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Luna Moon, die mit extremer Kunst zwischen Porno, Avantgarde und Jetset Furore macht, wird in der Frankfurter Wohnung ihrer Halbschwester Sonja Slanski ermordet aufgefunden. Für Slanski steht fest, dass sie selbst das eigentliche Ziel war, denn mit ihrer Inkassofirma hat sie schon so manche halbseidene Karriere beendet …
Außerdem geht Slanski dem Auftrag einer undurchsichtigen Society-Lady nach: Sie soll eine hochkriminelle Anwaltskanzlei ruinieren, egal, mit welchen Mitteln, da diese ihre Klientin um ein Patent betrogen haben soll. Slanski erledigt diesen Job ziemlich gründlich, wohl wissend, dass ihre Klientin die Ehefrau ihres Gelegenheitslovers ist …
Sibylle Ruges unkonventionelles und glänzend geschriebenes Debüt ist messerscharfer Hard-Boiled-Thriller, intelligente Sozialkritik und vor allem beste Unterhaltung.
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Seitenzahl: 317
Sybille Ruge
Davenport 160×90
Roman
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5243.
Erste Auflage 2022suhrkamp taschenbuch 5243Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
Umschlagfoto: Miguel Sobreira / plainpicture
eISBN 978-3-518-77272-0
www.suhrkamp.de
Davenport 160×90
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Davenport 160×90
Informationen zum Buch
Meister, hör die Geister
die wir riefen.
In die Ecke mit dem Zweifel.
Sei’s gewesen
gibt es einen Besen
für die Scherben
die wir hinterließen
Meinen Vater lernte ich auf seiner Beerdigung kennen. Seine Auslöschung hatte bereits zu Lebzeiten stattgefunden. Die Gründe dafür sind mir unbekannt geblieben. Meine Mutter hatte sechs Wochen zuvor, kurz vor ihrem Tod, erstmals seinen Namen erwähnt. Nachdem die Asche meiner Mutter versenkt worden war, wollte ich das Familiending liquidieren. Mit 35 sollte man das in irgendeiner Weise geschafft haben, dachte ich. Beruflich hatte ich gerade eine mittlere Flaute, und so machte ich mich auf die Suche nach dem Mann, dessen X-Chromosom ich besaß.
Verglichen mit meinen anderen Jobs schien die Akte ICH schnell erledigt. Die erstbeste Verlinkung meines Geburtsortes mit dem Namen meines biologischen Vaters führte mich zu seinem Bruder, der mir gleich zu Beginn unseres Telefonats klarmachte, dass meinem Vater nur noch wenig Zeit bliebe. Von einem Besuch im Krankenhaus riet er mir ab.
Sieben Tage später standen wir vor Granitblöcken aus China, und mein neuer Onkel zeigte mir den Platz, wo mein Vater von nun an ruhen sollte.
Danach gingen wir in den nahe gelegenen Biergarten einer romantischen Burg im Spessart. Eine stechende Aprilsonne über weißen Stühlen aus Plastik.
Ich trug High Heels und hatte schon beim Gang über den Friedhof Blasen an den Füßen. Ich wusste einfach nicht, wie ich sonst dem Besonderen der Situation entsprechen sollte. Die Schuhe hatte ich bereits bei der Urnenübergabe meiner Mutter an. Aber dieses Mal war das schwarze Lackleder auf der Stelle verstaubt vom Kies. Tanktop und Jogginghose in Schwarz waren sorgsam gewählt. Hauptsache billig. Schwarz für eine Waise. Touristen starrten mich an. Die Männer auf meinen Arsch, die Frauen auf den Chanel-Rucksack.
Mein neuer Onkel sah unendlich lang auf den Plastiktisch. Ihm fehlten die Worte, mir die Fragen, vor uns die unumkehrbare Vergangenheit. Und so sanken wir dumpf in ein wortloses Nebeneinander. Irgendwann begann schleppend eine Art Gespräch, in dem nach langen Pausen immer wieder dasselbe gesagt wird. Die Künstlichkeit der Situation war überwältigend.
Der Onkel holte einen Briefumschlag aus seiner Lederjacke. In dem Umschlag war ein vergilbtes Foto. Auf dem Foto war meine Mutter in Weiß und ein Mann, mit dem mich nichts verband.
In meinem Kopf wühlte ich die Karteikarten angebrachter Emotionen durch, aber keines der gelisteten Gefühle taugte etwas. Ich wollte gehen. Wenn jemand an einem Freitag stirbt, sagte der neue Onkel, gibt es weitere Leichen. Alle Wochentage ziehen Leichen nach sich, dachte ich. Zwei Beerdigungen in kurzer Folge und vergebliches Warten auf einen Heizungsmonteur, mein Leben war ohnehin in einer Schieflage.
Der Onkel erkundigte sich nach dem fremdländischen Klang meines Namens.
Slanski.
Der Name, den ich aus einer Ehe mitgebracht hatte.
Ein Intermezzo während des Studiums. Ein Steuersparmodell. Eine Krankenversicherung für die Abtreibung. Und 95% Überzeugung, dass man den Staat an seiner schwachen Stelle packen muss.
Ich verzichte seit dieser Zeit auf alles, was nur im Entferntesten nach Vertrag aussieht. Ich treffe Vereinbarungen, bei denen ich jederzeit aussteigen kann.
Den Namen habe ich behalten, weil er gut in den Blocksatz meiner Website passt.
Mein neuer Onkel zog eine Kamera aus seiner Jacke und gab sie dem Fremden neben uns.
Wir stellten uns vor der Burg auf. Grobmotorisch wie alles Deutsche. World of Warcraft. Weitermachen. In meinem Kopf schepperten Einzelteile einer untersagten Vergangenheit herum. Ich erfüllte mit dem erstarrten Lächeln einer Geisha alle Kriterien einer Fotocollage.
Losheulen. Das wäre jetzt passend gewesen. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und sah nach oben. Am Himmel formierten sich die Vögel. Um mich herum das deutsche Wald- und-Auen-Programm.
Die Idylle oder das Desinteresse an Familiengeschichten veranlassten mich, konstant auf die Burg-Uhr zu schauen. Ich hatte ohnehin einen starken Drang, mich in keinem Szenario länger aufzuhalten.
