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Die blaue Stunde - wem kannst du noch trauen? Geheimnisvoll, düster, wendungsreich – ein literarisches Spannungs-Highlight Die geheimnisumwitterte Künstlerin Vanessa Chapman ist schon lange tot, doch ihre Werke sind berühmter denn je und werden in den renommiertesten Häusern ausgestellt. Als eines Tages ein menschlicher Knochen in einer der Skulpturen Chapmans entdeckt wird, ist die Aufregung groß: Woher stammt der Knochen und wie konnte er Teil eines gefeierten Kunstwerks werden? James Becker, der Kurator des Museums, begibt sich auf Spurensuche und reist dafür auf die abgeschiedene Gezeiteninsel Eris Island, die nur eine einzige Bewohnerin hat und weit mehr als nur eine dunkle Wahrheit verbirgt. »Mit großem Abstand die beste Paula Hawkins, die ich je gelesen habe.« LEE CHILD »Die blaue Stunde hat mich mitgerissen wie eine Flut, die so unbarmherzig und so unwiderstehlich ist wie die um Eris Island.« VAL MCDERMID
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die geheimnisumwitterte Künstlerin Vanessa Chapman ist schon lange tot, doch ihre Werke sind berühmter denn je und werden in den renommiertesten Häusern ausgestellt. Als eines Tages ein menschlicher Knochen in einer der Skulpturen Chapmans entdeckt wird, ist die Aufregung groß: Woher stammt der Knochen und wie konnte er Teil eines gefeierten Kunstwerks werden?
James Becker, der Kurator des Museums, begibt sich auf Spurensuche und reist dafür auf die abgeschiedene Gezeiteninsel Eris Island, die nur eine einzige Bewohnerin hat und weit mehr als nur eine dunkle Wahrheit verbirgt.
Paula Hawkins
Roman
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Für Mum und Dad, in Liebe
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Dylan Thomas
Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.
Hippocrates
Der Mond weckte mich, hell und nah. Er goss ein merkwürdiges Licht übers Meer, eine Art dunkles Tageslicht, als würde man das Negativ eines Fotos betrachten. Ich fand nicht mehr zurück in den Schlaf. Da ich schon seit Wochen nicht arbeiten konnte, lief ich runter an den Strand. Ich war barfuß und der Sand unter meinen Füßen so kalt, dass ich rennen wollte.
Es ging ein Wind. Er war merkwürdig warm und verwehte den Sand, und die über den Mond ziehenden Wolken warfen Schatten, die mich verfolgten. Dabei dachte ich die ganze Zeit an das Lied, das Grace mir beigebracht hat, das mit den Wölfen, die die frisch Verstorbenen ausgraben und ihre armen Knochen an der Oberfläche verteilen.
In letzter Zeit fühle ich mich selbst auch ein bisschen verwildert.
Ich rannte und rannte, bis ich mit den Füßen im Wasser war, und als ich mich umdrehte, schaute ich zurück zur Insel, zum Haus, zu meinem Schlafzimmerfenster, wo noch Licht brannte, und dann bewegte sich dort etwas. Wahrscheinlich die Gardine, aber mir wurde eiskalt. Ich schaute weiter hin und wartete, versuchte, ihn durch meine Willenskraft dazu zu bringen, sich noch einmal zu zeigen, doch da war nichts, nichts und niemand, nur das Wasser, das plötzlich gegen meine Waden schlug, gegen meine Knie.
Der Sand wehte nun nicht mehr, ich konnte gar keinen Sand mehr sehen, alles war unter Wasser, und ich hatte schrecklich weit zu laufen. Ich watete, so schnell ich konnte, doch der Wind blies mir ins Gesicht, und die Flut war wie ein Fluss. Immerzu stolperte ich und fiel auf die Knie; die Kälte traf mich wie ein Schlag, wieder und wieder.
Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor so schreckliche Angst hatte.
Als ich schließlich wieder bei den Treppenstufen ankam, war ich derart erschöpft, dass ich mich kaum noch rühren konnte. Ich lag dort und zitterte so stark, als hätte ich Krämpfe. Irgendwann konnte ich aufstehen und schaffte es nach oben ins Haus. Ich duschte, zog mich an, ging hoch ins Atelier und fing an zu malen.
Division II (circa 2005)
Vanessa Chapman
Keramik, Urushi-Lack, Blattgold, Golddraht, Paarhuferrippe, Holz und Glas
Leihgabe der Fairburn-Stiftung
Als eine von nur sieben Skulpturen, die Chapman aus Keramikscherben und Fundstücken herstellte, ist Division II eine trügerisch einfache räumliche Anordnung: eine Gruppe von Objekten, die zueinander in Bezug gesetzt, an Drähten aufgehängt und in einem Glaskasten verschlossen sind.
Indem sie die Objekte auf diese Weise präsentiert, stellt Chapman Fragen über Inklusion und Exklusion, darüber, was wir verbergen und was wir zeigen, worin wir großzügig sind und worin verschwiegen, darüber, was wir machen und was wir hinterlassen.
Von: [email protected]
Betreff: Chapman – Ausstellung Skulptur und Natur
Sehr geehrte Damen und Herren,
am letzten Wochenende habe ich die Tate Modern besucht und war sehr angetan, besonders von der Ausstellung Skulptur und Natur, die einige großartige Werke präsentiert. Allerdings ist mir ein Fehler in der Beschriftung von Vanessa Chapmans Arbeit mit dem Titel Division II von 2005 aufgefallen, wo unter den Materialien eine Paarhuferrippe aufgelistet ist. Als langjährig tätiger forensischer Anthropologe darf ich Ihnen versichern, dass die Rippe in dieser Arbeit nicht von einem Paarhufer stammt; tatsächlich handelt es sich um eine menschliche Rippe.
Ich halte es durchaus für möglich, dass dieser Irrtum Mrs Chapman selbst unterlaufen ist, denn für das ungeschulte Auge hat die Rippe eines Rehs sehr viel Ähnlichkeit mit der eines Menschen.
Ich dachte mir, dass ich Sie das vielleicht wissen lassen sollte.
Mit freundlichen Grüßen,
Benjamin Jefferies
In der klirrenden Kälte eines strahlenden Oktobermorgens steht James Becker, die Hüfte ans Geländer gelehnt, auf der Fußgängerbrücke und dreht sich eine Zigarette. Das Wasser in dem Bach unter ihm fließt nahe dem Gefrierpunkt schwarz und träge dahin, wie Sirup rinnt es über rost-oranges Gestein. Die Brücke liegt genau in der Mitte seines täglichen Arbeitsweges; zwölf Minuten geht er von der Wildhüter-Lodge, wo er wohnt, zum Fairburn House, wo er arbeitet. Fünfzehn Minuten, wenn er anhält, um eine zu rauchen.
Den Jackenkragen aufgestellt, blickt er rasch über die Schulter zurück – eine verstohlene Geste, dabei braucht er sich nicht zu verstecken. Er gehört hierher, so erstaunlich das auch sein mag. Er kann es selbst kaum glauben. Wie kann er – unehelicher Sohn einer Supermarktkassiererin, der eine staatliche Schule besuchte und immer die billigste Uniform trug – hier wohnen und arbeiten, bei der Fairburn-Stiftung, zusammen mit Menschen vornehmer Abstammung? Er passt hier nicht hin. Und doch ist er – durch harte Arbeit, eine Menge Glück und nur ein kleines bisschen Hinterlist – hier gelandet.
Er zündet seine Zigarette an und wirft erneut einen prüfenden Blick über die Schulter, zurück zur Lodge. Das aus dem Küchenfenster dringende warme Licht färbt die Buchenhecke golden. Niemand beobachtet ihn – Helena wird noch im Bett liegen und sich ein Kissen zwischen die Beine geklemmt haben. Also sieht auch niemand, dass er sein Versprechen bricht, mit dem Rauchen aufzuhören. Immerhin hat er reduziert – jetzt sind es nur noch drei am Tag –, und wenn das Wasser irgendwann komplett gefroren ist, lässt er es ganz sein, denkt er sich.
