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Immergrün leuchtet die Weihnacht.
Schwarzwald, 1815: Anneliese ist erst sechzehn, als ihr Vater tödlich verunglückt und sie in seine Fußstapfen als Holzfällerin treten muss. Doch ihre Familie ist hoch verschuldet, und auf dem Freiburger Markt kann sie mit ihrem Holz kaum etwas verdienen. Da erinnert sich Anneliese an den heidnischen Brauch, Bäume in der Winterzeit festlich zu schmücken. Kurzerhand bietet sie ganze Tannen zum Verkauf an, die sie mit Äpfeln, Nüssen und kleinen Schnitzfiguren dekoriert – eine Sensation! Mit ihren Weihnachtsbäumen zieht Anneliese jedoch nicht nur die Aufmerksamkeit der Marktbesucher auf sich, sondern auch die des jungen Friedrich von Bergen …
Voller Licht und Wärme – die Geschichte einer der beliebtesten Weihnachtstraditionen: des geschmückten Tannenbaums.
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Seitenzahl: 323
Anneliese wohnt mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Kasper in einer kleinen Holzhütte inmitten des verwunschenen Schwarzwaldes. Als ihr Vater eines Tages tödlich verunglückt und kurz darauf ihre Mutter schwer erkrankt, muss die Sechzehnjährige plötzlich um das Auskommen der Familie kämpfen. Doch der Holzverkauf auf dem Freiburger Markt bringt kaum Gewinne ein, denn die meisten Stadtbewohner machen einen großen Bogen um das Mädchen aus dem Wald, das sie für sonderbar halten. Dann erinnert sich Anneliese an den uralten Brauch des Gabenbaums. Um Trost zu finden, schmückt sie eine kleine Tanne für sich selbst und stellt sie an ihrem Stand auf. Auf einmal stehen Menschen vor ihr, die den Baum erwerben wollen. Unter ihnen ist auch ein alter Bekannter, und dieser macht ihr ein Angebot, das sie kaum ausschlagen kann …
Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Das Geheimnis der Hyazinthen«, »Beethovens Geliebte«, »Die Fabrik der süßen Dinge – Helenes Hoffnung« und »Die Fabrik der süßen Dinge – Helenes Träume« erschienen.
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Claudia Romes
Das Wunder der Tannenbäume
Roman
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Widmung
1: Rotkehlchen
2: Gespenster
3: Schwielen
4: Rosa
5: Märchen
6: Pfannkuchen
7: Sternschnuppen
8: Nachtisch
9: Unsichtbar
10: Was ewig währt
11: Das Bäumchen
12: Wendungen
13: Erwartungen
14: Eine andere Welt
15: Gefangen
16: Der Ruf des Waldes
17: Pflichten
18: Mätressen
19: Entscheidungen
20: Erscheinungen
21: Wahr geworden
Nachwort der Autorin
Impressum
Für Emily und Fabian. Immer für euch.
1
Der Schwarzwald ist ein mystischer Ort mit seinen einsamen Tälern, tiefen Schluchten, ungezähmten Bächen und kristallklaren Seen. Wo mächtige Weißtannen und Fichten dicht beieinanderstehen, wird das Licht jedoch verschluckt, lange bevor es die Erde erreicht. Schattengewächse tasten sich dort über den Boden – entschlossen, alles unter sich zu begraben, und genährt durch das, was der Zerfall hervorbringt.
Der Kreislauf des Lebens ist ein ewiger.
Am Morgen des 29. März 1815 schien der Wald Anneliese daran erinnern zu wollen. Die ersten Frühjahrsstürme hatten ihre Spuren hinterlassen. Stolze Kiefern und Buchen waren umgeknickt oder entwurzelt worden. Wegweiser. Orientierungshilfen, Freunde, die Anneliese von klein auf kannte. Tiefe Löcher klafften nun an Stellen, von denen aus die Bäume Jahrzehnte überblickt hatten. Frühmorgendlicher Nebel hing wie ein feuchter Schleier in der Luft. Zwischen tiefhängenden Ästen machten dicke Tautropfen gesponnene Spinnweben sichtbar. Noch schien es, als verweigere der Winter seinen Rückzug. Er schlich sich aus. Leise, bedächtig, vor allem aber kalt und nass. Bei genauem Hinsehen erkannte man wiederum an einigen Ästen und Zweigen bereits feine Erhebungen und durchschimmerndes, frisches Grün. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern würde. Unter der ruhigen, trüben Fassade sammelten Pflanzen und Tiere ihre Kräfte für den Frühling.
Anneliese staunte immer wieder darüber, wie selbstverständlich sich der Wald veränderte. Sie mochte alle Jahreszeiten, wenn auch der Transport des Holzes im Sommer angenehmer war als im Winter.
Sie ging an der Seite ihres kleinen Bruders Kasper neben dem schwer beladenen Fuhrwerk her, das über den unbefestigten Weg ratterte. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den Waldboden aufgeschwemmt, Furchen und Pfützen geformt, die das Vorankommen erschwerten. Mit weiten, schmatzenden Schritten trotzte der Neunjährige dem unwegsamen Gelände. Durch seine geringe Körpergröße war es ihm fast unmöglich, dem teils sumpfigen Untergrund zu entgehen. Unlängst war er bis zu den Knien im Schlamm versunken. Seine Jacke war übersät mit braunen Sprenkeln. Wann immer sich die feuchte Erde wieder an sein Bein saugte, schimpfte und donnerte er. Die Bedingungen an diesem Morgen waren sicher nicht die besten, aber für März auch nicht ungewöhnlich.
In regelmäßigen Abständen schaute sich Johannes Holl nach seinen beiden Kindern um, grinste ihnen über seine Schulter hinweg zu und klopfte seine derben Stiefel an Steinen ab, damit sich die Erdklumpen lösten, die wie festgeleimt waren. Annelieses Vater war breit gebaut. Seine muskulösen Schultern zeugten von harter körperlicher Arbeit. Ein Holzfäller musste unverwüstlich und kräftig sein. Zweifellos entsprach Johannes Holl diesem Kriterium – ebenso wie Tarik, sein gutmütiger Dunkelbrauner mit der hellen Mähne. Seit Jahren zog der Gaul zuverlässig die schweren Stämme aus dem Wald und den Holzwagen ins Dorf. An diesem Morgen hatten die beiden allerdings mehr Mühe als sonst, voranzukommen, so dass Anneliese und Kasper tatkräftig mitanpacken, schieben und ziehen mussten.