Mein Studium hatte ich so gewählt, dass ich ohne allzu viel Anwesenheit gut durchkam und Raum für die Welt ohne die anderen blieb. Zwei Monate vor dem Master in Soziologie habe ich abgebrochen. Ich hatte nicht die geringste Lust auf einen geregelten Job unterhalb einer mittelmäßigen Chefetage.
Ich wollte auch nicht den intellektuellen Deppen spielen, der theoretische Grundlagen für Wachstum und Profit generiert. Ich wollte meine Ruhe. Man muss mit dem Geld machen, was einem der liebe Gott geschenkt hat. Bei mir war es das sichere Gefühl für den Schlussstrich.
In meinem Büro genoss ich Freiheit.
Ich hatte Klienten, die mir mein Honorar über den Schreibtisch reichten, die mir die Reisen bezahlten und die ich sitzenlassen konnte, wenn sie mich nervten. Das Büro bewahrte mich vor dem sogenannten Kollektiv. Wenn ich meiner Mutter etwas zu verdanken habe, dann ist es diese beängstigende Beherrschtheit, eine Coolness, mit der ich geringste Vibrationen kaschieren kann. In meinem Job hilft das.
Ich fingerte unauffällig nach meinem Handy. Zeit, die Veranstaltung im Biergarten zu beenden. Ich hatte einen Kundentermin. Letztendlich lässt sich alles mit einem Kundentermin entschuldigen. In der Welt der Ware-/Geld-Beziehung ist es Verrat, einen Kunden hängen zu lassen. Eine Lady mit eigenwilligem Akzent, die mir schon am Telefon auf die Nerven ging, aber jetzt war sie mir plötzlich wichtig. Sie hatte ihren Namen nicht genannt, wollte das Problem persönlich besprechen. Ihre Wortwahl war die der besseren Gesellschaft, angespannt und künstlich. Genau meine Zielgruppe. Ich brauche keine Namen, wenn die Bonität stimmt. Man will mich ruinieren, hatte sie gesagt. Ihre Geschichte klang falsch, ihre halben Sätze hatten mir den Magen umgedreht, aber abgemacht ist abgemacht. Irgendeinen Tick haben meine Kunden immer. Ich kann nicht warten, hatte sie gesagt. Ich denke, dass Sie mir helfen können. Ihre Sprachmelodie war exzentrisch. Vielleicht eine Störung nach einem Schädel-Hirn-Trauma, dachte ich. Alles hatte gegen sie gesprochen.
Ich sah angewidert auf die Bockwurstreklame neben dem vertrockneten Kuchen. Die Landschaft hinter mir ging einfach nicht vom Fleck. Ich wollte jetzt meine Traurigkeit besiegt haben. Ich wollte mich mit der Unschärfe der Ereignisse abfinden.
Da legte mein Onkel ein gelbes Mäppchen aus Kunstleder, das mein Vater bis zuletzt bei sich getragen hatte, auf den verklebten Tisch. Das Souvenir vom Nachttisch. Es enthielt drei Dinge.
Einen verdreckten Sanifair-Bon über 70 Cent, einzulösen an allen Autobahn-Raststätten, Bahnhöfen und Shopping-Centern.
Einen Taucherpass der Marine.
Ein Foto von einem Schiff namens »Eisvogel«.
Die drei Dinge gehörten nun mir.
Wir aßen Schokoladeneis und bemühten uns, nicht zu vertraut zu werden, auch wenn wir familiäre Herzlichkeit zeigten. Ich stimmte Besuchen zu, die nie stattfinden würden. Ich hasste Familienromane, dies hier würde keiner werden.
Dann stieg ich endlich in den Zug. Die sogenannte Landschaft rauschte an mir vorbei. Natur. Ha! Für mich gab es nichts Schöneres als eine solide betonierte Straße durch den Wald.
Der Mann im Zug mir gegenüber beobachtete mich seit zehn Minuten. Dann fragte er, ob ich was mit Medien zu tun hätte. Auch dieser Mensch blieb im statistischen Rahmen. Drei Minuten. Nach drei Minuten wird man in Deutschland nach dem Beruf gefragt.
Aber über meinen Job rede ich grundsätzlich nicht. Ich lege einfach meine Karte hin.
Vorne eine Telefonnummer, auf der Rückseite ein Wort.
FORDERUNGSMANAGEMENT
Ich erspüre treffsicher Aufträge, die Geld einbringen. Ich mache keine kostenlosen Offerten. Ich vermittle. Wenn man nach den Schuldnern sucht, geht man nicht von Redlichkeit aus.
Ware/Preis-Relation – das ist Sicherheit. Mein Tauschwert drückt sich in Geld aus.
Recherchen im Netz. Observierung mit der Kamera. Versicherungsbetrug. Ich nehme alles an. Ich führe die Gespräche mit den Schuldnern. Gier, Tricks und Falschaussagen. Private Insolvenz und Neugründung durch nahe Verwandte. Meine Kunden haben keine Zeit, die sogenannten Wohlverhaltensphasen abzuwarten.
Ich kürze für sie ab.
Wenn der Kuckuck an der Tür klebt, sind die Leute klein. Meistens liegt das Schwarzgeld im Handschuhfach oder in Plastiktüten auf dem Rücksitz.
Ich bin es, die mit den Schuldnern redet. Wenn es heikel wird, nehme ich einen der Jungs aus dem Verein mit. Die meisten von ihnen sind vorbestraft. Das ist der Grund, warum man ihnen die Drohung abnimmt. Mirko sieht aus wie ein Schrank, und er ist ein Schrank. Ein Schrank, in dem alles verschlossen wurde. Sein Gesicht kommt ohne weiche Züge aus. Er hatte den Krieg im Kosovo überlebt, warum sollte er Deutschland fürchten. Für meine Jobs brauche ich Gesichter, die nicht auseinanderbrechen, wenn es gefährlich wird.
Ich lasse ein paar angsteinflößende Paragraphen fallen, male düstere Konsequenzen aus, Mirko schweigt. Wir sind ein gutes Team. Ich war es gewohnt, nach den Autoschlüsseln zu suchen, während er mit den Schuldnern auf dem Sofa sitzt. Manchmal liegt das Bargeld in einer Packung Erbsen im Gefrierfach. Mein Juristen-Chinesisch ist qualifiziert, aber Mirko erspart mir das Gesülze. Die Voraussetzungen für diesen Job sind gering. Man braucht Nerven wie ein Hochleistungsseil, Skrupellosigkeit, was Gebühren betrifft, und eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt.