Am Geländer lehnend, zieht er lange an seiner Zigarette und schaut dabei zu den Hügeln im Norden, deren Gipfel bereits mit Schnee bestäubt sind. Irgendwo zwischen hier und dort heult eine Sirene; Becker glaubt kurz, ein blinkendes Blaulicht auf der Straße gesehen zu haben, von einem Rettungswagen oder der Polizei. Er hört sein Blut in den Ohren rauschen, und das Nikotin steigt ihm zu Kopf; ein leises Ziehen im Magen kündet von einer diffusen, aber nicht wegzuleugnenden Angst. Er raucht schnell, als wäre es auf diese Weise weniger schädlich, und schnickt die Kippe ins Wasser. Dann überquert er die Brücke und geht knirschenden Schrittes über den mit Raureif bedeckten Rasen zum Gebäude.
Als er die Tür öffnet, klingelt das Telefon in seinem Büro.
»Hallo?« Becker steckt den Hörer zwischen Schulter und Kinn, macht seinen Computer an und dreht sich, um auch die Kaffeemaschine auf dem Beistelltisch einzuschalten.
Am anderen Ende herrscht kurz Stille, dann sagt jemand mit klarer Stimme knapp: »Guten Morgen. Spreche ich mit James Becker?«
»Ja, der bin ich.« Becker gibt sein Passwort ein und schlüpft aus seiner Jacke.
»Gut.« Wieder eine kurze Stille. »Hier ist Goodwin, Tate Modern.«
Der Hörer rutscht von Beckers Schulter; er fängt ihn auf und drückt ihn wieder ans Ohr. »Entschuldigung, wer?«
Der Mann am anderen Ende atmet hörbar aus. »Will Goodwin«, sagt er übertrieben deutlich. »Von der Tate Modern in London. Ich rufe an, weil wir ein Problem mit einer der Leihgaben der Fairburn-Stiftung haben.«
Becker geht sofort in Habachtstellung, seine Faust schließt sich fester um den Hörer. »O Gott, Sie haben sie doch nicht beschädigt, oder?«
»Nein, Mr Becker.« Man hört, dass Goodwin sich zusammennehmen muss. »Selbstverständlich behandeln wir alle drei Arbeiten der Fairburn-Stiftung mit größter Sorgfalt. Wir sahen uns jedoch veranlasst, eines der Werke, Division II, aus der Ausstellung zu nehmen.«
Becker setzt sich hin, er runzelt die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Wir haben eine E-Mail von einem sehr angesehenen forensischen Anthropologen erhalten, der unsere Ausstellung am vergangenen Wochenende besucht hat. Und ihm zufolge enthält Division II einen menschlichen Knochen.«
Beckers schallendes Gelächter stößt auf unergründliches Schweigen. »Tut mir leid«, sagt Becker, immer noch glucksend, »aber das ist einfach …«
»Nun, das sollte Ihnen auch leidtun!« Goodwin klingt stinksauer. »Ich fürchte, ich kann Ihre Belustigung nicht teilen. Es ist voll und ganz Ihrer kuratorischen Inkompetenz zuzuschreiben, dass wir uns in meiner allerersten Ausstellung als Direktor und unserer allerersten postpandemischen Veranstaltung in der Lage wiederfinden, unbeabsichtigt menschliche Überreste präsentiert zu haben. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sehr das den Ruf unserer Institution beschädigen kann? Wegen solcher Dinge werden Leute gecancelt.«
Als das Gespräch endlich vorbei ist, sitzt Becker vor seinem Computerbildschirm und wartet gebannt auf die E-Mail, die Goodwin ihm weiterleiten will. Diese Beschwerde – wenn man sie so nennen kann – ist offensichtlicher Unsinn. Vielleicht ein Scherz? Oder möglicherweise ein echtes Versehen?
Die Nachricht erscheint oben in Beckers E-Mail-Eingang, und er klickt darauf. Er liest sie zweimal, googelt den Absender (ein sehr renommierter Wissenschaftler an einer großen britischen Universität – also eher kein Witzbold) und öffnet dann ArtPro, die Software, in der der Bestand der Fairburn-Stiftung katalogisiert ist, um das fragliche Kunstwerk zu suchen. Da ist es. Division II, circa 2005, von Vanessa Chapman. Von ihm selbst angefertigte Farbfotografien illustrieren das Verzeichnis. Keramik, Holz und Knochen schweben, aufgehängt an Drähten, in einem von Chapman selbst gebauten Glaskasten umeinander. Keramik und Knochen kann man praktisch gar nicht unterscheiden: fragile reinweiße Spindeln, die jeweils in der Mitte zerbrochen und mit Lack und Gold wieder zusammengefügt sind.
Als er das Werk zum ersten Mal sah, dachte er, es wäre ihm versehentlich geschickt worden. Eine Skulptur? Vanessa Chapman war keine Bildhauerin, sie war Malerin und Keramikkünstlerin. Doch da war das Werk, schön und sonderbar, ein zartes Mysterium, das perfekte Rätsel. Ohne jeden erläuternden Vermerk. Nur eine kurze Erwähnung in einem Notizbuch, in dem Chapman über die Schwierigkeiten schrieb, die sie bei der Erstellung der Haut hatte, des Glaskastens, der die übrigen Komponenten umschließt. Damals ohne Zweifel ihre Skulptur, jetzt seine. Damit er sie katalogisiert, beschreibt und ausstellt, der Welt präsentiert. Sie ist kurz im Fairburn House gezeigt worden, und seitdem haben sie Tausende Menschen – Zehntausende! – in Galerien in Berlin und Paris und erst kürzlich auch in London betrachtet.
Ein Menschenknochen! Das ist absurd. Becker schiebt seinen Stuhl vom Schreibtisch weg, steht auf und wendet sich dem Fenster zu.
Sein Büro liegt im öffentlich zugänglichen Flügel des Gebäudes, von dem aus man über die östliche Gartenanlage schaut. In der Mitte einer Rasenfläche, so akkurat und grün wie Filz, steht eine Hepworth-Bronze. Das Morgenlicht poliert ihre Rundungen auf Hochglanz, die abgeschrägten konvexen Wände des Hohlraums in ihrem Zentrum schimmern grünlich. Durch diese ovale Öffnung erspäht Becker Sebastian, der mit dem Handy am Ohr schnellen Schrittes über den Rasen kommt.
Sebastian Lennox ist der Erbe von Fairburn – sobald seine Mutter das Zeitliche segnet, werden dieses Anwesen, die Lodge, in der Becker wohnt, die Gartenanlage, die Hepworth-Bronze und die Felder dahinter ihm gehören. Außerdem ist er der Leiter der Stiftung und damit nicht nur Beckers Vermieter, sondern auch sein Boss.
(Und sein Freund, nicht zu vergessen.)
Becker beobachtet, wie Sebastian um die Bronze herumgeht. Er grinst ein bisschen zu breit, und sein Lachen ist schon aus dieser Distanz zu hören. Als Becker sich ein Stück wegdreht, wird Sebastian durch die Bewegung auf ihn aufmerksam. Er blinzelt, hebt die Hand zum Gruß und spreizt seine Finger, um fünf anzuzeigen. Fünf Minuten. Becker tritt vom Fenster zurück und setzt sich wieder an den Schreibtisch.
Zehn, fünfzehn Minuten später hört er Schritte auf dem Gang, und einen Augenblick danach kommt Sebastian ins Zimmer gesprungen, ein Golden Retriever in Menschengestalt.
»Du glaubst nicht, wer mich gerade angerufen hat«, sagt er und schiebt sich die blonden Haare aus den Augen.
»Nicht zufällig Will Goodwin, oder?«
»Ja, ganz genau!«, sagt Sebastian lachend und sinkt in den Sessel in der Ecke des Büros. »Der macht sich in die Hose, weil er fürchtet, gecancelt zu werden. Hat er dich auch angerufen?«
Becker nickt. »Sie nehmen das Werk aus der Ausstellung«, sagt er. »Das ist … Ich finde, er reagiert total überzogen.«
»Tut er das?«
Becker spreizt seine Hände. »Natürlich! Das kann nur eine Überreaktion sein. Dieses Werk haben schon Gott weiß wie viele Leute gesehen, Experten eingeschlossen. Wenn der Knochen von einem Menschen wäre, hätte das doch längst jemand gemerkt.«
Sebastian nickt, seine Mundwinkel gehen nach unten.
