A Slow Fire Burning - Paula Hawkins - E-Book

A Slow Fire Burning E-Book

Paula Hawkins

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Beschreibung

Ein schreckliches Verbrechen. Drei verdächtige Frauen. Ist eine von ihnen fähig zu töten? Der weltweite Nr.-1-Bestseller

Auf einem idyllisch gelegenen Hausboot auf dem Londoner Regent‘s Canal wird die Leiche von Daniel Sutherland gefunden. Der junge Mann wurde brutal erschlagen. Rasch gerät die 25-jährige Laura Kilbride in Verdacht. Sie wurde am Abend zuvor beobachtet, wie sie mit blutigen Händen den Tatort verließ. Die Sache scheint ein klarer Fall zu sein.
Doch wie verlässlich ist die Zeugin, die Laura gesehen haben will? Miriam Lewis lebt auf einem benachbarten Hausboot und hat stets ein wachsames Auge auf ihre Nachbarn. Miriam versorgt die Ermittler mit auffällig vielen Hinweisen – die stets von ihr selbst wegführen und nicht nur Laura, sondern auch noch eine weitere Verdächtige ins Spiel bringen ...

Dieses Buch ist unter dem Titel »Wer das Feuer entfacht – Keine Tat ist je vergessen« als Hardcover erschienen.

Entdecken Sie auch die anderen fesselnden Bestseller von Paula Hawkins:
Girl on the Train – Du kennst sie nicht. Aber sie kennt dich.
Into the Water – Traue keinem. Auch nicht dir selbst.

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Seitenzahl: 424

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Buch

Auf einem idyllisch gelegenen Hausboot auf dem Londoner Regent‘s Canal wird die Leiche von Daniel Sutherland gefunden. Der junge Mann wurde brutal erschlagen. Rasch gerät die 25-jährige Laura Kilbride in Verdacht. Sie wurde am Abend zuvor beobachtet, wie sie mit blutigen Händen den Tatort verließ. Die Sache scheint ein klarer Fall zu sein.

Doch wie verlässlich ist die Zeugin, die Laura gesehen haben will? Miriam Lewis lebt auf einem benachbarten Hausboot und hat stets ein wachsames Auge auf ihre Nachbarn. Miriam versorgt die Ermittler mit auffällig vielen Hinweisen – die stets von ihr selbst wegführen und und nicht nur Laura, sondern auch noch eine weitere Verdächtige ins Spiel bringen ...

Autorin

Paula Hawkins arbeitete fünfzehn Jahre lang als Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Sie wuchs in Simbabwe auf, 1989 zog sie nach London. Ihr erster Spannungsroman »Girl on the Train« wurde zu einem internationalen Phänomen und verkaufte sich weltweit 23 Millionen mal und wurde, mit Emily Blunt in der Hauptrolle, ein großer Kinoerfolg. Auch ihre Romane »Into the Water« und »A Slow Fire Burning – Wer das Feuer entfacht« sorgten internationale für Furore und begeisterten Millionen Leserinnen und Leser weltweit.

Von Paula Hawkins bereits erschienen

Girl on The Train – Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich.

Into the Water – Traue keinem. Auch nicht dir selbst.

A Slow Fire Burning – Wer das Feuer entfacht

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Paula Hawkins

A Slow Fire Burning

Wer das Feuer entfacht

Roman

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »A Slow Fire Burning« bei Transworld Publishers, London.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Wer das Feuer entfacht – Keine Tat ist je vergessen« im Blanvalet Verlag.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © Paula Hawkins, 2021

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Karte: © Liane Payne

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30436-2V001

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist dem Andenken an Liz Hohenadel Scott gewidmet, die mit ihrem Strahlen die Welt zu einem wärmeren Ort machte.

Sie wird uns fehlen.

»manche sind dazu bestimmt, Aasvögel zu sein, & andere, umkreist zu werden.«

Emily Skaja, My History As

Blutbesudelt taumelt das Mädchen in die Schwärze. Ihre Kleidung ist zerrissen, hängt ihr in Fetzen vom Leib und entblößt blasse Haut. Einen Schuh hat sie verloren, der Fuß blutet. Alles tut weh, doch der Schmerz hat jede Bedeutung verloren, ist überblendet von tieferem Leid.

Ihr Gesicht ist eine Maske des Grauens, ihr Herz eine Trommel, ihr Atem das Hecheln eines Fuchses, der in sein Versteck gehetzt ist.

Die nächtliche Stille wird von einem leisen Dröhnen durchbrochen. Ein Flugzeug? Das Mädchen wischt sich Blut aus den Augen, schaut zum Himmel und sieht nichts als Sterne.

Das Dröhnen wird lauter, tiefer. Ein Auto, das den Gang wechselt? Hat sie es zur Hauptstraße geschafft? Ihr wird leichter ums Herz, und irgendwoher nimmt sie Kraft loszurennen.

Das Licht in ihrem Rücken spürt sie eher, als dass sie es sieht. Sie spürt, wie ihr Körper inmitten der Schwärze von hinten angestrahlt wird, aus Richtung der Farm. Sie dreht sich um.

Sie weiß, ehe sie ihn sieht, dass er sie entdeckt hat. Sie weiß, ehe sie ihn sieht, dass es sein Gesicht hinter dem Lenkrad ist. Sie erstarrt. Eine Sekunde zögert sie, dann verlässt sie die Straße, rennt um ihr Leben, durch einen Graben, über einen Holzzaun. Sie taumelt in das Feld dahinter, rennt blindlings weiter, stürzt, rappelt sich wieder hoch, alles ohne einen Mucks. Was würde Schreien schon helfen?

Als er sie einholt, packt er ihr Haar und zerrt sie zu Boden. Sie kann seinen Atem riechen. Sie weiß, was er ihr gleich antut. Sie weiß, was kommt, sie hat es ihn bereits tun sehen, sie hat gesehen, was er ihrer Freundin angetan hat, wie brutal er …

»Herr im Himmel«, murmelte Irene, schlug das Buch zu und warf es auf den Haufen für den Wohltätigkeitsbuchladen. »Was für ein Stuss.«

1

In Lauras Kopf meldete sich Deidre zu Wort: Dein Problem ist, dass du die falschen Entscheidungen fällst.

Fuck, du hast so was von recht, Deidre. Nicht dass Laura so etwas je sagen oder auch nur denken würde, aber die Deidre aus ihrer Vorstellung hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Schließlich stand Laura gerade schlotternd in ihrem Bad, und Blut pulsierte heiß aus der Schnittwunde in ihrem Arm. Sie beugte sich vor und lehnte die Stirn gegen den Spiegel, damit sie sich nicht länger in die Augen sehen musste, allerdings war nach unten zu schauen noch schlimmer, weil sie da sehen konnte, wie das Blut floss, und davon wurde ihr schummrig und übel, als müsste sie sich jeden Moment übergeben. So viel Blut. Der Schnitt war tiefer als gedacht. Sie sollte in die Notaufnahme fahren. Auf keinen Fall würde sie in die Notaufnahme fahren. Falsche Entscheidungen.

Als die Blutung endlich nachzugeben schien, zog Laura ihr T-Shirt aus und ließ es auf den Boden fallen, sie stieg aus Jeans und Slip, wand sich aus ihrem BH, atmete scharf ein, als der BH-Verschluss über den Schnitt kratzte, und zischte: »Mist, Mist verfluchter Mist!«

Sie warf auch den BH zu Boden und stieg in die Badewanne, drehte die Dusche auf und stand bibbernd unter dem kümmerlichen Rinnsal von brühend heißem Wasser (in ihrer Dusche hatte sie nur die Wahl zwischen brühend heiß und eiskalt). Immer wieder fuhr sie mit den verschrumpelten Fingerspitzen über die knochenweißen, wunderschönen Narben: Hüfte, Schenkel, Hinterkopf. Schau dich an,sagte sie leise, schau dich an.