Im Zug war die Klimaanlage ausgefallen.
Von einem Moment auf den anderen hörte das Bahnpersonal im Bistro auf zu arbeiten. Mit einer Cola war jetzt nicht mehr zu rechnen. Die Luft im Abteil wurde zunehmend dicker.
Ich öffnete das gelbe Mäppchen. Der Pass gehörte einem Menschen, der Pläne hatte. Meine Mutter hat ihn beseitigt wie all ihre temporären Beziehungen. Dank ihrer auffallenden Schönheit hatte sie sich als Purserin in der Business Class durch globalisierte Betten gevögelt.
Wir zogen ständig um, ich musste dreimal die Schule mit einer neuen Sprache beginnen.
In der Schweiz habe ich zu Hause russisch gesprochen. Wegen des Oligarchen. Er war der Einzige, der die Bezeichnung PAPA verdiente. Die Geschichte war zu Ende, als meine Mutter im Hotel Swiss Diamond ins Schwimmbad kam, wo Papa sich gerade über das Au-pair-Mädchen hermachte.
Meinen Stiefvater nenne ich bis heute Djeduschka Moros – Väterchen Frost. Liebenswürdige Unnahbarkeit. Und ich bin seine Sonitschka.
Sonitschka!
Für meinen biologischen Vater war ich eine Zahl auf dem Papier, der ein Minus vorangestellt war. Gesetzliche Mindesthöhe.
Jetzt war ich Vollwaise.
Am Zugfenster flogen die hysterisch gelben Rapsfelder vorbei. Die Bistrobedienung saß am Tisch und meckerte über den Staat.
Ich zog den verklemmten Mülleimer raus und entsorgte das klebrige Mäppchen. Gelbes PVC mit Dreck.
Ich behielt lediglich den Klo-Bon und das Foto von dem Schiff, aber auch nur, weil mich der Name »EISVOGEL« faszinierte.
Ich mochte den Ozean nicht. In Paris hatte mich meine Mutter zum Schwimmen in den Polizeisportverein gesteckt, um ungestörter einkaufen zu gehen. Schwimmen mochte ich auch nicht, verlängert nur den Todeskampf, wenn es drauf ankommt.
Nach dem Schweizer Internat wusste ich nicht, wohin. Also bin ich in das Land gezogen, das ich noch nie gesehen hatte und dessen Pass ich besaß. Das Land mit der grimmigen Sprache und den gut gebauten Straßen.
Ich habe mit Boxen angefangen, um meinen »Nazi«-Körper zu erhalten, wie der Trainer immer gewitzelt hatte. 5×5 Meter Struktur und Instinkt. Der Boxring hat mich gleich im ersten Jahr einen Zahn gekostet und meine Bitte, ihn mit Gold zu ersetzen, hat dem Zahnarzt das Gesicht entgleisen lassen.
Meinen Boxkollegen hat der Goldzahn Respekt eingeflößt. Er blitzt immer hervor, wenn ich den Gebissschutz aufsetze.
Der Verein ist in einer Baracke am Stadtrand. Kein Men’s-Health-Style. Keine Fight-Club-Romantik. Kein Wellnessbereich, wo man die Frau für Haus und Garten kennenlernt.
In dem Verein gibt es lediglich eine tropfende Dusche mit kaltem Wasser, die Schränke lassen sich nicht abschließen, und die Garderobe stinkt. Es ist eine schwere Mischung aus ranzigem Öl, Fußschweiß und dem Geruch beim Öffnen einer Büchse Jagdwurst.
Ich unterwarf mich ihrem Ehrenkodex und durfte von nun an mit all den Privilegien rechnen. Das Wichtigste war Vertrauen. Ich vertraue den Jungs weit mehr als den Männern aus der Wirtschaft, mit denen ich im Büro konfrontiert bin. Ich bin prinzipiell misstrauisch gegenüber Entschlossenheit in Gesichtern, die mit auserwählten Brillen und soldatischen Haarschnitten untermauert ist. Siegermienen. Falsche Geständnisse.
Wie bei A.
320 km/h. Die deutsche Technik ist berauschend, auch wenn das WLAN nie funktioniert, der Verspätungsalarm im Minutentakt wechselt und die einfältigen Muster auf den Sitzen verdreckt sind.
A. auf meinem Display.
Aber ich denke mich als Einzeller in einer vibrierenden Heimatlosigkeit, wo nicht geredet wird. Die Zeit stürzt nach vorn. Ihre Maßeinheit heißt CASH. Die Folge ist Abstand. Abstand brauchte ich wie nichts anderes auf dieser Welt. Damals kam das A. entgegen.
Ich hatte mir gerade eine Website zimmern lassen von Lucky, zu dem ich immer die Verbindung gehalten hatte, seitdem er von unserem Internat geflogen war. Ich glaube nicht an sogenanntes Networking. Ich halte Networking für eine hinterhältige Bezeichnung für Schnorren und Ausnutzen flüchtiger Bekanntschaften. Networker waren wie Penner, die dich fragen, wie es dir geht, und dir den Becher hinhalten. Leute, die mit minimalem Aufwand größtmögliche Vorteile ergattern wollen, von kostenlosem Schlafplatz bis zu Informationen. Nein, Lucky und ich waren Vertraute.
Ich verdanke ihm eine exzellente Suchmaschinenoptimierung.
Forderungsmanagement.
Wir erledigen das für Sie! Einfache Fallübergabe. Hauseigene Juristen. Rechtsberatung.
Die Website war gut strukturiert. Das Blau und die genügsame Schrift hatte ich der Anzeige eines Ingenieurbüros entnommen. Meine Seite spricht auf jeden Fall eine besser zahlende Klientel an.
Es kommen die obligaten Schlüsselworte darin vor, die bei Mandanten Sicherheit auslösen. Meine Website fegt ihre Ängste vom Tisch.
Prävention, Optimierung, Kommunikation, Analyse, Effizienz. Vor allem habe ich auf das billige Wort SERIÖS verzichtet.
