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Hüte dich vor der perfekten Fassade. Denn man weiß nie, was sich dahinter verbirgt.
»Bestsellerautorin Paula Hawkins spielt mit der menschlichen Angst.« Bunte
»Sehr intelligent gemacht, gut erzählt und ein richtig packender Spannungsroman auf der Höhe der Zeit.« Deutschlandradio Kultur Lesart
»Julia, ich bin’s. Du musst mich anrufen. Bitte, Julia. Es ist wichtig …« In den letzten Tagen vor ihrem Tod rief Nel Abbott ihre Schwester an. Julia nahm nicht ab, ignorierte den Hilferuf. Jetzt ist Nel tot. Sie sei gesprungen, heißt es. Julia kehrt nach Beckford zurück, um sich um ihre Nichte zu kümmern. Doch sie hat Angst. Angst vor diesem Ort, an den sie niemals zurückkehren wollte. Vor lang begrabenen Erinnerungen, vor dem alten Haus am Fluss, vor der Gewissheit, dass Nel niemals gesprungen wäre. Und am meisten fürchtet Julia das Wasser und den Ort, den sie Drowning Pool nennen …
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Seitenzahl: 541
Buch
In den letzten Tagen vor ihrem Tod rief Nel Abbott ihre Schwester an. Julia nahm nicht ab, ignorierte den Hilferuf. Jetzt ist Nel tot. Sie sei gesprungen, heißt es. Julia kehrt nach Beckford zurück, um sich um ihre Nichte zu kümmern. Doch sie hat Angst. Angst vor diesem Ort, an den sie niemals zurückkehren wollte. Vor lang begrabenen Erinnerungen, vor dem alten Haus am Fluss, vor der Gewissheit, dass Nel niemals gesprungen wäre. Und am meisten fürchtet Julia das Wasser und den Ort, den sie Drowning Pool nennen …
Autorin
Paula Hawkins wuchs in Simbabwe auf. 1989 zog sie nach London, wo sie bis heute lebt. Sie arbeitete fünfzehn Jahre lang als Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Ihr erster Spannungsroman Girl on the Train wurde zu einem internationalen Phänomen. Der Roman wurde in über 40 Sprachen übersetzt, eroberte weltweit die Bestsellerlisten und wurde 2016 mit Emily Blunt in der Hauptrolle verfilmt. Into the Water ist Paula Hawkins’ zweiter Spannungsroman.
Von Paula Hawkins bereits erschienen
Girl on the Train
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Paula Hawkins
Into the Water
Traue keinem. Auch nicht dir selbst.
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Into the Water« bei Doubleday, an imprint of Transworld Publishers, London. Das Zitat von Emily Berry stammt aus »The Numbers Game«, Dear Boy © Emily Berry and reprinted by permission by Faber & Faber. Das Zitat von Oliver Sacks stammt aus Hallucinations. Copyright © 2012, Oliver Sacks, used by permission of The Wylie Agency (UK) Limited. Zitiert nach: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. Das Zitat von PJ Harvey stammt aus »Down by the Water«. Reproduced by kind permission of Hot Head Music Ltd. All rights reserved.
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Copyright der Originalausgabe © Paula Hawkins 2017 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Leena Flegler Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Richard Ogle/TW Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Richard Ogle/TW Umschlagmotive: © Getty Images: Alex Mustard/Nature Picture Library; Roberto Machado Noa/LightRocket; Thorsten Henn/Cultura ISBN 978-3-641-20932-2 V004
www.blanvalet.de
Für alle unbequemen Frauen
Noch ganz jung wurde ich aufgebrochen.
Manches solltest du loslassen
Anderes nicht
Was jeweils, bleibt strittig.
Emily Berry: The Numbers Game
Wir wissen heute, dass Erinnerungen nicht ein für alle Mal festgelegt oder eingefroren sind – wie in dem Proust’schen Bild von den Einweckgläsern in der Speisekammer –, sondern mit jedem Gedächtnisakt verwandelt, zerlegt, neu zusammengesetzt und rekategorisiert werden.
Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen
Der Drowning Pool
Libby
»Auf ein Neues! Auf ein Neues!«
Die Männer fesseln sie wieder, diesmal aber anders: den linken Daumen an den rechten Zeh, den rechten Daumen an den linken. Das Seil um die Taille. Diesmal wird sie ins Wasser getragen.
»Bitte«, beginnt sie zu betteln, weil sie nicht sicher ist, ob sie die Schwärze, die Kälte noch einmal ertragen kann. Sie sehnt sich zurück in ein Heim, das nicht mehr existiert, in eine Zeit, in der sie und ihre Tante am Kamin saßen und einander Geschichten erzählten. Sie will in ihrer Hütte im Bett liegen, sie will wieder klein sein, Holzrauch und Rosen riechen und die süße, warme Haut ihrer Tante.
»Bitte …«
Sie taucht unter. Als sie zum zweiten Mal herausgeholt wird, sind ihre Lippen blau wie von einem Bluterguss, und ihr Atem ist endgültig zum Stillstand gekommen.
Teil eins
2015
Jules
Du wolltest mir noch was erzählen, oder? Was war denn so wichtig? Ich hab das Gefühl, dass ich schon länger nicht mehr bei der Sache bin. Irgendwann hab ich aufgehört, mich zu konzentrieren, hab an andere Dinge gedacht, mich neuen Themen zugewandt, nicht mehr zugehört und so den Faden verloren. Bitte, jetzt hast du wieder meine volle Aufmerksamkeit. Nur werde ich das Gefühl nicht los, dass mir ein paar entscheidende Details entgangen sind.
Als sie kamen und es mir erzählten, war ich wütend. Im ersten Moment erleichtert, denn sobald zwei Polizisten vor der Tür stehen, während du gerade auf dem Weg zur Arbeit bist und nur noch deine Fahrkarte suchst, bevor du aus dem Haus stürmst, befürchtest du erst mal das Schlimmste. Ich fürchtete um die Menschen, die mir etwas bedeuten – meine Freunde, mein Ex, meine Arbeitskollegen. Aber es gehe nicht um sie, sagten sie, sondern um dich. Deswegen war ich erleichtert, für einen kurzen Moment, bis sie mir erzählten, was passiert war, was du angestellt hattest. Dass du im Wasser gelandet warst. Da kam die Wut. Die Wut – und die Angst.
Ich legte mir zurecht, was ich dir an den Kopf werfen würde, wenn ich dort ankäme, wie klar mir ist, dass du das nur getan hast, um mich zu ärgern, um mich aus der Fassung zu bringen, um mir Angst einzujagen, mir das Leben schwerzumachen. Um wieder von mir beachtet zu werden, um mich dorthin zurückzuzerren, wo du mich immer haben wolltest. Und ganz ehrlich, Nel, du hast es geschafft. Jetzt bin ich wieder genau dort, wo ich nie mehr sein wollte, darf mich um deine Tochter kümmern und geradebiegen, was du verbockt hast.
Montag, 10. August
Josh
Irgendwas hatte mich geweckt. Ich stand auf, ging aufs Klo und sah, dass die Tür zu Mums und Dads Schlafzimmer offen stand, und als ich genauer hinschaute, sah ich, dass Mum nicht im Bett lag. Dad schnarchte wie üblich. Der Radiowecker zeigte 4:08 an. Ich dachte noch, sie wäre unten. Sie schläft schlecht. Beide schlafen schlecht, aber er nimmt Pillen, die so stark sind, dass man sich an sein Bett stellen und ihm ins Ohr schreien könnte, ohne dass er davon aufwachen würde.
Ich ging ganz leise nach unten, denn meistens schaltet sie dann den Fernseher ein und schaut sich diese öden Werbesendungen für irgendwelche Geräte an, die beim Abnehmen helfen sollen oder beim Bodenwischen oder mit denen man auf unterschiedliche Art und Weise Gemüse hacken kann, bis sie auf dem Sofa einschläft. Aber der Fernseher war aus, und sie lag auch nicht auf dem Sofa, daher wusste ich, dass sie rausgegangen war.
Sie hat das schon ein paarmal gemacht – wenigstens soweit ich weiß. Ich kann nicht immer Buch führen, wer wann wo ist. Beim ersten Mal erzählte sie mir, sie wäre nur spazieren gegangen, um den Kopf freizubekommen, aber ein andermal war sie noch weg, als ich morgens aufwachte, und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, dass ihr Wagen nicht wie sonst vor dem Haus stand.
Ich nehme an, sie geht dann am Fluss spazieren oder besucht Katies Grab. Das mach ich auch manchmal, allerdings nicht mitten in der Nacht. Ich hätte Angst, im Dunklen rauszugehen, noch dazu käme ich mir komisch dabei vor, denn genau das hat Katie auch getan: Sie ist mitten in der Nacht aufgestanden, zum Fluss gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Trotzdem kann ich verstehen, warum Mum das macht: So fühlt sie sich Katie inzwischen am nächsten – oder aber wenn sie in ihrem Zimmer sitzt, was sie auch manchmal tut. Katies Zimmer liegt gleich neben meinem, und ich kann Mum dann weinen hören.