Der Saum von Annelieses Kleid war vollgesogen, ihr Rock schwang schwer wie Blei um ihre Hüften. Doch Kaspers Wutausbrüche lenkten sie von diesem Umstand ab. Schmunzelnd beobachtete sie, wie er zeternd und schnaubend seinem Unmut Luft machte. Mitleid hatte sie nicht. Immerhin hatte er den Vater angebettelt, sie begleiten zu dürfen. Obwohl dieser ihn eindrücklich gewarnt hatte: Der Wald war zu dieser Jahreszeit ein anderer. Und Kasper war klein für sein Alter.
Seine körperliche Zartheit hatte seiner Mutter Marva früher große Sorge bereitet, denn beinahe hätte er es nicht über das Kleinkindalter hinausgeschafft. Anneliese erinnerte sich daran, wie sie alle an Halsbräune litten. Während ihre Eltern und sie sich rasch erholt hatten, blieb Kasper monatelang ans Bett gefesselt. Damals hatte ihre kräuterkundige Mutter aufgefahren, was die Heilkunst hergab, um ihren Sohn vor dem Tod zu bewahren. Ein Trunk aus Senfölen unterschiedlicher Kreuzblütler zwang die niederträchtige Krankheit dann endlich zum Rückzug.
Inzwischen war Kaspers Gesundheit stabiler geworden und Marva weniger ängstlich, was ihn betraf. Trotzdem hielt sie nach wie vor schützend ihre Hand über ihn, als fürchtete sie, ihren Sohn doch noch zu verlieren. Auch seinen heutigen Wunsch, Anneliese und Johann helfen zu dürfen, hatte sie ihm zunächst verweigert. Aber ihr kleiner Sohn war hartnäckig geblieben. Kasper hatte die gleichen dunklen Augen, das gleiche dunkle Haar wie sie, während Anneliese ganz nach dem Vater schlug: helles Haar und grüne Augen. Kein sattes Grasgrün, sondern vielmehr die Farbe von frischen, jungen Keimlingen, die sich neugeboren der Sonne entgegenreckten.
Anneliese war mittlerweile sechzehn. Kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau. Weder Raupe noch Schmetterling. Ihre Metamorphose hatte noch nicht stattgefunden, und glücklicherweise drängten ihre Eltern sie zu nichts. Es blieb ausreichend Zeit, Anneliese auf die Pflichten einer Haus- und Ehefrau vorzubereiten.
Bis es so weit war, gewährten sie ihren Interessen Vorrang, zu denen unweigerlich der Wald gehörte. So waren Anneliese die Fällarbeiten des Vaters lange vertraut. Kasper hingegen war erst im vergangenen Spätsommer darin unterwiesen worden. An einem schwülwarmen Tag, an dem die Luft von Mückenschwärmen geschwängert gewesen war und die hiebsreifen Bäume in vollem Saft gestanden hatten. Üblicherweise wurden sie im Winter geschlagen, wenn keine geschlossenen Blätterkronen die Sicht minderten. Für den neuen Dachstuhl des Gemeindesaals von Rietbach war jedoch zusätzliches Holz benötigt worden, und Johannes hatte eine Ausnahme gemacht.
Das Geld hatten sie gut gebrauchen können. Die Kinder hatten davon jeweils ein Paar feste Schuhe bekommen, und es hatte sogar für den gusseisernen Ofen noch gereicht, auf den Marva schon so lange gehofft hatte.
Prüfend überblickte Anneliese die geschälten Baumstämme, die wie rohes Fleisch im aufkommenden Tageslicht glänzten. Ihr Vater hatte sie geteilt, penibel auf den Anhänger gestapelt und sie mit einem breiten Lederriemen festgezurrt. Bisher hielten sie dem Ruckeln und Holpern stand. Kurz schweifte ihr Blick über die Blausterne, die den Waldboden zu den Seiten bedeckten und nun wie Pfeile durch den Dunst stachen. Jahr für Jahr wuchsen sie zwischen den weißen Buschwindröschen und hoben sich vom Braun der Erde ab, als wäre es ihre heilige Pflicht, dem Wald Farbe zu verleihen. Ein Bussard flog kreischend über ihren Wagen hinweg und segelte zur Lichtung auf der anderen Seite der Bergkuppe.
»Mir ist kalt«, seufzte Kasper gedehnt.
»Es ist nicht mehr weit.« Anneliese legte ihm ihren Schal um die Schultern und rubbelte über seine Oberarme. Ihr Atem stieg als dampfende Wolke zwischen ihnen auf. Anneliese war ausgekühlt, wagte es aber nicht zu jammern. Ihr Vater jedenfalls beklagte sich nie und er war ihr Maßstab.
»Daheim wartet auf uns ein herrliches Feuer, und bestimmt hat Mutter eine köstliche heiße Suppe zubereitet.«
»Mit Kartoffeln?« Kasper schaute hoffnungsvoll zu ihr auf.
»Mit reichlich Kartoffeln.« Der Gedanke an die gemütliche Stube wärmte Anneliese, und sie hielt ihn fest, schlug sich den Mantelkragen hoch und widmete sich wieder ihrer Aufgabe: die Ladung zu kontrollieren und darauf zu achten, dass nichts vom Anhänger rutschte. Das forderte ihre volle Konzentration. Zwar hatten sie jüngst das letzte Stück des Weges erreicht, aber es war auch leicht abschüssig, dabei zerfurcht und zertreten, so dass sich die großen Speichenräder immer wieder in der durchtränkten Erde festfuhren.
Das fortwährende Versinken von Tariks Hufen hatte ihn erschöpft. Erneut machte es ihn bewegungsunfähig, als würden sich unsichtbare Hände an ihn klammern und ihn hinunterziehen wollen. Der Wagen ruckelte, und Anneliese schob. Kasper lehnte sich mit seinem Gewicht dagegen, während der Vater Tarik bei den Zügeln packte.
»Vorwärts«, spornte er ihn an. Laut und bestimmend, und gemeinsam schafften sie es, Tarik anzutreiben. Die Räder rollten wieder.
Anneliese kannte die Hindernisse, mit denen sie von Zeit zu Zeit zu tun hatten. Seit ihrem zehnten Lebensjahr half sie ihrem Vater, das geschlagene Holz aus dem Wald zu holen, und trotzte dabei Mühsal und Kälte. Die frühen Morgenstunden, wenn alles gerade erst erwachte, waren ihr sogar die liebsten. Denn dann, so hatte sie das Gefühl, gab es außer ihnen keine Menschen auf der Welt.
Der Wind rauschte durch die Wipfel, und Anneliese richtete ihren Blick hinauf zur hohen Krone einer Buche, von der aus ein Rotkehlchen mit seinem Gesang den Sonnenaufgang ankündigte. Perlend und wehmütig, dachte sie, während sie den Baum nach dem Vogel absuchte. Das Brüten hatte gerade begonnen. Überall zwischen den Ästen und Sträuchern fanden sich nun Gelege aus Moos, Halmen und Zweigen. Ob das Rotkehlchen wohl aus seinem frisch gemachten Nest heraus sang?
Tariks lautes Wiehern riss Anneliese brüsk aus ihrer Überlegung. Ein heftiges Ruckeln folgte, der Anhänger kam leicht in die Schräge und sie zum Stehen.
Johannes ließ ein lautes Stöhnen hören, setzte seine Mütze ab und rieb sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.
»Auch das noch! Bleibt zurück, Kinder.« Vor dem rechten Hinterrad ging er in die Knie.
Hinter ihm stemmte Kasper schnaufend die Hände in die Hüften. »Mindestens fünf Zoll tief im Dreck«, befand er fachmännisch.
»Das kriegen wir wieder hin.« Mit bloßen Händen schaufelte Johannes das Rad weitestgehend frei. Anneliese reichte ihm ein flaches Stück Holz und half ihm, es mit einer Schnur außen am Rad zu befestigten. Johannes hatte gerade Kasper nach vorn geschickt, damit er Tarik an den Zügeln ziehen konnte, wenn er das Zeichen gab, als ein lautes Rascheln aus dem Gebüsch klang. Äste knackten und knirschten im dichten Wald. Gleichzeitig fuhren Anneliese und ihr Vater hoch, spähten durch das Dickicht, lauschend auf die sich nähernden Geräusche. Angespannt scharrte Tarik mit den Hufen.
Anneliese kannte die Tiere des Waldes. Sogar den Räubern war sie bereits begegnet. Darunter Luchse, Braunbären und Wölfe. Die beiden Letzteren waren allerdings selten geworden – dafür hatten Jäger gesorgt.
»Bestimmt nur ein Auerhahn. Die sind …« Anneliese stockte. Ehe sie weitersprechen konnte, schoss ein aufgescheuchter Eber aus den Hecken, direkt vor den Wagen. Erschrocken wich Tarik zurück, kam gegen die Deichsel und bäumte sich auf. Kasper strauchelte und plumpste in den Graben. Unter lautem Wiehern stürmte der Hengst voran. Der sumpfige Untergrund stoppte das Fuhrwerk nach nur wenigen Metern so abrupt, dass Tarik kurz die Beine wegknickten. Sein schrilles Wiehern schallte durch den Wald. Es glich einem Schmerzschrei. Johannes näherte sich ihm vorsichtig, während Anneliese Kasper aus dem Graben half.
»Bist du verletzt?«
»Nein. Glaub nicht.« Maulend klopfte sich Kasper den Dreck von der Hose.
»Ho. Ruhig.« Johannes packte Tarik fest bei den Zügeln und redete leise auf ihn ein. Die Nüstern des Pferdes flatterten. Seine Augen waren weit aufgerissen. Eigentlich konnte Tarik nichts so leicht aus der Ruhe bringen, aber heute war irgendetwas anders. Während sie das Tier beobachtete, spürte Anneliese eine Beklemmung in sich aufsteigen, die sie nicht erklären konnte.
»Ruhig, mein Junge!« Johannes strich sanft über Tariks Nasenrücken. Der ließ ein stotterndes Wiehern hören, das sich anhörte wie eine Erklärung für sein plötzliches Lospreschen.
»Dieser dumme Eber«, sagte Kasper, als die Geschwister zu ihrem Vater aufschlossen. Er stellte sich neben Tarik und klopfte ihm den kräftigen Hals, dass es nur so staubte.
Anneliese wechselte einen vielsagenden Blick mit ihrem Vater und war sich nun sicher: Das Verhalten des Keilers war ungewöhnlich gewesen. Er hätte sie hören, riechen, sehen und auf Abstand zu ihnen gehen müssen.
Plötzlich durchzog ein lauter Knall die Gegend, und die drei zuckten zusammen. Vögel stiegen vom östlichen Waldrand auf, flüchteten in den Himmel.
»Da jagt wer.« In Kaspers Stimme schwang Unbehagen mit.
Erneut wechselte Anneliese einen Blick mit ihrem Vater.
»Wir müssen sehen, dass wir langsam heimkommen«, erwiderte dieser, schnalzte mit der Zunge und forderte Tarik mit einem bestimmenden »Hopp« zum Weitergehen auf.
Nur langsam ließ er sich vorantreiben. Der Schreck war noch nicht überwunden, da drang wieder ein Rascheln aus dem Wald. Tarik stellte die Ohren auf und wieherte ängstlich, bevor die Bache zu sehen war, die gehetzt ihren Weg kreuzte – drei Frischlinge im Schlepptau. Verstört riss der Hengst die Vorderbeine in die Höhe. Hinter ihm geriet der Wagen ins Wanken.
»Ruhig, mein Junge«, versuchte Johannes ihm zuzureden. Doch Tarik blieb aufgebracht, kam erneut auf die Hinterbeine. Das Holz ruckelte vor und zurück, die Deichsel brach. Der Riemen knirschte, spannte sich unter der enormen Gewichtsverlagerung an und riss. Ein schriller Schrei entwand sich Annelieses Kehle, als ihr Vater sie und Kasper im letzten Moment zur Seite stieß, bevor das Holz auf den Weg kippte und ihn unter sich begrub.
Dann war es plötzlich ganz still.
Fassungslos kauerten die Geschwister zwischen Weg und Wald im gestauten Pfützenwasser, starrend auf die Baumstämme. Anneliese kam es wie eine Ewigkeit vor, in der sie sich nicht rühren konnte. Ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht, fühlten sich an, als gehörten sie gar nicht zu ihr.
Wie konnte es mit einem Mal so still sein? Kein Wind, der durch die Äste pfiff, kein Luftzug auf ihrer Haut, nur eisige Kälte. Anneliese wollte etwas sagen, doch der Schock hatte ihr die Stimme geraubt. Neben ihr hockte Kasper, das Gesicht leichenblass, als wäre er in Gips gegossen.
Als sie endlich wieder die Kontrolle über ihren Körper gewann, richtete sie sich auf und packte ihren Bruder an den Schultern. Blinzelnd wandte er sich ihr zu.
»Papa?« Kaspers Blick glitt zu den Stämmen, als hätte er gerade erst wieder zurück in den Moment gefunden. Tränen glitzerten in seinen Augen. Dann riss er sich aufgebracht von Anneliese los.
»Papa? Papa?« Verzweifelt stolperte er näher an das Holz heran. »Bitte … sag doch was!«, schrie er, doch es kam keine Antwort.
»Kasper! Sieh mich an«, befahl Anneliese bemüht. Fahrig folgte er ihrer Weisung.
»Du gehst jetzt ins Dorf und sagst, was passiert ist. Hol den Heini her. Schnell. Lauf! Hol Hilfe!«
Kasper zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, nickte und rannte los. Nach ein paar Metern fiel er in den Matsch, rappelte sich auf und rannte weiter.
»Beeil dich, Kasper!«, brüllte Anneliese. Sie sah ihm nach. Sah, wie er bei der zweistämmigen Eiche um die Kurve bog und verschwand. Innerlich schalt sie sich selbst, den Gedanken nicht zuzulassen, dass jede Hilfe zu spät käme, während sie sich mühsam erhob und zu den gestapelten Stämmen wankte, die nun neben dem Wagen lagen. Davor scharrte Tarik mit dem Huf, als wartete er darauf, wieder angespannt zu werden. Anneliese schnappte nach Luft.
»Papa?« Eine Hand auf ihr wild schlagendes Herz gepresst, suchte sie mit dem Blick ihren Vater zwischen den Stämmen, ging um sie herum und stockte. Sein Arm ragte auf den Weg, zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und Anneliese rang erneut um Atem. Ein rotes Rinnsal kam unter dem Holz hervor, das die Wegfurchen füllte und sich mit dem Regenwasser mischte.
»Bitte! Papa?«, flehte sie verzweifelt, als könne sie dadurch das Schicksal beeinflussen, aber kein Geräusch war von ihrem Vater zu hören. Keine Bewegung zu erkennen.
Anneliese hob keuchend den ersten Stamm an, zerrte ihn zur Seite, schleifte einen nach dem anderen vorsichtig weg, um ihren Vater zu erreichen. Wie von Sinnen schleppte sie Holz, schrie unter der enormen Kraft, die sie dafür aufbringen musste. Die geschlagenen Spalten zerfetzten ihren Rock, schürften ihr die Arme auf. Splitter bohrten sich in ihre Finger.
Abgezehrt stolperte sie und landete platschend im Schlamm. Tränen kullerten ihre Wangen hinab und vermischten sich mit dem Schmutz, als sie ihren Vater endlich fast befreit hatte. Sie schrie erneut auf. Wütend und verzweifelt, weil sie den schweren Stamm auf seiner Hüfte nicht bewegen konnte. Auf allen vieren krabbelte Anneliese näher an ihren Vater heran. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt. Seine Augen waren halb geöffnet, Blut rann aus seinen Ohren und der zertrümmerten Nase. Anneliese riss sich zusammen und kam auf ihre Knie. Zitternd und bange versuchte sie seinen Herzschlag am Handgelenk zu ertasten.
»Bitte!«
Nur ein Wort, gepresst und stockend. Seine Hand war kalt. Ohne Puls. Eine übermächtige Schwere verengte ihr die Brust.
Anneliese fiel zurück, sog wie eine Ertrinkende den Atem ein und schluckte mühsam. Sie vermied es, den Wagen anzusehen – die Fracht, die ihren Vater erschlagen hatte.
Schließlich quälte sie sich vom Boden auf, taumelte zu Tarik und strich ihm wie in Trance über die Nase. Er war wieder ganz der Alte. Stand achtsam da, wieherte leise – schnaubend, in Erwartung auf das »Hopp« – den Zuruf seines Herrn, zum Weitergehen.
2
Die Hütte lag abgelegen auf einer Lichtung zwischen Wald und Straße. Einen zehnminütigen Fußmarsch entfernt von anderen Häusern und dem Stein, der das Dorf Rietbach markierte.
Gleich nach der Hochzeit hatte sich das Ehepaar Holl auf dem Grundstück niedergelassen, das Johannes von seinem Vater geerbt hatte. Er hatte Haus und Scheune selbst gezimmert, den Zaun rundherum aufgestellt und mit Marva an einem sonnigen Platz den Gemüse- und Kräutergarten angelegt. Auf den etwa vier Hektar Land gab es zwei Apfelbäume, einen uralten schwarzstämmigen Birnbaum, in dessen Ästen Misteln lebten, und einen Kirschbaum, der im Sommer feste, dunkelrote Früchte trug.
Inmitten dieses Idylls hatten sich die Holls ein gemütliches Heim geschaffen, das ihnen fast alles bot, was sie zum Leben brauchten. Sie waren nicht die Einzigen, die sich bewusst gegen Siedlungen entschieden hatten. Seit Napoleon die deutschen Staaten an Frankreich angegliedert hatte, wohnten viele Menschen verstreut in ländlichen Gebieten. Männer versteckten sich, aus Angst, rekrutiert zu werden und für ein Land zu sterben, das sie nie gesehen hatten. Kriegsversehrte Soldaten, von der Welt vergessen, fanden im Alleinsein zu sich, und die Natur gab ihnen Halt. Die meisten hatten nichts mit anderen zu schaffen. Kaum jemand kannte ihre Namen. Sie waren wie Gespenster – unsichtbar und am Ende ihres Weges.