Die Seite war damals kaum eine Woche im Netz gewesen, da kam auch schon die erste Anfrage. Sie klang vielversprechend.
Die Übergabe der Fakten fand an einem knallhellen Morgen in meinem Büro statt. Ich trug einen grauen Hosenanzug, wie ihn mein Kundenberater bei der Sparkasse trug. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir kein universelleres Outfit vorstellen, wenn es um Geschäfte ging. Dieser Anzug ließ gemeinhin alles Spezielle verschwinden. Sexappeal, Intellekt, Humor, Charaktereigenschaften, Anschauungen. Ein neutraler Boden für Tatsachen.
A. war mit seinem Anwalt angetreten. Er trug im Gegensatz zu seinem Anwalt keine Krawatte und eine billige Uhr, um die Machtverhältnisse noch deutlicher zu machen. Ich mochte sofort seine unschuldige Ängstlichkeit hinter dem arroganten Gesicht. Beide waren groß und begrüßten mich mit der Lockerheit britischer Kadetten. Diese mächtigen Körper. Geschützt vom Kontostand. A. legte mir seine Karte mit geprägtem Adelstitel hin. Sein Anwalt trug am kleinen Finger einen Goldring mit Smaragd und hatte auch einen adligen Namen. Es schien, als wolle er die unbeholfenen Gesten A.s mit übertriebener Männlichkeit kompensieren. Er legte seine Hand mit einem albernen Siegelring auf den Tisch.
Beim Anblick meines leeren Büros fiel ihnen erst mal nichts ein. Stunden um Stunden hatte ich für die Inneneinrichtung gebraucht. Mir liegt so etwas nicht. Es hat mich Wochen gekostet, in Gedanken habe ich wieder und wieder die wenigen Möbel von links nach rechts verschoben. Mit dem Ergebnis bin ich zufrieden. Zwei Stühle für die Klienten. Ein Schreibtisch aus Stahl. Mein Büro ist eine Mischung aus Klosterzelle und U-Haft.
Die einzige Dekoration ist das gefälschte Diplom an der Wand. Eine Marketingmaßnahme. Vor der Urkunde war ein Porträt meiner Mutter in dem Rahmen aus Walnussholz. Das Bild hatte sie mir zum Abitur geschenkt. Sie war so schön, dass es wehtat. Der Biedermeier-Rahmen macht etwas her. Das Porträt habe ich abgelegt in einem Ordner unter »Verschiedenes«.
A. und sein Begleiter saßen unentschlossen herum, dann kamen sie auf das Wetter. In meinem Büro wirken alle Kunden verstört. Sie sitzen vor meinem Schreibtisch wie Kaninchen vor der Schlange. Sie wollen nicht gefressen werden. Aber sie kämpfen auch nicht. Sie überlassen die Dreckarbeit anderen. Sie hängen sich an die Hoffnung, ihr Geld wiederzusehen. Sie können einem vor Scham nicht in die Augen sehen. Sie wollen etwas geklärt haben, an dem sie selbst gescheitert sind. Sie bedanken sich mit guten Honoraren für die Anonymität. Aber vor allem wollen sie, dass es vorbei ist.
Meine Tagessätze sind hoch, die Geschichten der Leute lang. Monologe, in denen immer die anderen schuld sind, in denen der Redner oft nicht begreift, was er sagt.
Der Punkt, an dem sie die Fakten noch überblicken konnten, liegt weit zurück. Die Leute warten, bis das Knäuel unentwirrbar ist und man, streng genommen, den Knoten nur noch zerschlagen kann. Wenn die Gefühle sich ausbreiten und kein Gedanke mehr greift, machen sie einen Termin aus. Sie zwingen mich, die Unschärfe miteinzubeziehen, den optimalen Fall selbst zu entwerfen. Ich muss mir ihre Geschichte erdenken.
Ich stellte eine Flasche Mineralwasser hin und eine Rolle Brausetabletten mit der Bemerkung free choice. Sie begannen sich im Small Talk zu übertreffen. Dennoch klang ihr Gerede über Vitamin-Booster in Form von Brausetabletten, Preisgestaltung von Mineralwasser und Muskelverspannungen bei Dehydrierung keinesfalls lässig, und es schien sie auch wenig zu stören, dass ich nicht teilnahm.
Ich saß da und schwieg.
Nach den vorgeschriebenen Minuten Anstandsgeplauder laut Adelsknigge begannen sie, mir ihr eigentliches Anliegen zu beschreiben, jedes Wort bedenkend, meine Denkleistung testend, wie ich ihre absichtlichen Leerstellen wohl füllen würde. Sie machten einfache Inhalte kompliziert und verschwiegen peinliche Details – kurzum, sie waren im Arsch.
Es wollte schon langweilig werden, als sie endlich die veruntreute Summe preisgaben, um die es ging.
2,5 Millionen Euro.
Ich schwieg.
Sie sprachen vom kriminellen Verhalten des Finanzchefs, den sie bereits entlassen hatten, aber eine Anzeige schien ihm nicht zu drohen. Sie konzentrierten sich zunehmend auf die Lücke in der Bilanz und weniger auf die moralische Seite. Sie waren vermutlich von der Sorte, die niemandem traut, weil sie selbst sich nicht trauten. Sie taten so, als ob die Polizei das Spiel verlassen hätte. Ich war ihre letzte Karte, so viel war mir klar. Sogenannte Berater hatten ihnen nahegelegt, keinen Wirbel um die Sache zu machen und das abhandengekommene Geld einfach zu vergessen. Die Spuren führten linear nach Russland. Da traut sich keiner ran, hatte man ihnen gesagt. Dann hatten sie die fünf Sprachoptionen auf meiner Seite gesehen.
Ich hörte mir ihren Schwachsinn an. Ich war mir völlig sicher, dass die Polizei nie mitgespielt hatte. Die hätten auf jeden Fall ihre Kumpels von Europol für eine Runde eingeladen. Die hätten dem CFO das Reisen erschwert bis auf kleinere Ausflüge in den Rheingau. Was Russland betraf, kann ich versichern, dass die Region keine Rolle spielt beim Zurückholen von Geld. Abhandengekommenes Geld zurückholen hat denselben Schwierigkeitsgrad wie die Reanimation eines Patienten, dessen Reflexe bereits alle erloschen sind.
