A Witching Tale - Claudia Romes - E-Book

A Witching Tale E-Book

Claudia Romes

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Beschreibung

"Sie spürte, dass sie alles verloren hatte, nicht aber ihren unbändigen Willen zu leben!" Nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Marsha kehrt Gwen auf den Familiensitz Belvoir Castle zurück. Dort erfährt sie, dass Marsha von unheimlichen Albträumen geplagt wurde. Im Zimmer ihrer Schwester macht sie dann die nächste merkwürdige Entdeckung: Das Gemälde einer Frau, die ihnen verblüffend ähnlich sieht, daneben ein uraltes Tagebuch. Als Gwen darin zu lesen beginnt, wird auch sie von unheimlichen Träumen heimgesucht. Ein lang gehütetes Geheimnis drängt mit aller Macht an die Oberfläche. Und allmählich wird Gwen klar, wie wenig Zeit ihr noch bleibt …

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Seitenzahl: 325

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Inhaltsverzeichnis

Prolog 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Elf 

Zwölf 

Dreizehn 

Vierzehn 

Fünfzehn 

Sechzehn 

Siebzehn 

Achtzehn 

Nachwort der Autorin 

Claudia Romes wurde am 02.10.1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Sie war schon immer eine begeisterte Leserin und liebte es, in fremde Welten einzutauchen. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem kleinen Dorf in der Vulkaneifel.

Vollständige e-Book Ausgabe 2020

© 2020 ISEGRIM VERLAG 

in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt 

Covergestaltung: Ria Raven www.riaraven.de

Coverillustrationen: © shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN: 978-3-95452-963-6 

www.isegrim-buecher.de

In Liebe und tiefer Verbundenheit meinen Geschwistern gewidmet 

Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint.

Friedrich Hebbel 

Prolog 

Zuerst war es nicht mehr als ein zartes Flüstern, das stetig lauter wurde. Gwen setzte sich im Bett auf und lauschte dem Lockruf eines aufgeregten Kindes. Es war die Stimme ihrer Schwester Marsha, die sie veranlasste aus dem Bett zu steigen.

»Komm mit«, wisperte sie und Gwen sah, wie ihr Ebenbild zur Tür hinaus verschwand. Sie folgte ihr über den endlos wirkenden Flur des westlichen Flügels. Ihre Schritte waren lautlos, ihr Haar schwang im Wind, der durch die geöffneten Fenster drang. Das Kichern ihrer Schwester hallte in ihren Ohren. Gwen beschleunigte ihren Gang. Sie wollte Marsha einholen, neben ihr laufen, aber Marsha war schon immer die Schnellere von ihnen beiden gewesen. Erste Sonnenstrahlen verkündeten einen neuen Tag. Sie fielen auf den blutroten Teppich, der im Flur ausgelegt war. Marsha lief vor ihrer Schwester davon. Immer wieder blickte sie sich um und forderte sie auf, ihr zu folgen. Gwens Beine bewegten sich selbstständig vorwärts. Fast glaubte sie zu schweben. Am Ende des Flurs angekommen hielt Marsha inne. Gwen sah, wie sie durch die zweiflügelige Tür in den Ballsaal spazierte, die sich vor ihr geöffnet hatte. Geigenspiel drang aus dem Raum. Ein eiskalter Windhauch strömte Gwen entgegen, als sie ihrer Schwester in den Saal folgte, der voller Menschen war, die in aufwendigen Roben ausgelassen tanzten. Niemand schien auch nur Notiz von den beiden Mädchen zu nehmen, die sich munter an den Händen hielten und zu der Musik im Kreis drehten. Für einen Augenblick teilte sich die Menge und gab die Sicht auf eine Tür frei, deren Umrisse weiß leuchteten. Marsha hielt einen Moment inne, rannte dann fasziniert darauf zu, blieb davor stehen und winkte Gwen zu sich. Aber ihre Schwester zögerte. Die Menge schloss sich wieder und verbarg Marsha und die seltsame Tür. Gwen war wie erstarrt. Allein traute sie sich nicht an den Menschen vorbei, die eine unheimliche Ausstrahlung besaßen. Sie wirkten fremd und bedrohlich. Gwen stand abwartend da und stierte in Richtung der leuchtenden Tür. Endlich konnte sie einen weiteren Blick darauf erhaschen. Sie sah, wie sich die Tür öffnete und ein weißes, gleißendes Licht daraus drang.

»Marsha!«, rief sie, als ihre Schwester weiter darauf zuging.

»Warte!« Angetrieben von der Befürchtung, sie aus den Augen zu verlieren, nahm Gwen all ihren Mut zusammen und manövrierte sich durch die Menge.

»Geh nicht hinein!«, flehte sie, während sie sich ihren Weg durch die stetig größer werdende Menge bahnte. Sie kämpfte sich voran, doch immer mehr Menschen schoben sich vor sie, streckten ihre Hände nach ihr aus und erdrückten sie beinahe. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Marsha!«, schrie sie noch einmal, dann sank sie keuchend auf den Boden. Die Menschen verschwanden. An ihre Stelle trat eine einnehmende Finsternis, die sie verschluckte. Marsha war unerreichbar für sie geworden.

Eins 

Belvoir Castle, Leicestershire – Gegenwart 

Gwen schlug die Augen auf, als das Taxi vor dem schmiedeeisernen Tor hielt. Es war nicht dem Jetlag zu verdanken, dass sie auf der Fahrt vom Flughafen eingenickt war, sondern vielmehr dem Schichtdienst der vergangenen Wochen, der ihr in den Gliedern steckte und dem schmerzvollen Umstand, der sie hergeführt hatte.

Sie wusste nicht, warum sie diesen Traum aus ihrer Kindheit erneut geträumt hatte. Nach so vielen Jahren war er noch immer fest in ihrem Unterbewusstsein verankert, ohne dass sie je seine Bedeutung verstanden hatte.

Müde rieb sie sich die Augen und stieg aus dem Wagen. Sie nahm ihren Koffer vom Taxifahrer entgegen, drückte ihm seinen Lohn in die Hand und sah zu, wie er davonrauschte. Zögerlich wandte Gwen sich daraufhin dem Familienanwesen zu, über dem graue Wolken schnell hinwegzogen. Zweifellos war es ein Märchenschloss. Majestätisch schön lag Belvoir Castle auf einem Hügel, umringt von einem parkähnlichen Garten. Doch die harmonische Fassade war trügerisch. Gwen schauderte bei dem Gedanken daran, was sie im Inneren erwartete. Noch immer konnte sie nicht begreifen, warum sie hier war. Nie wieder würde sie das Haus, in dem sie aufgewachsen war, so glanzvoll sehen können, wie früher. Wie versteinert stand sie da. Sie erblickte die Wiese, die zu beiden Seiten die Auffahrt säumte und unwillkürlich stieg die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit in ihr auf. Der Rasen war gepflegt wie eh und je, trotzdem schoben sich Gänseblümchen zwischen den gekürzten Grashalmen hindurch. Gwen spürte, wie die Traurigkeit sie übermannte. Sie wandte den Blick ab und unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Sie fühlte eine Leere in sich, die überwältigend war, denn ihre Schwester, ihr Gegenstück, ihre innigste Vertraute war tot. Sie würde sie nie wiedersehen. Diese Tatsache, die beiden Worte ›nie wieder‹ versetzten sie in eine Starre. Jedes Mal, wenn sie von der erschütternden Wahrheit eingeholt wurde, fügte es ihr einen Schmerz zu, von dem sie nicht wusste, ob sie ihm gewachsen war.

Marshas Tod kam plötzlich – wie ein Schlag ins Gesicht, auf den man nicht gefasst ist. Der einem die Luft zum Atmen raubt, die Sinne betäubt und einen verstört zurücklässt. Das alles kam ihr immer noch wie ein wahrgewordener Albtraum vor.

Vor einer Woche war Gwen mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden. Halb wach hatte sie den Hörer abgenommen. Verwirrt hatte sie nur wenige Minuten später aufgelegt. Eine fremde Stimme hatte sie über Marshas tödlichen Autounfall in Kenntnis gesetzt, doch sie glaubte ihr kein Wort. Aufgrund der aufrüttelnden Nachricht war der Anrufer für Gwen nebensächlich gewesen. Eine unverschämte Lüge und Das ist unmöglich, waren ihre ersten Gedanken gewesen und an diesen hielt sie fest. Auch jetzt noch. Obwohl sie inzwischen mit Miranda, Belvoirs Hausdame, und dem Bestatter telefoniert hatte, der mit der Beerdigung ihrer Schwester beauftragt worden war. Sie weigerte sich Marshas Tod zu akzeptieren. War es, weil sie sie nicht mehr gesehen hatte? In den wenigen Momenten, in denen ihr Verstand die Oberhand über ihr Gefühlsleben gewann, glaubte sie den Grund für ihren inneren Widerstand gegen Marshas Tod zu kennen. Bei dem Unfall hatte Marsha schwerste Kopfverletzungen davongetragen, weshalb ihr der Bestatter davon abgeraten hatte, sie ein letztes Mal zu sehen. Gwen hatte es nicht über sich gebracht, ihm zu widersprechen. Allein der Gedanke an ihre tote Zwillingsschwester schnürte ihr die Luft ab. Deshalb hielt sie es für klüger, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie gewesen war.

Der Himmel war in ein dunkles Grau getaucht. Sicher würde der Regen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Gwen holte noch einmal tief Luft, bevor sie ihren Gang Richtung Haupthaus fortsetzte. Mit jedem Schritt kam sie der Realität ein wenig näher. Marsha hatte das Schloss geliebt, jeden einzelnen Stein. Sie war die Bessere von ihnen gewesen, nicht nur wenn es nach Gwen ging. So hatten viele gedacht, selbst Tante Kate, in deren Obhut beide aufgewachsen waren. Marsha war immer die liebenswertere gewesen, die mit dem aufopfernden Wesen. Neben ihr hatte sich Gwen manchmal unbeachtet gefühlt. Nicht zuletzt war sie auch deswegen von Belvoir geflohen. Sie hatte das Nest verlassen, um anders zu sein. Sie wollte glänzen wie Marsha, aber auf ihre eigene, individuelle Art und Weise. Gwen hatte sich für Amerika und eine Karriere als Chirurgin entschieden. Ein Weg, der sie erfüllte. Doch am Ende war es genau dieser Weg gewesen, der ihr die Möglichkeit genommen hatte, ihre Schwester regelmäßig zu sehen. Im vergangenen Jahr hatte sie Marsha immer wieder enttäuscht. Und das obwohl diese von einer Überraschung gesprochen hatte, etwas, das sie unbedingt mit ihr hatte teilen wollen. Gwens Mailbox war voll gewesen mit Marshas euphorisch klingenden Nachrichten, denen sie kaum Beachtung geschenkt hatte, weil sie zu dem Zeitpunkt bis zum Hals in Arbeit steckte. Gwen hatte versprochen zu kommen, sobald ihr Terminkalender es zulassen würde. Drei Mal sagte sie aus zeitlichen Gründen ab und drei Mal hatte sie mitangehört, wie die Stimme ihrer Schwester am Telefon weiter an Freude verloren hatte. Auch das hatte sie nicht veranlasst, einzulenken. Dafür hasste sie sich nun. Immer wieder holten sie die vergangenen Monate ein.

Gwen nahm einen tiefen Atemzug. Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich, wie jedes Mal, wenn sie die Schuldgefühle überkamen, in ihrem Hals festzusetzen versuchte und zog ihre Sonnenbrille auf, obwohl der Himmel sich weiter verdunkelt hatte. Es war seltsam, aber das Schloss verunsicherte sie nach wie vor. Nach all den Jahren fühlte sie sich hier immer noch klein, unscheinbar und … beobachtet. Unmerklich schüttelte sie sich. Die teuren Psychotherapiestunden, die sie wegen ihrer Kindheit auf dem Schloss genommen hatte, sollten nicht umsonst gewesen sein. Gwen zog ihren Koffer über den Kiesweg vor dem Haupteingang hinter sich her. Er war nicht besonders schwer, beinhaltete nur das Nötigste. Schließlich hatte sie nicht vor zu bleiben. Ihr Aufenthalt würde nur so lange dauern, bis die Beerdigung vorbei und die weitere Versorgung ihrer Tante sichergestellt war.

Vor dem Säuleneingang verharrte sie. Der Türklopfer in Form eines Löwenkopfes schaute ihr mit weit aufgerissenem Maul entgegen. Alles in ihr wehrte sich hier zu sein. Zaghaft legte sie die Hand auf den Klopfer, doch noch bevor sie ihn betätigen konnte, öffnete jemand die Tür.

»Miss Collins?« Miranda blickte ihr zweifelnd entgegen. Sie war alt geworden. Graue Haarsträhnen blitzten unter ihrer Haube hervor, ihr Gesicht wirkte zerknittert.

Mit zittriger Hand nahm Gwen die Sonnenbrille ab und drehte sie am Bügel nervös zwischen ihren Fingern.

»Guten Tag, Miranda.« Mehr als diese kühle Begrüßung brachte sie nicht heraus.

»Bitte kommen Sie rein.« Sie ließ Gwen eintreten. »Es tut mir so leid, was passiert ist.« Sie schluchzte, kramte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen trocken.

»Mir auch«, würgte Gwen mit gesenktem Kopf hervor. Miranda schnäuzte sich so laut, dass es in der weiten Eingangshalle widerhallte. Halt suchend festigte Gwen den Griff um ihren Koffer. Jetzt, da sie im Schloss war, hatte sie das Gefühl, die Macht über Körper und Psyche endgültig zu verlieren. Ihr Herz machte einen Aussetzer, ihr Atem stand still. Die Trauer war im Begriff sie niederzudrücken.

»Sie hat das Schloss mit so viel Liebe erfüllt«, unterbrach Miranda Gwens aufkommende Panikattacke. »Es ist nicht zu glauben, dass sie fort ist.« Damit rief sie ihr die unausweichliche Tatsache erneut ins Gedächtnis – als könnte sie diese je vergessen. Gwen konnte nichts darauf erwidern.

Ihre Kehle war staubtrocken. Sie war jetzt allein und für einen Zwilling war das Alleinsein gleichgesetzt mit Unvollkommenheit.

»Ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer hergerichtet,« erklärte Miranda zwischen zwei Seufzern.

»Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Für einen Moment blieb Gwen im Vestibül stehen und schaute die große Freitreppe hinauf. Es beschlich sie erneut das seltsame Gefühl, dass jemand von oben auf sie herabsah und sie beobachtete.

»Sie müssen erschöpft sein, von der Reise«, sagte Miranda. Gwen verdrängte ihr merkwürdiges Gefühl und folgte ihr in den ersten Stock.

»Wie geht es Tante Kate?«, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen.

Miranda schüttelte hastig den Kopf. »Oh, seit Marshas Tod hat sie schwer abgebaut.« Auf halbem Weg blieb sie stehen und wandte sich um. »Ich wage es kaum auszusprechen, aber ich befürchte, dass sie diesen Herbst nicht überleben wird. Es geht ihr nicht gut.« Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Gwen nickte mitleidsvoll.

»Sie hat die Fähigkeit zu sprechen fast vollständig eingebüßt«, fuhr Miranda fort. »Vielleicht wartet sie nur noch auf Sie, um zu …«, sie schnappte nach Luft, zog ihr Taschentuch erneut aus ihrem Ärmel hervor und winkte ab. »Sie wissen schon. Miss Marsha hat stets eine belebende Wirkung auf ihre Tante gehabt. Die beiden hatten eine sehr enge Bindung.« Sie schluchzte. »Ich denke, Sie erinnern sich noch, wo das Zimmer Ihrer Tante ist?«

Gwen krallte sich Hilfe suchend am Treppengeländer fest. Hatte Miranda soeben eine Anspielung auf ihre mangelnde Fürsorge ihrer Tante gegenüber gemacht? Unglaublich, wie schnell ihr mühsam aufgebautes Selbstwertgefühl an diesem Ort schwand. Im weit entfernten Chicago war sie eine angesehene Ärztin, die schon unzähligen Menschen das Leben gerettet hatte. Hier hatte das für niemanden eine Bedeutung. Sie blieb die Schwester, die sich gegen ein Leben auf dem Schloss entschieden, die sich ihren Familienpflichten entzogen hatte. Könnte ihre Tante noch sprechen, würde sie ihr wahrscheinlich sagen, dass sie lieber sie als Marsha unter der Erde gesehen hätte. Katelyn Collins-Rutland hatte Gwens kühle Art schon immer verurteilt. Jetzt war sie die einzige noch lebende Verwandte, die nach dem Tod ihres Sohnes und dem von Marsha übrig war.

Oben angekommen passierte Gwen Marshas Zimmertür und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr war, als spüre sie dahinter immer noch die Anwesenheit ihrer Schwester. Es war unheimlich. Direkt daneben befand sich Gwens altes Zimmer, in dem sich nichts verändert hatte. Weder das Himmelbett mit den blauen Seidenvorhängen noch die Kommode vor dem Fenster, auf der die Waschschüssel mit Blütenornamenten stand.

Neben dem Kleiderschrank war sogar noch ihre, mit einem großen G versehene Spielzeugtruhe. Gedankenverloren klappte Gwen den Deckel auf. Aus dem Inneren blickten sie die freundlichen Knopfaugen eines braunen Teddybären an. Gwen nahm das alte Plüschtier hoch und strich mit einem wehmütigen Lächeln über dessen flauschig-braunen Pelz.

»Wie Sie sehen ist hier alles beim Alten geblieben.« Miranda steckte ihren Kopf durch die Tür. »Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie in Ruhe auspacken können.«

Gwen nickte ihr dankend zu. Den Bär noch in der Hand, ließ sich Gwen seufzend auf die Bettkante sinken. Sie schloss für einen Moment die Augen und sog den vertrauten Geruch ihres alten Kinderzimmers ein. Ihre Gedanken kreisten um längst vergangene, unbekümmerte Tage. Wie oft hatte Marsha sie bei Sonnenaufgang aus dem Bett geholt. Gemeinsam hatten sie dann das Schloss erkundet und dabei zugesehen, wie es langsam erwachte. Es hatte viele schöne Momente gegeben. Gwen fragte sich, warum ausgerechnet die negativen Erfahrungen in ihr überwogen. War sie zu wenig wertschätzend? Hatte sie das Glück nicht sehen wollen, das sie umgeben hatte? Im Gegensatz zu Marsha war sie stets unzufrieden, fordernd und rebellisch gewesen. Erst recht in ihrer Teenagerzeit. Wahrscheinlich hatte ihre Tante, die damals schon über sechzig gewesen war, sie deshalb als anstrengend empfunden.

Eine Stimme auf dem Flur riss Gwen aus ihren Überlegungen. Sie schreckte hoch, denn sie glaubte die Stimme als die wiederzuerkennen, die ihr am Telefon vom Tod ihrer Schwester berichtet hatte. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Verdrängte Fragen schoben sich in ihr Bewusstsein. Wer war dieser Mann überhaupt gewesen, der sie an jenem Morgen angerufen hatte und woher kannte er Marsha?

Gwen blieb zunächst an der Tür stehen, dann trat sie auf den Flur und ging bis zur Treppe. Unten, in der Empfangshalle erblickte sie einen Mann, der sich mit Miranda unterhielt. Lautstark räusperte sie sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Beide wandten sich ihr zu. Zunächst starrte der Mann sie ungläubig an, anschließend senkte er unsicher den Blick.

»Entschuldigen Sie, Miss Collins. Wir hatten Sie nicht bemerkt.« Miranda wirkte leicht durcheinander.

Gwen stieg die Treppe hinunter. Ratlos schaute sie zwischen dem Mann und Miranda hin und her.

Der Mann sah sie an, als wäre sie eine Erscheinung. Auf Gwen wirkte es wie ein unverhohlenes Starren. Es war ihr unangenehm. Er blinzelte nicht ein einziges Mal, als er ihr seine Hand reichte.

»Sie müssen Gwen sein. Gwendolin«, verbesserte er sich schnell.

»Und Sie sind?« Ungeduldig ignorierte sie seinen Gruß.

»Riley Jacobs.« Er ließ seine Hand sinken und führte sie hinter den Rücken, dabei sah er sie fortwährend an. Gwen blickte ihm entgegen, wartete darauf, dass er seiner Vorstellung noch etwas mehr hinzufügte.

»Sagen Sie, Mr. Jacobs, pflegen Sie alle Frauen in England so anzustarren oder bin ich eine Ausnahme?«

Verunsichert wandte er den Blick von ihr ab. »Es tut mir leid. Nein, für gewöhnlich starre ich Frauen nicht so an. Und ja, Sie sind die Ausnahme.«

Gwen lächelte ein bisschen. »Dann darf ich mich wohl geschmeichelt fühlen.«

Er seufzte tief. Auf einmal wirkte er sehr bedrückt.

»Es ist ein wenig gewöhnungsbedürftig.« Er machte eine Pause und holte tief Luft. »Sie sehen ihr wirklich sehr ähnlich.«

Gwen runzelte die Stirn.

»Ich bin … ich war Marshas Verlobter«, erklärte er. »Wir haben telefoniert. Erinnern Sie sich?«

Gwen stand da wie versteinert. Was hatte dieser Mann gerade behauptet? So lange sie zurückdenken konnte, hatte sie nie einen Freund ihrer Schwester kennengelernt und jetzt sollte sie sogar verlobt gewesen sein. Hatte Marsha ihr das die ganze Zeit über erzählen wollen?

Gwen atmete schwer. »Ja, ich erinnere mich vage.«

Er nickte beklommen. »Es war nicht leicht für mich Sie anzurufen, um Ihnen diese Nachricht zu übermitteln. Schließlich kennen wir uns nicht – zumindest nicht persönlich. Marsha hat mir viel über Sie erzählt. Deswegen habe ich irgendwie das Gefühl Sie zu kennen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe gedacht, Sie würden es lieber von mir erfahren als von der Polizei. Marsha hat Ihnen ja sicher von mir erzählt.«

»Ich nehme an, das hatte sie vor. Sie wollte es mir sagen …« Gwens Stimme brach ab.

»Sie arbeiten viel.« Er nickte wissend. »Marsha hat das immer verstanden.«

Gwen konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Hektisch kramte sie in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.

»Hier.« Er hielt ihr eines hin. »In diesen Tagen habe ich davon immer mehr als genug.«

Reglos schaute Gwen auf das Taschentuch in seiner Hand. Sie wollte nicht, dass sie jemand weinen sah, erst recht nicht dieser Mann. Der, nach allem, was sie nun wusste, ihrer Schwester in den letzten Monaten nähergestanden hatte als sie. Widerwillig nahm sie dennoch an und wandte sich ab, während sie ihre Tränen trocknete.

»Miranda, würden Sie uns bitte einen Tee machen«, bat er. Gwen drehte den Kopf in seine Richtung. Beide sahen zu wie die Hausdame seiner Anweisung folgte.

»Entschuldigen Sie bitte. Aber, ich denke, das wäre wohl meine Aufgabe gewesen«, sagte Gwen stockend. Es kam ihr dumm vor, ihn darauf hinweisen zu müssen, dennoch hatte sie sich nicht zurückhalten können. Für gewöhnlich hielt sie nichts davon, dass sich die Leute strikt an Konventionen hielten, aber in diesem Fall fühlte sie sich übergangen.

»Natürlich.« Er schaute sie irritiert an. »Verzeihung. Es ist wohl irgendwie zur Gewohnheit geworden.«

Gwen zog die Nase hoch und verstaute das Taschentuch in ihrer Jacke. Seufzend richtete sie sich auf. »Ist schon in Ordnung. Ich reagiere wohl etwas über. Das kommt gerade häufiger vor. Ich weiß einfach nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Das ist doch nur verständlich. Sie müssen sich nicht entschuldigen.«

»So traurig es auch klingen mag«, begann sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich vermute, dass ich allen Grund dazu gegeben habe, dass man mich übergeht oder vergisst. Ich habe mich viel zu selten hier blicken lassen. Die Verantwortung für das Schloss, für Tante Kate … alles habe ich auf Marsha geladen und so getan, als würde es mich nichts angehen. Eigentlich kann ich es niemandem hier übelnehmen, wenn er an meine Anwesenheit nicht mehr gewöhnt ist. Da ändert es auch nichts, dass ich aussehe wie sie – wie Marsha.«

Die Wahrheit tat weh. Gwen hatte nicht vorgehabt, sie vor ihm auszusprechen. Es war einer Beichte gleichgekommen, die die Last von ihr nahm, die sich die ganze Zeit über in ihr angestaut hatte. Verlegen sah er nun an ihr hinauf, als wüsste er nichts dazu zu sagen. Unabsichtlich hatte sie ihn in eine unangenehme Situation gebracht. Sie musste das peinliche Schweigen, das sie hinaufbeschworen hatte, durchbrechen.

»Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe. Ich bin zurzeit einfach nicht ich selbst.« Sie biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie noch mehr unvorsichtige Worte hinausjagte, die ihr Innerstes nur allzu gut widergaben. Er musste ja nicht wissen, wie emotional instabil sie war.

»Ich sollte jetzt besser zu meiner Tante gehen«, erklärte sie nachdem er immer noch nichts gesagt hatte. »Sie erwartet mich sicher.« Sie wandte sich zum Gehen und fasste sich an die Stirn.

»Was ist mit dem Tee?«, fragte er gedehnt.

Sie drehte sich nochmals zu ihm um. »Später vielleicht.« Er nickte und betrachtete sie mitfühlend.

Auf dem Weg in die obere Etage schaute Gwen sich nicht um, dennoch spürte sie seinen Blick auf sich. Er war drängend und neugierig. Hatte er vielleicht etwas zu verbergen? Ihre Gedanken gingen haltlos mit ihr durch. Sie versuchte einen klaren Kopf zu bewahren, aber das Herz schlug ihr bis zum Hals. Als sie außer Sichtweite war, hielt sie inne und atmete durch. Was dachte sie bloß? Er war nicht mehr als ein harmloser Kerl. Der Mann, den Marsha geheiratet hätte, wäre sie nicht gestorben. Selbst wenn er sich vor ihr wie der Hausherr aufspielte, er hatte nichts mit ihrem Tod zu tun. Trotzdem drängte sich Gwen die Frage auf, warum er nicht besser auf sie aufgepasst hatte. Seufzend setzte sie ihren Weg in das Schlafzimmer ihrer Tante fort. Die Trauer hatte sich in Wut gewandelt. Eine Wut, die sich gegen sie selbst richtete. Riley Jacobs war am Ende vermutlich der wichtigste Mensch in Marshas Leben gewesen. Und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihn zu verdächtigen den Autounfall ihrer Schwester herbeigeführt zu haben. Es gab nur eine Erklärung für ihr absurdes Verhalten. Sie suchte nach jemandem, dem sie die Schuld an allem geben konnte. Dabei hatte sie tief in ihrem Inneren längst Gewissheit. Etwas, das sich mit jedem Tag weiter in ihre Seele fraß. Abermals hörte sie die Stimme, die seit Marshas Tod ihre Gedanken füllte. Und diese hatte nur eine einzige Botschaft: Hätte sie sich für Marsha Zeit genommen, wäre sie vielleicht noch am Leben.

Leise betrat Gwen das Zimmer ihrer Tante. Es war düster und stickig. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel gebündelt zwischen den beiden royal blauen Schals hindurch. Gwen ging auf ihre Tante zu, die ruhig in ihrem Eichenbett lag. Einen Moment betrachtete sie die friedlich daliegende Frau, dann rümpfte sie die Nase. Ein honigsüßer Geruch lag in der Luft. Er war so stark, dass Gwen davon übel wurde. Die alte Dame gab ein Stöhnen von sich.

Gwen setzte sich auf die Bettkante.

»Tante Kate?« Vorsichtig ergriff sie ihre Hand, als diese ihren Kopf drehte. Kates Augen waren klein, ihre Atmung war flach. Auf dem Nachttisch der anderen Bettseite stand eine wassergefüllte Karaffe mit einer Zitronenscheibe darin. Daneben befand sich ein gerahmtes Bild, auf dem ihre Schwester und sie beim Reiten zu sehen waren. Unwillkürlich starrte Gwen es an. Sie erinnerte sich gut an den Tag, an dem es aufgenommen worden war. Es war Frühling gewesen und sie beide hatten gerade ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert. Damals waren sie fröhlich und guter Dinge – in dem Wissen, dass sie das Leben noch vor sich hatten. Tante Kate hob zittrig die freie Hand und legte sie an Gwens Wange. Der Anflug eines Lächelns umspielte ihren Mund, gleich darauf weiteten sich ihre Augen, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Tante, ich bin es, Gwen.« Sie zwang sich zu lächeln. Der Mund der alten Dame öffnete sich ein wenig. Ihre Lippen formten lautlose Worte.

»Ich bin jetzt da«, versicherte Gwen. »Und ich werde mich um alles kümmern. Es wird alles gut werden. Du wirst schon sehen.«

In Wahrheit glaubte sie selbst nicht daran, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie musste ihrer Tante das Gefühl vermitteln, dass es so sein würde. Dass das Leben auf Belvoir Castle weiterging, auch wenn die Person, die es neben Kate am meisten verehrt hatte, nicht mehr da war. Nie wieder würde Marsha das Schloss mit ihrem ansteckenden Lachen erfüllen. Der Duft ihrer köstlichen Zitronenscones würde nie mehr durch die Hallen strömen. All das war Vergangenheit. Ein weiterer Mauerstein auf Belvoir Castle, ein weiteres Familienmitglied, das seine Spuren hinterließ und die Schlossgeschichte mit einem tragischen Schicksal nährte.

»Ich bin da«, sagte Gwen.

Ihre Tante presste die Lippen aufeinander, als wollte sie ansetzen, ihr etwas zu erwidern, doch außer einem rauen Stöhnen brachte sie nichts hervor.

»Mach dir keine Sorgen. Ich bin jetzt da.« Gwen strich ihr das graue Haar aus der Stirn. Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie der Anblick der gebrechlichen Frau schockierte. Im Vergleich zu ihrem letzten Besuch hatte sich deren Zustand sehr verschlechtert. Marshas Tod hatte wahrscheinlich seinen Teil dazu beigetragen, auch wenn niemand sagen konnte, wieviel die Herzogin noch von ihrer Umwelt wahrnahm. Für Kate war Marsha wie eine Tochter gewesen und Marsha hatte sie als eine Art Ersatzmutter betrachtet. Etwas, das Gwen aus eigener Entscheidung nicht gelungen war. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte sie sich vor allem verschlossen. Die Zwillinge waren zusammen mit Kates einzigem Sohn Henry aufgewachsen, der zehn Jahre älter war als sie. Kates Ehemann, der Duke of Rutland, war kurz nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes bei einem Jagdausflug ums Leben gekommen. Kate hatte nicht nur die drei Kinder allein großgezogen, sondern auch dafür gesorgt, dass das Schloss, als Mittelpunkt des Rutland Erbes, erhalten blieb. Jahrelange Fehlinvestitionen und falsche Bewirtschaftungen des Landes durch ihren Mann hatten sie beinahe zum Verkauf des Schlosses gezwungen. In dieser schier aussichtslosen Lage war es Kate gewesen, die nicht aufgeben hatte. Sie hatte überlegt, wie ein Schloss am besten zu unterhalten war, und damit begonnen Belvoir Castle für den Tourismus freizugeben. Seitdem hatte es im Schlosspark und im Foyer, mit dem angrenzenden Wintergarten, regelmäßig Führungen sowie Hochzeiten gegeben. Auch das alljährliche Sommerfest hatte dem Schloss mit steigender Bekanntheit einen ordentlichen Ertrag eingebracht. Dass das Schloss nach fast fünfhundert Jahren immer noch im Familienbesitz war, verdankte es ihr – der Tochter eines Fischers aus Hampshire. Mit fünfundvierzig Jahren hatte sie die Tatsache akzeptiert, nach einem Treppensturz, von der Hüfte abwärts gelähmt zu sein. Was das Leben ihr auch immer aufgetragen hatte, sie hatte stets das Beste daraus gemacht. Und dafür bewunderte Gwen sie. Von Marsha, die Kates Aufgaben in den letzten Jahren übernommen hatte, hatte sie erfahren, dass es dennoch nicht einfach war, alle Kosten zu decken. Der Westflügel war seit Jahren renovierungsbedürftig. Aber dafür fehlte das Geld.

»Brauchst du irgendetwas? Kann ich etwas für dich tun?« Gwen legte die Hand über die ihrer Tante und drückte sie leicht.

Kate schlug die Augen nieder.

»Es tut mir so leid, dass ich nicht da war.« Gwens Stimme brach ein. »Ich hätte bei euch sein sollen, dann wäre sie vielleicht noch da.«

Sie sank in sich zusammen. Kates Blick war nun wacher. Sie hatte ihn auf das Fenster gerichtet, dessen Vorhänge das Tageslicht fernhielten. Gwen atmete hörbar ein, der extrem süße Duft verursachte bei ihr Kopfschmerzen. »Soll ich die Vorhänge aufziehen, Tante?« Sie ging um das Bett herum, um ihr ins Gesicht sehen zu können und eine mögliche Regung zu erfassen. »Möchtest du, dass ich ein wenig Licht und frische Luft hereinlasse?«

Kate starrte mit ausdrucksloser Miene vor sich hin. Für einen Moment stand Gwen einfach nur da und betrachtete ihre Tante, die wie gefangen schien im eigenen Körper. So hatte sich die einst so starke Schlossherrin ihren Ruhestand sicher nicht vorgestellt. Gwen drehte sich zum Fenster und schob einen Vorhang zur Seite. Die Sonne war zwischen den Wolken hervorgekommen. In ihrem Licht, das auf die Tagesdecke fiel, glitzerten feinste Staubpartikel.

»Hier drin ist es so drückend«, murmelte Gwen, während sie das Fenster öffnete. Mit der frischen Luft drangen auch die Gesänge der Vögel hinein, die in den Weiden und Eichen des Schlossgartens nisteten.

»Die Rosen blühen noch immer«, sagte Gwen, weil sie wusste, wie sehr ihre Tante sie liebte. »In diesem Jahr ist der Garten wieder besonders hübsch anzusehen. Wenn es dir besser geht, werden wir beide unseren Tee wieder im Pavillon einnehmen. Genau wie früher.«

Ein melancholisches Lächeln huschte über Gwens Gesicht. Sie füllte ihre Lunge mit Frischluft und ging zurück zum Bett, wo sie sich erneut auf die Kante setzte. Nachdenklich betrachtete sie ihre Tante, die immer noch teilnahmslos vor sich hinschaute.

»Versuch ein wenig zu schlafen. Ich werde gleich noch einmal nach dir sehen.«

Gwen küsste sie auf die Stirn. Sie wollte gerade aufstehen, da schloss Kate den Griff fest um ihr Handgelenk.

»Tante? Was hast du?«

Gwen kam nah an sie heran. Kate starrte sie aus geweiteten Augen an. Ihre Lippen formten zunächst nur lautlose Worte.

»Ich verstehe dich nicht.« Gwen führte ihr Gesicht noch näher an ihres.

»Sieh«, brachte Kate flüsternd hervor und plötzlich war es eiskalt im Raum. »Sieh«, sagte sie wieder, ohne ihren Griff um Gwens Handgelenk zu lockern.

»Was meinst du, Tante?«, erkundigte sich Gwen ratlos und blickte sich um. »Was soll ich sehen?«

Kate richtete sich etwas im Bett auf. Ihr erschrockener Blick ging zum Bettende, als würde sie jemanden fixieren. Zögernd schaute Gwen sich um. Ihr Herz hämmerte. Ohne, dass sie sagen konnte warum, fürchtete sie das Nichts, das sie am Bettende sah. Kate stieß ein lautes Röcheln aus und sank zurück in die Kissen. Sie ließ die Hand, die gerade noch fest um die ihrer Nichte geschlossen gewesen war, schlapp zur Seite fallen und schloss die Augen. Schockiert betrachtete Gwen ihre Tante, die nun wieder ruhig dalag. Kates Atem ging rasch, aber regelmäßig. Es war, als wäre sie von einem bösen Traum in einen friedlichen zurückgekehrt. Gwen deckte sie fürsorglich zu. An Kates Bett stehend fühlte sie noch einmal in den Raum hinein. Die Eiseskälte, die sie bis vor wenigen Minuten noch gespürt hatte, war fort. Draußen schien noch immer die Sonne. Kein Wind bog die Wipfel der mächtigen Eichen im Schlossgarten, kein Luftzug ging durch den Raum. Der September war kühler als gewöhnlich, aber damit ließ sich die Kälte trotzdem nicht erklären, die Gwen wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich war sie einfach völlig übermüdet, außerdem war Kates Zustand ein kleiner Schock für sie, den sie nicht so leicht abtun konnte. Ihre Tante hatte sich verändert. Gwen würde sich erst daran gewöhnen müssen. So etwas brauchte Zeit. Trotz dieser Erklärungen blieb eine gewisse Unsicherheit in ihr zurück. Und schon jetzt fürchtete sie sich ein wenig davor, ins Zimmer ihrer Tante zurückkehren zu müssen.

Zwei 

Belvoir Castle, Leicestershire – Gegenwart 

Unten hatte Miranda Tee und Gebäck serviert. Der Salon, mit seiner hohen Kassettendecke und dem filigranen Stuck gehörte für Gwen schon immer zu den schönsten Räumen des Hauses. Vor dem Panaromafenster mit Blick auf den Vogelbrunnen und dem dahinterliegenden Hügel mit den Grabstätten der Rutlands, saß Riley Jacobs inmitten einer barocken Sitzgruppe. Die Beine lässig übereinandergeschlagen nippte er an einer Tasse Tee.

Unsicher sah Gwen zu ihm, denn er schien ihr Kommen nicht bemerkt zu haben. Gedankenversunken schaute er aus dem Fenster. Die alte Standuhr, neben der Tür, schlug zur zwölften Stunde und Gwen zuckte verschreckt zusammen. Auch Riley wurde von dem monotonen Gong aus seiner Konzentration gerissen. Aufmerksam hob er den Kopf und lächelte verhalten.

»Da sind Sie ja wieder.« Sorgsam stellte er seine Tasse auf dem Tisch ab und erhob sich aus seinem Sessel. »Und? Haben Sie Ihre Tante besucht?«

Gwen nickte und machte es sich ihm gegenüber bequem.

»Es muss schwer sein, sie so zu sehen. Sie ist sehr krank.« Er griff nach der silbernen Kanne und füllte eine zweite Tasse. »Zucker?«

Sie hob abwehrend eine Hand. »Nein, danke. Ich denke da eher an etwas Stärkeres.« Sie zog eine kleine Whiskeyflasche aus ihrer Hosentasche, die sie zuvor an der Tankstelle gekauft hatte und schüttete sich davon in die Tasse. Riley betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen.

»Sie auch, Mr. Jacobs?«

»Oh, nein danke. Ich trinke nicht.«

»Nie?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann dem nichts abgewinnen.«

»Ich normalerweise auch nicht. Aber in diesen Tagen lässt sich Manches damit besser ertragen.« Sie führte die Tasse an ihre Lippen und trank.

»Naja, in meiner Arbeit sehe ich andauernd, wie Menschen versuchen, im Alkohol Trost zu finden. Entscheidend ist, zu wissen, wann es genug ist.«

Gwen stellte die Tasse auf den Tisch und sah ihm direkt ins Gesicht. Die Art und Weise, wie er mit ihr sprach, gefiel ihr nicht. Es hatte etwas Vorwurfsvolles.

»Und was genau tun Sie, Mr. Jacobs?«

»Wollen Sie mich nicht Riley nennen?«, entgegnete er statt einer Antwort. »Schließlich wären wir fast verschwägert gewesen.«

»Fast, ja«, erwiderte sie mit trotzig vorgerecktem Kinn.

»Wenn es Ihnen unangenehm ist, ist das auch in Ordnung.«

»Nein«, gab sie nach. »Mir soll es recht sein. Riley also.«

»Gut.« Er lächelte versöhnlich.

Für einen Augenblick blieb es still zwischen ihnen.

»Um auf deine Frage zurückzukommen«, begann er ausgleichend. »Ich bin Dozent an der Universität von Leicester.«

»Interessant.« Sie lehnte sich zu ihm vor. »Und was genau unterrichtest du?«

»Psychologie.«

Das erklärte so einiges. Gwen nickte langsam und fragte sich währenddessen, wie ihre Schwester ausgerechnet an einen Psychologen gekommen war.

»Also … heißt es genau genommen Doktor Jacobs?»

»Genaugenommen ja.« Er lächelte verlegen. »Wir sind uns gar nicht so unähnlich.«

Gwen runzelte die Stirn. »Du meinst abgesehen davon, dass ich die Leute aufschneide und du dich mit ihrer Psyche beschäftigst.«

Er lachte. »Stimmt.«

Gwen musste lächeln und für kurze Zeit vergaß sie fast, was sie beide zusammengeführt hatte.

»Wie war dein Flug?«

»Okay.«

Er musterte sie aufmerksam. »Chicago. Das ist ziemlich weit weg.«

»Das ist es.«

»Soll ich Miranda sagen, sie soll das Abendessen früher zubereiten? Du musst doch Hunger haben.«

»Nein. Alles gut«, entgegnete sie schnippisch. Wann würde er endlich aufhören, so zu tun, als wäre dies sein Schloss? Gwen konnte sich ein leises Grummeln nicht verkneifen.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, hakte er nach.

»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich hier wie einen Besucher behandelt«, stellte sie klar. »Aber vermutlich habe ich das verdient.« Sie trank ihre Tasse leer.

»Entschuldige bitte.« Reue stand in Rileys Gesicht. »Ich schätze, ich versuche nur mit der Situation umzugehen.«

»Schon okay. Irgendwie fühle ich mich ja sogar mehr wie ein Besucher hier.« Erst jetzt merkte sie, wie verkrampft sie eigentlich dasaß.

»Verzeih die Frage, aber … hast du vor, das zu ändern?«

»Wenn du damit wissen willst, ob ich hier bleibe, dann lautet die Antwort nein. Ich muss zurück nach Chicago. Da findet mein wahres Leben statt.«

»Dein wahres Leben«, wiederholte er tonlos, als wäre er sich nicht sicher, was sie damit meinte. »Und was wird aus dem Schloss und deiner Tante?«

»Ich habe vor, eine feste Pflegekraft für sie einzustellen. Jemand, der rund um die Uhr im Haus ist und jemand, der das Haus verwaltet.«

»Dann hast du alles schon genau geplant?«

»Das habe ich. Irgendwie muss es ja weitergehen.«

»Marsha sagte mir mal, dass du dich nie so richtig mit dem Schloss identifizieren konntest. Ist das wahr?«

Sie nickte.

»Ich vermute man muss es im Blut haben?«

»So ähnlich«, antwortete sie knapp.

»Marsha hing sehr an diesem Haus«, fuhr er fort.

Gwen wunderte sich, warum er das Gespräch erst jetzt auf sie lenkte. »Sie war die romantische von uns beiden, sehr familiär, aber auch etwas unrealistisch in ihren Vorstellungen. Eine Fantastin halt.«

»Ihr wart euch wohl nicht immer in allem einig.«

»So gut wie nie.« Gwen lächelte, in Erinnerungen schwelgend. »Marsha hat es mir viel zu oft recht gemacht.«

»Sie ist Kompromisse eingegangen«, stimmte er ihr zu.

Gwen zuckte die Achseln. »Von Kompromissen profitiert aber immer nur einer. Während der andere zurücksteckt. Ich habe das früher nie richtig verstanden. Jetzt sehe ich das mit anderen Augen.«

»Wie das so ist, wenn Menschen plötzlich nicht mehr da sind«, raunte er und blickte wieder aus dem Fenster.

Gwen biss die Zähne zusammen und schluckte eine Erwiderung hinunter. Hatte Riley sie soeben verurteilt? Es war eine Sache, sich selbst runterzumachen. Er musste nicht noch Salz in die Wunde streuen. Von einem Psychologen hatte sie ein feinfühligeres Vorgehen erwartet, aber sie wollte ihm jetzt keine Szene machen. Gwen war nicht in der Verfassung für einen Streit mit Marshas Verlobtem. Erst recht nicht, so kurz vor deren Beerdigung. Der Grund, weshalb sie beide hier zusammen waren, war belastend genug. Gerade als sie dachte, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte, ging die Tür auf. Gwen drehte den Kopf und ihr fuhr der Schreck in die Glieder, als sie Marc DeWarenne erblickte.

»Auch das noch«, murmelte sie. Sie war auf vieles gefasst gewesen, aber nicht darauf ihren Ex wiederzusehen.

»Entschuldigt die Verspätung«, sagte er, drückte Miranda, die mit ihm den Salon betreten hatte, Mantel und Schal in die Hände und näherte sich Gwen und Riley.

»Lange her, Gwendolin. Darf ich dir mein Beileid aussprechen?« Er hielt ihr seine Hand hin.

Gwen hatte sein Auftritt die Sprache verschlagen. Auch Rileys Miene verriet, dass er nicht gut auf Marc zu sprechen war. Warum auch immer. Verunsichert führte Marc die Hand hinter seinen Rücken, nachdem Gwen seine Geste ignoriert hatte. Hinnehmend setzte er sich zwischen Gwen und Riley und bediente sich an den Keksen, die Miranda soeben auf den Tisch gestellt hatte.

»Bei dem Blick komme ich mir ja doch recht unwillkommen vor, Gwendolin«, murmelte er beiläufig.

»Das bist du auch«, versicherte sie ihm kühl. »Was genau machst du überhaupt hier?«

»Marc ist ein Gönner des örtlichen Museums«, verriet Miranda, die an der Tür stand. »Außerdem ist er dessen Geschäftsführer. Er hat eng mit Ihrer Schwester zusammengearbeitet. Die, wie Sie ja wissen, die Fördergelder verwaltet hat.« Gwen entfuhr ein Grummeln. Sie konnte sich ein wenig Zynismus nicht verkneifen. »Ein Gönner, ja? Unser Marc, selbstlos wie eh und je.«

Als wäre ihm die Zweideutigkeit in Gwens Worten nicht bewusst, zuckte Marc mit den Schultern.

»Bist du deswegen hier?«, setzte Gwen nach. »Wegen irgendwelcher Gelder?«

»Ich bin hier wegen Marsha«, antwortete er kalt und die Blicke der beiden verfingen sich kurz ineinander.

»Was Gwen damit sagen will …«, mischte sich Riley ein, der ungehalten wirkte. »Die Zeit vor der Beerdigung sollte der Familie vorbehalten sein, um in Ruhe Abschied zu nehmen.«

Marc schaute ihn herausfordernd an. »Zum Glück gehöre ich sozusagen zur Familie, genau wie du Riley. Oder?«

»Tust du nicht!«, zischte Gwen.

»Das sieht Tante Kate anders«, erwiderte Marc.

»Sie ist nicht deine Tante!«