Ich setzte mich aufs Sofa, um auf sie zu warten, aber irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Tür hörte, war es draußen schon hell, und als ich auf die Uhr auf dem Kaminsims schaute, war es Viertel nach sieben. Ich hörte, wie Mum die Tür hinter sich zuzog und dann sofort die Treppe hochlief.
Ich folgte ihr nach oben. Vor dem Schlafzimmer blieb ich stehen und spähte durch den Türspalt. Sie kniete neben dem Bett, drüben auf Dads Seite, und ihr Gesicht war ganz rot, so als wäre sie gerannt. Sie atmete schwer und sagte: »Alec, wach auf. Wach auf!«, und dabei rüttelte sie ihn. »Nel Abbott ist tot«, sagte sie. »Sie haben sie im Wasser gefunden. Sie ist gesprungen.«
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich was gesagt hätte, aber ich muss wohl irgendein Geräusch gemacht haben, denn sie sah zu mir her und sprang sofort wieder auf.
»Josh«, sagte sie und kam auf mich zu, »oh, Josh!« Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie drückte mich fest an sich. Als ich sie wieder von mir wegschob, weinte sie immer noch, aber sie lächelte auch. »Oh, mein Schatz«, sagte sie.
Dad setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Er braucht ewig, um richtig wach zu werden.
»Ich verstehe nicht ganz … Wann … Meinst du, gestern Abend? Woher weißt du das?«
»Ich war Milch holen«, sagte sie. »Alle haben darüber geredet … im Laden. Sie haben sie heute Morgen gefunden.« Sie setzte sich aufs Bett und fing wieder an zu weinen. Dad nahm sie in die Arme, aber er sah dabei zu mir und machte ein eigenartiges Gesicht.
»Wohin bist du gegangen?«, fragte ich sie. »Wo bist du gewesen?«
»Im Laden, Josh. Das hab ich doch gerade gesagt.«
Du lügst, hätte ich am liebsten entgegnet. Du warst stundenlang weg, du warst nicht bloß Milch holen. Das hätte ich am liebsten gesagt, aber das konnte ich nicht, denn meine Eltern saßen auf dem Bett und schauten sich an, und beide sahen glücklich aus.
Dienstag, 11. August
Jules
Ich erinnere mich noch gut. Auf der Rückbank des Campers, mit einem Kissenstapel in der Mitte, der die Grenze zwischen deinem und meinem Territorium markierte, unterwegs nach Beckford in die Sommerferien, du ganz zappelig und aufgeregt – du konntest es gar nicht erwarten, endlich anzukommen –, ich grün im Gesicht vor Übelkeit. Ich gab mir alle Mühe, mich nicht zu übergeben.
Ich erinnerte mich nicht nur daran, ich spürte es. Heute Nachmittag spürte ich dieselbe Übelkeit, während ich übers Lenkrad gebeugt wie eine alte Frau gedankenverloren zu viel Gas gab, in den Kurven über die Straßenmitte zog, zu scharf bremste und das Lenkrad verzog, sobald mir ein Auto entgegenkam. Da war es wieder, dieses Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich auf einer dieser schmalen Straßen einen weißen Lieferwagen auf mich zuschießen sehe und mir denke, diesmal reiß ich das Steuer rum, diesmal tu ich’s, diesmal halt ich direkt darauf zu, nicht weil ich es will, sondern weil ich muss. So als würde im letzten Moment mein freier Wille ausgeschaltet. Es ist das gleiche Gefühl, wie wenn man oben auf einer Klippe oder am Rand des Bahnsteigs steht und zu spüren glaubt, wie man von einer unsichtbaren Hand nach vorn geschoben wird. Und wenn? Wenn ich wirklich einen Schritt nach vorn machen würde? Wenn ich wirklich kurz das Lenkrad verziehen würde?
(Du und ich sind gar nicht so verschieden.)
Am meisten setzte mir zu, wie gut ich mich erinnerte. Viel zu gut. Warum kann ich mich perfekt an alles erinnern, was ich mit acht Jahren erlebt habe, während ich mir beim besten Willen nicht merken kann, ob ich mit meinen Kollegen schon über die Verlegung eines Kliententermins gesprochen habe? Was ich im Gedächtnis behalten will, vergesse ich, und was ich um jeden Preis vergessen will, drängt sich immer wieder in den Vordergrund. Je näher ich Beckford kam, desto weniger konnte ich abstreiten, dass die Vergangenheit hier an allen Ecken aufflatterte wie Spatzen aus einer Hecke, ganz plötzlich und ohne dass ich ihr hätte entfliehen können.
Die üppige Vegetation, das unglaubliche Grün, das grelle, scharfe Gelb des Ginsters auf den Hügeln, all das brannte sich in mein Gehirn und weckte ein Kaleidoskop von Erinnerungen: wie ich mit vier oder fünf Jahren vor Freude kreischend und zappelnd von Dad ins Wasser getragen werde; wie du von den Felsen in den Fluss springst und von Mal zu Mal ein bisschen höher kletterst. Picknicks am sandigen Ufer des Drowning Pools, der Geschmack von Sonnencreme. Wie wir im trüben, schlammigen Wasser flussabwärts vom Mill House fette braune Fische angeln. Wie du mit einer blutenden Wunde am Bein nach Hause kommst, nachdem du dich bei einem deiner Sprünge verschätzt hast, und dir ein Geschirrtuch zwischen die Zähne klemmst, während Dad den Schnitt säubert, weil du auf gar keinen Fall weinen willst. Nicht vor mir. Wie Mum in ihrem hellblauen Sommerkleid barfuß in der Küche steht, die Fußsohlen dunkel rostrot, und Porridge zum Frühstück macht. Wie Dad am Flussufer sitzt und zeichnet. Wie du später, als wir schon älter sind, in Jeansshorts und mit einem Bikinioberteil unter dem T-Shirt aus dem Haus schleichst, um dich mit einem Jungen zu treffen. Nicht mit irgendeinem Jungen – mit dem Jungen. Wie Mum, jetzt sichtbar dünner und gebrechlicher, im Lehnsessel im Wohnzimmer schläft; wie Dad mit der dicken, bleichen Frau des Vikars, die immer einen Sonnenhut trägt, auf lange Spaziergänge verschwindet. Ich erinnere mich an ein Fußballspiel. Die heiße Sonne auf dem Wasser, die vielen Blicke, die auf mich gerichtet sind; wie ich, mit Blut am Schenkel, die Tränen wegblinzle und mir das Gelächter in den Ohren dröhnt. Ich kann es immer noch hören. Und unter allem das Rauschen des Wassers.
Ich war so tief drin in diesem Wasser, dass ich gar nicht merkte, wie ich mich meinem Ziel näherte. Auf einmal war ich da, im Herzen des Ortes; ganz plötzlich – als hätte ich nur kurz die Augen zugekniffen und mich mit Gedankenkraft dorthin versetzt – war ich angekommen, und ehe ich michs versah, fuhr ich langsam durch enge, mit Geländewagen vollgeparkte Gassen, gesäumt von rosafarbenen Mauern, die am Rand meines Blickfelds verschwammen. Erst in Richtung Kirche und von dort, vorsichtiger, weiter zur alten Brücke. Eisern starrte ich auf den Asphalt vor mir und versuchte, nicht auf die Bäume, nicht zum Fluss zu schauen. Ich versuchte es … aber vergeblich.
Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Dann sah ich auf. Dort waren die Bäume und hier die Steinstufen, vermoost und tückisch nach dem Regen. Sämtliche Härchen an meinem Körper stellten sich auf. Woran ich mich erinnerte: an den eisigen Regen, der auf den Asphalt trommelte, die zuckenden Blaulichter, die im Wettstreit mit den Blitzen den Fluss und den Himmel erhellten, Atemwolken vor verängstigten Gesichtern und den kleinen Jungen, der bibbernd und weiß wie ein Gespenst von einer Polizistin die Stufen zur Straße hinaufgeführt wurde. Daran, wie sie seine Hand umklammert hielt, wie sie sich mit großen, wilden Augen umschaute und den Kopf hin- und herwandte, während sie irgendwen rief. Noch heute kann ich fühlen, was ich damals fühlte, Grauen und Faszination zugleich. In meinem Kopf höre ich dich immer noch sagen: Wie das wohl sein muss? Kannst du dir das vorstellen? Zusehen zu müssen, wie deine eigene Mutter stirbt?
Ich wandte den Blick ab. Ich ließ den Motor wieder an, fuhr zurück auf die Straße und über die Brücke. Dahinter beginnt die Straße sich zu winden. Ich hielt nach der Kurve Ausschau – die erste links? Nein, die nicht. Die zweite. Da stand er, der alte braune Steinkoloss, das Mill House. Ein Prickeln, kalt und feucht, lief mir über den Rücken, und mein Herz schlug gefährlich schnell, als ich den Wagen durch das offene Tor in die Einfahrt lenkte.