Ich schwieg.
A., dessen Leben offensichtlich auf Kapitalakkumulation angelegt war, stellte mir eine zehnprozentige Erfolgskommission in Aussicht. Er muss es für relativ unwahrscheinlich gehalten haben, das veruntreute Geld wiederzusehen, und verkaufte sich als großzügig.
Ich schwieg.
A. wurde zunehmend unsicherer und begann sich an die Stirn zu fassen, hielt sein Ohrläppchen, wie man bei Kindern Fieber prüft. Er steckte nervös beide Hände in die Taschen seines Jacketts und schlug schließlich eine Garantiesumme vor, die er obendrauf legen wollte, wie er sich ausdrückte. Die Dürftigkeit der Garantiesumme, die noch nicht einmal die Reisekosten decken würde, begründete er lächelnd mit der abgekauten Phrase NO RISK NO FUN.
An dieser Stelle nannte ich ihm meine Garantiesumme und erhöhte die Beteiligung auf 15 Prozent.
A. klappte der Unterkiefer runter, und er fing an, mit gespielter Aufregung zu diskutieren. Er wurde nahezu leidenschaftlich. Er sagte mir, dass unsere Geschäftsbeziehung ganz am Anfang stehe, dass das für ihn ein Versuch sei, dass andere nicht halb so viel verlangten, dass allein der Auftrag einer bekannten Firma wie der seinen schon eine gute Reputation für mich wäre, dass er mich weiterempfehlen würde, dass Folgeaufträge nicht ausgeschlossen wären.
Ich schwieg.
Sein Anwalt kam mir mit dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz.
Ich wies beide darauf hin, dass auf meiner Website nicht KANZLEI, sondern BÜRO steht.
Es entstand eine geruhsame Pause.
A. wich meinem Blick aus. Sein Gesicht blieb am Walnussrahmen an der Wand hängen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass der Nagel zu groß war.
A. stand auf und ging näher ran. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus, als er das Diplom entdeckte. Er schien sich sogar die Stempel durchzulesen, so beeindruckt war er von der Urkunde. Wahrscheinlich gehörte er zu der Kategorie, die nie ein Buch lesen und Intellektuellen stumpfsinnige Bewunderung entgegenbringen. Vielleicht war es auch nicht das geisteswissenschaftliche Fach, sondern der Name der berühmten Universität oder der Abschluss mit Auszeichnung, der ihm imponierte. Jedenfalls flackerten seine Augen zwischen meinen Beinen und der Urkunde hin und her.
Ich nannte meine Honorarsumme und die Prozente ein zweites Mal.
A. diskutierte schon geschwächter. Ich antwortete nicht. Ich stand einfach auf und bedeutete mit einer stummen Geste, dass unser Beisammensein beendet war. Ich räumte demonstrativ die Gläser und den Schriftkram zusammen.
Da klappten sie ein.
Ich schob A. die Formulare für die Vollmacht hin. Auf die Headline hatte ich viel Zeit verwendet.
KONSEQUENZ SCHAFFT KLARHEIT. SLANSKI.
Der Rest bestätigte den Arbeitsbeginn nach Überweisung der Garantiesumme, die Schweigepflicht, die freie Wahl des Arbeitsortes und die Herausgabe der Arbeitsergebnisse ohne Verpflichtung zur Berichterstattung über die Herangehensweise. Bei Kündigung keine Rückzahlung der Garantiesumme.
A. las sich alles aufmerksam durch. Sein Gesicht zeigte klar und deutlich, dass er begriffen hatte, wie ich den Extremfall organisiert hatte. Souverän ist, wer die Einkommensquellen kontrolliert. Meine Vereinbarungen berücksichtigten nicht die Interessen aller Parteien. Ich bin kein Pazifist. Dann las sein Anwalt. Sein Gesicht verfinsterte sich von Zeile zu Zeile. Ordnung findet vor dem Horizont der Unordnung statt, Baby. Die beiden waren schließlich nicht hier, weil die Welt gut ist.
A.s Unterschrift auf dem Mandat zeigte vollkommene Linienführung. Gefiel mir.
Er gab mir seine Hand. Sie war weich und ebenmäßig und ließ mich nicht los. Während er meine Hand hielt, fragte er mich, was ich in meiner Freizeit machte.
Da singe ich im Kirchenchor, sagte ich.
Er sah mich fragend an. Ich hätte ihn anlächeln können, aber man sollte den Geschäftsabschluss ernst ausklingen lassen. So standen wir feierlich herum.
A.s Anwalt machte eine routinierte Verbeugung, seine Hacken schlugen leicht zusammen. A. dagegen gab mir zum zweiten Mal die Hand. Dann gingen sie. Ich sah ihnen aus dem Fenster nach. A. schob mit seinem Ferrari einen dichtauf Parkierenden unsanft nach hinten. Ich war schon immer der Überzeugung, dass nur der so eine Karre fahren sollte, dem Schrammen nichts ausmachen. Dann telefonierte ich mit Djeduschka Moros.
Moskau war ein Sechser im Lotto für mich. Ich schlenderte von Lenin zu Chanel und kaufte mir unterwegs eine Ananas beim Gourmet Nr. 1 neben dem Bolschoi-Theater. Im Bolschoi holte ich die Karte ab, die auf meinen Namen am Schalter lag. Ich gab die Ananas in ein Schließfach wegen Bombenverdachts und setzte mich in die samtige Loge.
Während des 2. Akts setzte sich Djeduschka Moros neben mich und flüsterte mir etwas ins Ohr. Ich antwortete ihm, dass er nichts verpasst hatte, die Inszenierung sei beschissen. In der Pause erzählte er mir, dass sein Vater zu Breschnews Zeiten immer in dieser Loge gesessen hätte.
»Dein Großvater war ein hohes Tier beim Militär.«
Ich liebte ihn. Wie er sich über alle eisernen Klammern der Biologie hinwegsetzte. Manchmal glaubte ich, er wolle dem Trieb, mit mir zu schlafen, mit aller Macht entgegenwirken. Mich unterstützte er finanziell seit meinem Schweizer Internat, ohne darüber ein Wort zu verlieren.