Mit dem halbherzig in mehrere Rollen Klopapier gewickelten Unterarm und einem fadenscheinigen Badetuch um den Leib setzte Laura sich hinterher auf das hässliche graue Kunstledersofa in ihrem Wohnzimmer und rief ihre Mutter an. Die Mailbox sprang an, und sie legte auf. Wozu Guthaben verschwenden? Als Nächstes rief sie ihren Vater an. »Alles im Lot, Hase?« Sie konnte Geräusche im Hintergrund hören, das Radio. BBC 5 Live, der Nachrichtensender.

»Dad.« Sie hatte einen Kloß im Hals und schluckte.

»Was gibt’s?«

»Dad, kannst du vorbeikommen? Ich … Ich hab eine schlimme Nacht hinter mir, ich hab mich gefragt, ob du kurz vorbeikommen könntest. Ich weiß, es ist eine ziemliche Fahrerei, aber ich …«

»Nein, Philip.« Deidre, die im Hintergrund durch die zusammengebissenen Zähne zischte. »Wir sind heute beim Bridge.«

»Dad? Kannst du den Lautsprecher ausschalten?«

»Liebes, ich …«

»Im Ernst, kannst du den Lautsprecher ausschalten? Ich will ihre Stimme nicht hören, sonst muss ich sofort irgendwas abfackeln …«

»Jetzt komm schon, Laura …«

»Vergiss es, Dad, ist schon gut.«

»Ganz bestimmt?«

Nein nein nein verfluchte Scheiße nein. »Ja, sicher. Es geht schon. Es wird schon gehen.«

Auf dem Weg ins Schlafzimmer trat sie auf ihre Jacke, die sie im Flur fallen gelassen hatte, weil sie es so eilig gehabt hatte, ins Bad zu kommen. Sie hob sie auf. Der Ärmel war zerrissen, Daniels Uhr steckte noch in der Tasche. Sie holte die Uhr heraus, drehte sie um, streifte sie sich übers Handgelenk. Das Toilettenpapier um ihren Unterarm erblühte scharlachrot, erneut pulsierte das Blut sanft pochend aus ihr heraus. Ihr wurde schwindlig. Im Bad ließ sie die Uhr ins Waschbecken fallen, riss den Papierverband ab, ließ das Handtuch auf den Boden rutschen. Stieg wieder unter die Dusche.

Sie kratzte sich mit einer Schere die Fingernägel sauber und schaute zu, wie das Wasser rosa über ihre Füße floss. Sie schloss die Augen. Sie hörte Daniels Stimme – Was stimmt nicht mit dir? – und Deidres Stimme – Nein, Philip, wir sind heute beim Bridge – und ihre eigene: Irgendwas abfackeln. Abfackeln abfackeln abfackeln.

2

Jeden zweiten Sonntag leerte Miriam die Toilette. Dazu musste sie den (immer wieder überraschend und unangenehm schweren) Tank aus der kleinen Bordtoilette im Heck heben, ihn durch die Kabine und vom Boot auf den Uferweg tragen und von dort gute hundert Meter zu den Waschräumen, wo der Inhalt in die Entsorgungsstation gekippt und weggespült wurde und der Tank ausgewaschen werden musste, um Rückstände zu entfernen. Einer der weniger idyllischen Aspekte des Lebens auf einem Kanalboot und eine Aufgabe, die sie lieber in aller Frühe erledigte, wenn sonst niemand unterwegs war. So würdelos, die eigene Scheiße zwischen Spaziergängern, Hundebesitzern und Joggern rumschippern zu müssen.

Draußen auf dem Achterdeck vergewisserte sie sich, dass der Weg frei war – dass keine Hindernisse lauerten, Fahrräder oder Flaschen (Menschen konnten extrem asozial sein, vor allem am späten Samstagabend). Es war ein strahlender Morgen, kalt für März, wenngleich ein paar weiße Knospen an frisch glänzenden Platanen- und Birkenzweigen schon einen Hauch Frühling verbreiteten.

Kalt für März, und trotzdem stand die Kabinentür des Kanalboots nebenan offen, wie schon am Vorabend. Das war ungewöhnlich. Aber wie es sich traf, hatte sie mit dem jungen Mann, der auf dem Nachbarboot wohnte, ohnehin über die zulässige Liegedauer sprechen wollen: Er beanspruchte seinen Liegeplatz inzwischen seit sechzehn Tagen, zwei Tage länger als erlaubt, und sie hatte sich vorgenommen, ihm klarzumachen, dass es für ihn Zeit wurde abzulegen, auch wenn das eigentlich nicht ihr Job, nicht ihre Pflicht war, andererseits gehörte sie – im Gegensatz zu den meisten hier – zum Inventar, und damit ging ein besonderes Verantwortungsgefühl einher.

So erzählte Miriam es jedenfalls DI Barker, als der sie später fragte: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen nachzusehen? Der Detective Inspector saß ihr mit hängenden Schultern und rundem Rücken direkt gegenüber. Fast berührten sich ihre Knie. Ein Kanalboot war für große Männer nicht gemacht, und Barker war ein ausgesprochen großer Mann mit einem Kopf wie eine Billardkugel und einem verstörten Gesichtsausdruck, so als hätte er geplant, den Tag ganz anders zu verbringen, mit etwas Lustigem, mit seinen Kindern im Park zum Beispiel, statt jetzt hier mit ihr zu sitzen, und als wäre er darüber nicht glücklich.

»Haben Sie irgendwas angefasst?«, fragte er.

Hatte sie? Irgendwas angefasst? Miriam schloss die Augen. Sie sah vor sich, wie sie ungeduldig gegen das Fenster des blau-weißen Bootes klopfte. Wie sie auf eine Reaktion, eine Stimme, ein Zucken des Vorhangs wartete. Wie sie sich bückte, als keine Reaktion kam, und wie ihr Versuch, in die Kabine zu schauen, an der Gardine und einer bestimmt jahrzehntealten Schicht aus Stadt- und Flussschmutz scheiterte. Wie sie noch einmal klopfte und dann, nach ein paar Sekunden, hinten aufs Achterdeck stieg. Hallo? Jemand zu Hause?

Sie sah sich selbst, wie sie an der Kabinentür zog, ganz sachte nur, und wie ihr eine Duftschwade in die Nase wehte, der Geruch von Eisen, Fleisch und Hunger. Hallo? Wie sie die Tür ganz aufzog und die Stufen in die Kabine hinunterstieg und ihr das letzte Hallo im Hals stecken blieb, als sie alles vor sich sah: den auf dem Boden liegenden Jungen – nein, keinen Jungen, einen jungen Mann –, das viele Blut, das breite Lächeln, das man ihm in die Kehle geschlitzt hatte.

Sie sah sich selbst schwanken, die Hand vor den Mund pressen und einen schwindelerregenden Augenblick lang vorwärtskippen, bis sie mit der Hand an der Theke Halt fand. O Gott.

»Ich habe die Theke angefasst«, erklärte sie dem Detective. »Ich glaube, ich habe mich an der Theke festgehalten, gleich vorn links, wenn man in die Kabine kommt. Ich habe ihn gesehen und dachte … Also, ich … Mir wurde übel.« Sie wurde rot. »Aber übergeben hab ich mich nicht, da noch nicht. Draußen … Es tut mir leid, ich …«

»Nicht so schlimm.« Barker sah ihr immer noch in die Augen. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Was haben Sie dann gemacht? Sie haben die Leiche gesehen, sich an der Theke festgehalten …?«

Der Gestank war ihr in die Nase gestiegen. Unter dem Blut, all diesem Blut hatte sie noch etwas gerochen, etwas Älteres, süßlich und faulig, wie Lilien, die zu lange in der Vase standen. Dieser Geruch, gepaart mit seinem Anblick, dem unmöglich zu widerstehen war, dem schönen, toten Gesicht, den langen Wimpern um die glasigen Augen, den vollen Lippen über den ebenmäßigen weißen Zähnen … Rumpf, Hände und Arme waren blutüberströmt, die Fingerspitzen in den Boden gekrallt. Als hätte er sich noch festhalten wollen. Sie wollte sich gerade umdrehen und gehen, als ihr Blick am Boden hängen blieb, an einem Fremdkörper – an einem silbernen Aufblitzen, halb eingesunken in klebrigem, fast schwarzem Blut.