Dahinter stand ein Mann und sah aufs Handy. Ein uniformierter Polizist. Schneidig trat er auf den Wagen zu, und ich ließ das Fenster runter.
»Ich bin Jules«, sagte ich. »Jules Abbott? Ich bin … ihre Schwester.«
»Oh.« Er wirkte verlegen. »Ja. Richtig. Natürlich. Sehen Sie«, er wandte sich zum Haus um, »im Moment ist niemand da. Das Mädchen … Ihre Nichte … ist weggefahren. Ich weiß nicht genau, wohin …« Dann zog er das Funkgerät von seinem Gürtel.
Ich drückte die Tür auf und stieg aus. »Ist es in Ordnung, wenn ich reingehe?«, fragte ich. Ich sah hoch zu dem offenen Fenster, das zu deinem alten Zimmer. Ich konnte dich immer noch auf dem Fenstersims sitzen und mit den Beinen baumeln sehen. Zum Übelwerden.
Der Polizist wirkte unschlüssig. Er kehrte mir den Rücken zu und sprach leise in sein Funkgerät, dann drehte er sich wieder um. »Ja, in Ordnung. Sie können reingehen.«
Ohne hinzusehen, stieg ich die Stufen hoch, aber dafür hörte ich das Wasser und roch die Erde, die Erde im Schatten des Hauses, unter den Bäumen, an den von der Sonne unberührten Flecken, den beißenden Gestank des verrottenden Laubs, und dieser Geruch versetzte mich um Jahrzehnte zurück.
Als ich die Haustür aufschob, rechnete ich fast damit, meine Mutter aus der Küche rufen zu hören. Intuitiv war mir klar, dass ich die Tür an der Stelle, wo sie über den Boden schrammt, mit der Hüfte anheben musste. Ich trat in den Flur, schloss die Tür hinter mir und zitterte in der plötzlichen Kälte, während ich versuchte, mich im Halbdunkel zu orientieren.
In der Küche stand ein Eichentisch direkt vor dem Fenster. Derselbe? Er sah fast so aus, aber es konnte nicht derselbe sein, das Haus hatte zwischen damals und jetzt zu oft den Besitzer gewechselt. Ich hätte mich vergewissern können, wenn ich unter den Tisch gekrabbelt wäre und nach den Markierungen gesucht hätte, die wir dort hinterlassen hatten, doch allein bei dem Gedanken begann mein Herz, schneller zu schlagen.
Ich weiß noch, wie morgens die Sonne auf den Tisch schien und dass man, wenn man auf der linken Seite mit dem Gesicht zum mächtigen Herd saß, freien Blick auf die perfekt eingerahmte alte Brücke hatte. Zauberhaft, nannten alle den Ausblick, aber niemand sah wirklich hin. Niemand machte das Fenster auf und beugte sich raus und schaute hinunter auf das festsitzende Mühlrad, das langsam verrottete, alle ließen sich von den auf der Wasseroberfläche spielenden Sonnenstrahlen blenden, keiner sah, wie das Wasser tatsächlich war: grünlich schwarz und voller lebender und sterbender Dinge.
Aus der Küche hinaus in den Flur, an der Treppe vorbei, tiefer ins Haus hinein. Ich stand so unvermittelt davor, dass ich fast zurücktaumelte: die riesigen Panoramafenster zum Fluss hin – nein, eher in den Fluss, so als würde das Wasser über die breite, gepolsterte Fensterbank strömen, sobald man die Flügel öffnete.
Ich erinnere mich noch gut. Sommer für Sommer, Mum und ich auf dieser Fensterbank, mit dicken Kissen im Rücken, die Beine angezogen, die Zehen fast aneinander, mit einem Buch auf den Knien. Ein Teller mit Knabberzeug in Reichweite, obwohl sie ihn nie anrührte.
Ich musste mich abwenden; der Anblick schnürte mir die Kehle zu.
Der Putz war von den Wänden geschlagen worden, sodass die nackten Ziegel freilagen, und alles an der Einrichtung warst unverkennbar du: Orientteppiche auf dem Boden, schwere Ebenholzmöbel, ausladende Sofas und Ledersessel und zu viele Kerzen. Und überall Zeugnisse deiner Obsessionen: riesige gerahmte Drucke, Millais’ Ophelia,wunderschön in ihrer stillen Heiterkeit, Augen und Mund geöffnet, die Blumen fest in der Hand. Blakes Dreifache Hekate,Goyas Hexensabbat,sein ertrinkender Hund. Das ist für mich von allem das Schlimmste: wie das arme Tier darum kämpft, den Kopf über den ansteigenden Fluten zu halten.
Ich hörte ein Telefon klingeln, anscheinend weiter unten im Haus. Ich folgte dem Geräusch durch das Wohnzimmer und ein paar Stufen abwärts – ich meine, mich zu erinnern, dass dort früher ein Lagerraum voller Trödel war. Irgendwann wurde er überschwemmt, und danach war alles mit Schlick überzogen, so als würde das Haus allmählich ein Teil des Flussbetts werden.
Ich trat in den Raum, in dem du inzwischen dein Studio eingerichtet hattest. Überall Fotografen-Utensilien: Es gab Leinwände und Leuchtkästen, einen Drucker, Papiere und Bücher und stapelweise Unterlagen auf dem Boden, Ablageschränke, die die Wände säumten. Und Bilder natürlich. Deine Fotos, die jeden freien Zentimeter Wand bedeckten. Für ein ungeübtes Auge mag es so aussehen, als wärst du ein Brücken-Fan: die Golden Gate, die Nanjing-Jangtse-Brücke, der Prince-Edward-Viadukt. Aber man muss genau hinsehen. Es geht dabei nicht um die Brücken an sich, hier drückt sich keine Liebe zu ausgewählten Meisterwerken der Ingenieurskunst aus. Erst wenn man genau hinsieht, erkennt man nicht nur Brücken, sondern Beachy Head, den Aokigahara-Wald, Preikestolen. Orte, an die die Verzagten flüchten, um allem ein Ende zu setzen. Kathedralen der Verzweiflung.
Gegenüber der Tür Bilder vom Drowning Pool. Bilder über Bilder über Bilder, aus jedem erdenklichen Blickwinkel, in jeder nur vorstellbaren Einstellung: blass und eisig im Winter unter einer schwarzen, kahlen Klippe oder funkelnd im Sommer, eine Oase, üppig und grün, oder aber in mattem Schiefergrau unter schweren Gewitterwolken, Bild um Bild um Bild. Die Fotografien verschwammen zu einem einzigen großen Bildnis, einer schwindelerregenden Attacke auf das Auge. Ich hatte das Gefühl, dort zu sein, an jenem Ort, so als stünde ich oben an der Klippe, würde hinabschauen ins Wasser und den schrecklichen Kitzel verspüren, die Verlockung des Vergessens.
Nickie
Manche gingen aus eigenem Entschluss ins Wasser, andere nicht, und wenn man Nickie gefragt hätte – nicht dass irgendwer das getan hätte, Nickie wurde nie gefragt –, dann hatte Nel Abbott sich mit aller Kraft gewehrt. Aber niemand hätte Nickie je gefragt, und keiner würde jemals auf sie hören, warum also sollte sie irgendwem davon erzählen? Schon gar nicht der Polizei. Selbst wenn sie nicht so oft Ärger mit der Polizei gehabt hätte, hätte sie das denen nicht erzählen können. Zu riskant.
Nickie lebte in einer Wohnung über dem Lebensmittelladen – eigentlich nur ein Zimmer mit Kochnische und einem so winzigen Bad, dass es den Namen kaum verdiente. Nicht der Rede wert. Und nicht viel für ein ganzes Leben. Aber sie hatte ihren gemütlichen Lehnsessel am Fenster mit Blick auf die Straße, in dem sie immer saß und aß und manchmal sogar einnickte. Inzwischen schlief sie praktisch gar nicht mehr, und darum war es ziemlich witzlos, überhaupt ins Bett zu gehen.
So saß sie da und wachte darüber, wer kam und wer ging, und wenn sie etwas nicht sah, dann spürte sie es. Noch bevor die ersten blauen Lichter über die Brücke gezuckt waren, hatte sie etwas gespürt. Sie hatte nicht gewusst, dass es Nel Abbott war, jedenfalls nicht sofort. Die Leute glaubten immer, sie würde so etwas kristallklar sehen, aber so einfach war es nicht. Sie hatte nur gewusst, dass wieder jemand schwimmen gegangen war. Bei ausgeschaltetem Licht hatte sie dagesessen und alles beobachtet: Erst rannte ein Mann mit seinen Hunden die Treppe hoch, dann kam ein Auto, kein richtiges Polizeiauto, ein ganz normales, dunkelblaues. Detective Inspector Sean Townsend, hatte sie noch gedacht – und recht behalten. Er und der Mann mit den Hunden liefen die Treppe wieder runter, und kurz darauf rückte die gesamte Kavallerie an, mit blinkenden Blaulichtern, aber ohne Sirenen. Wozu auch? Es eilte ja nicht mehr.