Nach der Oper und mit der Ananas gingen wir ins Puschkino. Vor dem Theater wartete bereits sein Fahrer in der S-Klasse. Wir saßen auf dem Rücksitz und schwärmten von der russischen Literatur. Ich erzählte ihm von A., gab ihm die Unterlagen. Er verstand. Wodka mit Zitrone ohne Eis in schlichten Gläsern an der Hotelbar. Um uns herum konnte ich die Callgirls nicht von den Geschäftsfrauen unterscheiden. Es war angenehm.
Am frühen Morgen verließ ich Moskau. In der Senator Lounge am Flughafen liefen parallel ein Kriegsfilm in Schwarz-Weiß ohne Ton und ein Clip von Britney Spears.
Ich schrieb meinem Wahlvater, dass ich mein Leben in einer Parklücke verbringen müsste, wenn er nicht wäre. Ich sendete ihm 20 Herzen. Er antwortete nur: »Sonitschka«.
Die Verwendung des Kosenamens machte mir zu schaffen.
Ich brauchte keinen leiblichen Vater.
Sonitschka.
Das genügte.
Zwei Wochen später hatte ich einen Gerichtsbeschluss in der Hand und den Namen eines russischen Anwalts, der alles Weitere abwickeln würde.
Ich fuhr zu A. in die Firma und händigte ihm die übersetzten und beglaubigten Unterlagen aus.
A. sah mich an, als müsste er seine Synapsen neu kalibrieren. Er starrte minutenlang auf die Papiere und fragte mich dann, ob er mir seine Firma zeigen dürfe.
Überweisen Sie mir einfach mein Honorar, wenn das Geld da ist, sagte ich.
Geraume Zeit später hatte er seine abgeschriebenen 2,5 Millionen wieder und überwies mein Honorar. Er rief mich an und lud mich zum Essen ein.
Ich empfand eine abstrakte Genugtuung am Erfolg. Die verwalteten Inhalte waren mir gleichgültig gewesen, auch hatte ich schnell verdrängt, dass ich herzlich wenig dazu beigetragen hatte. Ich genoss die Bewunderung und das leicht verdiente Geld. Schön war es. Ich konnte mir keine erstrebenswerteren Erfolge vorstellen als die, für die man nichts getan hat.
Während des Essens berührte A. öfter meine Hand und machte mir holzschnittartige Komplimente. So verkürzt wie er in der Beschreibung der Welt war, so verknappt war er in Liebesangelegenheiten. Unter der ganzen Effizienz glaubte ich, die tiefe Sehnsucht nach etwas Wahrem zu spüren. Aber sein ungestillter Machtanspruch und das Bedürfnis, alles haben zu wollen, machten jede ehrliche Regung zunichte. Bei diesem Anspruch war er förmlich gezwungen, das Ganze in wohlproportionierte Rationen für jeden Anlass zu teilen. Die Gattin zum Herzeigen. Die Firma für den Sieg über die Konkurrenten. Die Geliebte als Form, die sich nie schließt. Unermessliche Wünsche. Sehnsüchte nach Welten, die ihm nicht gehören würden, die niemandem gehören.
Damit begann die WHAT-IF-Beziehung. In der Zentrifuge der geheimen Wünsche drehte sich um uns alles wie Zuckerwatte und vernebelte einen stabilen Kern, bestehend aus Paragraphen im Ehevertrag, der laut A. teurer war als die Hochzeitsfeier und die Flitterwochen auf den Fidschi-Inseln.
Alles soll schön bleiben, wie es ist. Fundament der bürgerlichen Gesellschaft. Aber es blieb nichts, wie es war.
In St. Moritz war mein Gesicht noch ganz. A.s Ferrari hatte es komplett erwischt bei dem Unfall. Seinem Flirtversuch war ein Baum entgegengetreten.
Die Welt war noch nie so still gewesen wie damals, nachdem die Airbags explodierten.
Bevor ich Ihnen die Anästhesiespritze rings ums Auge setze, flicke ich Sie lieber ohne zusammen, sagte der junge Assistenzarzt. Kommt auf das Gleiche heraus. Und ich habe schneller Feierabend. Der Witz sollte mir wohl den Schmerz nehmen. Aber der liebe Gott hatte schon den Schockschalter gedrückt, und eine gemütliche Leck-mich-am-Arsch-Stimmung breitete sich aus, in der es mir sogar egal war, dass A. sich daheim um die Vertuschung des gemeinsamen Urlaubs kümmerte.
Wo du hingehst, werde ich nicht sein, und wo ich bin, willst du nicht hin. Mein Jeton aus Beton, deine Zahl, gute Wahl.
Als mein ramponiertes Gesicht wieder Form annahm, fuhr ich mit dem Rad zum Boxen. Ich hatte überlebt, die Jungs honorierten das. Vor allem aber stellten sie keine Fragen.
Die Narbe, die wie ein Mercedesstern aussah, unter dem Auge rechts, machte mich plötzlich vollständig, weil der Fehler angebracht worden war. Diese Seite meines Gesichtes schien zu sagen: Die ist zu allem fähig. Die hat ihren Charakter abgelegt.
Die Deformation war ein Geschenk.
Ich beschloss, mit höchster Disziplin die demütigende Scheiße der Juristen und die abgefahrenen Gutachten für die Versicherung zu ertragen. Ich hatte meinen Finanzplan im Kopf. Schließlich ging alles auf. Die Versicherung zahlte eine Unsumme aus Angst, ich könnte mit einer Psychomacke oder Schönheitsoperationen anfangen.
Ich kaufte mir von der Entschädigung und einem zinslosen Kredit von Djeduschka Moros ein Loft in einem stillgelegten Industrieviertel. Die Immobilie steigt und steigt. Das ist die Welt.
Was mein neues Aussehen betraf – danke. Ich konnte nicht klagen. Die Männer waren wie wild auf mich. Für die war ich das, was sie gerne sein wollten. Jemand, der Schmerz ertragen kann.
Ich sublimierte den Crash mit einem straffen Arbeitsplan und behielt A. im Portfolio. Menschen am Steuer sind Dilettanten trotz Einparkhilfen an Front und Heck, Notbremsassistent und Toter-Winkel-Warner.
