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Der Tod feiert Halloween Joyce Reynolds ist kein beliebtes Mädchen und als Lügnerin bekannt. Als sie auf einer Halloween-Party allen erzählt, sie hätte einen Mord beobachtet, glaubt ihr niemand. Kurze Zeit später wird Joyce tot aufgefunden und der eilends herbeigerufene Hercule Poirot steht vor der Frage, ob er statt eines Mörders nicht vielmehr einen Doppelmörder sucht. Die Halloween-Party ist die Romanvorlage für A Haunting in Venice, die neueste Christie-Verfilmung von Kenneth Branagh (Regie und Hauptrolle) und Michael Green (Drehbuch). Mit einem Vorwort des Drehbuchautors Michael Green "Ein donnernder Erfolg. Und ein Triumphzug für Hercule Poirot." Daily Mirror
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Seitenzahl: 271
Agatha Christie
A Haunting in Venice
Ein Fall für Poirot
Aus dem Englischen von Hiltgunt Grabler
Atlantik
Ein Geständnis: Ich habe einen Mord begangen.
Möglicherweise einen vertretbaren Mord. Auf jeden Fall liegt eine Leiche am Boden. Und diese Leiche ähnelt sehr stark dem Buch, das Sie in der Hand halten.
Ich hatte ein Motiv. Ich hatte eine Gelegenheit. Ich hatte sogar die Erlaubnis. Was keineswegs bedeutet, dass ich mich nicht versündigt habe oder eine Begnadigung verdiene. Begeisterte Agatha-Christie-Fans, deren Zahl Legion ist, werden meinen Kopf fordern, und zwar zu Recht. Denn als ich am Drehbuch arbeitete, habe ich zu meiner persönlichen Bereicherung willentlich und gezielt den Plot eines geschätzten Agatha-Christie-Krimis geändert.
Lassen Sie es mich erklären:
Wenn man als Drehbuchautor angeheuert wird, um Christies unvergessliche Hercule-Poirot-Romane für den Film zu adaptieren, kommt man in den Genuss vieler Vorteile. Einer davon ist es, dass man sämtliche Poirots zugeschickt bekommt, sofern man höflich darum bittet. Ich habe höflich darum gebeten.
Es kam also ein großes Paket vom Verlag, und nun steht in meinem Büro eine lange, ansehnliche Reihe von rund drei Dutzend Bänden mit Romanen und Kurzgeschichten. Der komplette Poirot. Wenn ich an einer Textstelle feststecke oder, was häufiger vorkommt, versuche, Passagen zu finden, die ich streichen kann, beruhigt es mich, die Sammlung einfach ein Weilchen anzustarren.
Doch dann geschah etwas Kurioses: Die Hallowe’en Party begann ihrerseits, mich anzustarren.
Irgendetwas war da, vielleicht dieser zwinkernde Apostroph.
Ich nahm das Buch aus dem Regal, las es und mochte es sofort, doch obwohl die Seiten für mich nur so dahinflogen, hatte ich das Gefühl, dass das, was ich da las, ein eher ungeeigneter Kandidat für einen Film war. Was kein Urteil über die Qualität des Buches sein soll. Brillante Romane sperren sich oft gegen eine allzu strenge Filmadaption. Filme verlangen einfach nach einer anderen Länge, Struktur und Direktheit.
Trotzdem ließ mich der Roman nicht los.
Das war im Herbst 2019. Kurz danach flog ich nach London für die Dreharbeiten zu Tod auf dem Nil, der zweiten Christie-Adaption, an der ich das Glück hatte, für 20th Century Studios arbeiten zu dürfen, mit Kenneth Branagh als Regisseur und schnurrbarttragender belgischer Meisterdetektiv Hercule Poirot. Sowohl Tod auf dem Nil als auch unser Film Mord im Orient Express von 2017 waren ganz bewusst getreue Adaptionen des ausgezeichneten Quellenmaterials gewesen. Bei diesen beiden Titeln sah ich meine Hauptaufgabe als Drehbuchautor darin, die Figuren und die szenische Handlung herauszuarbeiten. Was den Plot betraf, so schien mir die Devise »Versuche nie, Christie mit ihren eigenen Mitteln zu übertreffen« eine gute Richtschnur zu sein. Niemand widersprach.
Als ich einige Wochen später während des Drehs auf dem Deck der Karnak auf und ab ging und darüber phantasierte, einen dritten Film in unserer Reihe machen zu dürfen und welches Poirot-Buch dann als Nächstes in Angriff genommen werden sollte … spürte ich noch immer dieses Starren. Ich überlegte mir, dass ein Film, der während einer Halloween-Nacht spielt, es Poirot erlauben könnte, sich neuen Dämonen zu stellen. Vielleicht sogar Gespenstern.
Ich bräuchte nur noch einen Mord auszuklügeln.
In der Halloween-Party läuft ein Kinderfest furchtbar aus dem Ruder. Es ist wohl kaum ein Spoiler, wenn ich verrate, dass jemand stirbt. Ich gestehe, dass ich diese brillante, geniale Prämisse – ein Mord auf einer Halloween-Party – gestohlen und den Rest abgemurkst habe.
Das Ergebnis meiner Verbrechen ist A Haunting in Venice, unser dritter Poirot-Film. Ausgangssituation, Setting und Figuren wurden, übernommen und gewürdigt, einer zweiten Verwertung zugeführt. In Kenneth Branaghs Händen als Regisseur sowie dank seiner darstellerischen Leistung und der des ganzen Ensembles entwickelte sich das Drehbuch zu etwas Überwältigendem, Mysteriösem und Verstörendem. Etwas ganz und gar Neuem.