Bei Sonnenaufgang ging sie runter, um Milch und die Zeitung zu holen, und da waren alle schon am Reden gewesen, alle meinten, schon wieder eine, schon die Zweite in diesem Jahr, doch als sie erzählten, wer es war, als sie sagten, dass es Nel Abbott war, begriff Nickie sofort, dass die Zweite ganz und gar nicht wie die Erste war.
Sie spielte schon mit dem Gedanken, direkt zu Sean Townsend rüberzugehen und es ihm zu erklären. Aber auch wenn er ein netter, höflicher junger Mann war, war er doch immer noch ein Polizist und der Sohn seines Vaters, und darum war ihm nicht zu trauen. Nickie wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, wenn sie nicht eine heimliche Schwäche für Sean gehabt hätte. Auch er hatte eine Tragödie durchlebt und weiß der Himmel was danach, und er war nett zu ihr gewesen … Er war der Einzige, der nett zu ihr gewesen war, als man sie damals angezeigt hatte.
Zum zweiten Mal, wenn sie ehrlich war. Es war schon eine ganze Weile her, sechs oder sieben Jahre. Sie hatte ihr Geschäft mehr oder weniger aufgegeben, nachdem sie zum ersten Mal wegen Betrugs verurteilt worden war, nur ein paar Stammkunden hatte sie behalten und die Hexerei-Leute, die hin und wieder vorbeikamen, um Libby und May und all den Frauen des Wassers Ehre zu erweisen. Hin und wieder hatte sie noch Tarot gelegt und den Sommer über ein paar Séancen veranstaltet; gelegentlich hatte man sie auch gebeten, Kontakt mit einem Verwandten oder einer der Schwimmerinnen aufzunehmen. Aber sie hatte keine Neukunden mehr akquiriert, schon lange nicht mehr.
Doch dann war ihr zum zweiten Mal die Sozialhilfe gekürzt worden, und Nickie war aus ihrem provisorischen Ruhestand zurückgekehrt. Mithilfe eines der jungen Männer, die in der Bibliothek aushalfen, hatte sie eine Webseite erstellt, auf der sie Sitzungen für fünfzehn Pfund pro halbe Stunde anbot. Ein ziemlich guter Preis – diese Susie Morgan aus dem Fernsehen, die ungefähr so gut hellsehen konnte wie Nickie mit dem Arsch, verlangte immerhin 29,99 für zwanzig Minuten, und dabei durfte man nicht mal mit ihr persönlich sprechen, sondern nur mit jemandem aus ihrem »Seher-Team«.
Ihre Webseite war gerade erst ein paar Wochen online gewesen, als sie von der Verbraucherschutzbehörde wegen »Unterlassung erforderlicher Widerrufsbelehrungen gemäß der Verordnung zum Verbraucherschutz im Internet« angezeigt wurde. Verordnung zum Verbraucherschutz! Nickie hatte erklärt, sie habe nicht gewusst, dass sie ihre Kunden hätte belehren müssen, und die Polizisten hatten ihr erklärt, dass das ein neues Gesetz sei. Woher, hatte sie gefragt, hätte sie das denn bitte wissen sollen? Natürlich hatte sie damit große Heiterkeit ausgelöst. Hätte sie das nicht vorhersehen müssen? Können Sie wirklich nur in die Zukunft sehen? Und gar nicht in die Vergangenheit?
Nur Detective Inspector Townsend – damals noch ein einfacher Constable – hatte nicht gelacht. Er hatte ihr freundlich erklärt, dass das mit neuen EU-Regulierungen zusammenhänge. EU-Regulierungen! Kundenschutz! In früheren Zeiten hatte man Frauen wie Nickie mit Hexerei-Erlassen und Gesetzen gegen Hellseherei verfolgt … verfemt. Und jetzt waren sie europäischen Bürokraten ein Dorn im Auge. Wie tief die Mächtigen doch gesunken waren.
Darum hatte Nickie ihre Webseite geschlossen, der modernen Technik abgeschworen und sich wieder auf ihre alte Arbeitsweise besonnen, doch inzwischen kam kaum noch jemand zu ihr.
Dass die Frau im Wasser Nel war, hatte ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt, musste sie zugeben. Sie fühlte sich schlecht. Nicht direkt schuldig, es war schließlich nicht Nickies Schuld. Trotzdem fragte sie sich, ob sie vielleicht zu viel gesagt, zu viel verraten hatte. Aber man würde ihr nicht vorwerfen können, dass sie dies alles ausgelöst hatte. Nel Abbott hatte schon lange mit dem Feuer gespielt – sie war besessen vom Fluss und seinen Geheimnissen gewesen, und diese Art von Besessenheit nimmt nie ein gutes Ende. Nein, Nickie hatte Nel ganz gewiss nicht dazu gedrängt, Ärger zu suchen, sie hatte ihr nur gezeigt, wo er zu finden war. Und es war auch nicht so, als hätte sie Nel nicht gewarnt, oder? Das Problem war nur, dass niemand ihr wirklich zuhörte. Nickie hatte Nel erklärt, dass es an diesem Ort schon immer Menschen gegeben hätte, die dich vom ersten Blick an verdammen. Doch die Menschen stellten sich blind, oder nicht? Keinem gefiel der Gedanke, dass das Wasser in diesem Fluss mit dem Blut und der Galle verfemter Frauen, unglückseliger Frauen getränkt war. Trotzdem tranken sie es alle, Tag für Tag.
Jules
Du hast dich kein bisschen verändert. Das hätte ich wissen müssen. Ich habe es gewusst. Du hast das Mill House und das Wasser geliebt, und du warst besessen von diesen Frauen, von dem, was sie getan und wen sie zurückgelassen hatten. Und jetzt das. Ganz ehrlich, Nel. Du bist echt so weit gegangen?
Vor dem großen Schlafzimmer oben zögerte ich. Mit der Hand auf der Türklinke atmete ich noch einmal tief durch. Ich hatte noch im Ohr, was sie mir erzählt hatten, aber ich kannte dich immerhin, und darum konnte ich ihnen nicht glauben. Ich hatte das bestimmte Gefühl, dass ich nur die Tür zu öffnen bräuchte, und du würdest vor mir stehen, groß und dünn und ganz und gar nicht erfreut, mich zu sehen.
Das Zimmer war leer. Es fühlte sich an wie frisch verlassen, so als wärst du eben erst aus der Tür gehuscht und nach unten gelaufen, um Kaffee zu machen. Als müsstest du jeden Moment zurückkommen. Ich konnte immer noch dein Parfüm in der Luft riechen, schwer und süß und altmodisch, genau wie die Düfte, die Mum immer trug, Opium oder Yvresse.
»Nel?« Ich sprach deinen Namen leise aus, als könnte ich dich heraufbeschwören wie einen Teufel. Schweigen antwortete mir.
Ein Stück weiter den Flur hinunter lag »mein« Zimmer, in dem ich immer geschlafen hatte: das kleinste im Haus, so wie es der Jüngsten zukommt. Es sah noch kleiner aus als in meiner Erinnerung, dunkler, trauriger. Es war leer bis auf das ungemachte Bett, und es roch dampfig, wie Erde. Ich hatte in diesem Zimmer nie gut geschlafen, mich nie wohl darin gefühlt. Nicht besonders überraschend, wenn man bedenkt, wie gern du mir Angst eingejagt hast. Wie du auf der anderen Seite der Wand mit den Fingernägeln über den Putz gekratzt, mit blutrotem Nagellack Symbole hinten auf meine Tür geschmiert, die Namen toter Frauen auf die beschlagenen Fensterscheiben in meinem Zimmer geschrieben hast. Und dazu die ganzen Geschichten, die du mir erzählt hast: von Hexen, die ins Wasser gezerrt worden waren, von verzweifelten Frauen, die sich von der Klippe auf die Felsen in der Tiefe geworfen hatten, von einem verängstigten kleinen Jungen, der aus seinem Versteck im Wald hatte zusehen müssen, wie seine Mutter in den Tod sprang.
Ich kann mich nicht daran erinnern. Natürlich nicht. Wenn ich mein Gedächtnis nach dem kleinen verängstigten Jungen durchforste, ergibt das Bild keinen Sinn: Es bleibt aus dem Zusammenhang gerissen wie ein Traum. Wie du in mein Ohr geflüstert hast – das war nicht an einer eisigen Nacht am Wasser. Wir waren überhaupt nie im Winter hier, es gab keine eisigen Nächte am Wasser. Ich habe nie mitten in der Nacht ein verängstigtes Kind auf der Brücke stehen sehen – was hätte ich, selbst noch ein kleines Kind, dort auch zu suchen gehabt? Nein, das war deine Geschichte, du hast mir erzählt, wie der Junge zwischen den Bäumen gekauert und hochgeschaut und sie gesehen hätte – das Gesicht im Mondschein weiß wie ihr Nachthemd, wie er aufschaute und sie springen sah, die Arme in der stillen Luft ausgebreitet wie Schwingen, wie der Schrei auf ihren Lippen erstarb, als sie auf dem schwarzen Wasser aufschlug.