A. fragte mich, ob ich ihm jemals verzeihen könne.
Klar doch.
Hier auf Erden schon.
Für die kurze Zeit hier unten lohnt es sich nicht, komische Anstalten zu machen.
Sollte ich ihm jedoch im Himmel begegnen, würde ich ihm eine in die Fresse hauen.
A. lachte, faselte von Zukunft und beschrieb mir den katastrophalen Zustand seiner Ehe. Ich empfahl ihm, die Lösung seines Eheproblems besser in die Hände von ein paar Software-Experten zu geben. Für 2000 kriegt man schon einen sauberen Algorithmus, sagte ich ihm, besonders bei niedrigen Datenmengen. Ich jedenfalls war die Falsche für Seelenprobleme. A. war für mich die Stunde nach der Arbeit. Dabei blieb es.
Endlich hielt der Zug. Bettler, Junkies und das Ordnungsamt. Ich versuchte mir eine Cola zu kaufen, um den Klobonus loszuwerden, aber der Bahnhofskiosk nahm das Ding nicht an. Keiner der Läden nahm den Sanifair-Bon an. Dennoch warf ich den verkrüppelten Zettel nicht weg.
Ich stieg auf mein Fahrrad und machte mich ins Büro.
In der Tasche die Mitbringsel vom Begräbnis. Im Gehirn ein paar Schnipsel zum Konstruieren. Alle mit Fragezeichen verplombt. Hätte ich gewusst, was dieser Tag noch bringen würde, wäre ich sparsamer damit umgegangen.
Im Büro angekommen schmiss ich die Pumps in den Küchenschrank und zog meine Plastiklatschen an. Dann quetschte ich das Foto vom »Eisvogel«-Schiff in meine Black Box. Die Rekonstruktion der Ereignisse anhand ihres finalen Resultats. Die schwarze Schachtel von Moschino enthielt ursprünglich mal eine Hermelinstola, die mir Djeduschka Moros zum Abitur geschenkt hatte.
Ich schloss die Schachtel und holte den Xellent aus der Küche.
Ich kann es nicht oft genug betonen, aber der beste Wodka kommt aus der Schweiz.
Die Flasche war rubinrot und trug das Schweizer Kreuz. So eine Beerdigung vermiest einem den Alltag. Ich nahm einen Schluck.
A. versuchte mich zu erreichen, aber ich hatte ungefähr so viel Lust auf Sex wie nach einem Zahnarztbesuch. Die Lady mit dem seltsamen Akzent in der Aussprache sollte schon längst da sein. Ich packte die Flasche wieder weg.
Beim Einschalten meines Computers sah ich zuerst die Einladung von A. zu einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Kreuzfahrten sind die Übererfindung des Marketings. Man sperrt die Leute in ein großes Schiff, fährt raus auf hohe See und verkauft. Tutto okay.
Es klingelte. Das musste die Lady sein, die ihren Namen am Telefon nicht nennen wollte, die mit dem höfischen Klang in der Stimme.
Ich öffnete die Tür, und eine eisige Schönheit trat ein. Sie war größer als ich und hatte einen strengen Gesichtsausdruck, allerdings mit einem zierlichen Näschen. Ich war es nicht gewohnt, nach oben zu gucken. Wir verharrten für einen kurzen Moment, als ob das Bild hängen geblieben wäre, und starrten uns an. In dem kurzen Moment pfiffen die Papageien aus der Agentur im Hinterhof, die ich jahrelang für einen kaputten Brandmelder gehalten hatte. Papageie, sagte ich und streckte meine Hand aus, um ihr einen Platz anzubieten. Wir begrüßten uns förmlich und setzten uns. Sie stellte eine knallige Prada-Tasche neben sich auf den Boden.
»Ich habe Ihre Businesskarte im Schreibtisch meines Mannes gefunden«, sagte sie mit einem nunmehr amerikanischen Akzent. Sie musterte mich mit dem Lächeln einer russischen Synchronschwimmerin. Ich schätzte sie ungefähr auf 40. Ihre Seidenbluse war halb transparent und in gebrochenem Weiß. Die oberen Knöpfe waren offen, und man konnte nicht anders, als auf ihren flachen Busen zu schauen. Ein schwarzes Bustier mit dünnen Trägern schimmerte unter der luftigen Bluse. Irgendwie ein provokanter Kontrast zur klassischen Erscheinung der Dame. Ihre schwarze Hose war um sie herumgegossen und erinnerte in ihrer hohen Passform an die Kleidung eines Matadors.
Die Hosenbeine hörten am Knöchel auf. Dann begannen die Ballerinas. Schwarzes Saffianleder. Absolute Noblesse. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass meine Latschen Weichmacher enthielten. Ein aufsässiger Geruch wie Mottenkugeln. War es ihr Parfüm oder die aromatischen Kohlenwasserstoffe, die sich aus den Latschen lösten, jedenfalls war es heiß. Ich stand auf und öffnete das Fenster. Sie fummelte irgendetwas aus ihrer Handtasche. Ihre Perlenkette mit integrierten Löwenköpfen in Gold schepperte gegen das Gestell aus Metall meiner Stühle. Das riss mich aus meiner Bildbetrachtung.
Die Perlen schienen echt. Jede ihrer Bewegungen hinterließ einen süßlichen Duft nach Vanille und Amber.
Die elegante Kleidung umspielte ihre winkligen Bewegungen. Ich spürte eine Art Anstrengung, grazil zu wirken, was sie noch winkliger machte.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich.
»Ich habe eine Firma gegründet.«
Sie lachte einen kurzen konstruierten Ton.
»Ausgerechnet mit zwei Anwälten.«
Ihr Gesicht wurde todernst. Offenbar beherrschte sie spielend Übergänge. Die Brüche im Ausdruck waren perfekt. Die Gesten genau. Die Mimik treffsicher.
»Die ganze Sache entwickelt sich zu einem Albtraum. Ich wollte Sie bitten, ob Sie für mich in dieser Angelegenheit recherchieren und mit allen Mitteln meine Forderungen durchsetzen können.«
Ihre Stimme klang kalt. Sie hatte die Wendung ALLE MITTEL stark hervorgehoben.