»Bistdu enttäuscht?«, fragt Becker ungläubig.
Sebastian zuckt die Achseln. »Vielleicht ist es dir ja entgangen, Beck, aber die britische Öffentlichkeit rennt uns seit der Wiedereröffnung nicht gerade die Türen ein … Ich dachte, ein Hauch von Mysterium, ein Anflug von Skandal könnte uns vielleicht …«
»Skandal? Oh, das ist Musik in meinen Ohren.« Die Männer drehen sich zu Helena um, die in der Tür steht. Sie ist von Kopf bis Fuß in schwarzen Kaschmir gekleidet, ein Kleid aus Rippenstrick, das sich eng um ihren ansehnlichen Babybauch schmiegt. Einige kastanienbraune Haarsträhnen haben sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst, sie hat rote Flecken im Gesicht und ist leicht außer Atem.
»Hels!« Sebastian spring auf, umarmt sie und küsst sie sanft auf beide Wangen. »Du siehst aus wie das blühende Leben. Bist du hierhergelaufen? Komm, setz dich!«
Helena lässt sich zu dem Sessel führen, den Sebastian gerade freigemacht hat. »Ich hatte Lust auf einen Spaziergang«, sagt sie und lächelt Becker zu, der sie fragend anschaut. »Es ist so schön draußen! Am liebsten würde ich ja einen Ausritt machen, aber«, sie wedelt mit der Hand durch die Luft, um Beckers Einwänden zuvorzukommen, »das mache ich natürlich nicht. Also schießt los, was hat es mit diesem Skandal auf sich?«
Sie hört aufmerksam zu, während Becker es ihr erklärt, unterbricht ihn aber, als er zum Höhepunkt der Geschichte kommt. »Aber diese Arbeit wurde doch in der Berlinischen Galerie gezeigt! Und bei der Twenty One-Ausstellung im Musée d’Art Moderne in Paris!«
Becker nickt. »Genau das habe ich auch gesagt.«
»Und … was habt ihr jetzt vor?«
Sebastian setzt sich auf den Rand des Schreibtischs. »Keine Ahnung«, sagt er. »Um ehrlich zu sein, versteh ich gar nicht so recht, was die Aufregung soll. Nehmen wir an, der Knochen ist tatsächlich von einem Menschen. Sie wird wohl kaum ein Grab geplündert haben, oder? Also ist das dann wirklich von Bedeutung?«
Becker beißt sich innen auf die Wange. »Man kann nicht einfach menschliche Überreste ausstellen, Seb.«
»Das British Museum ist voll davon!«
»Na ja.« Auf Beckers Gesicht erscheint ein Grinsen. »Ich glaube, das ist ein bisschen was anderes.«
Sebastian wendet sich ihm zu und sieht ihn verärgert an. »Das sieht Goodwin auch so. Er flippt total aus. Er will das Werk heimlich, still und leise in ein privates Labor schicken, um dort Tests durchführen zu lassen.«
»Auf keinen Fall!« Becker springt auf, stößt dabei gegen den Schreibtisch und verschüttet Kaffee über die edle grüne Ledereinlage in der Tischplatte. Sebastian und Helena sehen ihm dabei zu, wie er die Flüssigkeit mit Papiertüchern aufwischt. »Um den Knochen untersuchen zu können, müssen sie den Glaskasten aufbrechen, und der ist Bestandteil des Kunstwerks. Sie hat ihn selbst hergestellt. Wenn man das macht … Nun, das Allermindeste, was dann passiert, ist meiner Meinung nach, dass der Versicherungsschutz erlischt. Aber darüber hinaus beschädigt man das Werk. Sie können es unmöglich in irgendein … beliebiges Laborschicken, das keine Ahnung von seiner Entstehungsgeschichte hat und keinerlei Expertise auf diesem Gebiet.«
»Okay«, sagt Sebastian und zuckt übertrieben die Achseln. »Aber was dann?«
»Wir könnten damit anfangen, dass wir jemand anders, irgendeinen anderen Sachverständigen oder vielleicht sogar zwei, erst mal bitten, einen Blick darauf zu werfen. Und in dieser Zeit könnten wir mit der Versicherung sprechen, die Situation erläutern, erklären, dass irgendwann eventuell …«, er möchte nicht Tests sagen, möchte in dem Punkt keine Konzession machen, »weitere Recherchen notwendig werden.«
»Und in der Zwischenzeit könntest du zu Grace Haswell fahren und mit ihr reden«, sagt Helena, schlägt ihre Beine übereinander und stellt sie dann wieder nebeneinander.
»Nein«, sagt Becker eine freudige Erregung unterdrückend, »das kann ich nicht. Ich möchte dich nicht allein lassen …«
»In meinem angegriffenen Zustand?« Helena lacht. »Doch, das kannst du. Komm schon, Beck, du brennst doch darauf, nach Eris rauszufahren. Du hast während des Lockdowns über nichts anderes geredet. Und das ist jetzt die perfekte Gelegenheit. Der perfekte Vorwand.«
»Wenn ich früh aufbreche, könnte ich da hochheizen und am selben Tag wieder zurückkommen …«, sagt Becker vorsichtig.
Er schaut Sebastian an, der erneut die Achseln zuckt. »Meinetwegen. Fahr hin, wenn du glaubst, dass das was bringt. Allerdings wüsste ich nicht, wie die böse Hexe von Eris Island uns in der Sache behilflich sein könnte. Es sei denn, du glaubst, sie weiß irgendwas. Vielleicht ist der Knochen ja der letzte Überrest von einem der Kinder, die sie in ihr Hexenhaus gelockt hat?« Sebastian lacht über seinen eigenen Witz. Helena zwinkert Becker zu. Idiot. »Nein, das ist eine gute Idee. Wirklich. Du könntest zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – Licht in die Angelegenheit mit dem Knochen bringen und ihr von Angesicht zu Angesicht klarmachen, dass wir ihre Verzögerungstaktik leid sind. Es wird Zeit, dass sie uns Chapmans Aufzeichnungen aushändigt – und alles andere, was uns gehört. Du kannst sie daran erinnern, dass Vanessa uns den künstlerischen Nachlass vermacht hat und dass es ihr nicht zusteht, darüber zu entscheiden, was sie uns rausgibt und was nicht …«
»Na ja, streng genommen darf sie das schon«, unterbricht Becker sie und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie ist die Testamentsvollstreckerin.«
»Jetzt spiel doch hier nicht den Oberschlauen, verdammt noch mal.« Mit Sebastians Ausgelassenheit ist es schlagartig vorbei. Becker zuckt beinahe zusammen vor Schreck. Helena fixiert den Teppich. »Sie hält schließlich schon die ganze Zeit Sachen zurück, oder etwa nicht? Aufzeichnungen, Briefe und sehr wahrscheinlich auch Kunstwerke. Die uns gehören. Und zwar alle. Jedes Ölgemälde, jede Skizze, jede Porzellanschale, die Chapman auf ihrer Töpferscheibe geformt hat, jedes verdammte Steinchen, das sie am Strand aufgesammelt und irgendwieirgendwo abgelegt hat, gehört uns. Alles, was mit ihrem künstlerischen Nachlass zu tun hat, gehört uns.«
Becker beißt sich auf die Zunge. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als an Chapmans schriftliche Aufzeichnungen heranzukommen; ein paar Notizbücher haben zusammen mit den wichtigsten Kunstwerken bereits ihren Weg nach Fairburn gefunden, aber es gibt noch sehr viel mehr Material, das noch niemand zu Gesicht bekommen hat. Becker weiß aus Interviews, dass sie den Entstehungsprozess ihrer Werke in Tagebüchern festgehalten und mit anderen Künstlern und Künstlerinnen über ihre Arbeit korrespondiert hat – wenn Haswell die herausrückt, falls sie es denn tut, wird er der Erste sein, der sie zu lesen bekommt. Er wird prägenden Einfluss darauf haben, wie die Welt Vanessa Chapman und ihr Werk sieht und wie man dieses Werk bewertet. Allein schon der Gedanke bringt sein Blut in Wallung.
Doch Becker ist von Natur aus vorsichtig – und freundlich. Wenn sich eine Möglichkeit abzeichnet, an diese Aufzeichnungen heranzukommen, ohne Chapmans Testamentsvollstreckerin – und guter Freundin – zu drohen oder zuzusetzen, würde er lieber diesen Weg beschreiten.
»Ich spiele nicht den Oberschlauen«, sagt er schließlich. »Du weißt so gut wie ich, dass noch nicht geklärt ist, was der künstlerische Nachlass alles umfasst und woraus der Rest …«
»Jungs.« Helena erhebt sich, Sebastians Hilfsangebot mit einer Geste ablehnend. »Das ist alles faszinierend, aber ihr dürft das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren. Nehmen wir mal an, es stellt sich raus, der Knochen stammt von einem Menschen, was dann? Was macht ihr dann? Wie geht ihr mit der Situation um? Wie wollt ihr das drehen?«
»Das drehen?«, wiederholt Becker.
»Beck, Fairburn könnte bald auf der Titelseite sämtlicher Tageszeitungen des Landes sein, im Fernsehen und …«
Sebastians Miene hellt sich auf, doch Becker ist skeptisch. »Ich weiß nicht, ob das so ein Riesending ist, Hels«, sagt er. »Klar, es wäre schon eine Kuriosität, aber …«
»Beck.« Helena lächelt kopfschüttelnd. »Liebling, jetzt mal im Ernst. Glaubst du nicht, die Presse fände es interessant, wenn eine Skulptur der großen, einsiedlerischen, geheimnisvollen Vanessa Chapman einen menschlichen Knochen enthielte? Der inzwischen verstorbenen Vanessa Chapman, deren notorisch untreuer Mann vor fast zwanzig Jahren verschwand? Und dessen Leiche nie gefunden wurde?«
Wenn Becker seine Frau anschaut, hat er manchmal das Gefühl, dass ihm das Herz überläuft. Dass es kaum noch in seine Brust passt, weil es randvoll mit Liebe ist. Er hat alles, was sein Herz begehrt, und das macht ihm Angst, weil es bedeutet (ja, bedeuten muss), dass er alles zu verlieren hat. Darum ist er in der letzten Zeit so besorgt, so angespannt. Ihm ist klar, dass ihm das Glück allzu hold war. Er verdient das alles nicht.
Helena ist schon fast an der Hepworth-Bronze vorbei, als sie abrupt stehen bleibt, den Kopf nach links dreht und die Hand hebt, um ihre Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Irgendetwas hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Zwei braun-weiße Vorstehhunde sprinten ins Bild und kündigen Lady Emmeline Lennox an, die entschlossenen Schrittes herannaht. Ihr Helm aus silbergrauem Haar bekommt durch die Sonne einen Stich ins Platinfarbene. Helena wendet sich der älteren Frau nun vollständig zu, und von Beckers Standpunkt aus wiederholt sich die Rundung ihres Bauchs in Emmelines ausgeprägtem Witwenbuckel.
Er kann natürlich weder hören, was sie sagen, noch ihr Mienenspiel genau erkennen, aber die Boshaftigkeit, mit der Emmeline Helenas Handgelenk nimmt und sie in eine unnatürliche Haltung zwingt, ist nicht zu übersehen. Becker klopft laut an die Scheibe, und beide Frauen drehen ihm den Kopf zu. Helena hebt zögerlich ihre freie Hand. Emmeline lässt ihr Handgelenk los und wendet sich ab.
»Böse Hexe«, murmelt Becker. Er schaut über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand gehört hat. Dass er und Sebastians Mutter sich nicht ausstehen können, ist kein Geheimnis. Aber es wäre nicht gut, sich dabei erwischen zu lassen, wie er über sie herzieht. Er überlegt, Helena nachzulaufen und sie zu fragen, was sie gesagt hat, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut geht, aber er weiß, dass sie ihm das nicht danken wird. Sie kann es nicht leiden, wenn er sich übertriebene Sorgen um sie macht. Außerdem klingelt erneut sein Telefon.
Während er einem Fahrer die Zustelladresse für die Anlieferung von zwei Neuerwerbungen bestätigt, die Sebastian ohne Rücksprache mit ihm getätigt hat, sucht Becker im Internet, nicht zum ersten Mal, nach Zeitungsartikeln über Vanessa Chapmans Ehemann, Julian Chapman.
Schon seit geraumer Zeit hat sich niemand mehr wirklich für ihn interessiert. Das letzte umfangreichere Stück, das Becker findet, ist 2009 im Tatler erschienen, ein Porträt von Julian Chapmans jüngerer Schwester Isobel, die das Interview angeblich gewährte, weil sie »Julian wieder ins öffentliche Interesse rücken« wollte. Becker kann jedoch nicht umhin festzustellen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des Artikels von Isobels neuer Firma für Innenausstattung handelt. Dennoch steht in den ersten Absätzen einiges über Julian.
Spricht man die Leute auf Julian Chapman an, dann stellt man fest, dass häufig das Wort Teufel auftaucht. Er war ein teuflisch gut aussehender Typ, er hatte eine verteufelt unbekümmerte Lebenseinstellung und er hatte eine innige Beziehung zu dem Teufelchen auf seiner Schulter. Als ich Isobel das erzähle, lacht sie. »Oh, das stimmt schon«, sagt sie. »Er konnte gerissen sein, ohne Zweifel.« Sie macht eine Pause. »Aber er war ein Teufel, der geliebt wurde. Alle waren verrückt nach ihm.«
Auf dem großen Piano in Birchs perfekt renoviertem, geräumigem Haus in den Cotswolds stehen gerahmte Fotos, von denen viele ihren geliebten großen Bruder zeigen: einmal in einem Kajak vor der Küste Cornwalls, einmal stilvoll gekleidet und gut aussehend wie ein Hollywoodstar bei der Royal-Ascot-Rennwoche und auf einem dritten tiefgebräunt und lachend auf dem Rücken eines Pferdes vor einem atemberaubenden Sonnenuntergang in der Savanne.
»Kenia«, klärt Isobel mich auf. »Julian liebte Afrika. Der Kontinent sprach seine wilde Seite an. Er und Celia [Gray, seine Geliebte] hatten geplant, dort hinzuziehen. Sie hatten ein Grundstück gefunden, auf dem sie ein Haus bauen wollten, und sie waren voller Vorfreude darauf.« Birch blinzelt ihre Tränen weg. »Aber dann waren sie beide plötzlich innerhalb eines knappen Jahres tot.«
Gray starb am Neujahrsmorgen 2001 bei einem Autounfall in Frankreich. Sechs Monate später fuhr Chapman zur schottischen Insel Eris, um seine von ihm getrennt lebende Frau, die Künstlerin Vanessa Chapman, zu besuchen. Von dieser Reise kehrte er nie zurück. Weder er noch sein roter Duetto Spider 1600 wurden je gefunden.
Sieben Jahre sind seit dieser schicksalhaften Reise vergangen, eine ausreichend lange Zeit, um Julian für »mutmaßlich tot« zu erklären. Doch Isobel hat die Hoffnung nicht aufgegeben. »Ich bekomme immer noch Nachrichten von Leuten, die ihn gesehen haben wollen. Ich bin schon um die ganze Welt gereist – nach Frankreich, Bulgarien, Südafrika und Argentinien –, um diesen Spuren nachzugehen.« Sie schüttelt traurig den Kopf. »Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist. Er liebte uns, und auch wenn er gerissen sein konnte, grausam war er nicht. Doch ich darf die Hoffnung nicht aufgeben. Solange ich keine Leiche habe, die ich bestatten kann, werde ich die Hoffnung nicht aufgeben.«
Als ich sie frage, was Julian ihrer Meinung nach zugestoßen sein könnte, verfinstert sich Birchs Miene. »Wir haben kein genaues Bild davon, wo er sich zuletzt aufhielt. Vanessa hat behauptet, nichts zu wissen. Sie war angeblich nicht auf der Insel, als Julian abgereist ist.« Angeblich? Isobel schüttelt den Kopf. »Mehr kann ich nicht sagen. Ich weiß nur so viel: Vanessa hat kein einziges Mal angerufen oder geschrieben, um sich zu erkundigen, wie es uns – Julians Familie – in den Wochen nach seinem Verschwinden ging. Es schien ihr egal zu sein, wo er war.« Als ich zu bedenken gebe, dass Vanessa möglicherweise selbst unter Schock stand oder in Trauer war, lächelt Isobel betrübt. »Vanessa war nie jemand, der Gefühle gezeigt hat. Ich weiß nicht, wie es ihr ging, aber es würde mich überraschen, wenn sie getrauert hätte. Ich denke, sie war im Gegenteil erleichtert, ihn los zu sein.«
In den folgenden Absätzen spricht der Journalist mit verschiedenen Freunden von Julian über ihn und über Vanessa. Diese namentlich nicht genannten Quellen reden über Julians teuflischen Sinn für Humor, seine Anziehungskraft und seine Lebensfreude. Sie erzählen Anekdoten darüber, wie er am Stierlauf teilgenommen hat und auf den Ben Nevis gestiegen oder eines Maimorgens von der Magdalen Bridge in Oxford gesprungen ist. Vanessa ist nur ein Hintergrundrauschen: die schöne Ehefrau. Talentiert, ernsthaft, ehrgeizig.
Als der Journalist Julians finanzielle Probleme und seine (häufigen) Affären anspricht, wiegelt seine Schwester ab.
»Ich hab ja gesagt, dass er gerissen sein konnte, oder? Er war nicht perfekt. Aber er war der ultimative Freigeist – er war lustig und unverschämt, aber nie, niemals langweilig. Alle haben Julian geliebt. Alle wollten ihn um sich haben.« Sie schweigt einen Moment, dann lächelt sie, und in ihren großen braunen Augen glitzern Tränen. »Entschuldigung, das stimmt nicht ganz – nicht alle. Alle bis auf sie.«
(undatiert)
Mein schwarzes Gemälde beunruhigt mich. Gestern lehnte es an der Atelierwand, und ich bemerkte, dass ich mit ihm vor Augen nicht arbeiten konnte. Ich brachte es ins Priesterloch hinunter, aber weil ich seine Präsenz selbst dort noch spüren konnte, ging ich aus dem Haus, um ihm zu entkommen. Und als selbst das noch nicht auszureichen schien, verließ ich auch die Insel.
Ich fuhr aufs Festland rüber und rief von der Telefonzelle auf dem Parkplatz aus Julian an (der Festnetzanschluss zu Hause funktioniert wieder nicht, und ich vergesse ständig, jemanden herzubestellen, damit er mal danach guckt). Ich sagte ihm, dass er nicht kommen darf. Dass ich ihn hier nicht haben will.
Danach ging ich in den Pub am anderen Ende des Dorfes. Ich saß allein in der Ecke. Nach zehn Minuten kam ein Mann zu mir, um mit mir zu reden – ein Amerikaner, der nach Grabsteinen suchte. Hatte irgendwas mit seinen Vorfahren zu tun. Er wollte mich auf einen Drink einladen; ich wusste, dass ich die Ebbe verpasse, wenn ich einwillige. Ich erzählte ihm, ich wäre eine verheiratete Lehrerin aus Edinburgh und hätte Streit mit meinem Mann.
Der Sex war nichts Besonderes, aber trotzdem sehr willkommen.
Diese Freiheit ist berauschend.
Ich esse, wann ich will,
arbeite, wann ich will,
komme und gehe, wann ich will.
Niemand macht mir Vorschriften, nur die Gezeiten.
Der Sog der Gezeiten bringt ihr Blut in Wallung; er weckt sie mitten in der Nacht. All die Jahre auf Eris – mehr als zwanzig sind es nun – haben Grace gezeitenfühlig gemacht. Auch sie ist stark von der Anziehungskraft des Mondes beeinflusst. Mondsüchtig im wahrsten Sinne! Von ihm gesteuert. Bei Ebbe kann sie nicht mehr schlafen, sie findet nur dann Ruhe, wenn das Meer sie vom Festland trennt.
Wenn sie weiß, dass sich niemand an sie heranschleichen kann.
Genau genommen ist Eris keine Insel. Wie Grace ist auch Eris den Gezeiten unterworfen. Eine Beinahe-Insel, durch eine schmale Landzunge, die anderthalb Kilometer misst, mit dem Festland verschmolzen. Für zwölf Stunden am Tag, in zwei Sechs-Stunden-Blöcken, ist dieser Damm zu Fuß oder mit dem Auto passierbar. Wenn die Flut kommt, ist Eris unerreichbar. Wenn, wie heute, um 6:30 Uhr morgens Niedrigwasser ist, kann man den Damm von ungefähr 3:30 bis 9:30 Uhr überqueren.
Mitten in der Nacht wacht Grace also auf.
Sie heizt den Holzofen in der Küche an und stellt die Kaffeekanne auf den Aga-Herd. Sie kocht Porridge, rührt behutsam in den Haferflocken, fügt eine Prise Salz und zum Schluss noch etwas Sahne hinzu. Sie frühstückt am Küchenfenster. Von hier aus kann sie das Meer nicht sehen, aber sie hört es: eine träge Bestie, die ihre Klauen durch den Sand zieht, während sie von der Küste zurückweicht.
Danach setzt Grace sich mit ihrem Laptop an den Küchentisch. Als sie noch einmal die E-Mail liest, die gestern Nachmittag kam, verspürt sie ein Aufflackern von Panik, ein Unbehagen, wie die Angst vor unerledigten Hausaufgaben am Sonntagabend. Fünf Jahre ist Vanessa schon tot, fünf lange Jahre, und immer noch sind ihre Angelegenheiten nicht geregelt, noch immer werden Grace Vorhaltungen gemacht, in Briefen und E-Mails, von Männern, die sie noch nie gesehen hat. Dass das ihre eigene Schuld ist, macht es nicht besser. Vielmehr schlimmer. Fünf Jahre! Fünf Jahre der Trauer, der Arbeit. Der Prokrastination. Des Versteckens. Sie steht so abrupt auf, dass ihre Stuhlbeine geräuschvoll über den Boden schrammen. Wie es aussieht, kann sie sich nicht länger verstecken.
Geduscht und warm angezogen kehrt sie später in die Küche zurück, um ihre Brille zu holen. Der Tag bricht nur zögerlich an; auf der anderen Seite des Kanals drückt ein Betonhimmel auf die Hügel. Grace füllt den Inhalt der Kaffeekanne in eine Thermosflasche, holt sich ihre Regenjacke und nimmt den Schlüssel zum Atelier von dem Brett im Flur. Sie wiegt ihn kurz in der Hand und lässt ihn dann in ihre Tasche gleiten.
Sie tritt aus dem Haus und zieht die Tür hinter sich zu, dann saugt sie die kalte, salzige Luft ein und schaut nach rechts, wo die Insel zur Bucht hin abfällt. In dem Cottage am Hafen brennt Licht. Marguerite ist auch auf. Noch eine Mondsüchtige.
Grace wendet sich nach links und geht vom Meer weg, den Pfad hoch, der zum Atelier führt und, wenn sie weitergehen würde, in das Wäldchen, zum Eris Rock, zur Irischen See.
Auf halbem Weg den Hügel hoch zögert sie. Von der Haustür bis zum Atelier sind es ein paar hundert Meter, doch es könnten genauso gut tausend Kilometer sein. Es ist mehr als ein Jahr her, dass sie zuletzt dort war. Sie hat immer wieder eine Ausrede gefunden – Arbeit, Erschöpfung, ihr gebrochenes Herz –, um diese Bilanz aufzuschieben. Doch die E-Mails, die Anrufe und die Drohungen werden nicht verschwinden. Sie muss sich dem stellen, denn was ist die Alternative? Einfach den Schlüssel auszuhändigen und fertig? Einen Fremden Vanessas Aufzeichnungen durchstöbern zu lassen? Einen Außenstehenden entscheiden zu lassen, welche Teile ihres Lebens privat bleiben und welche offengelegt, für alle sichtbar gemacht werden sollen?
Sie holt tief Luft.
Und geht weiter.
Das Schloss ist erstaunlich leichtgängig, die riesige Metalltür rollt ächzend zurück, und Grace schlägt der Geruch von kaltem Ton, Staub, Farbe und Terpentin entgegen. Sie verharrt, einen Moment lang unfähig, sich zu bewegen, in der Tür. Ihr Blick ist starr auf den dreibeinigen Hocker vor der Töpferscheibe gerichtet, während Erinnerungen auf sie einstürmen. Sie sieht Vanessa dort sitzen, den Fuß auf dem Schwungrad, voll auf den Ton unter ihren Fingerspitzen konzentriert, blind gegenüber Wind und Wetter, Grace, der ganzen Welt.