Nach Luft schnappend und würgend stolperte sie aus der Kabine. Sie erbrach sich auf den Uferweg, wischte sich den Mund ab und schrie: »Hilfe! Polizei!«, aber es war Sonntagmorgen, kaum halb acht und niemand unterwegs. Der Uferweg war verwaist, selbst die Straße oben war still, nichts war zu hören außer dem Brummen des Generators und dem Gezeter einiger langsam vorbeischwimmender Sumpfhühner. Sie sah zur Kanalbrücke hoch und meinte dort jemanden zu sehen, nur ganz kurz, doch schon im nächsten Moment war niemand mehr da, sie war wieder allein und erfüllt von lähmender Angst.

»Ich bin wieder raus«, erzählte Miriam dem Detective. »Ich bin sofort runter vom Boot und … hab die Polizei gerufen. Ich habe mich übergeben, dann bin ich zu meinem Boot gelaufen und habe die Polizei gerufen.«

»Okay. Okay.«

Sie hob den Blick. Er sah sich um, begutachtete die winzige, aufgeräumte Kabine, die Bücher über dem Spülbecken (Das One Pot Kochbuch, Gemüse neu entdeckt), die Kräuter auf der Fensterbank, Basilikum und Koriander in Plastiktöpfen, den halb verholzten Rosmarin im rot glasierten Übertopf. Sein Blick wanderte über das mit Taschenbüchern vollgestopfte Regal, über das staubige Einblatt und das gerahmte Foto eines wenig ansehnlichen Paares mit einem grobknochigen Kind in der Mitte. »Sie leben allein hier?«, fragte er, auch wenn es nicht wirklich nach Frage klang. Sie konnte ihm ansehen, was er dachte. Alte Vettel, Baumschmuserin, Sauerteigzüchterin, Nachbarschaftsspitzel. Die in alles ihre Nase reinsteckt. Miriam wusste, was ihre Mitmenschen von ihr hielten.

»Kennen Sie … Haben Sie engeren Kontakt zu Ihren … Nachbarn? Kann man da von Nachbarn sprechen? Eigentlich nicht, wenn sie immer nur ein paar Wochen hier sind, oder?«

Miriam zuckte mit den Schultern. »Manche kommen regelmäßig, sie haben ihre Lieblingsstrecken, Flussabschnitte, die sie besonders gern befahren, manche lernt man also durchaus kennen. Wenn man das möchte. Man kann aber auch für sich bleiben, wenn einem das lieber ist … so wie mir.«

Der Detective sagte nichts, sondern sah sie nur mit leerem Blick an. Er versuchte eindeutig, sich ein Urteil über sie zu bilden, und hinterfragte ihre Antworten, glaubte nicht unbedingt, was sie ihm erzählte.

»Was ist mit ihm? Mit dem Mann, den Sie heute Morgen gefunden haben?«

Miriam schüttelte den Kopf. »Den hab ich nicht gekannt. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, wir haben … Also, man kann nicht sagen, dass wir miteinander geredet hätten. Ich hab Hallo gesagt oder ihm einen guten Morgen oder so gewünscht, und er hat geantwortet. Das war’s.«

(Nicht ganz: Es stimmte, dass sie ihn nur ein paarmal gesehen hatte, seit er hier festgemacht hatte, und dass sie ihn sofort als Amateur eingestuft hatte. Das Schiff war ein Wrack – der Lack blättrig, die Türstürze rostig, der Schornstein windschief –, während er selbst viel zu adrett aussah für jemanden, der auf dem Kanal lebte. Saubere Kleidung, weiße Zähne, keine Piercings, keine Tattoos. Jedenfalls keine sichtbaren. Ein gut aussehender junger Mann, recht groß, dunkelhaarig, dunkeläugig, das Gesicht ebenmäßig und kantig. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihm einen guten Morgen gewünscht, und als er lächelnd zu ihr hochgesehen hatte, hatten sich ihr die Nackenhaare aufgestellt.

Das war ihr damals aufgefallen. Nicht dass sie es dem Detective erzählen würde. Als ich ihn das erste Mal sah, hatte ich gleich ein komisches Gefühl … Er würde sie nur für verschroben halten. Auf jeden Fall war ihr im Nachhinein klar, was es gewesen war, was sie damals gespürt hatte: keine Vorahnung oder etwas ähnlich Lächerliches, sondern ein Erkennen.

Es war die Gelegenheit. Genau das hatte sie damals gedacht, sobald sie begriffen hatte, wer dieser Junge war, nur hatte sie nicht gewusst, wie sie die Gelegenheit am geschicktesten nutzen sollte. Jetzt, da er tot war, schien es fast, als wäre alles vorherbestimmt gewesen. Ein glücklicher Zufall.)

»Mrs. Lewis?« Detective Barker wollte irgendetwas von ihr wissen.

»Miss«, stellte Miriam richtig.

Er schloss kurz die Augen. »Miss Lewis … Können Sie sich erinnern, ob Sie ihn mit jemand anderem gesehen haben? Hat er vielleicht mit jemandem geredet?«

Sie zögerte und nickte dann. »Er hatte Besuch. Vielleicht ein paarmal … Vielleicht hatte er noch anderen Besuch, aber ich hab nur die eine Frau gesehen. Älter als er, eher in meinem Alter, vielleicht Mitte fünfzig? Silbergraues Haar, ganz kurz geschnitten. Eine dünne Frau, ziemlich groß, wenn Sie mich fragen, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig, kantiges Gesicht …«

Barker zog eine Braue hoch. »Sie konnten sie so genau sehen?«

Miriam zuckte erneut mit den Schultern. »Schon … Ich bin eine gute Beobachterin. Ich halte die Augen offen.« Warum sollte sie ihn nicht in seinen Vorurteilen bestätigen? »Aber sie wäre auch jedem anderen aufgefallen. Sie war nicht zu übersehen: der Haarschnitt, die Kleider … Sie sah teuer aus.«

Der Detective schrieb sich alles auf, und Miriam war sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis er genau wüsste, von wem sie sprach.

Nachdem der Detective gegangen war, sperrte die Polizei den Uferweg zwischen De Beauvoir und Shepperton und verlegte alle Boote bis auf das des Toten – den Tatort – und ihres. Erst hatte man auch sie wegschicken wollen, aber sie hatte klargestellt, dass sie nirgendwo hinkonnte; wo wollte man sie denn unterbringen? Der sommersprossige junge Polizist mit Piepsstimme, mit dem sie sprach, reagierte verunsichert auf die Verlagerung der Verantwortung von ihren Schultern auf seine, er sah zum Himmel und dann runter ins Wasser, den Kanal auf und ab und schließlich wieder zu ihr, dieser kleinen, dicken, harmlosen Frau mittleren Alters, und gab sich geschlagen. Er hielt über Funk Rücksprache und erklärte ihr dann, dass sie bleiben könne. »Sie dürfen aber nur bis zu Ihrer … ähm … Wohnung gehen«, sagte er, »nicht weiter.«

Am Nachmittag saß Miriam auf dem Achterdeck im fahlen Sonnenschein und genoss die ungewohnte Stille auf dem abgesperrten Kanal. Mit einer Decke über den Schultern und einem Becher Tee neben sich sah sie den Polizisten und Kriminaltechnikern zu, wie sie hin und her eilten, mit Hunden anrückten und Booten, den Uferweg und das Gebüsch absuchten und im trüben Wasser stocherten.

Sie fühlte sich eigenartig ausgeglichen, wenn man bedachte, was für ein Tag hinter ihr lag, und beinahe optimistisch bei der Aussicht auf all das, was sich ihr jetzt eröffnete. In der Tasche ihrer Strickjacke tastete sie über den kleinen, immer noch blutverklebten Schlüssel mit Anhänger, den sie vom Bootsboden aufgehoben hatte – den Schlüssel, dessen Existenz sie dem Detective verheimlicht hatte, ohne genau zu überlegen, warum.

Es war der reine Instinkt gewesen.