Ich weiß nicht mal, ob es wirklich einen Jungen gab, der seine Mutter sterben sah, oder ob du dir das alles nur ausgedacht hast.
Ich verließ mein altes Zimmer und ging weiter zu deinem, jenem Zimmer, das früher deins war und in dem inzwischen, so wie es aussieht, deine Tochter lebt. Ein chaotisches Durcheinander von Kleidern und Büchern, ein nasses Handtuch auf dem Boden, schmutzige Becher auf dem Nachttisch, ein schaler Mief nach kaltem Rauch in der Luft und über allem der erstickende Duft verblühter Lilien, die in einer Vase neben dem Fenster vor sich hin welkten.
Ohne nachzudenken, begann ich aufzuräumen. Ich zog das Bettzeug gerade und hängte das Handtuch über den Halter im angrenzenden Bad. Ich war gerade auf den Knien und drauf und dran, einen schmutzigen Teller unter dem Bett hervorzuziehen, als ich deine Stimme hörte: ein Dolch in meiner Brust.
»Verfluchte Scheiße, was soll das hier werden?«
Jules
Ich rappelte mich auf, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, denn ich hatte es gewusst – ich hatte genau gewusst, dass sie sich täuschten, ich hatte gewusst, dass du nicht wirklich gegangen warst. Und tatsächlich standest du dort in der Tür und blafftest mich an, ich solle aus deinem Zimmer verschwinden, SCHEISSE NOCH MAL. Sechzehn, siebzehn Jahre alt, die Hand um mein Handgelenk gekrallt, die lackierten Nägel tief in mein Fleisch gebohrt. RAUS HIER, hab ich gesagt, Julia! Fette Kuh!
Das Lächeln erstarb, denn natürlich warst das keineswegs du, es war deine Tochter, die fast exakt so aussieht, wie du als Teenager ausgesehen hast. Sie stand in der Tür und hatte die Hand in die Hüfte gestemmt. »Was soll das werden?«, fragte sie noch mal.
»Entschuldige«, sagte ich. »Ich bin Jules. Wir kennen uns nicht, aber ich bin deine Tante.«
»Ich hab nicht gefragt, wer du bist«, sagte sie und sah mich an, als wäre ich blöde. »Was das werden soll, will ich wissen. Was hast du hier zu suchen?« Ihr Blick huschte von meinem Gesicht zur Badezimmertür. Noch ehe ich antworten konnte, sagte sie: »Die Polizei ist unten«, und dann stakste sie den Flur entlang, mit langen Beinen und schlendernden Schritten, bei denen ihre Flipflops auf den gefliesten Boden klatschten.
Ich lief ihr hinterher.
»Lena«, rief ich und legte ihr die Hand auf den Arm.
Sie riss sich los, als hätte ich sie verbrüht, drehte sich zu mir um und sah mich wutentbrannt an.
»Es tut mir leid …«
Sie schlug kurz die Augen nieder und massierte mit den Fingern die Stelle, an der ich sie berührt hatte. Ihre Nägel trugen Spuren von altem blauem Lack, ihre Fingerspitzen sahen aus wie die einer Leiche. Sie nickte, ohne mir in die Augen zu sehen. »Die Polizei will mit dir sprechen«, sagte sie.
Sie ist nicht so, wie ich erwartet habe. Irgendwie hatte ich mir ein Kind vorgestellt, verstört, verzweifelt Trost suchend. Aber das ist sie nicht, natürlich nicht, sie ist kein Kind mehr, sie ist fünfzehn und fast erwachsen, und was das Trostsuchen betrifft – Trost schien sie keineswegs zu brauchen, zumindest nicht von mir. Sie ist und bleibt deine Tochter.
Die Detectives warteten am Küchentisch und schauten hinaus auf die Brücke: ein großer Mann mit ersten grauen Stoppeln am Kinn, an seiner Seite eine Frau, ungefähr einen Kopf kleiner als er.
Er richtete seine hellgrauen Augen forschend auf mich, trat auf mich zu und streckte die Hand aus. »Detective Inspector Sean Townsend«, sagte er. Als er mir die Hand gab, fiel mir auf, dass sie leicht zitterte. Seine Haut fühlte sich kalt an, wie Papier, wie bei einem viel älteren Mann. »Mein tiefes Beileid zu Ihrem Verlust.«
Es ist so befremdlich, diese Worte zu hören. Ich hab sie gestern schon gehört, als ich benachrichtigt wurde. Ich hätte sie beinahe selbst zu Lena gesagt, aber diesmal empfand ich sie anders. IhrVerlust. Am liebsten hätte ich ihnen erklärt, du seist nicht verloren. Auf gar keinen Fall. Sie kennen Nel nicht, Sie wissen nicht, wie sie ist.
Detective Townsend sah mir ins Gesicht, wartete darauf, dass ich irgendetwas sagte. Dünn und irgendwie scharfkantig ragte er über mir auf, fast als könnte man sich an ihm schneiden, wenn man ihm zu nahe käme. Ich starrte ihn immer noch an, bis mir aufging, dass die Frau neben ihm mich mit einer Miene ansah, die einer Studie in Mitgefühl gleichkam.
»Detective Sergeant Erin Morgan«, sagte sie. »Mein Beileid.« Sie hatte olivfarbene Haut, dunkle Augen, und ihr Haar war vom bläulichen Schwarz einer Krähenschwinge. Sie hatte es sich streng aus dem Gesicht gekämmt, doch an der Schläfe und hinter den Ohren hatten sich einzelne Locken gelöst, was sie irgendwie zerrauft aussehen ließ.
»DS Morgan ist Ihre Kontaktperson«, erklärte Detective Townsend. »Sie wird Sie auf dem Laufenden halten, wo wir mit unseren Ermittlungen stehen.«
»Es gibt Ermittlungen?«, fragte ich.
Die Frau nickte und bedeutete mir lächelnd, mich an den Küchentisch zu setzen, was ich auch tat. Die Detectives nahmen mir gegenüber Platz. DI Townsend senkte den Blick und rieb mit dem rechten Handballen kurz und ruckartig über sein linkes Handgelenk: einmal, zweimal, dreimal.
Mit besonnener, beruhigender Stimme, die ganz und gar nicht zu den Worten passte, die aus ihrem Mund kamen, wandte DS Morgan sich an mich. »Gestern am frühen Morgen hat ein Mann, während er seine Hunde ausführte, den Leichnam Ihrer Schwester im Fluss entdeckt«, sagte sie. Dem Akzent nach aus London, die Stimme weich wie Rauch. »Soweit wir bis jetzt feststellen konnten, lag sie nur ein paar Stunden im Wasser.« Sie sah kurz den DI an, dann wieder mich. »Sie war voll bekleidet, und ihre Verletzungen lassen auf einen Sturz von der Klippe über dem Fluss schließen.«
»Sie glauben, sie wäre gestürzt?«, fragte ich. Ich sah von den Detectives zu Lena, die mir nach unten gefolgt war und jetzt am anderen Ende des Raums an der Küchentheke lehnte. Barfuß in schwarzen Leggings und grauer Weste, die straff über den kantigen Schlüsselbeinknochen und ihren winzigen, knospenden Brüsten saß, schien sie uns gar nicht zu beachten, so als wäre das alles hier vollkommen normal, banal. Als würde so was jeden Tag passieren. Den linken Arm – der Oberarm hatte in etwa den Umfang meines Handgelenks – hatte sie sich um den schmalen Leib geschlungen, und mit der Rechten hielt sie ihr Handy umklammert und scrollte mit dem Daumen nach unten. Breiter Schmollmund, dunkle Brauen, aschblondes Haar, das ihr ins Gesicht fiel.
Offenbar spürte sie meinen Blick, denn auf einmal sah sie mich an und riss dabei kurz die Augen auf, sodass ich unwillkürlich wegschaute. Sie sprach mich an. »Du glaubst nicht, dass sie gefallen ist, oder?«, fragte sie und verzog die Lippen. »Du weißt es besser.«
Lena
Alle schauten mich an. Am liebsten hätte ich sie angebrüllt, dass sie aus meinem Haus verschwinden sollen. Aus meinem Haus. Es ist mein Haus, unser Haus, es wird niemals ihres sein. Tante Julia. Ich hab sie in meinem Zimmer erwischt, wo sie in meinen Sachen gewühlt hat, bevor sie mich auch nur kennengelernt hat. Dann hat sie auf nett getan und mir erklärt, dass es ihr leidtäte, so als sollte ich ihr abkaufen, dass sie sich nicht einen feuchten Dreck für uns interessiert.
Ich hab seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen, und ich will weder mit ihr noch mit sonst irgendwem reden. Ich brauche ihre Hilfe nicht und auch nicht ihre verlogenen Beileidsbekundungen, und ich will mir auch keine lahmen Theorien darüber anhören, was mit Mum passiert ist, schon gar nicht von Leuten, die sie nicht mal gekannt haben.