Johannes Holl aber war keins dieser Gespenster gewesen. Er war in Rietbach geboren und aufgewachsen. Jeder hatte den Hannes gekannt. Ihn, den hübschen, hünenhaften Goldjungen, der aus der geachteten Gründerfamilie des Dorfes stammte.
Jene, die an diesem dunklen Freitag in der engen Stube zusammengekommen waren, zollten ihm Respekt. Bekannte und Freunde hatten sich um den kleinen Ofen in der Mitte des Raums gescharrt. Es gab Tee und dünnen, herben Apfelwein, der vom Vorjahr übrig war, dazu Butterkuchen von der alten Frau Hering. Deren Sohn Heini war der hiesige Bäcker.
Als Halbwüchsige hatten er und Johannes gemeinsam so manchen Unfug angestellt. Zuletzt war das Verhältnis der beiden Männer jedoch angespannt gewesen. Dass Heinrich bedauerte, sich nicht mit seinem Freund ausgesöhnt zu haben, hatte er bei Marva bereits mehrfach betont. Die allerdings hatte mit einem schiefen Lächeln abgewunken und erklärt, dass er sich deswegen nicht zu grämen brauchte. In puncto Hitzköpfigkeit waren die Männer einander gleich gewesen. Vermutlich hatte sich zuletzt keiner mehr an den Grund für den Streit erinnern können. Wahrscheinlich irgendeine Lappalie, ein dummes Wortgefecht in der Dorfschänke, die Johannes einmal im Monat besucht hatte.
Marva saß blass und mit dunkel geränderten Augen auf einem Stuhl und starrte auf das unwirkliche Gebilde vor sich auf dem Tisch. Nur an den zitternden Flammen erkannte man, dass es ursprünglich drei Kerzen gewesen waren. Irgendwann in den vergangenen Stunden hatte das Wachs die Körper zu einem einzigen weißen Klumpen verschmolzen.
Marvas Hände schlossen sich fest um die Tasse, die ihr jemand hingestellt hatte. Hin und wieder nickte sie oder schüttelte den Kopf, wenn einer der Trauergäste eine Frage an sie richtete. Dabei blickte sie niemals auf, sie aß und trank auch nicht. Seit sie vom Kirchhof zurückgekommen waren, beobachtete Anneliese ihre Mutter, und es schnürte ihr die Kehle zu. Allein die Tatsache, dass der Vater in Rietbach beerdigt worden war und nicht, wie von Marva gewollt, auf ihrem Grundstück am Waldrand, schien ihr mehr zuzusetzen, als gut für sie sein konnte. Das Dorf hatte es entschieden, nachdem sie sich hilfesuchend an den Pfarrer gewandt hatten. Ein Fehler!, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Und nun war alles zu viel – aufreibend und beengend.
Es war, als könne Anneliese Mutters Gedanken hören, die wie markerschütternde Schreie durch ein weites Tal hallten. Sie war nicht mehr dieselbe. Als wäre ein Teil von ihr mit ihrem Ehemann gestorben.
Anneliese selbst konnte noch immer nicht fassen, dass ihr Vater nie wieder zurückkehren würde. Dass das, was ihn ausgemacht hatte, für alle Zeiten verloren war. Seine Stimme, sein Geruch, der Schutz, den er seiner Familie geboten hatte. Wann immer Annelieses Herz das Endgültige leugnen wollte, wurde sie von ihrem Verstand brüsk daran erinnert: Nichts wird mehr sein, wie es war.
Eine Wahrheit so niederschmetternd wie Furcht einflößend.
»Nimm dir noch vom Küchlein, Liese.«
Anneliese starrte auf den Teller, den Frau Hering ihr hinhielt. Suchend glitt ihr Blick hinauf zur Dachstube, in der sich ihr Bruder verschanzt hatte. Ob er sich heute noch einmal heraustrauen würde?
Unwillkürlich musste Anneliese an die sorgenfreien Tage ihrer Kindheit denken, in denen sie sich mit Kasper über den Namen Hering unterhalten hatte, weil er vielmehr nach Fischerei als Backstube klang und Kasper Fisch nicht ausstehen konnte. Wie banal, raunzte die Stimme in Annelieses Kopf, als sie registrierte, wie sich die alte Frau Hering um sie und die Trauergäste bemühte. Wie selbstverständlich sie sich doch kümmerte. So ganz anders als ihre Schwiegertochter Elvira, die nicht ein freundliches Wort für sie übrighatte.
Unmerklich schüttelte Anneliese den Kopf.
»Hast noch nicht viel gegessen. Schmeckt’s dir denn?«, drängte sich ihr deren kratzige Stimme erneut auf. Annelieses Blick glitt von Elvira zu ihr hinauf. Die alte Frau sah sie durch kühlblaue Augen besorgt an.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Und für den Kuchen. Er schmeckt sehr gut.« Ihre Antwort klang wie einstudiert. Vorgefertigt, floskelhaft. Nichts weiter brachte sie heraus.
Frau Hering verzog ihre Lippen zu einem umgekehrten Lächeln, was die Falten um ihren Mund herum vertiefte. Und für einen Moment glaubte Anneliese, Tränen in den Augen der gutmütigen Alten zu sehen.
»Ach, Maidli. Is’ scho recht.« Sie strich ihr tröstend über die Schulter, bevor sie sich mit dem Teller abwandte und Pfarrer Wagner vom Butterkuchen anbot.
Die freundliche Witwe war die einzige Person aus dem Dorf, die die Holls in einer gewissen Regelmäßigkeit sahen. Für die Geschwister war sie das, was einer Großmutter am nächsten kam. In Rietbach schätzte man ihre hingebungsvolle Art, die sie trotz ihrer schweren Verluste beibehalten hatte. Ihren Mann und vier Söhne hatte sie seit Napoleons Machtergreifung zu Grabe getragen.