Sie hatte ihn neben dem Leichnam des Jungen funkeln sehen – einen Schlüssel. An einem kleinen hölzernen Schlüsselanhänger in Form eines Vogels. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, sie hatte ihn am Bund der Jeans hängen sehen, die Laura vom Waschsalon immer trug – die irre Laura, wie sie genannt wurde. Miriam fand sie eigentlich ganz nett und ganz und gar nicht irre. Laura, die – beschwipst, vermutete Miriam – am Arm dieses schönen Jungen an Bord des schäbigen Kahns gewankt war. Vor zwei Nächten? Oder drei? Es stand in ihrem Notizbuch – wer kam und ging, zählte zu den Dingen, die sie sich notierte, sobald ihr etwas auffiel.

In der Abenddämmerung trugen sie die Leiche aus dem Boot: die Treppe hinauf und auf die Straße, wo schon ein Krankenwagen wartete. Aus Respekt stand Miriam auf, als sie an ihr vorbeigingen, schlug den Blick nieder und sprach ein stilles, ungläubiges Geh mit Gott.

Danach flüsterte sie ein Danke. Denn indem er sein Boot neben ihrem vertäut und sich brutal hatte ermorden lassen, hatte Daniel Sutherland ihr eine Möglichkeit eröffnet, die sie sich auf keinen Fall entgehen lassen konnte: die Möglichkeit, das Unrecht zu rächen, das ihr angetan worden war.

Allein und wider Erwarten leicht verängstigt angesichts der Dunkelheit und ungewohnten Stille zog sie sich in ihre Kabine zurück, verriegelte die Tür und sicherte sie zusätzlich mit einem Vorhängeschloss. Sie holte Lauras Schlüssel aus der Tasche und legte ihn in die kleine Holzkiste im obersten Regalfach. Am Donnerstag war Wäschetag. Vielleicht würde sie ihn Laura dann zurückgeben.

Oder auch nicht.

Wer konnte schon wissen, was sich irgendwann als nützlich erweisen würde?

3

»Mrs. Myerson? Möchten Sie sich setzen? So. Atmen Sie tief durch. Sollen wir jemanden für Sie anrufen, Mrs. Myerson?«

Carla sank auf ihr Sofa. Sie klappte nach vorn, presste das Gesicht auf die Knie. Sie winselte wie ein Hund. »Theo«, stieß sie hervor. »Rufen Sie bitte Theo an. Meinen Mann. Meinen Ex-Mann. Die Nummer ist in meinem Handy.« Sie richtete sich auf, suchte das Zimmer ab, konnte das Handy aber nirgends finden. »Ich weiß nicht, wo es liegt, ich weiß nicht, wo ich …«

»In Ihrer Hand, Mrs. Myerson«, erklärte ihr die Detective nachsichtig. »Sie halten es in der Hand.«

Carla sah nach unten. Sie hielt ihr Handy tatsächlich in der heftig zitternden Hand. Kopfschüttelnd reichte sie es der Polizistin. »Ich werde noch verrückt …«

Die Frau verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln und legte die Hand kurz auf Carlas Schulter. Dann ging sie mit dem Handy nach draußen, um zu telefonieren.

Ihr Kollege, DI Barker, räusperte sich. »Soweit wir wissen, ist Daniels Mutter verstorben, stimmt das?«

Carla nickte. »Vor sechs … nein, acht Wochen.« Sie sah, wie die Brauen des Detectives nach oben zuckten, dorthin, wo früher vermutlich sein Haaransatz gewesen war. »Meine Schwester ist gestürzt«, erläuterte Carla, »zu Hause, das war kein … Es war ein Unfall.«

»Und haben Sie eine Adresse oder Telefonnummer von Daniels Vater?«

Carla schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er lebt in Amerika, schon lange. Er spielt keine Rolle in Daniels Leben, er hat nie eine gespielt. Es gab immer nur …« Carla versagte die Stimme. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Es gab immer nur Angela und Daniel. Und mich.«

Barker nickte. Er stand stocksteif vor dem Kamin und wartete stumm, bis Carla sich wieder gefangen hatte. »Sie leben noch nicht lange hier?«, fragte er nach einer – wie er es wohl einschätzte – angemessen respektvollen Pause. Verwirrt blickte sie zu ihm auf, und er zeigte auf die Kartons auf dem Esszimmerboden und die an der Wand lehnenden Gemälde.

Carla schnäuzte sich laut. »Die Bilder will ich seit fast sechs Jahren aufhängen. Vielleicht komme ich ja eines Tages dazu, Bilderhaken zu besorgen. Die Kartons sind aus dem Haus meiner Schwester. Briefe, Sie wissen schon, Fotos. Dinge, die nicht im Müll landen sollen.«

Barker nickte. Er verschränkte die Arme, verlagerte das Gewicht und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die zuschlagende Haustür kam ihm dazwischen. Carla zuckte zusammen. Seine Kollegin, Detective Constable Chalmers, trippelte ins Zimmer und schlug verlegen den Blick nieder. »Mr. Myerson ist schon unterwegs. Er ist gleich da.«

»Er wohnt nur fünf Minuten von hier«, sagte Carla. »In der Noel Road. Kennen Sie die? In den Sechzigern hat dort Joe Orton gewohnt, der Theaterautor. Dort haben sie ihn auch umgebracht – zu Tode geprügelt, glaube ich, oder haben sie ihn erstochen?«

Die Detectives sahen einander ausdruckslos an.

»Das war wahrscheinlich nicht … sachdienlich.« Einen grauenvollen Moment lang glaubte Carla, sie müsste loslachen. Warum hatte sie das erwähnt? Wieso redete sie von Joe Orton, von Menschen, die zu Tode geprügelt worden waren? Sie wurde wirklich verrückt, doch Barker und Chalmers schienen es nicht zu bemerken, oder es störte sie nicht. Vielleicht verhielten sich alle Menschen wie Geisteskranke, wenn ihnen eröffnet wurde, dass ein Angehöriger ermordet worden war.

»Wann haben Sie Ihren Neffen zuletzt gesehen, Mrs. Myerson?«, wollte Barker wissen.

Bei Carla setzte die Erinnerung aus. »Ich … Jesus,ich hab ihn … in Angelas Haus getroffen, im Haus meiner Schwester. Das ist nicht weit von hier, ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß am anderen Kanalufer, am Hayward’s Place. Ich war dabei, ihre Sachen zu sortieren, und Daniel kam vorbei, um ein paar Dinge zu holen – er hatte schon ewig nicht mehr dort gewohnt, aber in seinem früheren Zimmer lagen noch Sachen von ihm, hauptsächlich Skizzenbücher. Er war künstlerisch begabt. Er hat Comics gezeichnet, ganze Bücher.« Sie erschauderte. »Wann war das noch mal – vor einer Woche? Oder zwei? Gott, ich kann mich nicht mehr erinnern, mein Hirn ist Pudding, ich …« Sie kratzte sich die Kopfhaut, schob die Finger durch die kurz geschnittenen Haare.

»Schon gut, Mrs. Myerson«, sagte Chalmers. »Die Details können wir später klären.«

»Wie lange hatte er denn unten auf dem Kanal gewohnt?«, fragte Barker. »Wissen Sie vielleicht, wann er …«

Der Türklopfer schlug hart an, und Carla schreckte erneut zusammen. »Theo«, hauchte sie und war schon halb aufgestanden. »Gott sei Dank.«

Chalmers war vor Carla an der Tür und ließ den rotgesichtigen, schwitzenden Theo herein.

»Jesus, Cee!« Er schloss Carla fest in die Arme. »Was ist denn passiert, um Himmels willen?«

Die Polizisten gingen ein weiteres Mal alles durch: dass Carlas Neffe Daniel Sutherland am Morgen tot aufgefunden worden sei, auf einem Hausboot, das nahe der De Beauvoir Road auf dem Regent’s Canal festgemacht hatte. Dass jemand mehrfach auf ihn eingestochen habe. Dass er mutmaßlich vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden vor seinem Auffinden getötet worden sei, die Zeitspanne aber im weiteren Verlauf noch eingegrenzt werde. Sie erkundigten sich nach Daniels Arbeitsverhältnis und Freunden, ob sie von Geldproblemen wüssten und ob er Drogen genommen habe.

Sie wussten nichts.

»Sie standen sich nicht sehr nahe?«, mutmaßte Chalmers.

»Ich kannte ihn kaum«, erwiderte Theo. Er saß neben Carla und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Scheitel, so wie immer, wenn er nervös war.

»Mrs. Myerson?«

»Nahe nicht, nein. Nicht … wirklich. Ich hab meine Schwester nicht mehr oft gesehen, wissen Sie …«

»Obwohl sie gleich am anderen Kanalufer gewohnt hat?«, piepste Chalmers dazwischen.

»Nein.« Carla schüttelte den Kopf. »Wir … Mit Daniel hatte ich schon länger nichts mehr zu tun. So gut wie gar nichts mehr. Nicht mehr, seit er ein kleiner Junge war. Wie gesagt, ich hab ihn erst wiedergesehen, als meine Schwester gestorben war. Er hatte ja einige Zeit im Ausland gelebt, in Spanien, glaube ich.«

»Wann ist er auf das Boot gezogen?«, fragte Barker.

Carla presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht.«

»Wir hatten keine Ahnung, dass er dort wohnt«, ergänzte Theo, und Barker sah ihn scharf an.

»Dabei hat er doch in Ihrer Nähe gewohnt? Noel Road, richtig? Wie weit ist das – etwa eine Meile?«

Theo zuckte mit den Achseln und massierte sich die Stirn so fest, dass die Haut unter seinem Haaransatz rosa wurde. Er sah aus, als wäre er in der Sonne gewesen. »Mag sein, trotzdem hatte ich keine Ahnung, dass er dort wohnte.«

Die Detectives wechselten einen Blick. »Mrs. Myerson?« Barker sah sie an.

Carla schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, wiederholte sie leise.

Die Detectives verstummten. Sie schienen abzuwarten, ob Carla noch etwas anfügen wollte – ob sie von sich aus noch etwas sagen wollte. Oder Theo.

Er tat ihnen den Gefallen. »Sie sagten … vierundzwanzig Stunden, richtig? Vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden?«

Chalmers nickte. »Unseren Schätzungen zufolge liegt der Todeszeitpunkt zwischen zwanzig Uhr am Freitagabend und acht Uhr am Samstagmorgen.«

»Oh.« Theo massierte erneut seine Stirn und sah aus dem Fenster.

»Fällt Ihnen dazu etwas ein, Mr. Myerson?«

»Ich hab ein Mädchen gesehen«, sagte Theo, »am Samstagmorgen. Ziemlich früh – vielleicht um sechs? Sie ging draußen auf dem Uferweg an meinem Haus vorbei. Ich war in meinem Arbeitszimmer und kann mich noch daran erinnern, weil sie geblutet hat. Im Gesicht. Auf ihren Sachen war auch Blut, glaube ich – sie war nicht darin gebadet oder so, aber … sie war voller Blut.«

Carla starrte ihn mit offenem Mund an. »Was redest du denn da? Wieso hast du mir das nicht erzählt?«

»Du hast geschlafen. Ich war gerade aufgestanden, ich wollte Kaffee machen und meine Zigaretten aus dem Arbeitszimmer holen. Ich hab sie durchs Fenster gesehen, sie war jung, nicht viel älter als zwanzig, und sie kam den Uferweg entlang. Sie humpelte. Oder torkelte vielleicht? Ich dachte, sie wäre betrunken. Ich … Ich hab mir nichts weiter dabei gedacht, London ist voll von Betrunkenen, oder? Zu dieser Uhrzeit sieht man oft Leute auf dem Heimweg …«

»Blutverschmierte Leute?«, hakte Barker nach.

»Na, das vielleicht nicht … Das mit dem Blut eher nicht. Darum ist sie mir auch im Gedächtnis geblieben. Ich dachte, sie wäre vielleicht gestürzt oder in eine Rauferei geraten. Ich dachte …«

»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte Carla erneut.

»Du hast geschlafen,Cee, ich wusste doch nicht …«

»Mrs. Myerson hat bei Ihnenzu Hause geschlafen?«, fiel Chalmers ihm stirnrunzelnd ins Wort. »Habe ich das richtig verstanden? Sie haben die Nacht bei Mr. Myerson verbracht?«

Carla nickte langsam. Sie wirkte zutiefst verwirrt. »Wir hatten am Freitagabend zusammen gegessen, ich blieb über Nacht …«

»Wir sind zwar getrennt, aber wir verstehen uns immer noch gut, wir haben oft …«

»Das interessiert sie nicht, Theo«, ging Carla scharf dazwischen, und Theo zuckte zusammen. Carla presste sich ein Kleenex unter die Nase. »Verzeihung. Tut mir leid. Aber das ist doch nicht wichtig, oder?«

»Wir wissen nie, was sich später als wichtig erweist«, sagte Barker unergründlich und ging langsam in Richtung Flur. Dort händigte er Visitenkarten aus, sagte zu Theo noch was von offizieller Identifizierung, familiären Verbindungen, dass sie in Kontakt bleiben würden, und Theo nickte, schob die Visitenkarte in seine Hosentasche und gab dem Detective die Hand.

»Woher wussten Sie, dass er tot war?«, fragte Carla unvermittelt. »Ich meine, wer hat … Wer hat die Polizei alarmiert? Wer hat ihn gefunden?«

Chalmers sah erst ihren Vorgesetzten, dann wieder Carla an. »Eine Frau.«

»Eine Frau?«, fragte Theo. »Eine Freundin? War sie jung? Schlank? Ich denke gerade wieder an diese Frau, die ich gesehen habe, die mit dem Blut, vielleicht hat sie …«

Chalmers schüttelte den Kopf. »Nein, es war eine Nachbarin von einem anderen Kanalboot, keine junge Frau, eher mittleren Alters, würde ich sagen. Ihr war aufgefallen, dass das Boot schon länger nicht mehr bewegt worden war, darum wollte sie nach ihm sehen.«

»Sie hat also nichts mitbekommen?«, fragte Theo.

»Tatsächlich hat sie uns sehr geholfen«, sagte Barker. »Eine hervorragende Beobachterin.«

»Gut.« Theo massierte sich wieder den Scheitel. »Sehr gut.«

»Eine gewisse Mrs. Lewis«, ergänzte Barker, und Chalmers korrigierte ihn: »Miss.«

»Richtig«, sagte er, und Carla sah Theo erbleichen, während Barker fortfuhr: »Miss Miriam Lewis.«

4

»Er hat angefangen, okay? Bevor Sie irgendwas sagen – er hat angefangen.«

Sie hatten schon auf sie gewartet, als sie nach Hause kam, garantiert, denn sie hatten genau dreißig Sekunden nach ihrer Rückkehr vom Discounter gegen ihre Wohnungstür gehämmert. Sie war nicht mal wieder zu Atem gekommen – ihre Wohnung lag im siebten Stock, und die Aufzüge waren natürlich kaputt, aber schon waren sie da gewesen, und das machte sie einfach wütend und nervös obendrein. Also plapperte sie los, wie eine Vollidiotin, obwohl sie genau wusste, dass das ein Fehler war. Schließlich hatte sie nicht zum ersten Mal Ärger mit der Polizei.

Zugegeben, normalerweise war es Ärger anderer Art. Trunkenheit in der Öffentlichkeit, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Vandalismus, Erregung öffentlichen Ärgernisses. Ein Verfahren wegen Beleidigung war eingestellt worden, eins wegen Körperverletzung stand noch aus.

Aber das hier war anders, das war ihr praktisch vom ersten Moment an klar, denn noch während sie keuchend und schnaufend dastand und sich um Kopf und Kragen redete, dachte sie: Moment, das hier sind Detectives. Sie hatten ihre Namen und Dienstgrade und den ganzen Kram runtergeleiert, auch wenn sie alles sofort wieder vergessen hatte – trotzdem: Sie standen in Zivil vor ihr, und das bedeutete eine ganz neue Dimension von Ärger.

»Dürften wir reinkommen, Miss Kilbride?«, fragte der Typ halbwegs höflich. Er war groß, schlaksig und hatte einen kahlen Eierkopf. »Vielleicht sollten wir das lieber drinnen besprechen.« Er sah misstrauisch zum Küchenfenster, das sie dilettantisch mit Brettern vernagelt hatte.

Laura schüttelte den Kopf. »Ich glaub eher nicht, nein. Eher nicht. Ich hab das Recht auf einen Beistand, verstehen Sie? Sie dürfen mich nicht ohne einen Beistand befragen … Worum geht’s überhaupt? Um den Typen in der Bar? Die Sache ist schon in Ihrem System, okay? Ich hab dafür eine Vorladung, sie hängt am Kühlschrank. Sie können sie sehen, wenn Sie wollen … Nein, nein, nein, langsam! Langsam! Das war nicht als Einladung gemeint, das war bloß so dahingesagt …«

»Wieso sollten Sie einen Beistand brauchen, Miss Kilbride?« Die Frau – einen Kopf kleiner als ihr Kollege, dunkles Haar wie Putzwolle, die Gesichtszüge in der Mitte ihres Mondgesichts zusammengequetscht – zog ihre Monobraue hoch. »Sie sind doch nicht minderjährig?«

»Ich bin fünfundzwanzig, wie Sie genau wissen«, blaffte Laura sie an.

Die beiden waren nicht aufzuhalten – Eierkopf war bereits hinter Laura im Flur, während Augenbraue sich an ihr vorbeischob und fragte: »Woher sollten wir das wissen?«

»Wer hat womit angefangen, Miss Kilbride?«, fragte Eierkopf über die Schulter, und sie folgte seiner Stimme in ihre Küche, wo er vornübergebeugt und mit im Rücken verschränkten Händen ihre Vorladung studierte.

Laura schnaubte und humpelte zur Spüle, um sich ein Glas Wasser zu nehmen. Sie musste sich jetzt zusammenreißen. Konzentrieren. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, sah er erst sie an und dann über ihre Schulter zum Fenster. »Gab’s Probleme?« Er zog unschuldig die Brauen hoch.

»Nicht direkt.«

Die Frau erschien hinter ihm. Augenbraue. »Haben Sie sich verletzt, Laura?«

Laura trank zu schnell, verschluckte sich, sah die Frau finster an. »Was ist aus Miss Kilbride geworden? Hm? Sind wir jetzt Freundinnen oder was? BFF?«

»Ihr Bein, Laura.« Jetzt fing er auch noch an. »Wie haben Sie sich verletzt?«

»Ich wurde als Kind angefahren. Komplizierter Oberschenkelbruch. Hab davon noch eine üble Narbe.« Sie hatte die Finger bereits am Jeansknopf und sah ihm in die Augen. »Wollen Sie mal sehen?«

»Nicht unbedingt«, sagte er milde. »Was ist mit Ihrem Arm?« Er zeigte auf den Verband um ihr rechtes Handgelenk. »Das da ist nicht passiert, als Sie noch ein Kind waren.«

Laura biss sich auf die Lippe. »Hab meinen Schlüssel verloren. Ist das zu glauben? Freitagabend. Musste in meine eigene Wohnung einbrechen, als ich nach Hause kam.« Sie nickte zum Fenster, durch das man sonst auf den Laubengang hinaussah. »War keine Meisterleistung.«

»Haben Sie es nähen lassen?«

Laura schüttelte den Kopf. »So schlimm war’s auch wieder nicht.«

»Und haben Sie ihn gefunden?« Er drehte ihr den Rücken zu, spazierte durch den Bogen zwischen Küche und Wohnzimmer und sah sich um, als würde er eine zum Kauf stehende Wohnung besichtigen. Er würde wohl kaum ein Angebot abgeben. Die Wohnung war eine Müllkippe. Sie wusste, dass sie sich dafür schämen sollte, für die billigen Möbel und die nackten Wände und den Aschenbecher auf dem Boden, den jemand umgetreten hatte, sodass die Asche jetzt, wer weiß, wie verfickt lange schon, im Teppichboden verteilt war, obwohl sie selbst nicht rauchte und sich nicht mal mehr daran erinnern konnte, wann sie zuletzt Besuch gehabt hatte, aber sie brachte nicht die Kraft auf, sich deswegen aufzuregen.

»Und? Haben Sie?« Naserümpfend musterte Augenbraue Laura vom Kopf bis zu den Zehen: die ausgeleierte Jeans und das fleckige T-Shirt, den abgesplitterten Nagellack und die fettigen Haare. Manchmal vergaß Laura zu duschen, manchmal mehrere Tage hintereinander, manchmal war das Wasser brühend heiß, manchmal wurde es kein bisschen warm, so wie jetzt gerade, weil der Boiler zickig war, manchmal funktionierte er und manchmal nicht, und sie hatte kein Geld, um irgend so einem Installateur die Anfahrt zu zahlen, und das Sozialamt unternahm einen Scheiß, egal, wie oft sie dort anrief.

»Hab ich was?«

»Ihren Schlüssel gefunden«, erwiderte Augenbraue mit einem leisen Lächeln, als hätte sie Laura überführt, beim Lügen ertappt. »Haben Sie Ihren Schlüssel wiedergefunden?«

Laura nahm einen letzten Schluck Wasser und zog Luft zwischen die Zähne. Beschloss, die Frage zu ignorieren. »Geht’s noch?«, rief sie dann und schubste Augenbraue aus dem Weg, um Eierkopf zu folgen.

»Geht ganz wunderbar«, antwortete er. Er stand im Wohnzimmer und betrachtete die einzige Dekoration im Raum: das gerahmte Foto einer Familie mit Eltern und einem kleinen Mädchen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, es zu entstellen, ehe es gerahmt und aufgehängt worden war: Der Vater hatte aufgemalte Hörner, der Mutter hing eine gespaltene Zunge aus dem Mund, die Augen des Mädchens waren ausgekreuzt und seine Lippen blutrot koloriert. Eierkopf drehte sich mit hochgezogenen Brauen zu ihr um. »Ein Familienporträt?«, fragte er, und Laura zog die Schultern hoch. »Ihr Dad ist ein Teufel, was?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. »Sie hat ihm Hörner aufgesetzt.«

Eierkopf kniff die Lippen zusammen, nickte langsam und drehte sich wieder zu dem Bild um. »Ach. Ach so.«

»Ich bin als schutzbedürftige Erwachsene eingestuft«, erklärte Laura, und der Detective seufzte.

»Nein, sind Sie nicht«, widersprach er müde. Er drehte sich von dem Bild weg und ließ sich auf ihr Sofa fallen. »Sie wohnen allein, Sie arbeiten Teilzeit im Sunshine-Waschsalon an der Spencer Street, und wir wissen, dass Sie mehrfach von der Polizei befragt wurden, ohne dass ein Beistand anwesend war. Also lassen wir das, in Ordnung?« In seiner Stimme lag eine leise Schärfe. Seine Sachen waren verknittert, und er sah todmüde aus, als hätte er eine lange Fahrt hinter sich oder eine kurze Nacht. »Möchten Sie sich nicht setzen? Erzählen Sie mir von Daniel Sutherland.«

Laura setzte sich an den kleinen Tisch in der Zimmerecke, an dem sie immer aß, wenn sie fernsah. Ein paar Sekunden lang fühlte sie sich erleichtert. Sie zog die Schultern bis kurz unter die Ohren. »Was soll mit ihm sein?«

»Sie kennen ihn also?«

»Ganz offensichtlich kenne ich ihn. Ganz offensichtlich hat er sich bei Ihnen über mich beschwert. Aber das ist Bullshit, kann ich nur sagen, weil nämlich gar nichts passiert ist, und überhaupt hat er angefangen.«

Eierkopf lächelte. Er hatte ein überraschend warmherziges Lächeln. »Es ist nichts passiert, aber er hat angefangen?«, wiederholte er.

»Ganz genau.«

»Und wann genau ist dieses Nichts passiert?« Augenbraue kam aus der Küche zu ihnen ins Zimmer. »Mit dem er angefangen hat?« Sie setzte sich neben ihren Kollegen auf das hässliche, zweisitzige Kunstledersofa. So nebeneinander sahen sie lächerlich aus – klein und groß, er lang und dünn, wie Butler Lurch neben einem kleinen, fetten Onkel Fester. Laura musste schmunzeln.

Das gefiel Augenbraue überhaupt nicht. Ihr Gesicht verdüsterte sich, und sie fauchte: »Was ist so lustig? Finden Sie an dieser Situation irgendwas amüsant, Laura?«

Laura schüttelte den Kopf. »Fester«, sagte sie grinsend. »Sie sind wie Onkel Fester aus der Addams Family, nur mit Haaren. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

Die Frau wollte schon etwas erwidern, doch Eierkopf schnitt ihr das Wort ab. »Daniel Sutherland«, wiederholte er diesmal lauter, »hat uns gar nichts über Sie erzählt. Wir sind hier, weil wir von einem Glas in Daniels Boot zwei Sätze von Fingerabdrücken abgenommen haben und weil der Satz, der nicht seiner war, mit Ihren Abdrücken übereinstimmt.«

Schlagartig war Laura kalt. Sie massierte sich das Schlüsselbein und räusperte sich. »Sie haben … was gemacht? Fingerabdrücke abgenommen? Wieso das?«

»Was können Sie uns über Ihre Beziehung zu Mr. Sutherland erzählen, Laura?«, mischte Augenbraue sich wieder ein.

»Beziehung?« Laura musste lachen. »Das wäre doch ziemlich hoch gegriffen. Ich hab ihn zweimal gefickt, Freitagnacht – da würde ich wirklich nicht von einer Beziehung sprechen.«

Augenbraue schüttelte missbilligend – oder ungläubig – den Kopf. »Und woher kannten Sie ihn?«

Laura schluckte schwer. »Ich kenn ihn, weil … ich manchmal dieser alten Lady helfe, Irene. Sie wohnt am Hayward’s Place, okay? Gleich drüben bei der Kirche, an dem Durchgang zu dem kleinen Tesco. Ich hab sie vor ein paar Monaten kennengelernt, und wie gesagt, ich helfe ihr manchmal, weil sie so alt ist und Arthrose hat und alles vergisst und vor einer Weile gestürzt ist, sich den Knöchel verstaucht hat oder so, und darum tut sie sich schwer mit dem Einkaufen. Ich mach’s nicht wegen dem Geld, obwohl sie mir ab und zu einen Fünfer zusteckt, nur so zum Dank, okay? Sie ist einfach nett … Wie auch immer. Also, Dan – Daniel Sutherland – hat früher direkt neben Irene gewohnt, aber da wohnt er schon ewig nicht mehr. Seine Mutter hat da gewohnt, also, bis sie gestorben ist, da haben wir uns kennengelernt.«

»Sie haben ihn kennengelernt, als seine Mutter gestorben ist?«

»Danach«, sagte Laura. »Als sie abgekratzt ist, war ich ja wohl nicht dabei.«

Augenbraue sah ihren Kollegen an, aber der erwiderte ihren Blick nicht, er sah bloß wieder mit Trauermiene zu dem Familienfoto.

»Okay«, sagte Augenbraue. »Okay. Sie waren am Freitag mit Mr. Sutherland zusammen, ist das richtig?«

Laura nickte. »Wir hatten ein Date«, sagte sie, »worunter er zwei Drinks in einer Bar in Shoreditch verstand, bevor wir zum Vögeln auf sein bekacktes Boot sind.«

»Und … hat er Ihnen dort wehgetan? Oder … Sie zu irgendetwas genötigt? Womit hat er angefangen?« Eierkopf beugte sich vor und konzentrierte sich jetzt ganz auf Laura. »Sie haben gesagt, er hätte mit etwas angefangen. Womit genau?«

Laura blinzelte angestrengt. Ihr stand – und zwar verblüffend deutlich – vor Augen, wie überrascht er sie angesehen hatte, als sie auf ihn losgegangen war. »Alles war super«, sagte sie, »wir hatten Spaß. Ich dachte, wir hätten Spaß.« Aus heiterem Himmel wurde sie rot. Sie spürte, wie sich brennende Hitze von ihrer Brust aufwärts über ihren Hals und die Wangen ausbreitete. »Und dann auf einen Schlag wird er, keine Ahnung, eiskalt oder so, so als will er mich nicht mehr in seiner Nähe haben. Er ist … richtig gemein geworden.« Sie sah auf ihr kaputtes Bein hinunter und seufzte. »Ich hab eine Behinderung. Ich bin schutzbedürftig. Ich weiß, Sie haben gesagt, das bin ich nicht, aber ich bin es wohl. Schutzbedürftig.«

»Sie haben sich also gestritten?«, hakte Augenbraue nach.

Laura nickte. Sie sah auf ihre Füße hinab. »Ja, könnte man so sagen.«

»Kam es zu einer Auseinandersetzung? Körperlich?«

Auf ihrem Turnschuh war ein Fleck, am linken Fuß, genau über dem kleinen Zeh. Ein dunkelbrauner Fleck. Sie hakte den Fuß hinter den rechten Knöchel. »Nein, nicht … Also, nicht ernsthaft.«

»Es kam also zu einer Tätlichkeit, aber nicht zu dem, was Sie als ernsthafte Tätlichkeit bezeichnen würden?«

Laura rieb ihren linken Fuß über die Hinterseite der rechten Wade. »Es war nichts. Wir haben uns nur … angerempelt.«

Sie sah zu Eierkopf, der sich mit dem Zeigefinger über die dünnen Lippen strich. Er wiederum sah zu Augenbraue und die zu ihm, und irgendwas schien zwischen ihnen abzulaufen. Eine Übereinkunft.

»Miss Kilbride, am Sonntagmorgen wurde Daniel Sutherlands Leiche auf seinem Boot entdeckt. Würden Sie uns bitte ganz genau sagen, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«

Schlagartig war Lauras Mund wie ausgedörrt, sie konnte nicht mehr schlucken, es dröhnte in ihren Ohren, und sie kniff die Augen zusammen. »Nicht so schnell …« Sie stand auf, hielt sich am Tisch fest, spürte, wie die Welt zur Seite kippte. Sie setzte sich wieder. »Nicht so schnell«, sagte sie noch einmal. »Seine Leiche? Wollen Sie damit sagen …?«

»Dass Mr. Sutherland tot ist«, ergänzte Eierkopf ruhig.

»Aber … Das stimmt nicht, oder?« Laura hörte, wie ihre Stimme sich überschlug, doch Eierkopf nickte langsam. »Am Sonntagmorgen? Haben Sie Sonntagmorgen gesagt?«

»Genau«, erwiderte Eierkopf. »Mr. Sutherland wurde am Sonntagmorgen gefunden.«

»Aber …« Laura schlug das Herz bis zum Hals. »Aber ich war am Freitagabend mit ihm aus … Samstagfrüh bin ich von dort weg. Samstagfrüh bin ich von dort weg – um sieben, womöglich noch früher. Am Samstagmorgen«,sagte sie mit Nachdruck.

Mit leichter, melodiöser Stimme, als hätte sie etwas Lustiges erzählt und käme jetzt zur Pointe, sagte Augenbraue: »Mr. Sutherland starb an massivem Blutverlust. Er hatte mehrere Stichwunden in Brust und Hals. Der Todeszeitpunkt muss noch offiziell bestimmt werden, aber der Kollege von der Kriminaltechnik geht davon aus, dass Mr. Sutherland vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden vor dem Leichenfund gestorben ist. Sie haben gesagt, Sie seien am Freitagabend mit Mr. Sutherland zusammen gewesen?«

Lauras Gesicht glühte, ihre Augen brannten. So blöd, sie war ja so blöd. »Ja«, sagte sie leise. »Ich war am Freitagabend mit ihm zusammen.«

»Am Freitagabend. Und Sie sind mit ihm zusammen auf sein Hausboot gegangen, richtig? Sie haben mit ihm geschlafen, haben Sie gesagt? Zweimal, ja? Zu welcher Uhrzeit genau haben Sie Mr. Sutherland am Samstagmorgen verlassen?«

Eine Falle, das hier war eine Falle, und sie war direkt hineingetappt. Zu blöd. Sie nagte an ihrer Unterlippe, biss darauf. Sagen Sie nichts,warnte ein imaginärer Anwalt, reden Sie mit niemandem. Sie schüttelte den Kopf, und tief in ihrer Kehle löste sich ein Laut, ohne dass sie etwas dafür konnte.

»Was war das? Laura? Haben Sie etwas gesagt, Laura?«

»Tut mir leid, dass er tot ist und alles«, sagte sie, ohne auf die Stimme in ihrem Kopf zu hören, »aber ich hab nichts gemacht. Klar? Ich hab nichts gemacht. Ich hab niemand abgestochen. Wer das behauptet, lügt. Er war … Keine Ahnung, er hat Sachen zu mir gesagt, Sachen, die mir nicht gefallen haben, aber ich hab nichts gemacht. Vielleicht zugehauen, vielleicht …« Sie schmeckte Blut und schluckte erneut. »Aber versuchen … versuchen Sie bloß nicht, es so hinzudrehen, als wär ich das gewesen, weil ich nichts damit zu tun habe. Wir haben uns ein bisschen rumgeschubst und gestoßen, aber das war alles, okay? Und dann war er weg, dann war Schluss, verstehen Sie? Dann war Schluss. Ich kann nichts dafür, verstehen Sie? Ich kann überhaupt nichts dafür, nicht mal … Der Streit und so – dafür kann ich nichts.«

Laura hörte, wie ihre Stimme immer weiter plapperte, höher und höher, sie hörte selbst, wie sie klang, wie eine zeternde Irre, eine von diesen Verrückten, die an Straßenecken standen und vor sich hin schimpften, sie wusste, dass sie genauso klang, trotzdem konnte sie nicht aufhören.

»Weg?«,fragte Augenbraue. »Sie haben gesagt: ›Dann war er weg.‹ Wie meinen Sie das, Laura?«

»Ich meine damit, dass er weg ist, er ist gegangen, abgehauen, was glauben Sie denn? Nachdem wir uns geprügelt hatten … Na ja, nicht wirklich geprügelt, Sie verstehen schon. Da hat er seine Jeans angezogen und ist raus und hat mich allein gelassen.«

»In seinem … Auf seinem Boot? Allein?«

»Genau. So wie’s aussieht, hat er mir ja wohl vertraut«, sagte sie, und dann lachte sie, obwohl sie wusste, wie unpassend das war, aber sie konnte nicht anders, weil es wirklich komisch war – die Vorstellung, dass er ihr vertraut hatte –, oder nicht? Unter solchen Umständen? Vielleicht nicht ha-ha-komisch, aber trotzdem. Und als sie erst angefangen hatte zu lachen, konnte sie nicht mehr aufhören; sie spürte, wie sie rot anlief, als bekäme sie keine Luft mehr.

Die Detectives sahen sich an, und Augenbraue zuckte mit den Achseln. »Ich hole ihr ein Glas Wasser«, sagte sie schließlich.

Einen Moment später hörte Laura die Polizistin rufen, nicht aus der Küche, sondern aus dem Bad: »Könnten Sie kurz kommen, Sir?«

Eierkopf stand auf, und im selben Moment spürte Laura, wie die Panik zuschlug und das Lachen aus ihrer Brust presste. »Moment mal«, sagte sie, »ich hab Ihnen nicht erlaubt, dass Sie da reindürfen«, aber da war es bereits zu spät. Sie folgte ihnen bis vor die Tür zum Bad, wo Augenbraue stand und erst auf das Waschbecken deutete, in dem Laura die Uhr hatte liegen lassen (die Uhr, die unverkennbar Daniel Sutherland gehörte, schließlich waren seine Initialen auf der Rückseite eingraviert), und dann auf Lauras blutfleckiges T-Shirt, das zusammengeknüllt in der Ecke lag.

»Ich hab mich geschnitten«, sagte Laura mit rot glühendem Gesicht. »Hab ich doch gesagt: Ich hab mich geschnitten, als ich durchs Fenster geklettert bin.«

»Das haben Sie uns erzählt«, sagte Eierkopf. »Wollen Sie uns auch erzählen, was es mit der Uhr auf sich hat?«

»Die hab ich eingesteckt«, gestand Laura mürrisch, »wie man sieht. Die hab ich eingesteckt. Aber es ist nicht so, wie Sie glauben. Die hab ich nur mitgenommen, weil ich ihm eins auswischen wollte. Ich wollte – keine Ahnung – sie in den Kanal werfen, ihm erklären, dass er doch danach tauchen soll. Aber dann hab ich … Keine Ahnung. Ich dachte, vielleicht bedeutet sie ihm was, okay? Weil ich die Inschrift auf der Rückseite gesehen hab. Und ich dachte, vielleicht … wenn seine Mutter sie ihm geschenkt hat, bevor sie gestorben ist oder was weiß ich … und wenn sie unersetzlich ist? Ich wollte sie ihm zurückgeben.«

Eierkopf sah sie traurig an, als müsste er ihr gleich etwas sehr Unangenehmes mitteilen, was in gewisser Weise stimmte. »Jetzt wird Folgendes geschehen«, sagte er. »Wir nehmen Sie mit aufs Polizeirevier und stellen Ihnen dort ein paar weitere Fragen. Sie gelten dabei nicht mehr als Zeugin, sondern als Tatverdächtige. Wissen Sie, was das bedeutet? Außerdem nehmen wir mehrere Proben, um sie mit unseren Funden vom Tatort abzugleichen.«

»Proben? Was denn für Proben?«

»Eine Kollegin nimmt auf dem Revier Gewebeproben unter Ihren Fingernägeln, durchkämmt Ihr Haar nach Fremdfasern und so weiter – nichts, was irgendwie wehtun würde, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen …«

»Und wenn ich das nicht will?« Lauras Stimme bebte. Sie wünschte sich, dass ihr jemand beistehen würde, wusste aber nicht, wer das hätte sein sollen. »Kann ich mich weigern?«

»Das ist nicht schlimm, Laura.« Augenbraue klang versöhnlich. »Es ist keine große Sache und ganz schnell erledigt, nichts, wovor Sie Angst haben müssten.«

»Das ist gelogen«, entgegnete Laura, »Sie wissen, dass das gelogen ist.«

»Und wir machen noch etwas«, fuhr Eierkopf fort, »wir beantragen nämlich einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung, und Ihnen ist bestimmt klar, dass wir den unter den gegebenen Umständen ohne Probleme bekommen. Wenn Sie also meinen, dass wir noch etwas wissen müssten, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, uns das zu erzählen, okay?«

Laura dachte über seine Frage nach, sie versuchte zu überlegen, ob es irgendwas gab, was sie ihnen erzählen sollte, aber ihr Kopf war wie leer gefegt.

Augenbraue sprach sie an, berührte sie am Arm, und sie zuckte zurück. »Ihre Kleidung, Laura … Können Sie uns zeigen, was Sie am Freitagabend getragen haben?«

Laura zupfte irgendwelche Kleidungsstücke vom Zimmerboden auf, reichte ihnen eine Jeans, die sie vielleicht getragen hatte, vielleicht auch nicht, sie schleuderte einen BH in ihre Richtung. Sie ging aufs Klo, während die beiden im Flur auf sie warteten, Eierkopf mit gesenktem Blick, während er Augenbraues Flüstern lauschte. Laura blieb hinter der Tür stehen, hörte die Frau etwas von graviert raunenund merkwürdig und irgendwie leicht neben der Spur, oder?

Auf dem Klo mit dem Slip um die Knöchel lächelte Laura traurig vor sich hin. Man hatte sie schon Schlimmeres genannt. Neben der Spur? Neben der Spur war gar nichts. Neben der Spur war ein Kompliment verglichen mit den anderen Dingen, die sie mit den Jahren genannt worden war: Mongo, Freak, Spast, Dumpfbacke, behindert, Hirni. Daniel Sutherland hatte sie Psychowrack genannt, als sie auf ihn losgegangen war, richtig auf ihn losgegangen war, mit Tritten, Faustschlägen, Fingernägeln. Er hatte sie gepackt, seine Daumen in ihre Oberarme gebohrt. »Du Psychowrack, du … irre Bitch