Was jedoch der Buchvorlage keinen Abbruch tut. Der Roman Die Halloween-Party bleibt bestehen – ihn zu lesen sollte weiterhin Vergnügen bereiten, und wird es auch tun.
Ihren Notizheften zufolge begann Christie mit der Niederschrift am 1. Januar 1969, verschwendete also keinen einzigen Tag nach der notgedrungenen Feiertagspause. (Christies Arbeitsmoral wird für mein Empfinden übrigens nicht genügend Respekt gezollt. Nach einer fast sechzigjährigen Vollzeitkarriere als Romanschriftstellerin hatte sie mit achtundsiebzig Jahren »das Tempo gedrosselt« und schrieb »nur noch« ein Buch pro Jahr, sorgte aber weiterhin von Zeit zu Zeit mit einem Gedicht, einem Theaterstück oder einer Geschichte für Überraschungen. Zum Vergleich: Im fieberhaften Jahr 1934 veröffentlichte sie Mord im Orientexpress, Etwas ist faul, Ein Schritt ins Leere, Parker Pyne ermittelt und, als Mary Westmacott, Das unvollendete Porträt.) Am 7. Juli erklärte sie das Manuskript für vollendet. Nach sechs Monaten Arbeit – zuerst mit einem Diktiergerät, dann mit dem Bleistift in den von ihrer Sekretärin, Mrs Jolly, getippten Fassungen – hielt sie, so wie Sie es jetzt tun, diesen Roman in der Hand. Für viele Christie-Fans ist er eines ihrer Lieblingsbücher, wenn nicht sogar das Lieblingsbuch schlechthin. Aus gutem Grund.
Zunächst einmal ist es ein schockierendes Buch. Schon die Wahl des Opfers ist ungewöhnlich kaltblütig, und bei den Komplikationen, die sich im Laufe von Poirots Ermittlungen ergeben, sinkt die Temperatur dann unter den Gefrierpunkt. Man spürt ein allgemeines Unbehagen an den jüngsten Veränderungen im Großbritannien der turbulenten späten sechziger Jahre (während es Poirot spitzbübisch fertig- bringt, an seinem Alter festzuhalten). Besorgt und resigniert sehen sich die Figuren mit modernen liberalen Auffassungen von Strafverfolgung und Sex konfrontiert. Nein, die Dinge sind nicht mehr so, wie sie einmal waren.
Was jedoch gleich bleibt, ist, wieder einmal, die Tatsache, dass sich Poirot stante pede in ein kleines, verschlafenes Kaff, hier Woodleigh Common, verfügen muss, um einen Mordfall aufzuklären. (In Krimis scheinen die meisten Leute, sobald sie fünf Minuten allein in einer kleinen, verschlafenen Ortschaft sind, das Zeitliche zu segnen. Sollten Sie sich jemals in einem kleinen, verschlafenen Kaff wiederfinden, nehmen Sie sofort einen Bus in eine heruntergekommene Großstadt – dort sind Sie sicher.)
Hilfreich erweisen sich hier vergnügliche Gastauftritte. Christie lässt zwei vertraute Figuren zurückkehren: Superintendent Spence aus Vier Frauen und ein Mord, ein älterer pensionierter Bekannter, der sich dagegen verwahrt, unterschätzt zu werden, nur weil er älter und pensioniert ist, sowie Ariadne Oliver, die energische Autorin und alte Freundin sowohl der Leserschaft als auch Poirots, die, sobald jemand tot umfällt, stets die Nummer des Meisterdetektivs parat hat. Es folgen Befragungen, Äpfel, ungelöste Altfälle, Testamentsnachträge, Gärten, Erpressung, Tee und Würstchen. All die guten Dinge.
Doch nicht alle tauchen in unserem Film auf.
Vielleicht können Sie uns das nachsehen.
Die echten Christie-Fans werden uns allerdings kaum allzu glimpflich davonkommen lassen, und dafür bewundere ich sie. Christie-Fans lieben Christie mit Haut und Haar. Sie haben eine Menge Zeit investiert. Sie lesen sie nicht nur immer wieder, sie lesen auch immer wieder dieselben Exemplare im selben Sessel, nippen den gleichen Tee aus derselben angeschlagenen Tasse. Christies Bücher spenden ein ganz bestimmtes Behagen, weshalb jede Abweichung vom Bekannten wie ein Krümel auf einem Flanelllaken pikst.
Das ist nicht schwer zu verstehen. Wenn Sie einen Roman lesen, dann machen Sie sich im Kopf ein Bild davon. Sie sehen, wie die Haare einer Figur auf eine ganz bestimmte Art wippen. Ihr Halstuch hat den ansprechenden blauen Farbton Ihrer alten Schlafzimmervorhänge. Ungewollt platzieren Sie die Kamera auf Augenhöhe in einer ganz bestimmten Zimmerecke. In gewisser Weise haben Sie schon bei der Lektüre eine filmische Version gesehen, sodass es, wenn Sie sich dann hinsetzen und einen Film ansehen, der auf dem bereits gelesenen Roman basiert, also einen Film mit seinen eigenen Frisuren und Halstuchfarben und Kameraperspektiven, in Ihnen unausweichlich zu einer unbewussten Abrechnung der ersten mit der zweiten Fassung kommt.
Im Idealfall folgt schnell eine Waffenruhe. Wenn Sie ein Buch jedoch wirklich lieben, wenn Sie dem Autor oder der Autorin zu Füßen liegen und enorm viel verdanken, dann ist es schwer, unparteiisch zu sein. Loszulassen tut weh.
Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass ich das alles nachvollziehen kann. Ich verstehe es absolut. Ich verdanke Agatha Christie ungeheuer viel. Auch ich liebe diesen Roman. Ich schlage eine Seite auf, tauche in die Geschichte ein und frage mich, ob ich auch nur die geringste Milde verdient habe.
Lesen Sie also dieses Buch und entscheiden Sie selbst.
Michael Green
JetBlue 458, Burbank zum JFK
2. April 2023
Aus dem Englischen von Michael Mundhenk
Die Halloween-Party
Ein Fall für Poirot
Die Kindergesellschaft bei den Drakes sollte am Abend stattfinden. Ariadne Oliver begleitete ihre Freundin Judith Butler, bei der sie einige Tage zu Besuch war, um bei den Vorbereitungen zu helfen.
Im Augenblick herrschte heilloses Durcheinander. Frauen liefen energisch hin und her, trugen Stühle, kleine Tische und Blumenvasen von einem Zimmer ins andere und verteilten große Mengen von Kürbissen über das ganze Haus.
Es war Halloween, der Tag vor Allerheiligen, der in England mit Maskeraden und lustigen Umzügen begangen wird, und die geladenen Gäste dieses Abends waren zwischen zehn und siebzehn Jahre alt.
Mrs Oliver hielt sich geschickt vom Zentrum der fieberhaften Aktivität fern. An die Wand gelehnt, hielt sie einen großen gelben Kürbis in die Höhe, betrachtete ihn kritisch und sagte: »Zum letzten Mal habe ich welche in Amerika gesehen, letztes Jahr, und da gleich Hunderte. Das ganze Haus war voll.«
»Oh – entschuldige«, sagte Mrs Butler, die über Mrs Olivers Füße gestolpert war.
Mrs Oliver drückte sich enger an die Wand.
»Meine Schuld«, sagte sie. »Ich stehe hier rum und bin im Weg. Aber die vielen Kürbisse waren wirklich eindrucksvoll. Man sah sie überall, in den Geschäften, in den Häusern, ausgehöhlt und von innen mit Kerzen beleuchtet. Aber das war nicht an Halloween, sondern beim Erntedankfest, und das ist später, erst in der dritten Novemberwoche.«
Die meisten der umhereilenden Frauen fielen früher oder später über Mrs Olivers Füße, hörten ihr aber nicht zu. Sie waren alle viel zu beschäftigt.
Es waren in der Hauptsache Mütter und eine oder zwei tüchtige Junggesellinnen. Ein paar größere Jungen kletterten auf Leitern und Stühle und dekorierten Wände und Schränke mit Kürbissen und Lampions. Mädchen zwischen elf und fünfzehn standen in Gruppen herum und kicherten.
Mrs Oliver plauderte weiter und ließ sich auf einen Sofaarm nieder, um sich gleich wieder zerknirscht zu erheben.
»Ich bin wirklich keine große Hilfe. Ich sitze hier herum und rede dummes Zeug über Kürbisse« – und schone meine Füße, dachte sie mit leichten Gewissensbissen, aber ohne allzu große Schuldgefühle.
»So, was kann ich jetzt tun?«, fragte sie, und dann: »Was für prächtige Äpfel!«
Jemand hatte gerade eine große Schüssel mit Äpfeln ins Zimmer gebracht. Mrs Oliver hatte eine Schwäche für Äpfel.
»Sie sind nicht besonders gut«, sagte Rowena Drake, die Gastgeberin, eine gut aussehende Frau mittleren Alters. »Aber sie sehen hübsch und festlich aus. Sie sind fürs Apfelschnappen gedacht und ziemlich weich, damit die Kinder leichter reinbeißen können. Trag sie doch bitte in die Bibliothek, Beatrice. Beim Apfelschnappen gibt’s immer eine große Überschwemmung, aber bei dem Teppich in der Bibliothek kommt es nicht drauf an. Oh, danke, Joyce.«
Joyce, eine kräftige Dreizehnjährige, hatte die Schüssel ergriffen. Zwei Äpfel fielen herunter und blieben, wie von einem Zauber gebannt, genau vor Mrs Olivers Füßen liegen.
»Sie mögen Äpfel, nicht wahr?«, sagte Joyce. »Ich hab davon gelesen. Sie sind doch die Frau, die Kriminalromane schreibt, oder?«
»Ja«, sagte Mrs Oliver.
»Eigentlich müssten Sie was organisieren heute Abend, irgendwas mit Mord. Zum Beispiel einer wird ermordet, und alle müssen den Täter finden.«
»Nein, danke«, sagte Mrs Oliver. »Nie wieder.«
»Was heißt das, nie wieder?«
»Na ja, ich habe so was mal gemacht, und es war kein großer Erfolg«, sagte Mrs Oliver.
»Aber Sie haben doch massenhaft Bücher geschrieben«, sagte Joyce. »Sie kriegen eine Menge Geld dafür.«
»Gewiss«, sagte Mrs Oliver und dachte an die Einkommensteuer.
»Und Ihr Detektiv ist ein Finne.«
Diese Tatsache leugnete Mrs Oliver nicht. Ein kleiner, phlegmatisch wirkender Junge, der nach Mrs Olivers Dafürhalten noch nicht zehn Jahre alt war, sagte streng: »Warum ein Finne?«
»Das habe ich mich oft schon selbst gefragt.«
Mrs Hargreaves, die Frau des Organisten, kam keuchend mit einem großen, grünen Plastikeimer ins Zimmer.
