigen Anmache genervt hatte. Meine Antwort war Wodka gewesen. Jetzt würgte ich trocken eine Schmerztablette runter. Ratiopharm versus billigen Schnaps.
Um mich herum versprachen Displays Banking ohne Bullshit. Der Beamte hatte mich gehaltvoll angesehen, ich hatte ihm ein progressives Grüezi geboten. Alles war glattgelaufen, bis ich mein Handy einschaltete. Zwei Nachrichten. Eine von Ricky und eine von K2.
Tadić ist tot. ?????
Er hatte diese Nachricht mit fünf Fragezeichen ausgeschmückt. Ich probierte K2 zu erreichen, aber er ging verdammt nochmal nicht ans Telefon. Ich stieg am Hauptbahnhof für das letzte Stück in ein Taxi.
In dem Vorort herrschte ein nicht enden wollender Verkehr. Der Stau rollte wie Lava auf das Wochenende zu.
Häuser ohne Makel.