Um ein Haar hätte sie auch ihren jüngsten Sohn verloren. Heinrich war mit einem lahmen Bein davongekommen und galt seither als untauglich für den Krieg – was seiner Mutter gelegen kam. Er selbst hatte jung geheiratet. Seine erste Frau starb im Kindbett, und es hieß, er habe seine zweite, Porschs Elvira, nur des Säuglings wegen geheiratet. Der Knabe war der ganze Stolz seiner Großmutter. Nicht zuletzt deshalb hoffte Anneliese auf seine baldige Rückkehr von der Front in den Vereinigten Niederlanden.
Der Nachmittag zog sich endlos hin. Es wurde leise gesprochen und überwiegend von dem Verstorbenen. Eher beiläufig wurden seine Frau und die Kinder erwähnt. Wann immer Anneliese ihren eigenen Namen vernahm, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
»Bettelarm, die Familie«, ließ das Fräulein Weingart verlauten, das die Schänke im Ort führte, – wohl im Glauben, Anneliese könne sie nicht hören. »Was soll nur jetzt aus ihnen allen werden?«
Schulmeister Porsch, ein zu klein geratener Mann mit vorstehendem Bauch und herabfallenden Wangen, pflichtete ihr neben seiner Tochter Elvira stehend, müde nickend bei. Dann nahm er sich erneut vom Kuchen.
Verkrampft harrte Anneliese auf der Bank unter dem Fenster aus. Wartend darauf, dass die Trauerfeier endlich vorüber war und sie in die Einsamkeit und Stille zurückkehren konnte, die sie schätzte.
»Wo mag nur der Bub sein?«, warf Porsch in die Runde. »Allmählich fange ich an, an seiner Existenz zu zweifeln.«
»Oh, ich kann bezeugen, dass es ihn gibt.« Frau Hering linste hinauf zur Dachstube.
Kurz sah Anneliese Kasper hinunterspicken, bevor er wieder mit dem Schatten des Geländers verschmolz. Sie nahm ihm nicht übel, dass er allein sein wollte. Auch sie hätte sich am liebsten versteckt – vor den neugierigen Blicken, den Beileidsbekundungen und der Nähe zu Personen, die wie Fremde für sie waren.
An allzu viel Gesellschaft war keiner der Holls gewöhnt. Aus Rietbach kam eigentlich nie jemand her. Es sei denn, es gab einen besonderen Anlass. Kaspers Taufe in der Dorfkirche war so einer gewesen. Im Anschluss daran waren ein paar Leute gekommen und hatten gebracht, was sie entbehren konnten: hauptsächlich Obst und Gemüse aus den Gärten. Ein höflicher Akt, in einer hochkatholischen Gegend, in der ein heiliges Sakrament zu empfangen einer Aufforderung zur Menschlichkeit gleichkam.
Im Grunde war die Holzfällerfamilie in ihrer ärmlichen Hütte am Waldrand aber nahezu unbedeutend. Man grüßte sich, wenn man sich sah, aber man verabredete sich nicht. Gefälligkeiten oder Arbeiten wurden ausgetauscht, doch keine engen Freundschaften geführt.
Ein bisschen brummig, aber verlässlich und fleißig – das hatten die Dorfbewohner zuletzt über Johannes Holl zu sagen gepflegt. Ein hart arbeitender, frommer Mann, wie schon sein Vater vor ihm. Seine Frau hingegen hatte es weniger einfach gehabt. In fast zwanzig Jahren war es Marva nicht gelungen, in dem einhundert Seelendorf Akzeptanz zu finden. Die Rietbacher hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie nicht nachvollziehen konnten, weshalb Johannes Holls Wahl ausgerechnet auf eine Tschusch – eine Fremde – gefallen war. Eine Frau, deren wahren Namen kein Rietbacher kannte, und die schon allein deshalb ein Geheimnis haben musste. Wahrscheinlich war sie auf der Flucht, eine Geächtete – jemand mit einer dunklen Vergangenheit.
Der wahre Grund für die Namensänderung ihrer Mutter war allerdings weit weniger spektakulär. Bei ihrer Ankunft in Baden hatte niemand Lăcrămioara aussprechen können, weshalb sie ihren Namen in Marva geändert hatte, um es für sich selbst und für andere leichter zu machen. Nur Johannes hatte seine Frau, wenn sie allein waren, liebevoll beim richtigen Namen genannt. Und Anneliese hatte immer befunden, dass er ausgesprochen schön und klangvoll war. Nicht so langweilig und sperrig wie ihr eigener.
Anpassung war manchmal eben eine bittere Notwendigkeit.
Die Hütte der Holls war jedoch alles andere als spießbürgerlich. Abermals bekreuzigte sich das Fräulein Weingart, nachdem sein Blick am Pfarrer vorbei, auf das Regal mit den beschrifteten Gläsern und Tinkturen traf – als könne sie das vor dem Fluch bewahren, der von Marvas Heilkunst ausging.
Anneliese spürte Zorn in sich aufwallen. Sie war gewillt, das Fräulein sofort aus dem Haus zu werfen. Ohnehin hatte es hier nichts verloren. Die junge Frau hatte der Vorwitz hergeführt. Die Frage, die ganz Rietbach beschäftigte: Wie lebten die Holls in ihrer bescheidenen Behausung?
Die Realität schien die meisten ernüchtert zu haben. Denn die Einrichtung beinhaltete nur das Nötigste. Ein Tisch mit vier Stühlen, ein Schaukelstuhl, Betten, zwei Kleidertruhen. Auf der anderen Seite der Dachstube gab es die Küchenablage, darauf Fläschchen mit undurchsichtigem Inhalt.
Innerlich schalt Anneliese sich Ruhe zu bewahren und sah zu ihrer Mutter, die ungerührt von alldem blieb. Anneliese hatte sie stets dafür bewundert, dass die Engstirnigkeit der Dorfleute einfach an ihr abprallte. Marva schien verstanden zu haben, dass sie im Grunde lediglich das Unbekannte, das von ihr ausging, ablehnten. Noch dazu war sie still – ein Mensch, der sich kaum jemandem offenbarte und in der Ruhe Kraft sammelte. Für die schwatzhafte Gattin des Ortsvorstehers, Frau Furth, eine absolute Absonderlichkeit. Dabei ließ sich durchaus behaupten, dass auch die Furth aufgrund ihrer übermäßigen Fürsorge für zahlreiche herrenlose Katzen mehr als eigentümlich war.
Vater hatte zu Anneliese gesagt, dies sei darauf zurückzuführen, dass Furths kinderlos geblieben waren. Es hatte zwar Söhne und Töchter gegeben, aber sie alle waren im Säuglingsalter verstorben. Im Leben des wohlhabenden Paars war eine Leere entstanden, die gefüllt werden wollte. Und dass Frau Furth deshalb ständig einen penetranten Katzengeruch verströmte, fiel ihr selbst gar nicht auf.
Anneliese gab sich weniger Mühe, hinter das Verhalten der Menschen zu blicken, und akzeptierte nur, wer sie akzeptierte. Obwohl es niemand offen aussprach, kannte sie das Urteil, welches die Rietbacher über sie und ihren Bruder gefällt hatten. Elvira jedenfalls stand es deutlich ins kantige Gesicht geschrieben. Einmal mehr hatte sie an Anneliese hinuntergeblickt und ob deren Aufmachung hin den Kopf geschüttelt. Das schlicht verarbeitete Leinenkleid war bestimmt zwei Nummern zu klein, der Stoff bedeckte kaum ihre Schienbeine.
Anneliese hatte das alte Ding an diesem Morgen aus der Betttruhe hervorgeholt. Die einzige schwarze Kleidung, die sie besaß, war nahezu vergessen gewesen – genäht von ihrer Mutter für die Beerdigung des Großvaters, vor drei Jahren. Seitdem war Anneliese so gewachsen, dass ihre Mutter mit den Änderungen der Kleider kaum mehr hinterherkam.
Es hatte ja niemand ahnen können, dass Anneliese ausgerechnet das ungeliebte so schnell wieder brauchen würde. Es war bereits als Spende für das Armenhaus vorgesehen gewesen, und Anneliese hätte es nur allzu gern dort abgegeben. Sie hatte gehofft, es nie wieder tragen zu müssen. Dass sie den kratzigen Stoff nun trotzdem am Leib spürte, kam ihr immer noch unwirklich vor. Und das Warum interessierte niemanden. Die Meinung über die Holl-Kinder blieb dieselbe: verwahrlost und ungebildet. Und natürlich lag die Schuld bei der Mutter. Es war wie bei Frau Furths Katzen: War das Muttertier nicht reinrassig, taugte der ganze Wurf nichts.
Anneliese konnte die Häme in den Gesichtern der Pfarrgemeindedamen aufzucken sehen. Dabei hatte Anneliese sogar zeitweise die Dorfschule besucht. Sie hatte Lesen und Schreiben gelernt, Rechnen und ein wenig Geographie. All das hatte sie an Kasper weitergegeben, und er machte sich gut. Um enge Freunde zu finden, hatte ihre Schulzeit jedoch nicht ausgereicht. Bis auf Karl, den Enkel der Hering, hatten Anneliese alle Kinder gemieden. Karl hingegen hatte sich nie über ihre nackten, schmutzigen Füße lustig gemacht, mit denen sie ins Schulhaus gekommen war. Er hatte ihr von seinem Honigkuchen gegeben und ihr Bücher geliehen, weil sie selbst keine besaßen, er aber wusste, wie sehr sie das Lesen mochte. Nach seinem Abschluss war er zum Militär gegangen und kämpfte nun gegen die Franzosen für ein freies Deutschland.
Anneliese hatte irgendwann entschieden, dass man ihr in der Schule nichts mehr beibringen konnte, und ihre Eltern hatten ihr dabei nicht im Weg gestanden. Ohnehin hatte die Klasse in Rietbach kaum mehr Schüler. Die Kriege hatten viele Familien voneinander getrennt und Ortschaften ausgedünnt wie Hammer und Amboss den Stahl. Erst hatte Frankreich Männer und Jungen für einen desaströsen Russlandfeldzug einberufen, von dem nur jeder Fünfte zurückgekehrt war. Vor wenigen Monaten dann folgte der Appell der Preußen, um die letzte Schlacht zu schlagen. Dazwischen hatten kaum zwei Jahre gelegen.
Ob die Heerführer ihr Versprechen halten und Bonaparte diesmal besiegen würden? Anneliese dachte oft darüber nach, fand aber nie eine Antwort. Sie war, genau wie ihr Bruder, in ein besetztes Land hineingeboren worden und kannte es nicht anders, als dass Gesetze und Regeln von Männern ausgingen, deren Sprache sie kaum verstand. Franzosen patrouillierten im Dorf, bekleideten wichtige Ämter, fällten die wesentlichen Entscheidungen. Jahrelang hatten sie über das Land bestimmt. Tausende deutsche Männer fehlten seitdem, galten als vermisst. Schon jetzt mussten ganze Dörfer und Städte neu geordnet werden. Väter, Brüder, Söhne waren fort. Die Folgen waren auch in Rietbach spürbar. Plötzlich saßen Ehefrauen und Schwestern im Gemeinderat und kümmerten sich allein um Haus und Hof. Trost fand man in der Hoffnung, die Franzosenzeit würde ein baldiges Ende finden. Unter all dem Sehnen, dem Verlust und den Entbehrungen schwelte die beständige Angst, nichts verändern zu können.
Kurz vor der Dämmerung hatten sich die meisten Trauergäste auf den Heimweg gemacht. Heftiger Regen ergoss sich auf das Walmdach. Das Trommeln war so laut, dass es die wenigen Gespräche in der Stube zum Erliegen brachte.
Pfarrer Wagner warf einen mürrischen Blick aus dem Fenster, trat an Anneliese heran und streifte mit den Fingerkuppen ihr Kinn. Sie zuckte unter seiner klobigen Hand zusammen. Ein anzügliches Lächeln umspielte seinen Mund, als er seinen Becher schwenkte und am Apfelwein roch, bevor er trank.
»Das Wetter ist dem Anlass angemessen«, befand er tonlos und legte sich seinen Mantel auf dem Unterarm zurecht. »Wenn ihr etwas braucht, lasst es mich wissen.«
Anneliese nickte knapp, obgleich es für sie nicht infrage käme, ihn um Hilfe zu bitten. Sie verspürte Unbehagen in seiner Nähe. Ihre Finger schlossen sich um die Baumperle, die sie an einem Lederband um den Hals trug. Ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem zwölften Geburtstag.
Ein Windstoß fegte durchs Haus, als der Pfarrer die Tür öffnete. Er zog seinen Hut auf, hielt ihn mit einer Hand am Kopf fest und ging eilig zu seinem Einspänner. Frau Hering blieb noch eine Weile bei den Holls und half Anneliese, aufzuräumen. Widerwillig war Elvira mit den Furths ins Dorf zurückgefahren, da Heinrich auf seine Mutter warten wollte. In einer ruhigen Minute zog er sich einen Stuhl an Marva heran.
»Ich weiß, es ist vielleicht noch nicht der rechte Zeitpunkt, aber … ihr müsst euch schon bald kümmern. Der Winter kommt schneller, als man denkt, und dann soll vorgesorgt sein. Ich weiß, ihr habt das Land beliehen.«
Marva schaute zu ihm auf. In ihren dunklen Augen stand eine zornige Glut, die langsam entwich, als Frau Hering sie sanft am Arm berührte.
»Der Johannes hat’s uns erzählt«, erklärte sie beschwichtigend.
Marva stöhnte, leidvoll rieb sie sich die Schläfen, dann vergrub sie ihr Gesicht unter ihren Händen, als könne sie damit verhindern, dass jemand sie weinen sah. Für einen Augenblick blieb es still. Anneliese schluckte schwer, legte den Arm um ihre Mutter und zog sie zu sich. Marva schluchzte. Ihr Körper bebte unter dem Weinkrampf, der sie überkam. Anneliese ahnte ihre Verzweiflung. Ihr Vater hatte durch die Halsbräune, an der sie alle erkrankt waren, die Holzernte eines halben Jahres verloren. Um die Familie durchzubringen, hatte er sich an Ernst Finken gewandt, ein Freiburger Advokat, der als hilfsbereiter Geldverleiher auftrat, aber vielmehr ein gnadenloser Eintreiber war. Finken spekulierte auf den Besitz seiner Kunden, den er sich einverleibte, sobald diese mit den Zahlungen in Rückstand gerieten.
»Am besten ihr sucht den Vertrag raus. Darin muss stehen, was ihr schuldig seid und wann ihr zahlen müsst.« Heinrich reichte Marva ein Taschentuch. »Wir würden euch so gerne helfen …«
»Ihr habt schon genug getan.« Marva zog die Nase hoch und trocknete ihre Tränen.
»Man kann nicht genug tun, wenn einem so was passiert wie euch. Ich würde ja, aber die Elvira, die …« Er hielt inne, suchend nach den richtigen Worten. Etwas, das die Ablehnung seiner Ehefrau gegenüber den Holls erklärte.
Dass Elvira Marva nicht ausstehen konnte, machte sich auf unterschiedlichste Weise bemerkbar. Etwa wenn Marva Frau Hering besuchte, um ihr die Arnikasalbe zu bringen, die diese für ihr Rückenleiden orderte, und dabei auf Elvira stieß. Nicht selten wurde diese ausfallend, spuckte Marva direkt vor die Füße und begann dann lautstark das Vaterunser vorzubeten. Des Weiteren beschimpfte Elvira auch ihren eigenen Mann vor aller Augen und Ohren, wenn sie mitbekam, dass er nett zu Marva und den Kindern war. Es wurde niemals thematisiert, und doch war Anneliese sicher, dass Eifersucht dahintersteckte.
Angeblich hatte Elvira einst Johannes heiraten wollen, war ihm seit der Jugend verfallen und zutiefst verletzt gewesen, als er das fremdländische Waisenmädel zur Frau genommen hatte. Zwar war es vollkommen mittellos und allein der Arbeit wegen in den Schwarzwald gekommen, dennoch hatte es in vielerlei Hinsicht mehr zu bieten gehabt als alle anderen. Marva war eine Schönheit mit einer Stimme wie eine Nachtigall. Eine Exotin in einer Gegend voller unscheinbarer Wesen. Widerstrebend hatte sich Elvira mit dem bescheidenen, gutmütigen Heinrich begnügen müssen, der ihrer Hartherzigkeit und Willkür nichts entgegenzusetzen hatte. Obgleich seitdem Jahre ins Land gegangen waren, blieb sie nachtragend und der Frau gegenüber verachtend, die ihre Träume zerstört hatte.
»Ich werde mir Gedanken machen, was möglich ist, damit ihr es nicht so schwer habt«, sagte Heinrich nach einer Weile.
Marva bettete ihre Hand über seine. »Belaste dich nicht mit uns. Wir schaffen das. Uns fällt schon was ein. Nicht wahr, Liese? Uns fällt immer was ein.« Ihre Stimme war am Ende leiser geworden.
Heinrichs Blick ruhte auf ihr. Mitleidsvoll, bewundernd. Anneliese konnte sehen, wie sich die blassen Wangen ihrer Mutter rötlich verfärbten, während sie auf ihre Zustimmung wartete.
Anneliese nickte hastig. »Gewiss, Mama. Gewiss.«
»Sagt mal, der Johannes, der hatte doch schon Holz geschlagen, oder?«, fiel es Frau Hering ein, die gerade die letzten gespülten Teller ins Regal einsortierte.
»Äh, wahrscheinlich. Ja.« Marva presste sich Daumen und Zeigefinger auf die verweinten Augen.
»Er hat’s geschlagen. Ich war dabei«, übernahm Kasper das Reden, der just die Leiter zur Dachstube hinuntergeklettert kam – flink wie ein Wiesel.
»So so.« Heinrich nickte bedächtig. Es war ihm anzusehen, dass er gründlich nachdachte.
»Dann werdet ihr es gewiss auch los.« Seine Mutter setzte Marva eine Tasse Tee vor. »Ich würde anempfehlen, ihr macht da weiter, wo Hannes aufgehört hat. Jedenfalls wäre es ein Anfang. Bis es etwas anderes gibt. Du bist doch auch dieser Meinung, Heini? Ist doch so?«
Heinrich zuckte die Schultern, dann bewegte er abwägend den Kopf zu den Seiten.