»Wie wäre der fürs Apfelschnappen?«, fragte sie. »Ich dachte, das sieht ganz lustig aus.«
Miss Lee, die Arzthelferin, sagte: »Ein Metalleimer ist besser. Der kippt nicht so leicht um. Wo soll es denn stattfinden, Mrs Drake?«
»Am besten in der Bibliothek. Der Teppich dort ist alt. Es läuft immer ziemlich viel Wasser über.«
»Gut, bringen wir die Äpfel in die Bibliothek. Und hier ist noch ein Korb voll, Rowena.«
»Lassen Sie mich den tragen«, sagte Mrs Oliver.
Sie hob die beiden heruntergerollten Äpfel auf. Geistesabwesend biss sie in einen kräftig hinein. Mrs Drake nahm ihr den zweiten energisch weg und legte ihn in die Schüssel zurück. Dann redete alles wieder durcheinander.
»Schön, aber wo soll der Feuerdrachen sein?«
»Den Feuerdrachen müsste man in der Bibliothek machen, da ist es am dunkelsten.«
»Nein, den machen wir im Esszimmer.«
»Dann muss man aber was über den Tisch legen.«
»Erst wird ein grünes Filztuch draufgelegt, und drüber kommt die Plastikdecke.«
»Was ist mit den Spiegeln? Können wir da wirklich unsere zukünftigen Ehemänner drin sehen?«
Mrs Oliver befreite sich unauffällig von ihren Schuhen und sank, immer noch emsig kauend, wieder auf das Sofa. Sie betrachtete die vielen Menschen im Zimmer mit kritischem Blick und dachte bei sich: Wenn ich über die Leute hier ein Buch schreiben würde, wie würde ich das machen? Es scheinen nette Leute zu sein – aber wer kann sich da schon sicher sein!
Eigentlich war es gerade spannend, dass sie nichts über sie wusste. Sie wohnten alle in Woodleigh Common, und von manchen konnte sie sich schon ein undeutliches Bild machen, weil Judith ihr dies und das erzählt hatte. Miss Johnson – hatte was mit der Kirche zu tun, nicht die Schwester vom Pfarrer. O natürlich, die Schwester vom Organisten. Rowena Drake, die offensichtlich die erste Geige in Woodleigh Common spielte. Dann die schnaufende Frau, die den Eimer gebracht hatte, einen besonders abscheulichen Plastikeimer. Aber Mrs Oliver konnte Plastik nun einmal nicht leiden. Und dann die Kinder, Teenager.
Bis jetzt waren es nur Namen für Mrs Oliver. Es gab eine Nan und eine Beatrice und eine Cathie, eine Diana und eine Joyce, die eine Angeberin war und impertinente Fragen stellte. Joyce mag ich nicht besonders, dachte Mrs Oliver. Ein Mädchen hieß Ann, sie war groß und wirkte überlegen. Zwei Jünglinge waren auch da, die offensichtlich das Neueste an Frisuren ausprobierten. Das Ergebnis war nicht sehr glücklich.
Ein kleinerer Junge betrat schüchtern das Zimmer.
»Mami schickt die Spiegel und lässt fragen, ob sie genügen«, sagte er ein wenig atemlos.
Mrs Drake nahm sie ihm ab.
»Vielen Dank, Eddy«, sagte sie.
»Das sind ja nur ganz gewöhnliche Handspiegel«, sagte das Mädchen, das Ann hieß. »Können wir da wirklich unsere Ehemänner drin sehen?«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht«, sagte Judith Butler.
»Haben Sie jemals das Gesicht Ihres Mannes gesehen, wenn Sie zu einer Party gehen – ich meine, zu so einer Party wie heute?«
»Natürlich nicht«, sagte Joyce.
»Vielleicht doch«, sagte die überlegene Beatrice. »Das nennt man übersinnliche Wahrnehmung«, fügte sie selbstzufrieden hinzu. Sie kannte sich aus in den modernen Fachausdrücken!
»Ich hab mal einen Roman von Ihnen gelesen«, sagte Ann zu Mrs Oliver. »Der sterbende Goldfisch. Ich fand ihn gut«, fügte sie mit liebenswürdiger Herablassung hinzu.
»Ich nicht«, sagte Joyce. »Es kam nicht genug Blut vor. Bei einem Mord muss massenhaft Blut dabei sein.«
»Nicht sehr appetitlich«, sagte Mrs Oliver, »findest du nicht auch?«
»Aber aufregend«, sagte Joyce.
»Nicht immer«, erwiderte Mrs Oliver.
»Ich hab mal einen Mord gesehen«, sagte Joyce.
»Sei nicht albern, Joyce«, sagte Miss Whittaker, die Lehrerin.
»Aber es stimmt«, sagte Joyce.
»Wirklich?«, fragte Cathie und sah Joyce mit aufgerissenen Augen an. »Hast du wirklich und wahrhaftig einen Mord gesehen?«
»Natürlich nicht«, sagte Mrs Drake. »Red nicht so albernes Zeug, Joyce.«
»Ich hab aber einen Mord gesehen«, sagte Joyce. »Jawohl. Jawohl. Jawohl.«
Einer der größeren Jungen blickte interessiert von seiner Leiter auf Joyce hinunter.
»Was für einen Mord?«, fragte er.
»Ich glaub das nicht«, sagte Beatrice.
»Natürlich nicht«, sagte Cathies Mutter. »Das hat sie sich ausgedacht.«
»Das hab ich mir nicht ausgedacht, Ich hab es gesehen.«
»Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?«, fragte Cathie.