»Wir prozessieren bereits. Freunde haben mir schon zu Auftragsmord geraten, weil das billiger wäre.«
Sie lachte wieder dieses einstudierte Lachen, und ihre Ohrringe machten ein Klappergeräusch wie Schellen an einem Zirkuspferd.
Ich ignorierte ihren letzten Satz und schrieb Hieroglyphen auf meinen Zettel, um ihr nicht ins Gesicht zu sehen.
Normalerweise genoss ich den Gedanken, die Pille gegen die Misere zu sein. Ich stand, wenn auch mit Abstand, zu dem technokratischen Glauben an die Allmacht von Ware gegen Geld. Therapie gegen eine miese Beziehung. Pillen gegen Schmerz. Pillen gegen Traurigkeit. Botox gegen Gravitation. Mord für die Sackgasse. Staat für den Rest. So lief es nun mal.
Ich verzog keine Miene.
Sie machte weiter.
»Ich bin in etwas hineingeraten.«
Sie platzierte eine wirkungsvolle Pause.
»Ich habe eine Produktidee mit einer Firma entwickelt. Für diese Zusammenarbeit wollte ich vor einem Jahr einen Provisionsvertrag abschließen. Daher bat ich den Ehemann einer Bekannten, der eine Anwaltskanzlei hat, um Rat. Herr Hoffer hörte sich alles an und fragte mich, ob wir nicht eine Firma gründen und das Produkt zusammen auf den Markt bringen wollten. Er erzählte von cleveren Steuermodellen und juristischen Dingen, die ich nicht verstand. Mein Deutsch ist exzellent, aber diese juristischen Fachausdrücke sind kompliziert und undurchsichtig. Ich weiß nicht warum, aber er überzeugte mich sogar, dass der Provisionsvertrag mit der Firma nicht auf meinen Namen, sondern auf den Namen der von ihm vorgeschlagenen, gemeinsam gegründeten KG lief. Verstehen Sie? Er sagte, dass wir mehreren Firmen die Idee in abgewandelter Form verkaufen könnten und dass die KG das clevere Modell dafür sei. Ich stieg darauf ein. Bereits nach kurzer Zeit bemerkte ich, dass Herr Hoffer von Hoffer&Bertling wenig Interesse an meinem Produkt hatte. Hoffer interessierte nur die Rendite. Ich weiß nicht, warum ich mich in diese Sache gestürzt habe, ohne alles überprüfen zu lassen. Ich war einfach naiv. Sie müssen wissen, dass wir uns von Charity-Bällen kannten. Außerdem halfen seine Frau und ich, Gelder für eine Schule in Afrika zu sammeln.«
Je größer die Schweinereien, desto mehr Charity, dachte ich. Sie wechselte auf irritierende Weise von einem amerikanischen in einen französischen Klang. Sie studierte mich eingehend und fuhr fort.
»Als mir ein Freund diesen Gesellschaftsvertrag nach meiner Unterzeichnung erklärte, bin ich sofort ausgestiegen. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt, aber da war es schon zu spät. Hoffer und sein Partner witterten viel Geld und wollten sich das nicht entgehen lassen. Geld durch miese Briefe. Sie begannen, die Firma, mit der ich das Produkt entwickelt hatte, auf 50% ihres Gesamtumsatzes zu verklagen. Dann verklagten sie mich. Diese Kriminellen stellten vor dem Gericht alles so dar, als hätten sie mich unterstützt und ich hätte sie gelinkt, als die Gewinne kamen. Ich komme mir vor wie Pinocchio, der am Baum hängt, und unten warten die Banditen, dass mir das Geld aus dem Mund fällt.«
Ich versuchte, sie mir am Baum vorzustellen, aber es gelang mir beim besten Willen nicht. Ich verkniff mir zu sagen, dass sie schließlich den Gesellschaftsvertrag unterschrieben hatte.
»Sie waren Mandantin der Kanzlei«, konstatierte ich.
Ihre Stimme hob sich leicht ekstatisch und sägte mir durch den Kopf.
»Sie haben ins Schwarze getroffen. Das war genau mein Fehler. Wir haben damals nichts in die Mandantenkartei aufgenommen. Ich existierte gar nicht als Mandant. Verstehen Sie, ich habe diesem Menschen vertraut. Ich war mit seiner Ehefrau im Kunstförderverein für zentraleuropäische Kunst.«
Sich als Künstler von den Gattinnen fördern zu lassen, muss eine deprimierende Ohrfeige sein, dachte ich. Ehrenamt im Altersheim wäre auch zentraleuropäisch.
Sie befühlte ihre Kette wie einen Rosenkranz. Sie hatte ein theatralisches Leidensgesicht aufgesetzt und schien nicht weiterzuwissen. Ich dachte an diverse Delikte in meinem kurzen Berufsleben. Anwälte waren oft Teil des Problems. Anwälte lernen im ersten Semester, wie man formal korrekt von ethischen Vorsätzen abrückt. Lernen mit Karteikastensystem.
»Haben Sie einen Anwalt? Ich könnte Ihnen ein paar vertrauenswürdige Adressen nennen.«
»Ich habe einen Anwalt.«
Auf ihrem Gesicht bildeten sich appetitliche Schweißperlen, die sie noch attraktiver machten. Sie sah mich forschend an. Ich hielt so lange wie möglich durch, ihr auch stumm ins Gesicht zu sehen. Dichte gebürstete Augenbrauen, ebenmäßige Haut, ihre klassischen Konturen schüchterten ein, eine anziehend herrische Haltung und diese allerliebsten prickelnden Tröpfchen obenauf.
»Was ist das für ein Produkt?«, fragte ich.
»Ein Schlafmittel ohne tiefes Fallen, ohne Fliegen und ohne Probleme beim Aufwachen.«
Sie lächelte, als gäbe es nichts Schöneres auf dieser Welt als ewigen Schlaf.
»Sie erwähnten jemanden, der Ihnen den Vertrag erklärt hat. Sind Sie deutsche Staatsbürgerin?«, fragte ich.
Ihr Gesicht wurde eisig.
»Nach drei Jahren Ehe war das das Mindeste. Aber wir trennen Beruf und Privat.«
Ich stellte mir vor, wie man diese Bereiche in der Ehe trennt. Und mit welchem Werkzeug. Butter- oder Tranchiermesser? Kettensäge?