Ich hab versucht, die Klappe zu halten, aber als sie sagten, dass sie wohl abgestürzt wäre, wurde ich echt sauer, denn natürlich ist sie das nicht. Das ist sie nicht. Sie kapieren das nicht. Das war kein dummer Unfall, sie hat das absichtlich getan. Ich meine, wahrscheinlich tut das jetzt nichts mehr zur Sache, aber ich finde, man sollte wenigstens bei der Wahrheit bleiben.
»Sie ist nicht gestürzt«, erklärte ich ihnen. »Sie ist gesprungen.«
Die Detective fing daraufhin an, dumme Fragen zu stellen, warum ich so was sagen würde und ob sie Depressionen gehabt hätte und ob sie so was früher schon mal versucht hätte, und die ganze Zeit über starrte Tante Julia mich mit ihren traurigen braunen Augen an, als wäre ich der totale Freak.
»Sie wissen doch selbst«, erklärte ich ihnen, »dass sie besessen war von diesem Fluss, von allem, was dort passiert ist, von den vielen Menschen, die darin gestorben sind. Sie wissen das. Selbst sie weiß das«, sagte ich und sah Julia demonstrativ an.
Sie klappte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch. Fast hatte ich Lust, ihnen alles zu erzählen, ihnen alles haarklein aufzuschlüsseln, aber was hätte das gebracht? Ich glaube nicht, dass sie es kapiert hätten.
Sean – Detective Townsend, wie ich ihn nennen soll, wenn wir offiziell miteinander zu tun haben – fing an, Julia Fragen zu stellen: Wann sie das letzte Mal mit meiner Mutter gesprochen hätte. In welcher Verfassung Mum da gewesen wäre. Ob irgendetwas sie beschäftigt hätte. Und Tante Julia saß nur da und log.
»Ich hab seit Jahren nicht mit ihr gesprochen«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde dabei knallrot. »Wir hatten uns auseinandergelebt.«
Sie merkte, dass ich sie anschaute. Ihr war klar, dass ich wusste, dass das alles Mist war, und sie wurde immer röter und röter, und dann versuchte sie, von sich abzulenken, indem sie mich ansprach: »Warum, Lena? Warum behauptest du, dass sie gesprungen wäre?«
Ich sah sie lange an, bevor ich antwortete. Sie sollte ruhig wissen, dass ich sie durchschaut hatte. »Ich bin wirklich überrascht, dass du das fragst«, sagte ich. »Hast du ihr nicht selbst erklärt, dass sie an Todessehnsucht leiden würde?«
Sie schüttelte den Kopf und stammelte: »Nein, nein, das hab ich nicht, nicht so …« Lügnerin.
Die Detective meinte daraufhin, es gäbe »zu diesem Zeitpunkt noch keine Hinweise darauf, dass es ein vorsätzlicher Akt gewesen sein könnte«, und dass sie nichts Schriftliches gefunden hätten.
Da musste ich echt lachen. »Sie glauben, sie würde was Schriftliches hinterlassen? Meine Mutter würde doch keinen verfickten Abschiedsbrief schreiben. Das wäre ihr echt … was weiß ich … zu prosaisch.«
Julia nickte. »Das ist … Das stimmt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Nel uns alle vor ein großes Rätsel stellen wollte … Sie liebte Geheimnisse. Und sie hätte zu gern im Mittelpunkt eines Geheimnisses gestanden.«
Am liebsten hätte ich ihr eine runtergehauen. Dumme Ziege,hätte ich gern zu ihr gesagt, das ist auch deine Schuld.
Die Detective begann herumzuhantieren, schenkte jedem ein Glas Wasser ein und versuchte, mir eins in die Hand zu drücken, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Mir war klar, dass ich gleich losheulen würde, und das wollte ich auf keinen Fall vor ihnen tun.
Ich lief in mein Zimmer und schloss die Tür und fing erst da an zu weinen. Ich wickelte mich in meinen breiten Schal und weinte, so leise ich konnte. Ich hab mich so bemüht, standhaft zu bleiben, auf keinen Fall wollte ich einknicken und mich gehen lassen und die Fassung verlieren, weil mir klar war, dass es nie wieder aufhören würde, wenn es erst mal angefangen hätte.
Ich hab versucht, die Worte wegzudrücken, aber sie kreisen endlos in meinem Kopf: Verzeih mir verzeih mir verzeih mir, es war alles meine Schuld. Ich starrte immer weiter auf die Zimmertür und durchlebte dabei immer wieder den Augenblick am Sonntagabend, als Mum in mein Zimmer kam und mir eine gute Nacht wünschte. »Was auch passiert«, sagte sie, »du weißt, wie sehr ich dich lieb hab, Lena, das weißt du doch?« Ich drehte mich um und drückte mir die Kopfhörer in die Ohren, aber ich wusste genau, dass sie immer noch dastand, ich konnte spüren, wie sie dastand und mich ansah, es war, als könnte ich ihre Trauer spüren und als würde ich mich darüber freuen, weil ich das Gefühl hatte, sie hätte diese Trauer verdient. Ich würde alles, einfach alles tun, nur um noch einmal aufstehen und sie umarmen und ihr sagen zu können, dass ich sie auch liebe und dass es nicht ihre Schuld gewesen ist, dass ich nie hätte sagen dürfen, dass alles ihre Schuld wäre. Wenn sie an irgendetwas schuld war, dann war ich es ebenfalls.
Mark
Es war der heißeste Tag des Jahres bisher, und nachdem der Drowning Pool aus naheliegenden Gründen tabu war, ging Mark ein Stück weiter flussaufwärts schwimmen. Direkt vor Wards’ Cottage gab es einen Abschnitt, wo sich der Fluss verbreiterte, wo das Wasser am Rand schnell und kühl über die rostfarbenen Kiesel plätscherte, in der Mitte aber tief und so kalt war, dass einem kurz der Atem stockte und die Haut brannte; die Art von Kälte, bei der man vor Schreck laut auflacht.
Und tatsächlich lachte er laut auf – es war seit Monaten das erste Mal, dass ihm zum Lachen zumute war. Und seit Monaten das erste Mal, dass er im Wasser war. Für ihn hatte sich der Fluss von einem Ort des Vergnügens in einen Ort des Grauens verwandelt, doch heute war der Schalter wieder in die andere Richtung gekippt. Heute fühlte sich das Wasser wieder gut an. Schon als er aufgewacht war, mit leichterem, klarerem Kopf und fühlbar weniger angespannt, hatte er gewusst, dass heute ein guter Tag sein würde, um schwimmen zu gehen. Gestern hatten sie Nel Abbott tot im Wasser gefunden. Heute war ein guter Tag. Es war weniger, als wäre ihm eine Last von den Schultern genommen worden; es war eher so, als hätte sich ein Schraubstock – der gegen seine Schläfen gedrückt und seine geistige Gesundheit, sein Leben gefährdet hatte – nach langer Zeit endlich gelockert.
Eine Polizistin hatte ihn zu Hause aufgesucht, eine blutjunge Detective Constable, deren süße, leicht mädchenhafte Art ihn in Versuchung gebracht hatte, ihr Dinge zu erzählen, die er um jeden Preis für sich behalten musste. Callie Sowieso hatte sie geheißen. Er hatte sie ins Haus gebeten und ihr die Wahrheit gesagt. Er hatte ihr erzählt, dass er Nel Abbott am Sonntagabend aus dem Pub hatte kommen sehen. Dass er in der ausdrücklichen Absicht, ihr zu begegnen, dort hingegangen war, hatte er nicht erwähnt, aber das war ja auch nicht wichtig. Er erzählte bloß, dass sie sich unterhalten hätten, allerdings nur kurz, denn Nel hatte es eilig gehabt.
»Und worüber haben Sie sich unterhalten?«, fragte die DC.
»Ihre Tochter Lena ist eine Schülerin von mir. Sie hat mir im letzten Schuljahr Sorgen gemacht – mangelnde Disziplin und so weiter. Ab September hat sie wieder Englisch bei mir – es ist ein wichtiges Jahr, ihr Abschlussjahr –, und ich wollte sichergehen, dass es keine weiteren Probleme gibt.«
Was nicht gelogen war.
»Sie sagte, sie hätte gerade keine Zeit, sie hätte andere Dinge zu tun.«
Auch das war wahr, allerdings nicht die ganze Wahrheit. Nicht nichts als die Wahrheit.
»Sie hat sich also nicht die Zeit genommen, über die Schulprobleme ihrer Tochter zu sprechen?«, hakte die Detective nach.
Mark zuckte mit den Achseln und schenkte ihr ein bedauerndes Lächeln. »Manche Eltern engagieren sich mehr, andere weniger«, sagte er.
»Wohin wollte sie, als sie den Pub verließ? Ist sie mit dem Auto weggefahren?«
Mark schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, sie wollte nach Hause. Zumindest ging sie in die Richtung.«
Die DC nickte. »Und danach haben Sie sie nicht noch mal gesehen?«, fragte sie, und Mark schüttelte den Kopf.