»Weil ich zuerst nicht wusste, dass es ein Mord war. Erst viel später hab ich es gemerkt. Jemand hat was gesagt, erst vor ein paar Monaten, und da hab ich plötzlich gedacht: Natürlich, das war ein Mord, den ich da gesehen habe.«
»Da sieht man’s ja«, sagte Ann, »sie spinnt sich das alles zusammen. Purer Unsinn.«
»Wann soll das denn passiert sein?«, fragte Beatrice.
»Vor Jahren«, sagte Joyce. »Ich war damals noch ziemlich klein«, fügte sie hinzu.
»Wer hat denn wen ermordet?«, sagte Beatrice.
»Das sag ich nicht«, sagte Joyce. »Ihr seid alle widerlich.«
Miss Lee kam mit einem zweiten Eimer, und die Unterhaltung wandte sich dem Thema zu, ob Metall- oder Plastikeimer besser für das Apfelschnappen geeignet seien. Die Mehrzahl der Helfer begab sich in die Bibliothek, um die Sache an Ort und Stelle zu prüfen. Haare wurden nass, Wasser wurde vergossen, man rief nach Tüchern zum Aufwischen. Schließlich entschied man, dass ein Metalleimer besser sei.
Mrs Oliver brachte eine weitere Schüssel mit Äpfeln, woraus der Vorrat für den Abend wieder aufgefüllt werden sollte, und nahm sich wieder einen.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie so gern Äpfel essen«, sagte eine anklagende Stimme. Mrs Oliver war sich nicht sicher, ob es Anns oder Susans war.
»Das ist bei mir schon eine Gewohnheitssünde«, sagte Mrs Oliver.
»Melonen würden viel mehr Spaß machen«, wandte ein kleiner Junge ein. »Die sind so schön saftig. Denk mal, was das für eine Schweinerei gäbe«, sagte er und betrachtete genießerisch den Teppich.
Mrs Oliver, die sich der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Gier ein wenig schämte, machte sich auf die Suche nach einem bestimmten Ort, dessen Lage im Allgemeinen leicht zu ermitteln ist. Sie ging die Treppe hinauf. Als sie auf dem ersten Absatz um die Ecke bog, stieß sie fast mit einem Pärchen zusammen, das innig umschlungen an der Tür gerade des Raumes lehnte, den Mrs Oliver suchte. Das Paar nahm keinerlei Notiz von ihr. Sie seufzten und knutschten. Mrs Oliver überlegte, wie alt sie waren. Der Junge vielleicht fünfzehn, das Mädchen zwölf, obgleich gewisse Rundungen wesentlich reiferer Natur schienen.
»Verzeihung«, sagte Mrs Oliver laut und deutlich.
Das Paar hielt sich noch enger umschlungen und küsste sich hingebungsvoll.
»Verzeihung«, wiederholte Mrs Oliver. »Würdet ihr mich bitte vorbeilassen? Ich möchte gern hier hinein.«
Das Paar trennte sich nur unwillig. Beide sahen Mrs Oliver böse an. Sie ging hinein, knallte die Tür zu und schob den Riegel vor. Die Tür schloss nicht besonders gut, und sie konnte undeutliche Worte verstehen.
»Ist das nicht mal wieder typisch?«, sagte eine etwas wackelige Tenorstimme. »Man konnte doch wohl sehen, dass wir nicht gestört werden wollten.«
»Die Leute sind so egoistisch«, piepste eine Mädchenstimme. »Sie denken immer nur an sich.«
»Rücksichtslos«, sagte der Junge.
Ein Kinderfest macht meist sehr viel mehr Arbeit als eine Gesellschaft für Erwachsene. Gutes Essen, diverse Alkoholika, ein paar Flaschen Saft in Reserve – das genügt meist. Es mag mehr kosten, macht aber unendlich weniger Mühe. Darüber waren sich Ariadne Oliver und ihre Freundin Judith Butler einig.
»Und Teenager-Partys?«, fragte Judith.
»Damit habe ich wenig Erfahrung«, sagte Mrs Oliver.
»Im Grunde hat man damit am wenigsten Arbeit«, sagte Judith. »Sie schmeißen uns Erwachsene raus und sagen, sie machen alles allein.«
»Und tun sie das dann auch?«
»Na ja, nicht so, wie wir uns das vorstellen«, sagte Judith. »Die Sachen, die unbedingt nötig sind, vergessen sie, dafür kaufen sie lauter Zeug, das kein Mensch mag. Erst schmeißen sie uns raus, und dann beschweren sie sich, dass wir sie nicht besser versorgt haben. Sie machen einen Haufen Gläser und Geschirr kaputt, und dann ist immer irgendein ungebetener Gast dabei, oder jemand bringt einen unerfreulichen Freund mit.«
»Klingt ja deprimierend«, sagte Mrs Oliver.
»Na, die Gesellschaft heute Abend wird jedenfalls ein Erfolg. Dafür sorgt Rowena Drake schon. Sie ist ein ganz großer Organisator, Sie werden sehen.«
»Ich glaube, ich habe gar keine Lust, zu einer Party zu gehen«, seufzte Mrs Oliver.
»Legen Sie sich doch eine Stunde hin. Es wird Ihnen bestimmt Spaß machen, wenn Sie erst mal dort sind. Zu dumm, dass Miranda Fieber hat – das arme Kind ist so schrecklich enttäuscht, dass sie nicht hingehen kann.«
Die Kindergesellschaft fing um halb acht an, und Ariadne Oliver musste zugeben, dass ihre Freundin recht hatte. Alle fanden sich pünktlich ein, und das Fest verlief reibungslos und genau wie geplant. Die Treppen waren rot und blau beleuchtet und mit einer Unzahl gelber Kürbisse dekoriert. Die Mädchen und Jungen brachten geschmückte Besenstiele für einen Wettbewerb mit. Nach der Begrüßung gab Rowena Drake das Programm für den Abend bekannt. »Zuerst werden die Besenstiele begutachtet«, sagte sie. »Es gibt drei Preise. Dann gehen wir zum Mehlschneiden in den kleinen Wintergarten. Dann kommt Apfelschnappen – dort drüben hängt eine Partnerliste an der Wand –, und dann wird getanzt. Jedes Mal, wenn das Licht ausgeht, müssen die Partner ausgetauscht werden. Dann gehen die Mädchen in die kleine Bibliothek zum Spiegelgucken. Danach gibt’s Abendbrot, die Preisverteilung und zum Schluss den Feuerdrachen.«
Wie die meisten Partys kam auch diese zuerst nur schwer in Gang. Die Besen, meist kleine Puppenbesen, wurden bewundert, obgleich keine der Dekorationen mehr als bescheidenes Mittelmaß erreichte … »Was die ganze Sache sehr vereinfacht«, sagte Mrs Drake leise zu einer Freundin. »Das Ganze ist überhaupt sehr nützlich, denn es gibt immer ein oder zwei Kinder, von denen man genau weiß, dass sie bei keinem der anderen Spiele einen Preis gewinnen, und hier kann man dann ein bisschen schummeln.«
»Wie skrupellos, Rowena!«
»Ganz und gar nicht. Der springende Punkt ist doch, dass jedes Kind irgendetwas gewinnen möchte.«
»Was ist denn Mehlschneiden?«, fragte Mrs Oliver.
»Man füllt ein Wasserglas mit Mehl, presst es fest hinein, stürzt es auf ein Brett und legt ein Geldstück obendrauf. Dann muss jeder ganz vorsichtig eine Scheibe davon abschneiden, ohne dass die Münze hinunterfällt. Der, bei dem sie fällt, scheidet aus. Wer übrig bleibt, bekommt das Geldstück. So, und jetzt los.«
Und es ging los. Aufgeregtes Quietschen schallte aus der Bibliothek, in der Apfelschnappen gespielt wurde, und die Wettkämpfer kehrten mit nassen Haaren und in generell angefeuchtetem Zustand zurück.
Das größte Ereignis – jedenfalls für die Mädchen – war die Ankunft der Hexe, die von Mrs Goodbody, einer Putzfrau aus dem Ort, gespielt wurde. Mrs Goodbody hatte nicht nur die unerlässliche Hakennase und das der Nasenspitze entgegenstrebende Kinn, sondern konnte auch mit unheimlicher Singsangstimme sprechen und magische Knittelverse erfinden, etwa dieser Art:
»Abrakadabra, was sehen wir heut? Den Mann im Spiegel, der Beatrice freit. Blick in den Spiegel, Beatrice fein, der, den du dort siehst, wird dein Mann einst sein.«
Von einer hinter einem Wandschirm verborgenen Leiter aus wurde ein starker Lichtstrahl auf genau den Fleck an der Wand geworfen, der in dem Spiegel zu sehen war, den Beatrice aufgeregt festhielt.
»Oh!«, rief Beatrice. »Ich hab ihn gesehen. Ich hab ihn gesehen! Ich kann ihn im Spiegel sehen!«
Der Lichtstrahl verlosch, das Licht ging wieder an, und ein farbiges Foto flatterte von der Decke herab. Beatrice hüpfte aufgeregt herum.
»Das war er! Das war er! Ich hab ihn gesehen«, rief sie. »Oh, er hat einen tollen roten Bart.«
Sie rannte zu Mrs Oliver, die am nächsten stand.
»Sehen Sie doch, sehen Sie doch bitte. Finden Sie ihn nicht toll? Er sieht wie Eddie Presweight aus, wie der Popstar. Finden Sie nicht?«
Mrs Oliver gab zu, dass er Ähnlichkeit mit einem der Gesichter hatte, die sie zu ihrem Leidwesen jeden Morgen in ihrer Zeitung vorfand. Der Bart, fand sie, war ein genialer Einfall.
»Woher kommen denn all diese Fotografien?«, fragte sie Judith.
»Nicky hat sie für Rowena gemacht. Sein Freund Desmond half ihm dabei. Er beschäftigt sich viel mit Fotografieren und experimentiert herum. Er und zwei Freunde haben sich zurechtgemacht, mit Perücken und angeklebten Koteletten und Bärten. Das Ganze mit Gegenlicht fotografiert, und die Mädchen überschlagen sich vor Entzücken.«
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Ariadne Oliver, »aber heutzutage scheinen die Mädchen wirklich albern zu sein.«
»Meinen Sie nicht, dass das immer so war?«, fragte Rowena Drake.
Mrs Oliver nickte. »Sie haben wohl recht.«
»So, Kinder«, rief Mrs Drake, »Abendbrot!«
Das Essen war ein großer Erfolg. Es gab Cremetorten, scharf gewürzte Häppchen, Krabben, Käse und Konfekt. Alles stopfte sich begeistert voll.
»Und jetzt«, sagte Rowena, »der Abschluss des Abends. Feuerdrachen. Geht alle mal da rüber, durch die Küche. So, und nun die Preisverteilung.«
Die Preise wurden verteilt, und dann erklang ein lautes Heulen. Die Kinder stürmten durch die Halle zurück ins Esszimmer. Das Essen war fortgeräumt. Der Tisch war mit einem grünen Filztuch bedeckt, und dann wurde eine Riesenschüssel mit in brennendem Weinbrand schwimmenden Rosinen hereingetragen. Alles drängte sich kreischend heran und griff nach den brennenden Rosinen. »Au! Ich hab mich verbrannt! Oh, wie herrlich!« Allmählich begann der Feuerdrachen zu flackern, und schließlich erstarb die Flamme. Die Lichter gingen wieder an. Das Fest war zu Ende.
»Es war ein großer Erfolg«, sagte Rowena.
»Das sollte es aber auch sein nach all der Mühe, die Sie sich gemacht haben.«
»Es war sehr schön«, sagte Judith leise. »Und jetzt«, fügte sie seufzend hinzu, »müssen wir ein bisschen aufräumen. Wir können nicht alles den armen Putzfrauen überlassen.«
In einer Wohnung in London klingelte das Telefon. Der Besitzer der Wohnung, Hercule Poirot, hob lauschend den Kopf. Ein Gefühl der Enttäuschung überkam ihn. Er wusste, was dieser Anruf bedeutete. Sein Freund Solly, mit dem er den Abend verbringen und die nie endende Diskussion über den wahren Täter der Stadtbadmorde fortsetzen wollte, sagte wahrscheinlich ab. Poirot, der inzwischen eifrig Beweismaterial für seine eigene, etwas weit hergeholte Theorie gesammelt hatte, war enttäuscht. Es war sehr ärgerlich, wenn Solly heute Abend nicht kam. Andererseits hatte Solly heute Morgen schon einen ekelhaften Husten gehabt, als sie telefoniert hatten.
»Er hat eine scheußliche Erkältung«, sagte sich Hercule Poirot, »und würde mich bestimmt anstecken. Besser, er kommt nicht. Tout de même«, fügte er seufzend hinzu, »das heißt, dass ich einen sehr langweiligen Abend von mir habe.«
In letzter Zeit waren viele Abende langweilig, dachte Hercule Poirot. So brillant sein Verstand auch war (diese Tatsache hatte er noch nie angezweifelt), brauchte er doch Anregung von außen. Philosophische Weltbetrachtungen hatten ihm noch nie gelegen. Sein Diener George betrat das Zimmer.
»Das war Mr Solomon Levy, Sir.«
»Ah ja«, sagte Hercule Poirot.
»Er bedauert es sehr, aber er liegt mit einem schweren Grippeanfall im Bett.«
»Er hat nicht die Grippe«, sagte Hercule Poirot. »Er hat nur eine schwere Erkältung. Alle denken immer, sie haben die Grippe. Das klingt bedeutender. Die Leute haben dann mehr Mitgefühl mit einem.«
»Trotzdem gut, dass er nicht kommt, Sir«, sagte George. »Es wäre nicht das Richtige, wenn Sie sich auch mit einer hinlegen müssten.«
»Es wäre außerordentlich lästig«, stimmte Poirot zu.
Das Telefon läutete zum zweiten Mal.
»Und wer hat jetzt eine Erkältung?«, fragte er. »Ich habe niemand mehr eingeladen.«
George ging zum Telefon.
»Ich nehme schon ab«, sagte Poirot. »Ohne Zweifel wird es irgendetwas Uninteressantes sein. Aber« – und er zuckte die Achseln – »die Zeit vergeht wenigstens.«
George sagte: »Wie Sie meinen, Sir«, und verließ das Zimmer.
Poirot streckte seine Hand aus und hob den Hörer von der Gabel.
»Hier spricht Hercule Poirot«, sagte er mit einer Würde, die den Anrufer, wer immer es sein mochte, beeindrucken sollte.
»Das ist ja wunderbar«, sagte eine lebhafte weibliche Stimme atemlos. »Ich dachte nicht, dass Sie zu Hause sein würden.«
»Warum haben Sie das gedacht?«, fragte Poirot.
»Weil ich das Gefühl habe, dass heutzutage dauernd unangenehme Sachen passieren. Man braucht jemand, es ist furchtbar eilig, man kann auf keinen Fall warten – und dann muss man warten. Ich wollte Sie dringend erreichen – Dringlichkeitsstufe eins!«
»Und wer sind Sie?«, fragte Hercule Poirot.
Die weibliche Stimme klang überrascht. »Wissen Sie das denn nicht?«
»Doch, ich weiß es«, sagte Hercule Poirot. »Sie sind meine Freundin Ariadne.«
»Und ich bin in einer fürchterlichen Verfassung«, sagte Ariadne.
»Ja, ja, das höre ich. Sind Sie außerdem auch noch gerannt? Sie sind ziemlich außer Atem.«
»Gerannt bin ich nicht gerade. Es ist die Aufregung. Kann ich jetzt gleich zu Ihnen kommen?«
Poirot ließ einige Augenblicke verstreichen, ehe er antwortete. Seine Freundin Mrs Oliver klang äußerst aufgeregt. Mochte los sein mit ihr, was wollte, auf jeden Fall würde sie Stunden damit verbringen, sich all ihre Klagen, ihre Frustration von der Seele zu reden. Wenn sie sich erst einmal in Poirots geheiligten vier Wänden niedergelassen hätte, würde sie schwerlich ohne einen gewissen Grad von Unhöflichkeit zum Heimgehen zu bewegen sein. Mrs Oliver regte sich über so zahlreiche und häufig so unerwartete Dinge auf, dass man nur mit großer Vorsicht darauf eingehen durfte.
»Sie haben sich aufgeregt?«
»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht … Ich habe das Gefühl, ich muss kommen und Ihnen erzählen, was passiert ist, weil Sie der Einzige sind, der vielleicht weiß, was zu tun ist. Kann ich also kommen?«
»Aber gewiss, aber gewiss. Es wird mir eine Freude sein, Sie zu empfangen.«
Am anderen Ende fiel der Hörer schwer in die Gabel. Poirot rief George, überlegte einige Minuten und ließ dann ein Glas Zitronenlimonade und für sich selbst ein Glas Cognac kommen.
»Mrs Oliver kommt in etwa zehn Minuten«, sagte er.
Dann wappnete er sich mit einem vorsichtigen Schluck Cognac gegen die Prüfungen, denen er in Kürze ausgesetzt sein würde.
»Es ist jammerschade«, murmelte er vor sich hin, »dass sie so verrückt ist. Und trotzdem hat sie eine gewisse Originalität. Es kann sein, dass es mir sogar Spaß macht, ihr heute Abend zuzuhören. Es kann aber auch sein« – er überlegte eine Minute –, »dass es den ganzen Abend in Anspruch nimmt und sich um außerordentlich törichtes Zeug handelt. Eh bien, man muss im Leben was riskieren.«
Es klingelte. Diesmal an der Wohnungstür.
Er hörte, wie George die Tür öffnete, doch bevor der Besuch gemeldet werden konnte, flog die Wohnzimmertür auf, und Ariadne Oliver stürmte herein, in etwas gehüllt, das wie ein Südwester und das Ölzeug eines Fischers aussah.
»Um Gottes willen, was haben Sie denn an?«, sagte Hercule Poirot. »Lassen Sie es sich von George abnehmen. Es ist sehr nass.«
»Natürlich ist es nass«, sagte Mrs Oliver. »Draußen ist es auch sehr nass. Ich habe früher nie über Wasser nachgedacht. Es ist scheußlich, daran zu denken.«
Poirot beobachtete sie mit Interesse.
»Möchten Sie eine Zitronenlimonade?«, fragte er. »Oder kann ich Sie zu einem kleinen Glas eau de vie überreden?«
»Ich hasse Wasser«, sagte Mrs Oliver.
Poirot sah überrascht aus.
»Ich hasse Wasser. Ich habe früher nie darüber nachgedacht. Was es alles tun kann – und überhaupt.«
»Liebe Freundin«, sagte Hercule Poirot, während George sie aus den steifen Falten ihres Ölzeugs schälte. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Lassen Sie George das nehmen – was ist es?«
»Ich hab es in Cornwall gekauft«, sagte Mrs Oliver. »Ölzeug. Richtiges, authentisches Ölzeug für Fischer.«
»Die es zweifellos gut gebrauchen können«, sagte Poirot. »Aber für Sie doch wohl nicht ganz das Richtige. Viel zu schwer. Kommen Sie, setzen Sie sich und erzählen Sie.«
»Ich weiß nicht, wie«, sagte Mrs Oliver und sank in einen Sessel. »Wissen Sie, manchmal habe ich das Gefühl, es kann gar nicht wahr sein. Aber es ist passiert.«
»Erzählen Sie«, sagte Poirot.
»Jetzt, wo ich hier bin, ist es so schwierig, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
»Mit dem Anfang«, schlug Poirot vor. »Oder ist das zu konventionell?«
»Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Das kann vor langer Zeit gewesen sein.«
»Beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Poirot. »Sammeln Sie die verschiedenen Fäden dieser Sache und erzählen Sie dann. Was hat Sie so aufgeregt?«
»Sie hätte es auch aufgeregt«, sagte Mrs Oliver. »Jedenfalls nehme ich das an.« Sie schien leise Zweifel zu hegen. »Man weiß bei Ihnen nie, was Sie aufregen würde. Sie nehmen so vieles mit Gelassenheit.«
»Das ist oft das Beste«, sagte Poirot.
»Na schön«, sagte Mrs Oliver. »Es fing mit einer Gesellschaft an, einer Kindergesellschaft.«
»Ah ja«, sagte Poirot erleichtert, dass ihm etwas so Alltägliches und Normales wie eine Gesellschaft präsentiert wurde. »Eine Gesellschaft. Sie sind auf ein Kinderfest gegangen, und dann ist etwas passiert.«
»Wissen Sie, was an Halloween los ist?«, fragte Mrs Oliver.
»Ja«, sagte Poirot mit einem Augenzwinkern. »Dann reiten die Hexen auf dem Besen.«
»Besen waren auch da«, sagte Mrs Oliver. Sie wurden prämiert.«
»Prämiert?«
»Ja, für die beste Dekoration.«
Poirot sah sie etwas skeptisch an.
»Ich gestehe, ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen«, sagte er.
Mrs Oliver holte tief Luft und fing noch einmal an.
»Im Grunde fing es mit den Äpfeln an«, sagte sie.
»Ah ja«, sagte Poirot, »natürlich. Bei Ihnen fängt es wohl immer damit an, nicht wahr?«
Er dachte an ein kleines Auto auf einem Hügel und an eine dicke Frau, die aus dem Auto ausstieg, und an eine Tüte mit Äpfeln, die zerriss, und an die Äpfel, wie sie den Hügel hinunterrollten.
»Apfelschnappen«, sagte Mrs Oliver. »Das ist eines von den Spielen, die man auf solchen Kindergesellschaften spielt.«
»Ah ja, ich glaube, ich habe schon davon gehört, ja.«
»Es wurde alles Mögliche gespielt. Apfelschnappen und Mehlschneiden und dann das Spiegel-Orakel …«
»Bei dem das Gesicht des zukünftigen Liebsten im Spiegel erscheint?«
»Ah«, sagte Mrs Oliver. »Endlich fangen Sie an zu verstehen.«