Grace vertreibt das Bild durch ein Blinzeln, und der Rest des Ateliers rückt ins Blickfeld: die Werkbank vor dem Fenster, die gestapelten Kartons, der Brennofen im Hintergrund, der auf Böcken stehende Tisch in der Mitte, bedeckt von einer dicken Staubschicht, verstreut herumliegenden Blättern, Notizbüchern und noch mehr Kartons. Die Regale im hinteren Teil des Raums sind voll mit Gefäßen voller eingetrockneter, nicht gereinigter Pinsel, mit Palettenmessern, hart gewordenen Tonklumpen, einer makellosen Rosenquarzkugel und Vogelschädeln von einer Dreizehenmöwe und von einem Brachvogel mit einem langen gebogenen Schnabel, der an eine Pestmaske erinnert. Aber auch Tonharfen, Töpfermesser, Nadeln und verrostete Zangen, ein Schnitzmesser und ein Set wunderschöner Steinmetzhammer mit Stielen aus Rotbuche liegen dort, der Größe nach aufgereiht wie Matroschkapuppen.
Die Hammer waren ein Geschenk, glaubt Grace. Vielleicht von Douglas oder einem ihrer anderen Männer. Sie sind jedenfalls selten benutzt worden. Vanessa war vor allem in die Idee vernarrt, Steinmetzarbeiten auszuführen, von der Praxis aber schnell frustriert. Zu schwer, zu laut, zu brutal. Nach einer Zeit der Untreue hat sie sich, wie immer, wieder den Materialien zugewandt, die sie liebte und beherrschte: Ton und Farbe.
Vanessas Ölgemälde sind längst weg, genau wie ihre Schalen und Vasen. Vor drei Jahren, als das Testament endlich gerichtlich bestätigt worden war, hat Grace die Kunstwerke zur Fairburn-Stiftung transportieren lassen, der Vanessa ihren künstlerischen Nachlass vermacht hat.
Grace, Vanessas Testamentsvollstreckerin und einzige andere Erbin, hatte durchaus die feste Absicht, ihre Unterlagen zu sortieren – ihre Briefe, Notizbücher und Fotos – und dann alles, was sie als zum künstlerischen Nachlass gehörig einstufen würde, ebenfalls zu verschicken. Aber es waren so viele Sachen, und die Fairburn-Leute erwiesen sich als ungeduldig und verlangten die sofortige Herausgabe von allem. Grace hat jedoch auf ihrem Standpunkt beharrt, und die Beziehungen verschlechterten sich rasch. Grace wurde unterstellt, mit ihrer Aufgabe als Testamentsvollstreckerin überfordert zu sein. Die Leute von der Stiftung erhoben wilde Anschuldigungen. Sie behaupteten, es fehlten einzelne Werke und Grace halte gegen Vanessas Willen Dinge zurück. Grace nutzte die Macht, die ihr zur Verfügung stand: Sie hörte auf, sich mit dem Thema zu befassen, ließ die Anrufe auf die Mailbox gehen, ignorierte ihre E-Mails. Eine Zeit lang ist es still gewesen.
In letzter Zeit wird es jedoch wieder laut. Im vergangenen Monat kamen zwei Anwaltsschreiben – eines, in dem eine vollständige Auflistung aller Unterlagen aus Vanessas Nachlass eingefordert wurde, und ein anderes, in dem man ein Verzeichnis ihrer Keramikarbeiten verlangte. Gestern dann eine E-Mail. Die allerdings nicht von einem Juristen stammte, sondern von einem Mr Becker, dem Kurator der Stiftung. Grace hat sich angewöhnt, die gesamte E-Mail-Korrespondenz zu löschen, doch diese Nachricht war anders als die anderen. Ihr Ton unterschied sich stark von der legalistischen Streitlust, die sie von solchen Leuten gewöhnt ist. Es gibt eine dringende Angelegenheit, über die ich gern mit Ihnen sprechen würde, schrieb Mr Becker. Bitte melden Sie sich bei mir. Das klang geradezu flehentlich, fast schon rührend.
Also steht sie hier – im Atelier. Sie geht noch einmal durch den Raum, zieht ihre Finger durch den Staub auf dem Tisch, betrachtet ein kleines scharfes Ritzwerkzeug, wiegt den größten Hammer in der einen und den federleichten Möwenschädel in der anderen Hand.
Dann nimmt sie den nächstgelegenen Karton mit Unterlagen und trägt ihn zum Haus hinunter.
Brütende Hitze.
Die Ausstellung in der Whitehall Gallery ist seit Sonntag zu Ende. Kommerziell gesehen ein voller Erfolg – sämtliche Werke sind verkauft. Im Magazin Modern Painting stand in der Rubrik »Ausstellungen« unter Moderne Malerei: »Chapman schafft es gerade so, nicht ins Klischee abzugleiten.«
Offenbar gelingt mir Schönes, aber nichts mit Substanz.
Nach der Finissage gingen wir zu Izzy, angeblich, um zu Abend zu essen, aber ich hab nicht einen Happen gesehen. Schreckliche Leute – Bullingdon-Club-Langweiler, Hohlköpfe aus reichem Haus, die auf mich herabsehen, weil ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren bin –, pausenloses Gerede über Urlaube und Grundstückspreise. Mit der Energie, die es mich kostet, meine Verachtung zu kaschieren, könnte man eine ganze Stadt heizen.
Julian hat mich die ganze Zeit lächelnd angesehen und mir gesagt, wie stolz er sei. Er ist schon dabei, das Geld auszugeben.
Becker hört beim Autofahren Radio; es wird über Daphne du Maurier gesprochen. Drei Leute, ein Moderator und zwei Studiogäste, eine Frau und ein Mann, diskutieren über eine reißerische neue Du-Maurier-Biografie, die eine unangemessene Beziehung zu ihrem Vater andeutet.
Eine missbräuchliche Beziehung, sagt die Frau.
Eine inzestuöse, sagt der Mann, wir können nicht mit Gewissheit sagen, ob Nötigung im Spiel war.
Die Beziehung soll vor dem sechzehnten Lebensjahr der Autorin bestanden haben, also muss es Missbrauch gewesen sein, erwidert die Frau empört. Kinder können keine Einwilligung geben.
Allerdings, sagt der Moderator. Wie kommt es, fährt er in dem Versuch, das Gespräch in sichereres Fahrwasser zu lenken, eilig fort, dass wir uns so sehr für das Privatleben von Künstlern interessieren? Was meinen Sie? Die Leute scheinen standhaft zu glauben, eine Autorin müsse, wenn sie etwas zu Papier bringt, auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Die Unterstellung hier ist also, dass diese … Beziehung, diese Situation zwischen du Maurier und ihrem Vater irgendwie auch ihre Bücher geprägt hat – allen voran Rebecca.
So etwas passiert vor allem weiblichen Schreibenden, sagt die Frau. Kritiker scheinen unfähig zu sein, einer Frau Fantasie und Erfindungsgabe zuzuschreiben, sie …
Ach, kommen Sie, sagt der Mann. Sie wittern aber auch überall Sexismus, Marjorie.
Nicht überall, nein, das habe ich nicht gesagt, und wenn Sie mich hätten ausreden lassen …
Becker schaltet das Radio aus.
Die Straße führt schon eine ganze Weile bergauf, jetzt erreicht er die Passhöhe. Noch eine letzte Kurve, dann öffnet sich vor ihm ein enges Tal, hingetupft in lauter Schattierungen von Grün, Bronze und Kupfer. Links von ihm fällt das Land ab, hinab zu glitzerndem Stahlgrau, wo Wasser das Farngestrüpp durchschneidet. Rechts ist ein Zaun, und auf drei Zaunpfählen hintereinander sitzen Krähen, schwarz wie Onyx und bedrohlich beobachten sie ihn, während er vorbeifährt.