Also, manches war wahr, manches gelogen, aber auf jeden Fall gab sich die DC damit zufrieden; sie ließ ihm eine Karte mit einer Telefonnummer da und bat ihn darum anzurufen, falls ihm noch etwas einfallen sollte.
»Mach ich.« Er lächelte sein gewinnendes Lächeln und sah sie zurückzucken. Unwillkürlich fragte er sich, ob er womöglich übertrieben hatte.
Jetzt tunkte er den Kopf unter Wasser, tauchte abwärts in Richtung Flussbett und bohrte die Finger in den weichen, sandigen Schlick. Er rollte sich zusammen und schoss dann in einer kraftvollen Explosion zurück an die Oberfläche, wo er keuchend frische Luft in die Lunge zog.
Den Fluss würde er vermissen. Trotzdem war er jetzt bereit zu gehen. Er würde sich nach einem neuen Job umsehen müssen, vielleicht oben in Schottland, vielleicht noch weiter weg: in Frankreich oder Italien, irgendwo, wo niemand wusste, wo er herkam oder was unterwegs geschehen war. Er träumte von einer sauberen Tafel, einem unbeschriebenen Blatt, einer unbefleckten Vergangenheit.
Als er zurück ans Ufer schwamm, spürte er, wie der Schraubstock wieder anzog. Noch war nicht alles in trockenen Tüchern. Noch nicht ganz. Da war immer noch die Tochter, die konnte immer noch Probleme machen, obwohl es unwahrscheinlich war, dass sie jetzt ihr Schweigen brach, nachdem sie so lange dichtgehalten hatte. Man konnte wirklich vieles über Lena Abbott sagen, aber sie war loyal. Sie stand zu ihrem Wort. Und vielleicht würde sie sich jetzt, da sie vom toxischen Einfluss ihrer Mutter befreit war, sogar zu einem anständigen Menschen entwickeln.
Eine Weile saß er mit gesenktem Kopf am Ufer, lauschte dem Gesang des Flusses und spürte die Sonne auf seinen Schultern. Doch mit den Tropfen auf seinem Rücken verflüchtigte sich auch das Hochgefühl. Stattdessen blieb etwas anderes zurück, nicht gerade Hoffnung, aber doch zumindest eine stille Vorahnung, dass so etwas wie Hoffnung möglich war.
Als er ein Geräusch hörte, blickte er auf. Da kam jemand. Er erkannte ihre Silhouette, die quälende Langsamkeit ihrer Schritte, und sein Herz begann zu hämmern. Louise.
Louise
Am Flussufer saß ein Mann. Im ersten Moment glaubte sie, er wäre nackt, doch als er aufstand, sah sie, dass er eine kurze, eng anliegende Badehose trug. Sie spürte, wie sie ihn wahrzunehmen begann, wie sie seine Nacktheit wahrzunehmen begann, und errötete. Es war Mr. Henderson.
Bis sie ihn erreicht hatte, hatte er sich in ein Handtuch gewickelt und ein T-Shirt übergestreift. Mit ausgestreckter Hand kam er auf sie zu.
»Mrs. Whittaker, wie geht es Ihnen?«
»Louise«, sagte sie. »Bitte.«
Er nickte knapp und deutete ein Lächeln an. »Louise. Wie geht es Ihnen?«
Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern. »Das wissen Sie doch.« Er wusste es nicht. Niemand wusste das. »Die sagen einem … Die! Wenn ich mich so reden höre! Die Trauertherapeuten sagen einem, dass es gute und schlechte Tage geben wird und dass man einfach damit leben muss.«
Mark nickte, doch sein Blick glitt von ihr ab, und sie sah, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Es war ihm peinlich.
Allen war es peinlich. Bevor Louises Leben in Fetzen gerissen worden war, war ihr nie klar gewesen, wie unerquicklich Trauer war, wie unangenehm es allen war, wenn der Trauernde Kontakt mit ihnen aufnahm. Anfangs wurde die Trauer noch anerkannt und respektiert und zur Sprache gebracht. Aber nach einiger Zeit wirkte sie störend – beim Plaudern, Lachen, im alltäglichen Leben. Alle wollten nur noch damit abschließen und endlich wieder nach vorn blicken, aber das ging nun mal nicht, solange man ihnen im Weg stand und dabei ständig den Leichnam seines Kindes hinter sich herschleifte.
»Wie ist das Wasser?«, fragte sie, und er wurde noch röter. Das Wasser, das Wasser, das Wasser – an diesem Ort entkam man ihm einfach nicht. »Kalt«, sagte sie, »könnt ich mir vorstellen.«
Er schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund –»Brrrr!« – und lachte verlegen.
Sie hatte das Gefühl, dass ein unsichtbarer Elefant zwischen ihnen stand und sie es ansprechen sollte.
»Sie haben das von Lenas Mutter gehört?« Als wäre es möglich, dass er es nicht gehört hätte. Als könnte irgendwer in diesem Ort leben und es nicht erfahren haben.
»Ja, schrecklich. Mein Gott, wie schrecklich. Was für ein Schock.« Er verstummte, und als Louise nicht reagierte, setzte er nach: »Also … Ich meine, ich weiß, dass Sie beide …« Er ließ den Satz in der Luft hängen und warf einen Blick über die Schulter zu seinem Wagen.
Er konnte es gar nicht erwarten, von ihr wegzukommen, der arme Kerl.
»Dass wir nicht gut aufeinander zu sprechen waren?« Louise spielte mit der Kette um ihren Hals, zog den Anhänger, einen blauen Vogel, vor und zurück. »Nein, das waren wir wirklich nicht. Trotzdem …«
Mehr als ein Trotzdem brachte sie nicht über die Lippen. Nicht gut aufeinander zu sprechen war eine lachhafte Untertreibung, aber es war wirklich nicht nötig, das laut auszusprechen. Mr. Henderson wusste von dem bösen Blut zwischen ihnen, und sie würde lieber tot umfallen, als hier am Fluss zu stehen und so zu tun, als wäre sie unglücklich, dass Nel Abbott dort ihr Leben gelassen hatte. Das konnte sie nicht, und das wollte sie nicht.
Sie wusste genau, dass das Gerede der Trauertherapeuten nichts als Unfug war und dass sie bis an ihr Lebensende nie, nie wieder einen schönen Tag erleben würde, und doch hatte es in den letzten vierundzwanzig Stunden Momente gegeben, in denen es ihr schwergefallen war, sich ihr Triumphgefühl nicht anmerken zu lassen.
»Ich nehme an, auf schreckliche Weise«, sagte Mr. Henderson gerade, »ist es merkwürdig stimmig, nicht wahr? Dass sie so gestorben ist.«
Louise nickte grimmig. »Vielleicht hätte sie es so gewollt. Vielleicht hat sie es ja so gewollt.«
Mark runzelte die Stirn. »Sie glauben, sie … Sie glauben, es war Absicht?«
Louise schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Nein. Nein. Natürlich nicht.« Er stockte. »Wenigstens … Wenigstens wird ihr Projekt jetzt nicht mehr veröffentlicht, oder? Das Buch, an dem sie gearbeitet hat. Das über den Fluss. Es war doch noch nicht fertig, oder? Also kann es nicht veröffentlicht werden …«
Louise durchbohrte ihn regelrecht mit dem Blick. »Glauben Sie das allen Ernstes? Ich hätte gedacht, die Art ihres Todes würde das Buch umso veröffentlichenswerter machen. Eine Frau schreibt über Menschen, die im Drowning Pool ertrunken sind, und ertrinkt dann selbst darin? Ich würde sagen, das wird unter Garantie jemand veröffentlichen wollen.«
Mark sah sie entgeistert an. »Aber Lena … Lena würde doch bestimmt … Sie würde doch bestimmt nicht wollen, dass …«
Louise zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«, sagte sie. »Ich nehm an, dass die Tantiemen an sie ausbezahlt würden.« Sie seufzte. »Ich muss zurück, Mr. Henderson.« Als sie ihm den Arm tätschelte, legte er seine Hand auf ihre.
»Es tut mir so schrecklich leid, Mrs. Whittaker«, sagte er, und gerührt stellte sie fest, dass dem armen Mann Tränen in den Augen standen.
»Louise«, sagte sie. »Nennen Sie mich Louise. Und ich weiß. Ich weiß, dass es Ihnen leidtut.«
Louise machte sich auf den Heimweg. Der Spaziergang flussaufwärts und wieder abwärts dauerte Stunden – bei dieser Hitze sogar noch länger –, aber ihr fiel einfach nichts ein, womit sie ihre Tage sonst füllen sollte. Nicht dass sie nichts zu tun gehabt hätte. Sie sollte Immobilienmakler kontaktieren, sich Schulen ansehen. Da war ein Bett, das abgezogen werden wollte, ein Kleiderschrank voller Sachen, die weggepackt werden mussten. Ein Kind, das seine Mutter brauchte. Morgen vielleicht. Morgen würde sie all das angehen, aber heute ging sie am Fluss spazieren und dachte an ihre Tochter.