Die Vögel, denkt er, könnte von einer Landschaft wie dieser inspiriert sein. Nicht der Film. Dem verleihen das Licht Nordkaliforniens und die strahlende Schönheit Tippi Hedrens eine gewisse Wärme. Aber die Originalgeschichte von du Maurier, die trostlos, beängstigend und tragisch ist. Ein Kribbeln läuft langsam seinen Rücken hinauf. Er öffnet und schließt die Hände ein paarmal und bemüht sich, das Lenkrad weniger fest zu umklammern.
Er muss die ganze Zeit an die Szene mit Emmeline draußen im Hof denken. Helena wollte nicht darüber reden. Nichts, hat sie gesagt, es war nichts. Nach nichts sah es aber nicht aus, hat Becker erwidert, aber Helena hat nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Ach so, ja, okay, die gleiche alte Geschichte wie immer. »Vergiss es einfach«, meinte sie. »So wie ich. Sie ist alt, sie ist in Trauer, und es geht ihr nicht gut. Du brauchst dir wegen ihr keine Gedanken zu machen.«
Auch die Unterhaltung im Büro läuft in Endlosschleife durch seinen Kopf. Wie Sebastian ihn zusammengestaucht hat: Jetzt spiel doch hier nicht den Oberschlauen. Sebastian! Dieser Eton- und Oxford-Schwachmat behandelt ihn, als wäre er ein Idiot. Sebastian, der von nichts eine Ahnung hat, der die Aufmerksamkeitsspanne einer Mücke hat, der Hirsts und Banksys und allem anderen hinterherjagt, was gerade teuer und in Mode ist. Der groß, gut aussehend und reich ist. Der Helena zuerst hatte.
Becker verachtet sich dafür, dass er diesen Gedanken zulässt und dass er Sebastian schlechtmacht, selbst wenn er es nur in seiner Vorstellung tut. Sebastian war immer gut zu ihm – den Umständen entsprechend sogar sehr gut.
Er ist nervös, das ist alles; er lässt Helena nicht gern allein. Nicht, dass er eifersüchtig wäre oder ihr nicht vertrauen würde. Er macht sich einfach Sorgen, er kann nicht anders. Er macht sich schon seit dem Tag Sorgen, an dem sie ihm erzählt hat, dass sie schwanger ist, und das ist fast sieben Monate her.
Da hilft es auch nicht, dass sie selbst so entwaffnend entspannt ist. Sie trinkt Wein (ich bin schließlich Halbfranzösin) und tanzt auf Partys auf Zehn-Zentimeter-Absätzen. Neulich hat er sie dabei ertappt, wie sie sich eine Scheibe Blauschimmelkäse auf einen Cracker gepackt hat – und hätte ihn ihr beinahe aus der Hand geschlagen. Helena hat nicht ein einziges Buch über Schwangerschaft gelesen, sie schaut keine YouTube-Videos über Frauen in den Wehen. Sie hat keinen Geburtsplan.
Er dagegen ist schon ein halbes Dutzend Mal zwischen ihrer Lodge auf dem Anwesen und dem nächstgelegenen Krankenhaus hin- und hergefahren. Er hat unterschiedliche Routen ausprobiert und sogar das zweitnächste Krankenhaus recherchiert, das noch hundert Kilometer weiter südlich liegt. Nur für alle Fälle. »Was für Fälle denn?«, hat Helena ihn gefragt, als er es ihr erzählte. »Meinst du, für den Fall, dass das Krankenhaus geschlossen hat?«
Er ist angespannt, weil er sich Sorgen um sie macht, das ist alles. Und weil er nicht schläft. Er kann nicht schlafen. Sie schnarcht jetzt und strahlt Hitze ab. Er liegt neben ihr, hilflos, mit juckender Haut, und verzehrt sich in Liebe und Angst. Was, wenn etwas schiefgeht? Was, wenn sie es sich anders überlegt? Was, wenn sie plötzlich feststellt, dass all das ein schrecklicher Fehler ist?
Was, wenn er bekommt, was er verdient?
Ich bin hier so ruhelos. Angeblich sind die Cotswolds ja eine ländliche Gegend, aber nirgendwo fühlt man sich frei, überall ist es wie in der Vorstadt, überall wimmelt es von Range Rovern mit Manager-Ehefrauen am Steuer. Und die Hitze lässt nicht nach – alle Hecken gehen kaputt, der Himmel ist seit Wochen einfach nur weiß, die Wiesen verdorren, und die Erde ist knochentrocken. Ich sehne mich nach Wasser, nach Grün und Blau und Violett.
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Habe seit einer Woche nichts geschrieben. Gerade zurück aus Cornwall. J hatte ich in Oxfordshire gelassen – ich sehe ihn ohnehin kaum – und bin zehn Tage geblieben. Wir sind geschwommen und haben gearbeitet und geredet und geredet und geredet – Frances macht die unglaublichsten Keramikskulpturen – Seetiere, in himmlischen Blau- und Lilatönen glasiert, geheimnisvoll und Furcht einflößend.
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Ich habe Schwierigkeiten zu malen.
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Ich sehne mich nach dem Alleinsein und bin doch einsam. Wie kann das sein? Ich bin einsam, wenn ich allein bin, aber noch einsamer, wenn Julian hier ist. Wir reden nie, streiten nur und vögeln.
In unserem letzten Streit ging es, langweilig genug, um unsere Weihnachtspläne. Ich möchte wirklich gern wieder nach Cornwall, aber Julian besteht darauf, mit der Familie zu feiern. Anschließend will er mit Izzys Leuten über Silvester zum Wintersport nach Courchevel. (Da ist bei mir Schluss – er kann ohne mich fahren.)
Versuche, das letzte Werk für die Cube-Ausstellung in London fertigzustellen, aber der Himmel ist bedeckt und das Licht diffus – ich fühle mich eingeklemmt zwischen Autos, Menschen und Hecken.
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Nichts verkauft bei der Cube-Ausstellung. Julian sagt, ich verschwende meine Zeit.
Aber! In der Art Review schreibt jemand, mich sollte man im Auge behalten. »Alles, was die Young British Artists sind, ist Vanessa Chapman nicht.« Also – altmodisch? Na gut, meinetwegen, mit ungemachten Betten befasse ich mich nicht. Aber auch: »Stark, bewegend.«
Das ist nicht so schlecht, oder?
Ich habe seit Anfang des Jahres absolut nichts gemalt, aber immerhin ein bisschen getöpfert. Habe ein Atelier in Oxford gefunden, das ich benutzen kann. Ich gehe fast jeden Tag hin, selbst wenn ich nicht arbeite – nur, um zu Hause rauszukommen.
Bald bin ich allein – Julian fliegt nächste Woche wegen irgendeines »Reiseprojekts«, das er mit Izzy plant, nach Nairobi, danach fahren sie weiter nach Lamu. Celia Gray hat dort ein Haus gemietet. Izzy sagt, es sei »nur eine kurze Affäre«.
Ich bin nicht sicher, ob es mir was ausmacht. Doch, es macht mir was aus. Manchmal. Ein Teil von mir möchte, dass er fährt und nie wiederkommt. Ein anderer Teil möchte ihn in ein Zimmer sperren und nie mehr rauslassen.
Am Ende des Tals biegt Becker rechts ab und fährt in nordwestlicher Richtung auf die Küste zu. Kaum, dass sein Tacho neunzig anzeigt, rast ein Rettungswagen mit Blaulicht vorbei, und einen Kilometer später ist die Straße gesperrt. Schlimmer Unfall, sagt der junge Polizist bei der Absperrung und verzieht das Gesicht. Motorradfahrer. Das wird dauern. Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie den langen Weg außen herum fahren.
Becker wendet, brettert zurück durch das Tal und schaut dabei immer wieder auf die Uhr am Armaturenbrett. Wenn er Eris nicht vor 10:45 Uhr erreicht, wird er die Ebbe verpassen, und jetzt ist es 9:12 Uhr. Das bedeutet also, Moment, was bedeutet es? Er tippt auf dem Navi herum, Route neu berechnen, Route neu berechnen, du blödes Scheißteil, er tritt das Gaspedal durch. Als er die letzte scharfe Kurve am Eingang des Tals nimmt, spürt er, wie das Heck ins Schleudern gerät. Er geht in die Eisen, sein Magen verkrampft, und sein Puls schnellt hoch, als der Wagen heftig schlingernd die doppelte weiße Linie überfährt. Er sieht Grant Woods Gemälde Death on the Ridge Road vor seinem geistigen Auge, auf dem die schwarze Limousine sich aus Angst vor dem heranrasenden roten Lastwagen zu ducken scheint, sieht sich selbst eingequetscht zwischen Sitz und Lenkrad und hört Helenas erst bebende, dann brechende Stimme, als der Anruf kommt.
Schwindlig vor Adrenalin fährt er weiter, jetzt nur noch sechzig Kilometer die Stunde, und versucht, seinen Puls wieder zu verlangsamen, indem er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentriert. Das Treffen mit Grace Haswell ist eine Chance, die er nicht ungenutzt lassen darf. Er muss die Sache unbedingt richtig angehen.
Er wird mit Division II anfangen. Mit der strittigen Rippe. Das ist seine Eintrittskarte. Er geht davon aus, dass Haswell nichts über die Herkunft des Knochens weiß – jedenfalls nichts Genaues, deshalb kann er sie dann als Nächstes fragen, ob es vorbereitende Skizzen gibt oder andere auf das Werk bezogene Aufzeichnungen. Von da aus kann er geschickt zu Vanessas Tagebüchern überleiten.
Er hat einige davon gelesen – sie sind zusammen mit der zweiten Gemälde-Lieferung in der Stiftung eingetroffen –, doch aus Interviews weiß er, dass Chapman über ihr gesamtes Arbeitsleben hinweg Notizbücher gefüllt hat, demnach müsste es Dutzende davon geben. Auch Briefe und Fotos – alle Arten von unschätzbaren Materialien. Aber wenn er etwas erreichen will, muss er behutsam vorgehen, um den Schaden wiedergutzumachen, den Sebastians Vater und dessen Anwälte angerichtet haben.
Denn Tatsache ist – auch wenn es aufgrund der Umstände niemand eingesteht –, dass die ganze Angelegenheit von Anfang an falsch gehandhabt wurde. Teilweise war das nachvollziehbar – der Inhalt von Chapmans Testament war für die gesamte Kunstwelt ein Schock. Kein Mensch hätte je vermutet, dass sie ihren gesamten künstlerischen Nachlass der Fairburn-Stiftung vermachen würde, die von Sebastians Vater, Douglas Lennox, ins Leben gerufen wurde, Vanessas ehemaligem Galeristen und, in ihrer letzten Lebensphase, erbittertem Feind.
Als die Sensation bekannt wurde, hat Douglas triumphiert. Vanessa Chapman sei schließlich doch noch zur Vernunft gekommen! Diese Erbschaft stelle eine posthume Entschuldigung dar, behauptete er in Interviews. Sie sei das Eingeständnis, dass sie ihm all die Jahre schrecklich unrecht getan habe; der Beweis dafür, dass Vanessa ihn und alles, was er für sie getan habe, selbst nach zehn Jahren der Entfremdung nicht vergessen habe. Ihre tiefe, innige Verbindung sei doch nie ganz abgerissen.
Es dauerte mehr als ein Jahr, bis die gerichtliche Testamentsbestätigung durch war, und gleich danach hat der Versand der Werke begonnen. Dann geriet alles aus den Fugen. Ohne Beweise vorzulegen, behauptete Douglas, dass Gemälde fehlen würden. Er schrieb an Grace Haswell, Vanessas Testamentsvollstreckerin, und warf ihr Inkompetenz vor. Später beschuldigte er sie praktisch des Diebstahls. Beide Seiten beauftragten Anwälte.
Und mitten in diesem Schlamassel ist Becker dazugekommen, Sebastians alter Studienkollege und obendrein Vanessa-Chapman-Experte. Anfangs hatte er die strikte Anweisung, sich nicht in die Angelegenheit mit Haswell einzumischen – darum sollten sich die Anwälte kümmern. Aber dann starb Douglas plötzlich unter tragischen Umständen. Er wurde bei einer Rotwildjagd auf dem Anwesen versehentlich erschossen.
Danach war alles möglich. Die Anwälte wurden angewiesen, sich während der Trauerzeit von Sebastian und seiner Mutter fernzuhalten. Sebastians bevorstehende Hochzeit mit Helena Fitzgerald wurde verschoben. Die Familienholding wurde umstrukturiert, das Anwesen in den Highlands verkauft. Sebastian rückte an die Spitze der Stiftung. Dann kam die Pandemie, die die Sache noch verworrener machte und jede Möglichkeit konkreten Handelns weiter verzögerte.
Die neue Entwicklung jedoch – die Geschichte mit dem Knochen in Division II – verschafft Becker nun die Gelegenheit, einen neuen Anlauf zu nehmen.
Er ist der Ansicht, Douglas, Sebastian und ihre Anwälte hätten die ganze Zeit den Fehler gemacht, Grace Haswell wie Chapmans Testamentsvollstreckerin zu behandeln. Das ist sie zwar durchaus, doch sie war auch Chapmans Freundin, über zwei Jahrzehnte hinweg ihre wichtigste Weggefährtin. Es existieren sogar Gerüchte, sie seien auch ein Liebespaar gewesen.
Für Becker ist es verlockend, diese Frau kennenzulernen, denn niemand eignet sich besser als sie, um ihm einen Einblick in die wahre Persönlichkeit Vanessa Chapmans zu gewähren. Sie ist ein Kontakt, den man pflegen sollte, nicht vergraulen.
Wer weiß, was sie ihm alles geben kann? Welche Einsichten sie ihm verschaffen kann? Welche Geschichten sie zu erzählen hat?
In der Post war heute ein Zeitungsausschnitt – ohne Brief, nur der Ausschnitt – aus dem Immobilienteil der Times.
Eine Insel, die zum Verkauf steht. Eine ganze Insel! Dazu gehört ein Haus – ein heruntergekommenes kleines altes Farmhaus, glaube ich, oder ein Fischerhäuschen – mitsamt Außengebäuden. Zwei Scheunen. Eine ist wohl so verfallen, dass man aus ihr nichts mehr machen kann. Die andere hat »Potenzial für eine Umnutzung«. Ende des Monats ist eine Auktion.
Wenn ich die Insel nicht kriege, weiß ich nicht, ob ich das verwinden kann.
Oberhalb des Hafens steht eine kleine Reihe weiß getünchter Cottages, und davor gibt es einen Parkplatz, auf dem Becker um 11:23 Uhr seinen Prius abstellt. Das fahle Gestein des Fahrdamms zur Insel schimmert durch das flache Meerwasser hindurch; es sieht aus, als könnte man noch hindurchwaten, doch die Hinweistafel links neben seinem Auto warnt jeden, der sein Glück in der einlaufenden Flut versucht, vor verheerenden Konsequenzen.
Becker sitzt übers Lenkrad gebeugt da und betrachtet finster den Klumpen aus Grau und Grün jenseits des schmalen Kanals, der Eris Island darstellt. Am südöstlichen Zipfel der Insel erkennt er einen weißen Fleck: Vanessas Haus, so nah und doch unerreichbar. Das nächste Niedrigwasser ist heute Abend um acht Uhr; vor fünf wird er nicht hinüberkönnen. Er ist in Versuchung, umzudrehen und nach Hause zu fahren, aber dann wird Sebastian sauer sein, und er wird sich vorkommen wie ein Idiot. Außerdem ist es nicht so, als hätte er nichts zu tun. Er hat seinen Laptop dabei – er kann arbeiten, und er hat jede Menge Lesestoff. Also wird er sich was suchen, wo er Mittag essen kann, und seine Notizen noch mal durchgehen.
Doch vorher will er sich die Beine vertreten. Er steigt aus und lockert seine Glieder nach der langen Fahrt. Da vom Meer ein kühler Wind herüberweht, schlüpft er in seine Jacke und steckt das Handy ein. Dann geht er in nördlicher Richtung über den Parkplatz und an den Cottages vorbei und folgt anschließend einem ausgetretenen Küstenpfad. Ungefähr einen halben Kilometer hinter der Ortschaft steigt der Weg an und bildet nun eine gefährliche Grenzlinie zwischen smaragdgrünem Weideland und einem steil ins Meer abfallenden Hang.