Heute, genau wie an jedem anderen Tag, durchforstete sie ihr unbrauchbares Gedächtnis nach Anzeichen, die sie übersehen, nach Warnsignalen, die sie unbekümmert überhört hatte. Sie suchte nach einem winzigen Fitzelchen, nach irgendeinem Hinweis auf seelisches Leid im glücklichen Leben ihres Kindes. Denn um die Wahrheit zu sagen, hatten sie sich um Katie nie Sorgen gemacht. Katie war klug, kompetent, selbstsicher gewesen und hatte einen eisernen Willen gehabt. Sie war durch die Pubertät gesegelt, als wäre es eine Bagatelle, sie hatte alles mühelos weggesteckt. Wenn überhaupt, hatte es Louise manchmal bekümmert, dass Katie ihre Eltern so wenig gebraucht hatte. Nichts hatte sie aus der Fassung bringen können – weder die Schule noch die klebrige Vergötterung durch ihre bedürftige beste Freundin, nicht mal ihr promptes, fast schockierendes Erblühen zu erwachsener Schönheit. Louise erinnerte sich noch schmerzhaft an die ätzende, pikierte Scham, die sie selbst als junges Mädchen empfunden hatte, sobald ihr aufgefallen war, wie Männer ihren Körper musterten. Aber Katie war nichts dergleichen anzumerken gewesen. Andere Zeiten, redete Louise sich ein, die Mädchen sind heute einfach anders.
Louise und ihr Mann Alec hatten sich um Katie nie Sorgen gemacht. Sie machten sich Sorgen um Josh. Von Natur aus sensibel, ein ängstliches Kind, hatte er sich im letzten Jahr verändert, irgendetwas machte ihm zu schaffen; fast mit jedem Tag hatte er verschlossener, introvertierter gewirkt. Sie machten sich Sorgen, dass er gemobbt werden könnte, wegen seiner abfallenden Noten, wegen der dunklen Ringe, die sich morgens unter seinen Augen abzeichneten.
In Wahrheit – und das musste die Wahrheit sein–hatten sie ausschließlich Augen für ihren Sohn gehabt und immer nur darauf gewartet, dass er ins Straucheln geriete, während gleichzeitig die Tochter abgerutscht war, ohne dass sie etwas gemerkt hätten. Und so waren sie nicht da gewesen, um sie aufzufangen. Die Schuld steckte wie ein Stein in Louises Kehle, sie rechnete bei jedem Atemzug damit, daran zu ersticken, aber das tat sie nicht, das würde sie nicht, also musste sie immer weiter atmen, weiter atmen und sich weiter erinnern.
In der Nacht davor war Katie ungewöhnlich still gewesen. Sie hatten nur zu dritt beim Abendbrot gesessen, weil Josh bei seinem Freund Hugo übernachtet hatte. Normalerweise erlaubten sie ihm das unter der Woche nicht, aber weil sie sich eben um ihn sorgten, hatten sie eine Ausnahme gemacht. Sie nutzten die Gelegenheit, um mit Katie über Josh zu sprechen. Ob ihr aufgefallen sei, fragten sie, wie verängstigt er in letzter Zeit gewirkt habe?
»Wahrscheinlich hat er Panik, weil er nächstes Jahr die Schule wechselt«, meinte sie, sah ihre Eltern dabei aber nicht an, sondern hielt den Blick auf den Teller gerichtet, und ihre Stimme bebte ein winziges bisschen.
»Er wird schon zurechtkommen«, sagte Alec. »Seine halbe Klasse wird dort sein. Und du auch.«
Louise sah noch vor sich, wie sich die Hand ihrer Tochter ein bisschen fester um das Wasserglas legte, als Alec das sagte. Sie erinnerte sich noch daran, wie schwer Katie schluckte und wie sie kurz die Augen schloss.
Den Abwasch machten sie zusammen, Louise spülte, und Katie trocknete ab, weil die Spülmaschine kaputt gegangen war. Louise wusste noch genau, wie sie zu Katie gesagt hatte, dass das doch nicht nötig sei, dass sie das auch allein schaffe, falls Katie denn noch Hausaufgaben machen müsse, und dass Katie geantwortet hatte: »Schon alles erledigt.« Und sie erinnerte sich noch, wie Katie jedes Mal, wenn sie ihr einen Teller abgenommen hatte, die Finger ein klein bisschen länger als nötig auf Louises Hand hatte ruhen lassen.
Nur dass Louise sich inzwischen nicht mehr sicher sein konnte, ob sie sich an all das tatsächlich erinnerte. Hatte Katie wirklich den Blick niedergeschlagen und auf ihren Teller gestarrt? Hatte sie das Glas fester gepackt und ihre Finger länger als nötig auf Louises gelegt? Inzwischen hätte sie es unmöglich sagen können. Anscheinend ließen sich all ihre Erinnerungen anzweifeln oder anders interpretieren. Sie war sich nicht sicher, ob das auf den Schock der Erkenntnis zurückzuführen war, dass alles, was sie sicher zu wissen geglaubt hatte, ganz und gar nicht sicher gewesen war, oder ob die Medikamente, die sie in den Tagen und Wochen nach Katies Tod geschluckt hatte, ihren Geist für alle Zeiten getrübt hatten. Wahllos hatte Louise Pillen eingeworfen, jede Handvoll Medikamente hatte sie mit Stunden gedankenloser Leere gelockt, nur um sie beim Erwachen erneut in ihren Albtraum eintauchen zu lassen. Nach einer Weile hatte sie begriffen, dass ein paar Stunden des Vergessens nicht das Grauen aufwogen, immer und immer wieder neu entdecken zu müssen, dass ihre Tochter nicht mehr da war.
In einem aber war sie sich verhältnismäßig sicher: Als Katie ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, hatte sie wie immer gelächelt und ihr einen Kuss gegeben. Sie hatte Louise genauso fest und genauso lang umarmt wie sonst und »Schlaf gut« gesagt.
Und wie hätte sie das tun können, wenn sie da schon gewusst hätte, was sie tun würde?
Der Weg verschwamm vor Louises Augen, Tränen nahmen ihr die Sicht, darum bemerkte sie das Absperrband erst, als sie direkt davorstand. Polizeiabsperrung. Sie war schon halb den Hügel hinauf und kurz unter dem Kamm und musste scharf links abbiegen, um den Boden, auf dem Nel Abbott zuletzt gestanden hatte, nicht zu betreten.
Sie stapfte über die Kuppe und auf der anderen Seite wieder den Hügel hinab, mit schmerzenden Füßen und schweißverklebten Haaren, hinunter in den ersehnten Schatten am Rand der Flussschleife, wo der Pfad sich unter dicht belaubten Bäumen entlangschlängelte. Ungefähr eine Meile weiter stieß der Weg auf die Brücke, und sie stieg die Treppe zur Straße hoch. Von links kam ihr eine Gruppe Mädchen entgegen, und sofort begann sie, so wie immer, nach ihrer Tochter Ausschau zu halten, nach dem leuchtend kastanienbraunen Schopf zu fahnden, dem rauen Lachen zu lauschen. Und wieder brach Louises Herz.
Sie beobachtete die Mädchen, die einander die Arme um die Schultern gelegt hatten und sich dicht gedrängt im Pulk vorwärtsbewegten – eine verschlungene Masse daunenweichen Fleischs, in deren Mitte, wie Louise mit einem Mal sah, Lena Abbott lief. Lena – die in den letzten Monaten stets die Einzelgängerin gewesen war – hatte ihren Moment im Rampenlicht bekommen. Auch sie würde angestarrt und bemitleidet und in nicht allzu ferner Zukunft gemieden werden.
Louise wandte sich ab und ging den Hügel zu ihrem Haus hoch. Sie ließ die Schultern hängen, senkte den Kopf und hoffte, dass sie sich unbemerkt würde davonschleichen können, denn Lena zu sehen fühlte sich schier unerträglich an, es beschwor unerträgliche Bilder in Louises Geist herauf. Doch das Mädchen hatte sie bemerkt und rief jetzt laut: »Louise! Mrs. Whittaker! Bitte warten Sie!«
Louise versuchte, schneller zu gehen, aber ihre Beine waren müde und ihr Herz schlaff wie ein alter Ballon, wohingegen Lena jung und kräftig war.
»Mrs. Whittaker, ich muss mit Ihnen reden.«
»Jetzt nicht, Lena, bitte entschuldige.«
Lena legte die Hand auf Louises Arm, doch Louise zog ihn weg, sie konnte das Mädchen jetzt nicht ansehen. »Es tut mir wirklich leid. Ich kann gerade nicht mit dir reden.«
Louise war zu einem Monster geworden, einer seelenlosen Kreatur, die nicht mal mehr ein mutterloses Kind trösten konnte, die – schlimmer, viel schlimmer – dieses Kind nicht mal mehr ansehen konnte, ohne zu denken: